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Zusammen

von

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Was uns vor dem Zerbrechen bewahrt

Shaolan blieb vor seinem Ziel stehen und betrachtete es ausgiebig. Verglichen mit der Bibliothek sah das Rathaus beinahe schmächtig aus. Neben dem hübschen roten Gebäude mit einer schwarzen Kuppel auf dem Dach erhob sich die mehrstöckige Bibliothek. Die großen Fenster waren wie die mächtige Eingangstüre weiß gestrichen und bildeten so einen schönen Kontrast zu dem blassen Grün, in dem der Bau gehalten war. Mit offenem Mund und staunenden Augen betrat Shaolan die Bibliothek (das auf dem Schild draußen ein Buch gemalt war, hatte enorm bei der Feststellung des richtigen Gebäudes geholfen. Mehr als „neben dem Rathaus“ hatte er am Vorabend als Wegbeschreibung nicht erhalten und so hatte er sich bis zum Rathaus durchgefragt und tatsächlich war er ohne Fye wieder auf der Straße kontrolliert worden).

Im Inneren der Bibliothek war es hell und auch wenn es draußen gar nicht kalt war, kam es Shaolan hier noch etwas wärmer vor. Hell, warm und freundlich. Und so viele Bücher. Er konnte sie vom Eingangsbereich bereits in den dahinter stehenden Regalen sehen. Eine große Treppe führte in die oberen Etagen und auch da standen noch mehr Bücher.

„Ah~“, piepste es fröhlich aus seinem Rucksack, „Shaolan ist glücklich!“

Der Junge musste leise lachen. „Ja, das ist wahr. Aber du musst trotzdem ruhig sein, Mokona. Wenn jemand meine Tasche kontrolliert, musst du schließlich so tun, als seist du ein Stofftier.“

„Mokona kann alles sein: Baby, Stofftier und ganz leise.“ Damit verstummte die kleine Kreatur und Shaolan setzte seinen Weg zum Empfangsbereich fort.

„Entschuldigung“, wandte der Junge sich an die Mitarbeiterin, die sich dort hinter dem Tresen befand, „ich bin heute zum ersten Mal hier.“

„Brauchst du einen Ausweis?“, fragte die Frau freundlich und griff bereits nach einem Formular, doch Shaolan schüttelte den Kopf. Er konnte diese Schrift nicht lesen und damit war das Ausfüllen eines solchen Dokuments hinfällig. Und wie sollte er erklären, dass er nicht lesen konnte und trotzdem in die Bibliothek wollte?

„Kann ich mir die Bücher hier in der Bibliothek ansehen?“

„Natürlich. Suchst du etwas Bestimmtes?“

„Haben Sie Bücher in anderen Sprachen?“ Wann immer sie irgendwo landeten, wo keiner von ihnen die Schrift entziffern konnte, war dies Shaolans grundlegender Ansatz geworden. Wenn er ein Buch fand, das er zu lesen im Stande war, dann fand sich vielleicht sogar ein Wörterbuch und mit diesem wiederum vermochte er dann die hiesige Schrift zu entschlüsseln. Es gab Welten, in denen er jedoch gar kein Glück hatte und obwohl ihn dies Mal für Mal entmutigte, wurde ihm bei dem Gedanken an all die Male dennoch warm ums Herz, denn seine Begleiter schafften es immer, ihn wieder aufzuheitern.

Dann suchen wir in der nächsten Welt weiter, Shaolan-kun.“

Tsk. Hör auf den Kopf so hängen zu lassen. Du gibst doch nicht etwa auf, oder?“

„Nicht traurig sein! Mokona weiß ganz bestimmt, dass alles gut werden wird!“

„In der ersten Etage“, antwortete die Bibliotheksangestellte, „folge einfach den Schildern, wenn du oben bist.“

„Äh, ja, vielen Dank.“ Er machte eine kurze Verbeugung und begab sich zur Treppe. Den Schildern folgen? Shaolan seufzte innerlich. Dann musste er wohl jedes einzelne Regal absuchen, bis er etwas fand, das er lesen konnte. Sorgsam schritt er durch jede Regalreihe und als er endlich Zeichen gefunden hatte, die sich von den anderen unterschieden, überprüfte er mühevoll jeden einzelnen Titel.

Er hatte eine Ahnung, wie die Buchstaben aus den Welten aussahen, aus denen Kurogane und Fye stammten (selbstverständlich hatte Shaolan sie gebeten, ihm ihre Sprachen beizubringen, doch beide Zeichensysteme waren viel schwerer als die, die er kannte) und so suchte er gleichzeitig auch nach diesen oder ähnlichen Zeichen, falls die anderen beiden in der Lage wären, hier etwas zu entziffern.

