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Gregors Necronomicon

von
Koautoren:  Sam_Linnifer  Gezeitenfeuer

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Vorwort

Es ist seltsam. Hier zu sitzen, die leeren Seiten anzustarren, den Blick zum Tintenfass, der wartenden Feder, der langsam vom Feuer versehrten, zerfließenden Kerze schweifen zu lassen. Und zurück zu den leeren Seiten. Ich hätte nie vermutet, dass ein paar Seiten Papier, noch ungebunden, nicht verleimt, irgendwann einmal so wichtig werden könnten.

Aber ich habe mich entschieden, ein Kapitel meines Lebens zu beenden. Umzublättern. Und dieses Buch, das noch keines ist, soll mir helfen, ein Neues zu öffnen. Es soll mich hinein bringen und mit etwas Glück auch hindurch begleiten.

 

Mein Name ist Gregor Richard Raduson, Sohn von Radu und Shiana, großgezogen von Marisa, Bruder von Johanna. Während ich diese Worte schreibe, bin ich 36 Jahre alt. Geboren wurde ich in Estwen, einem kleinen Dorf im Norden Lumiéls. Ich gehöre dem Volk der Menschen und dem der Elben an. Oder keinem von beiden – je nachdem, wen man fragt, schätze ich. Und obwohl mir das ab und an kleinere Hürden bereitet hat, habe ich nie die gleiche Verfolgung und Ablehnung erfahren, die anderen Halbelben zuteilwurde. Das ist vermutlich auch ganz gut so, ich hatte schließlich genug an einem anderen Päckchen zu tragen, auch wenn ich mich stets bemühte, mich davon nicht zu sehr herunterziehen zu lassen.

 

Dieses andere Päckchen ist der Grund für dieses Buch. Ich höre auf damit, wegzulaufen. Mich herauszuwinden. Mich erklären oder verstecken zu wollen. Ich recke stolz das Haupt, bleibe stehen, wende mich um und stelle mich dem, was kommen wird.

 

Ich bin Gregor Richard Raduson – und ich bin Schwarznekromant.

 

Bevor du, werter Leser, diese Seiten jetzt schließt, das Buch verteufelst, es verbrennst und mir das gleiche Schicksal wünschst oder wenigstens hoffst, dass ich die Flammen auf dem Buch irgendwo – wo immer ich sein mag – spüren werde. Lies weiter. Schenk mir nur ein paar Zeilen mehr deiner kostbaren Aufmerksamkeit und ich versuche, dir etwas begreiflich zu machen:

 

Ich bin nicht euer Feind. Keiner von uns ist das.

 

Es gibt wenige, die mit der Gabe zur Schwarznekromantie geboren werden. Die meisten sind vielmehr Magier des Zirkels oder Ordens, die sich gezielt dieser Schule verschreiben. Wer sich diese Fähigkeiten nicht aussucht, nie aussuchen konnte – sollte der wirklich für etwas bestraft werden, das ihm so nahe und vertraut ist wie jedem anderen das Hören und Sehen?

 

Wenn ein Schwarznekromant isst, dann nur, um seine Kräfte für die nächste Animation eines Untoten zu stärken.

Wenn ein Schwarznekromant einen guten Morgen wünscht, dann nur, weil er hofft, dass er den Arglosen später in einen Untoten verwandeln kann.

Wenn ein Schwarznekromant schläft, dann sicherlich nur, um davon zu träumen, wie er Untote erweckt.

 

Unsereins steht in dem Ruf, Gift für unser Umfeld zu sein, Seuchen zu verbreiten, allem Lebendigen übel mitspielen zu wollen.

Aber das ist Unsinn.

Zeit meines Lebens habe ich nie jemandem mutwillig Schaden zugefügt. Ich habe mich verteidigt, wie es eines jeden Recht ist – aber war dabei nie unnötig grausam. Im Gegenteil. Ich liebe das Leben und ich habe es in vollen Zügen genossen. Ich hatte viele Liebschaften über die Jahre, bin viel herumgereist, habe das Land gesehen, die Leute kennengelernt, mich für die Schwachen eingesetzt, den Bedürftigen geholfen. Ich war ganz sicher kein Heiliger – darauf will ich nicht hinaus. Ich habe mehr als genug gebrochene Herzen und ein paar wütende Väter zurückgelassen.

Aber ich war auch nicht die Landplage, die man von einem Schwarznekromanten erwarten würde.