„Shao … Shaolan, richtig?“

Die Stimme einer jungen Frau riss ihn aus seinen fokussierten Gedanken. Er blickte auf und vor ihm stand ein Mädchen mit einem dunkelbraunen Bobhaarschnitt und ebenso dunklen Augen, die ihn neugierig musterten. Sie hielt ein Buch in Händen und lächelte ihn an. Es war Hélène, die Tochter ihrer Wohltäterin Simone.

„Ja“, erwiderte Shaolan höflich und lächelte ebenso. „Noch einmal vielen Dank für gestern.“

„Junge, Junge“, rüffelte sie ihn, „in einem Blitzfeld rumlaufen. Da kannst du froh sein, dass wir gehalten haben.“

Der getadelte und peinlich berührte Junge verbeugte sich entschuldigend und sie lachte leise. „Lass gut sein. Gefällt es dir und deinen Eltern hier?“

Bei ihrer Frage zuckte Shaolan ein wenig zusammen. Er spielte das Spiel zwar mit, Kurogane und Fye als seine Eltern auszugeben, aber ein bisschen traf es ihn doch jedes Mal ins Herz, wenn dies geschah. Seine Eltern. Sie waren unterwegs, damit er seine leiblichen Eltern wiedersehen konnte.

Er stolperte über seinen eigenen Gedanken. Sein Unterbewusstsein hatte ein „leiblich“ vor seine Eltern gesetzt. Hatte er damit gerade unbeabsichtigt seine beiden Gefährten in der Tat als eine Art Eltern bezeichnet? Als eine Art Eltern für … ihn?

„Shaolan?“, hakte Hélène nach, als der Blick ihres Gegenübers immer bestürzter wurde.

„Äh, ja!“, schrak er aus seinen Gedanken hoch. „Das ist eine wirklich schöne Stadt!“

„Das freut mich zu hören! Kaum zu glauben, dass sie nach dem Krieg in Trümmern lag, was?“

„In Trümmern?“

„Na ja, fast alle Städte waren zerstört. Zum Glück konnten meine Mutter und die anderen rechtzeitig eingreifen und verhindern, dass die Blitze auf die Städte übergriffen. So konnte alles wieder aufgebaut werden.“ Hélène lächelte stolz und legte rasch darauf den Kopf schief, weil Shaolan sie fragend anschaute.

„Diese Blitze sind durch Waffen entstanden?“

Das Mädchen musterte ihn noch einmal intensiv, ehe sie nickte. „Die alte Regierung wollte die Nachbarländer erobern und entwickelte dafür Waffen, die ihnen außer Kontrolle gerieten und beinahe alles vernichtet hätten. Für das Problem mit den Blitzfeldern gibt es aber leider noch keinen funktionierenden Zauberspruch.“

Gedankenvoll fasste Shaolan sich mit einer Hand ans Kinn. „Und die Waffen ließen sich damals nicht mit Magie aufhalten?“

„Aber Shaolan, damals gab es doch gar keine Magie.“ Hélène schüttelte den Kopf.

„Es gab keine Magie?“

Das Mädchen stutzte. „Du hast wahrhaftig keine Ahnung vom dem, was damals passiert ist, oder?“

Der Junge zuckte ein weiteres Mal zusammen, dieses Mal noch heftiger. „Ich … ähm … wir … wir kommen von wirklich sehr weit her.“ Er schluckte. Hoffentlich hatte er jetzt keinen Mist gebaut.

Hélène runzelte die Stirn, als würde sie über etwas nachdenken. „Die magischen Wächterinnen sind von jeher unsere Anführerinnen, doch es gab mal eine Zeit, als einige Männer sich gegen sie zusammengetan haben, um sie zu stürzen. Sie hatten diesen Plan gefasst, nachdem sie in den Besitz des aus dem Nichts erschienenen Unheilsbringers gelangt waren. Und mit diesem versiegelten sie die natürliche Magie unserer Welt, sodass die Wächterinnen über keine Zauberkräfte mehr verfügten. Weil sie die Wächterinnen hassten und Angst hatten, es könnte doch noch eine Frau mit Zauberkräften übrig sein, unterdrückten sie alle Frauen. Als sie dann die Nachbarländer angriffen, verteidigten die sich verzweifelt und es kam es zum großen Krieg. Nachdem der Unheilsbringer von der dämonischen Gestalt geraubt worden war und die Magie zurückkehrte, konnten die Wächterinnen den Krieg beenden und alles wieder aufbauen.“

Aufmerksam hatte Shaolan ihrer Erzählung zugehört. Wie er es liebte, etwas Neues zu lernen! Selbst wenn es eine so traurige Geschichte war. Und nun verstand er endlich, was es mit diesem Land auf sich hatte. Fye hatte nach dem Arztbesuch erzählt, dass es hier mal eine Verschwörung gegeben hatte und jetzt begriff Shaolan, was dieses Gesetz und der Ausnahmeschein sollten. Die Wächterinnen wollten verhindern, dass es noch einmal zu einem Putsch kommen konnte. Außerdem, so schlussfolgerte er aus Hélènes Erklärungen, schienen hier nur Frauen Zauberkräfte zu besitzen. Allerdings … eine Sache verstand er ganz und gar nicht.

„Hélène, was genau ist 'der Unheilsbringer'?“

Das Mädchen sah ihn todernst an. „Die Feder.“

Sämtliche Luft entwich plötzlich aus Shaolans Lungen.

 

Fye konnte sich nicht bewegen.

Das hieß, doch, er bewegte sich, aber es war nicht eigener Wille, der seine Bewegungen lenkte. Eine Macht von außen, eine auf die er keinen Einfluss hatte, die er nicht aufhalten konnte, steuerte seinen Körper und zwang ihn zu den Bewegungen, die er von sich aus nie freiwillig ausgeführt hätte.

Seine Hände legten sich fest und zupackend um den Schwertgriff. Seine Beine liefen los und sein ganzer Körper setzte zum Angriff an – zu einem Angriff, den er nicht machen wollte, den er auf gar keinen Fall machen wollte und bei dem er doch gerade sehenden Auges auf sein Ziel losstürmte.

Sein geliebtes Ziel, dem er niemals Leid antun wollte.

Sakura-chan.

Das Schwert durchbohrte sie gnadenlos. Ihre fragile Gestalt wurde von der Klinge geradezu aufgespießt.

Nein. Von ihm. Von ihm, der das Schwert hielt und nicht stark genug war, gegen einen Fluch anzukommen.

Alles in Fye schrie „Aufhören! Aufhören!“, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Kurogane brüllte verzweifelt, dass er das Schwert nicht ziehen durfte und Fye wusste dies. Er wusste, dass er es nicht ziehen durfte, um ihr nicht noch mehr Schaden zuzufügen. Doch sein Körper zog es erbarmungslos aus Sakura-chans sterbender Gestalt.

Er hatte die Prinzessin getötet.

Shaolan kam auf ihn zu. Er konnte ihn trotz der Tränen, die sich wie ein Schleier auf sein Auge gelegt hatten, sehen. Und Fye erstach auch ihn. Das Blut der Kinder legte sich auf ihn wie ein Brandmal, das seine Sünden der Welt offenbarte. Trotzdem stoppte sein Körper nicht. Einer war schließlich noch übrig. Einer noch, bis er ganz allein war.

Das weinende Auge richtete sich auf den ihn voller Entsetzen anstarrenden Mann.

 

„Hey. Hey! HEY!!“

Klatsch!

Fye schrak aus seinem Traum hoch, nachdem Kurogane ihm einen behutsamen Schlag auf die Wange verpasst hatte. Verwirrt und ziellos rasten die blauen Augen an die Zimmerdecke (es war dunkler als zuvor, die Sonne musste in der Zwischenzeit untergegangen sein), dann auf seine Hände (auf denen kein Blut zu sehen war) und schließlich zu Kurogane, der ihn grimmig anblickte. Fye hatte das Gefühl, dass sein Herz gleich aus der Brust sprang und dem Mann, in dessen Armen er lag, würde dies kaum entgehen. Fürs Erste war er dennoch erleichtert, dass es nur ein Albtraum gewesen war. Die tatsächlichen Geschehnisse in Infinity waren damals schon furchtbar genug gewesen, aber das eben …. Der Magier versuchte, durchzuatmen. Eine noch schrecklichere Version eines realen Albtraums.

„Was zur Hölle ist los mit dir?!“

Den wütenden Blick des Anderen nur kurz erwidernd, zog Fye es vor, sich enger an dessen Brust zu kauern. Er brauchte das jetzt, auch wenn ihm dadurch zwei Dinge auffielen, die verdeutlichten, warum Kurogane so angepisst war, wie er es war: Zum einen zitterte Fye am ganzen Körper, zum anderen war er erneut schweißgebadet.

„Hey“, wiederholte der Ninja weitaus gemäßigter, „was ist los?“

„Ein Albtraum.“

„Schon klar. Aber schon wieder? Und wieder so ein heftiger wie heute Morgen?“

Der Magier zuckte hilflos mit den Achseln.

„Da stimmt was nicht. Das muss dir doch auch klar sein.“

„Ich weiß nicht. Vielleicht ist das die Strafe für alle Nächte, in denen ich keinen bösen Traum hatte?“

„So ein Scheiß, dafür wird man nicht bestraft.“ Kuroganes Grollen klang wütend, doch Fye konnte darin die Sorge um ihn ausmachen. Im festen und gleichzeitig zärtlichen Griff des Anderen beruhigte sich sein rasendes Herz wieder. Eine Stille, die nur von Fyes noch heftig gehendem Atem gestört wurde, legte sich über das Paar. Der Blonde genoss die Ruhe. Hier fühlte er sich geborgen, hier konnte er die grausamen Bilder aus seinem Albtraum ein wenig verdrängen.

„Ich hasse es.“ Kuroganes Stimme durchschnitt die Stille abrupt. Er verstärkte den Griff um den Magier während er dies sagte, um kein Missverständnis aufkommen zu lassen. „Ich hasse es, wenn du so bist.“

Der Ninja konnte nicht sehen, wie betrübt sein Partner nun dreinblickte, aber er musste es auch nicht sehen, um es zu wissen.

„Tut mir leid“, hauchte Fye, seinen Kopf gegen die breite Brust des Dunkelhaarigen gedrückt.

„Deine Entschuldigung kannst du dir sonst wohin stecken.“

Schritte von draußen ließen sie aufhorchen. Schnell richtete Fye sich auf und rutschte auf den Platz neben Kurogane. Shaolan sollte nicht wissen, dass etwas nicht stimmte.

Die Tür ging auf und der Junge betrat die Wohnung – was die beiden Erwachsenen erschrocken die Luft einziehen ließ.

Shaolan war kreidebleich und machte einen äußerst wackligen Eindruck.

„Shaolan-kun!“ Fye sprang auf und lief zu ihm. Hastig legte er dem Jüngeren eine Hand auf die Stirn, konnte nichts Besorgniserregendes feststellen und umfasste sein Gesicht mit beiden Händen, um einen besseren Blick in seine Augen zu bekommen. Dort sah er nur, wie bedrückt der Junge dreinblickte. „Was ist mit dir? Fühlst du dich krank?“

Shaolan schüttelte schwach den Kopf.

„Ist was passiert?“ Kurogane erhob sich ebenso von der Couch und stellte sich mit prüfendem Blick vor ihn.

„Shaolan ist beinahe umgekippt!“, erklang es bebend aus dem Rucksack auf seinem Rücken und erneut schreckten die beiden Erwachsenen zusammen. Geschwind öffnete Kurogane die Klappe des Rucksacks und Mokona hüpfte auf seine Schulter. Ihre Augen waren von der gleichen Angst erfüllt wie ihre Stimme.

„Was ist passiert? Jetzt erzähl schon!“

„Hélène hat Shaolan die Geschichte dieses Landes erzählt und eine von Sakuras Federn hätte fast für die Vernichtung von allen Menschen hier gesorgt, aber 'Shaolan' war hergekommen und hat die Feder eingesammelt und dann wurde der Krieg beendet, aber die Leute hier wissen nicht, dass das Sakuras Feder war und haben Angst, dass sie wieder kommen könnte und das konnten wir ihnen ja nicht sagen, denn dann hätten wir uns verraten und Shaolan hat einen riesigen Schreck gekriegt, als er das alles gehört hat und-“

„Langsam, langsam“, fiel Kurogane ihr ins Wort, „hol mal Luft und erzähl die Geschichte von Anfang an.“

Mokonas kleiner Körper bebte vor Aufregung und Anstrengung, als sie dem Rat des Ninjas nachzukommen begann. Fye hatte derweil einen Arm um Shaolan gelegt und geleitete ihn zum Sofa, wo er sich mit ihm niederließ, ohne ihn loszulassen.

„Kannst du uns sagen, was genau passiert ist?“

Dieses Mal nickte Shaolan schwach. „Ich erzähle es euch.“

 

„Verstehe“, sagte Fye gedankenvoll, nachdem Shaolan ihnen alles zusammengefasst hatte, was er in der Bibliothek in Erfahrung gebracht hatte. Er drückte die Schulter des Jungen. „Das war nett von Hélène, dich nach Hause zu bringen.“

Shaolan verharrte stillschweigend und mit starrem Blick auf seinem Platz.

„Okay, na und?“ Kurogane entwich ein verdrossenes Stöhnen. „Das war damals und jetzt ist jetzt. Lass deswegen nicht den Kopf hängen.“

„Entschuldige.“

Das Stöhnen wurde noch eine Stufe verdrossener. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Mach einfach nicht so ein Gesicht, als hättest du was falsch gemacht. Die Dinge sind wie sie sind.“

„Kuro-rin“, schalt Fye ihn, „sei ein wenig sensibler. Shaolan-kun fühlt sich verantwortlich für das, was in dieser Welt geschehen ist.“

„Und für das, was in der letzten Welt geschehen ist und der davor und der davor und wahrscheinlich wird er sich auch für die nächste und übernächste Welt verantwortlich fühlen. Und was ändert das?“

„Manchmal kannst du echt ein grober Klotz sein.“

„Tsk. Recht hab ich trotzdem.“

Zwei Paare roter und blauer Augen funkelten sich zornig an, was Shaolan nicht entging. Sein Kopf schnellte hoch und schuldbewusst blickte er von einem Mann zum anderen. Seinetwegen stritten sie nun.

„Kurogane-san hat Recht“, sagte er ruhig zu einem überraschten Fye. „Ich kann es nicht mehr ändern.“

Fye antwortete mit einem sanften Lächeln und drückte seine Schulter ein wenig intensiver. „Immerhin hat das Verschwinden der Feder hier etwas Gutes bewirkt. Versuch, es so zu sehen.“

Die aufmunternden Worte und Gesten ließen den Jungen einen kleinen Teil seiner Anspannung verlieren. Er atmete hörbar aus.

„Wir müssen den Leuten irgendwie sagen, dass die Feder nicht zurückkehren wird. Dann müssen sie sich nicht mehr vor ihr fürchten.“

Eine schwere Hand legte sich auf seinen Kopf und ließ Shaolan zu dem Ninja blicken. „Bevor wir weiterreisen. Dann gehen wir wenigstens einmal sämtlichem Ärger aus dem Weg.“

Eine erneute, gnadenvolle Stille breitete sich in der kleinen Wohnung aus und wurde von Shaolan dankend aufgesogen. Bis ihm panisch etwas einfiel:

„Ich habe kein Abendessen besorgt!“

„Keine Sorge.“ Fye lachte. „Papa wird schnell noch etwas holen, bevor der Laden unten zumacht.“

Kaum hatte er dies gesagt, sprang Mokona in den Rucksack zurück, kramte darin und hielt dem schwarzhaarigen Mann den Ausnahmeschein entgegen. „Bitteschön, Papa!“

„Alternativ könnten wir auch dich essen!!“, grollte dieser in Richtung des Klopses. Nichtsdestotrotz nahm er den Schein an sich. „Irgendwelche Wünsche?“

„Überrasch uns“, gurrte Fye vergnügt und erntete ein weiteres Grollen, ehe Kurogane sich zur Tür aufmachte. Kurz bevor er hinaustrat, warf der Ninja noch einen Blick zurück auf den Magier, der den Kleinen immer noch im Arm hielt. Beide Gesichter hatten etwas Seliges, als Shaolan sich in die Umarmung lehnte und Mokona sich zudem noch an den Jungen kuschelte.

Ihnen entging das Lächeln in Kuroganes Gesicht, als er zur Tür hinausging.

 

Unruhig und doch so leise wie möglich drehte Fye sich auf den Rücken. Es war mitten in der Nacht und das Mondlicht schien wie in der Nacht zuvor in das Zimmer. Er war nicht unruhig, weil er nicht schlafen konnte. Nein, vielmehr war er unruhig, weil er Angst davor hatte einzuschlafen. Auf noch so einen Albtraum dieser Art konnte er gut verzichten. Immerhin hatte er etwas vom Abendessen herunter bekommen, ohne dass ihm dabei so schlecht geworden war wie die vorigen Male. Appetit hatte er absolut nicht und so hatte die Nahrungszufuhr allein der Beruhigung der drei anderen gegolten.

Fye konnte sich selbst keinen Reim auf all dies machen.

Sein Blick wanderte zu dem Mann neben ihm, der ihm den Rücken zugedreht hatte. Die Brandwunden waren in der Tat abgeheilt und nur vereinzelt traten neue Narben hervor. Unter den vielen, vielen alten wären sie jemand anderem kaum aufgefallen, aber Fye sah jede einzelne von ihnen. Sie fügten sich ein in das Narbengeflecht, das ein bitteres Erinnerungsstück aus Tokyo war. Damals dem Tod näher als dem Leben, hatte der Magier nur vage mitbekommen, wie Kurogane ihn vor dem Angriff 'Shaolans' abgeschirmt hatte. Wenn er daran dachte, so erinnerte er sich an Kuroganes Hände, die ihn krampfhaft und gleichzeitig zitternd festgehalten hatten. Er erinnerte sich an einen unterdrückten Schmerzenslaut des Ninjas, als er von den Flammen getroffen worden war und wie er ihn trotzdem nicht losgelassen hatte.

Dieser Idiot.

Es war in Tokyo gewesen, dass Fye bewusst geworden war, was der Andere für ihn empfand. Und es war in Tokyo gewesen, dass Fye bewusst geworden war, dass genau dies damals ein Problem dargestellt hatte.

Wehmütige Gedanken überkamen ihn.

Hätte Kurogane damals in Tokyo nicht so gehandelt, wie er es getan hatte, dann wäre es damals mit ihm selbst aus gewesen. Dann wäre er heute nicht hier, könnte sich nicht um Shaolan und Mokona kümmern und darauf hoffen, dass sie eine Lösung für den anderen Shaolan und die andere Sakura finden würden.

Dennoch.

Seine Rettung ging immer auf Kuroganes Kosten. Der verbrannte Rücken, der verlorene Arm und zuletzt die Verletzung des anderen Arms (von der viel zu hohe Menge an geflossenem Blut, von der nur noch schmale Narben an diesem Arm zeugten, wollte Fye lieber erst gar nicht anfangen). Hätte er dasselbe für den Ninja getan? Hätte er all diese Schmerzen und Entbehrungen auf sich genommen? Heute würde er für ihn sterben, wenn es sein müsste, doch damals war er viel zu schwach. Ohne Kurogane wäre er zerbrochen.

Fye verkrampfte seine Hände zu Fäusten und ignorierte dabei das merkwürdige, schmerzhafte Ziehen, das er in seinem Innern verspürte.

Er würde nach wie vor ohne Kurogane zerbrechen.

„Kannst du nicht schlafen?“

Ertappt weiteten sich die Augen des Magiers, die die verwundeten Stellen auf der Haut des anderen Mannes fixiert hatten. Unwillkürlich musste er schlucken, obwohl er kein Geräusch hatte machen wollen.

Kurogane drehte sich zu ihm um.

„Meine Güte, Kuro-pii, wie kann man denn hören, ob jemand schläft oder nicht?“ Entgegen seines besseren Wissens lächelte Fye.

„Indem man den Anderen kennt.“

Der Mistkerl hatte ihm absichtlich den Rücken zugedreht und so getan, als würde er schlafen. Was fiel dem ein, seine Masche zu klauen?

„Wenn du mich so böse anguckst, werde ich bestimmt nicht schlafen können.“

Unbeeindruckt durchbohrte der Blick des Dunkelhaarigen ihn geradezu. „Wenn ich so darüber nachdenke“, sagte er ruhig, „benimmst du dich erst wieder schräger, seit wir in der verdammten Eiswelt waren. Ich hatte zuerst angenommen, es hätte mit der Eiswelt zu tun, aber … ich glaube, das allein ist es nicht.“

Fye rollte ebenso auf die Seite, um Kurogane direkt in die Augen zu sehen. Das falsche Lächeln wieder unter Kontrolle bekommend, ließ er es abebben und tauschte es gegen einen nachdenklicheren Blick aus. „Warum machst du dir nur immer so viele Sorgen um mich?“

„Weil du mir Grund dazu gibst.“

Ein trauriges Lachen kam über die Lippen des Magiers. „Ich …“, er brach wieder ab und dachte nach. „Das ist allein mein Problem. Es hat nichts mit dir oder Shaolan oder Mokona zu tun. Ich muss eine Lösung dafür finden.“

Er bekam die Reaktion, die er erwartet hatte. Kuroganes Augen verengten sich im Zorn. „Soll das ein Witz sein? Hast du gar nichts verstanden? Der Bengel, der Klops und ich wir sind-“

„Doch, das habe ich verstanden“, entgegnete Fye gefasst. „Aber ihr könnt da nichts tun, deswegen ist es allein meine Sache.“ Der Magier führte seine linke Hand zum Gesicht des Anderen und fuhr mit dieser über dessen Wange. „Ich wünschte, ihr könntet mir da helfen, aber … das geht leider nicht.“

„Von was für einer Sache reden wir hier eigentlich?“ Kurogane klang immer noch äußerst verstimmt, doch der Vollpfosten von einem Gegenüber hörte sich ungewohnt vernünftig an.

Ein sanfteres, ungezwungenes und leicht betrübtes Lächeln formte sich auf Fyes Gesicht. „Das werde ich euch sagen, sobald ich eine Lösung gefunden habe.“ Ein missmutiges Schnaufen entwich dem Ninja als Antwort und Fyes Hand hielt in ihren Bewegungen inne und ruhte auf der Wange. „Traust du mir denn gar nicht zu, ein Problem selbst lösen zu können? Wirke ich so hilflos in deinen Augen?“

Ein paar lange Sekunden verstrichen. „Nicht hilflos“, brummte Kurogane, „nur dämlich.“

„Ah, kein Dichter hat je etwas Romantischeres gesagt“, feixte der Magier, ehe er kurz darauf wieder ernst wurde und dem Ninja tief in die Augen sah. „Bitte, vertrau mir, ja?“

Kurogane hielt dem Blick stand und suchte in den Augen des Anderen einen Hinweis auf eine Lüge oder Ähnliches. „Fein. Aber lass mich das hinterher nicht bereuen.“

Fye schloss die geringe Distanz zwischen ihnen und küsste ihn. Diese Handlung war ursprünglich nur gedacht, um Kurogane für das entgegengebrachte Vertrauen zu danken, doch dann küsste der andere Mann ihn zurück und … ah. Es war schon eine Weile her, seit sie das letzte Mal Zeit nur für sich gehabt hatten. Zu lange her. Fyes lange, schlanke Finger machten sich auf dem Körper des Anderen geradezu selbstständig und – ohne dass dies seine Absicht gewesen war – Kuroganes Finger auf seiner Haut hatten die wundervolle Macht, sämtliche düsteren Gedanken erst einmal weit, weit an den Rand zu schieben. Der Magier presste sich gegen den Körper des Ninjas, der dies bereitwillig erwiderte. Allem Anschein nach war es auch für ihn schon zu lange her gewesen. Ihre Kleidung war schneller runter, als irgendjemand hätte gucken können und Fye verlor sich vollkommen in den Berührungen und Küssen seines Geliebten, sodass ihm – der dünnen Wände zum Trotz – ein mehr als eindeutiges Stöhnen entwich. Und dieses nicht alleine blieb.

 

Shaolan riss die Augen auf. Die Ereignisse des Tages hielten ihn davon ab, Schlaf zu finden und er horchte in die Nacht hinein. War das …? Ja. Kein Zweifel. Das klang eindeutig.

Dunkelrot anlaufend drückte der Junge sich sein Kopfkissen mit beiden Händen gegen die Ohren. Diese Wände waren wirklich sehr dünn. Er warf kurz einen Blick auf Mokona, die an ihn gekuschelt dalag und tief und fest schlummerte – zum Glück. Mokona könnte sonst Bemerkungen von sich geben, die ihn wahrscheinlich vor Scham umbringen würden. Dies war nicht das erste Mal, dass Shaolan etwas in dieser Art mitbekam und jedes Mal wunderte er sich, ob er seinen Gefährten gegenüber etwas sagen sollte … doch bisher hatte er sich jedes Mal dagegen entschieden. Kurogane würde im Boden versinken, wenn er wüsste, dass Shaolan sie dabei gehört hatte. Um Fyes Reaktion machte er sich weniger Sorgen, aber Fye wiederum könnte das zum Anlass nehmen, Kurogane aufzuziehen und dann würde der Ninja mit Sicherheit platzen.

So unangenehm es ihm selber auch war, es hatte etwas Beruhigendes zu wissen, dass die beiden sich nahe waren, besonders nach einem Streit natürlich, aber auch ganz im Allgemeinen, denn beide hatten so viel durchgemacht, dass sie jedes erdenkliche Glück verdient hatten. Speziell Fye wirkte so viel gelöster und glücklicher, seit sie Fei Wang besiegt hatten. Man hätte wohl sagen können, dass er zu dem Menschen zu werden schien, den er zu Beginn ihrer Reise vorgegeben hatte zu sein, aber Shaolan wusste es besser. Fyes echtes Ich strahlte viel heller als das, was er damals künstlich aufgesetzt hatte. Und so freute es den Jungen besonders für ihn, der so lange keine Liebe erfahren hatte, dass er jetzt jemanden hatte, der ihn so bedingungslos liebte.

Wenn auch gerade etwas laut.

Shaolan lächelte gequält und drückte das Kissen noch etwas fester gegen seine Ohren. Nein, er würde dies ganz bestimmt nicht ansprechen. Vielleicht wäre es Kurogane so peinlich, dass er dann in Zukunft davon absehen würde, mit Fye … nun ja.

Hatte er je seine leiblichen Eltern dabei erwischt? Wenn ja, dann hatte er es erfolgreich verdrängt. Zum wiederholten Mal hielt Shaolan irritiert inne.

Seine leiblichen Eltern. Schon wieder.

Der Junge hatte keine Gelegenheit weiter darüber nachzugrübeln, denn ein weiteres eindeutiges Geräusch (Oh nein, war das dieses Mal Kurogane gewesen??), ließ ihn mitsamt seinem Kissen und einem sonnenuntergangsrotem Gesicht unter die Bettdecke rutschen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Zugegeben, ich habe einfach Spaß daran, Shaolan in Verlegenheit zu bringen. XD Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Lady_Ocean
2022-08-07T11:56:15+00:00 07.08.2022 13:56
Dieses Kapitelende. Ich grinse bis über beide Ohren. Und ich finde es einfach toll, wie du die Chemie zwischen den beiden darstellst. Wie sie auf der einen Seite aufgeklärt und erwachsen sind und wissen, was da zwischen ihnen los ist, auf der anderen Seite aber immer noch um einander herumtanzen. Ein "Ich liebe dich" würde wohl keinem von beiden je über die Lippen kommen. Und auch Entbehrungen stehen offenbar auf der Tagesordnung, bis sie es beide nicht mehr aushalten. Ich war mir bisher nicht mal sicher, ob sie überhaupt schon mal miteinander geschlafen hatten oder ob das zwischen ihnen rein platonisch geblieben ist. Auf diese Frage habe ich nun ja eine Antwort bekommen. :) (Armer Shaolan! XDDD) Und derweil vermute ich auch, dass Fyes Appetitlosigkeit und Übelkeit von einer tatsächlichen Schwangerschaft herrühren könnte. Kuroganes ernstgemeinte Frage danach, ob Fye sich nicht wieder in irgendwas Unerfüllbares verrennt, könnten auch ein Vorbote in diese Richtung gewesen sein. Ich muss sagen, ich bin jetzt nicht unbedingt ein Fan von MPreg, aber ich lese es auch mal mit, wenn die Geschichte insgesamt noch mehr zu bieten hat. Und hier bin ich ja auch darauf gespannt, wie die Suche nach Shaolans Eltern weitergeht und Fyes Aufarbeitung seiner Vergangenheit. Außerdem, ob die Magie dieser Welt vielleicht ihren Teil dazu beiträgt, dass das Fye gerade so intensiv wieder einholt und was sie in dieser Welt evtl. generell noch erwarten könnte. Z. B. wenn irgendwann vielleicht doch rauskommt, dass Fye keine Frau ist. Und woher Fyes Gefühl kommt, dass mit der Magie dieser Welt irgendwas nicht stimmt. Also es gibt 'ne ganze Menge offener Fäden, deren Weitergang mich interessiert. :)
Fyes Kommentar übrigens, „Ah, kein Dichter hat je etwas Romantischeres gesagt“, war herrlich! Kuroganes trockenes Statement davor war ja schon wunderbar, aber diese Erwiderung war absolut top! ^^
Antwort von:  rokugatsu-go
13.08.2022 13:35
Was freut mich das, dass die letzte Szene so gut angekommen ist. XD
Außerdem strahle ich wegen deines Kommentars über beide Ohren. Die Beziehung zwischen Fye und Kurogane ist einfach etwas Besonderes und da erfüllt es mich mit Freude, wenn ich es geschafft habe, diese gut darzustellen. ^_^
Das beste Pairing aller Zeiten! Es ist so schön, Dialoge für die beiden zu schreiben.
Und, ja, armer Shaolan ... hehehe. XD
Ich finde es so toll, wie du über meine FF nachdenkst und sie analysierst. ^^ Ich würde immer so gerne etwas darauf antworten, aber ich will ja nichts verraten. Ich könnte aber verraten, dass ein wiederkehrendes Motiv in Fyes Albträumen auftaucht ... dabei belass ich es mal fürs Erste. ;)
Ich hoffe, du bleibst weiterhin gespannt. Ich bin schon sehr gespannt, was du zu den nächsten Entwicklungen sagen wirst. ^^
Vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar!


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