 

Mit euren Vorurteilen macht ihr uns das Leben noch viel schwerer, als es ohnehin ist. Eure Worte verletzen. Und was ihr befürchtet, was ihr unterstellt, das macht uns Angst. Wir beginnen unsere eigenen Fähigkeiten zu fürchten. Und jeder Mann, der in seinem Leben irgendwann einmal aus der Not heraus eine Waffe heben musste wird sich vorstellen können, was es bedeutet, vor einem Werkzeug Angst zu haben und es dennoch benutzen zu müssen.

 

Dabei könnten wir so viel mehr sein. Wenn ihr nur zuhören würdet, wenn ihr nur helfen würdet, führen würdet, statt zu strafen und zu verachten. Wir stehen König Xarak und seinen Legionen der Untoten näher als irgendwer sonst, das stimmt. Und das Flüstern, dass mancher hört, ist eine Bürde auf unseren Schultern, der wir uns täglich stellen müssen, zu jeder Stunde des Tages. Aber es erlaubt uns auch, ein so viel tieferes, besseres Verständnis für den Feind allen Lebens zu entwickeln.

 

In einer schon ewig andauernden Schlacht gegen einen nahezu unbekannten Feind – ist da nicht jede noch so kleine Krume an Informationen wert und wichtig? Ich will mit diesem Werk versuchen, den Ruf von uns Schwarznekromanten ein wenig aufzubessern. Indem ich offen spreche und bereitwillig teile, was ich über die Jahre habe herausfinden können. Und vielleicht bewegen diese Geschichten tatsächlich manchen dazu, umzudenken. Zu helfen, statt zu verurteilen.

 

Und wenn schon nicht das – dann hoffe ich zumindest, dass du über meine Missgeschicke wirst schmunzeln können, die hier unweigerlich zur Sprache kommen werden…

Attic Whisperer

Die erste Liebe, so sagt man, vergisst man nie. Ich wäre vielleicht etwas vorsichtig, was das Nie betrifft, aber zumindest würde ich doch zustimmen, dass erste Male in vielen Fällen etwas Besonderes sind.

Mia, liebste Mia ich… nun, eigentlich kannten wir uns nicht besonders gut. Du lebtest in dem Dorf, in dem auch ich groß geworden bin, mit meinem Vater und Johanna, nur ein paar Häuser weiter. Die Tochter des Schlachters, vielleicht ein, zwei Jahre älter als ich und fraglos das hübscheste Mädchen im Dorf, wenn auch zugegeben die Konkurrenz in Estwen… überschaubar war.

Natürlich war ich nicht der Einzige, der ein Auge auf sie geworfen hatte, bei weitem nicht. Mit ihrem glänzend braunen Haaren und den blauen Augen, einer kleinen Stupsnase voller Sommersprossen und zumindest bereits der Andeutung üppiger Kurven zog sie fraglos so manchen Blick auf sich, auch wenn die meisten, so auch ich, einen gesunden Respekt vor dem Metzgerbeil ihres Vaters hatten. Ein Bär von einem Mann. Ein bisschen wie Thorin, wenn ich recht überlege, nur dass Mia eher wenig mit Ishara gemein hatte. Sie genoss die Aufmerksamkeit, die sie erhielt und sonnte sich regelrecht darin.

Mias Mutter wiederum war ein recht farbloses Ding. Aber sie kannte sich ein wenig mit Pflanzen und Kräutern aus, was im Grunde die Grundlage für all das bildet, was geschehen ist, und von dem ich hier berichten möchte.

Nicht, dass Mias Hintern nicht auch eines Kapitels in einem Buch wert gewesen wäre, aber hier geht es schließlich um den Untod und keine Sorge, irgendetwas hat das alles auch bestimmt damit zu tun.

Im zarten Alter von vierzehn also, nachdem schon ein wenig Zeit gewesen war, mir darüber klar zu werden, wie sehr ich Mias Lächeln mochte, brachte genau dieses Mädchen mir indirekt eine meiner ersten Begegnungen mit den vielen Facetten des Untodes ein. Und nein, ich bin wirklich nicht gewillt, das Eichhörnchen, das Vater zu Demonstrationszwecken wieder auferstehen ließ und eine Weile als Haustier hielt, bis der Gestank zu schlimm wurde, gelten zu lassen. Über Mr. Nuts reden wir am besten einfach gar nicht.

Eigentlich ist es eine traurige Geschichte. Ich vermute zumindest, viele von euch werden es so sehen und am Anfang hätte ich das fraglos ebenso, doch inzwischen habe ich mich an die Dinge gewöhnt, wie sie sind und es wäre schwer, zu sagen, ob es anders wirklich besser gewesen wäre.

Ich muss mich beeilen, während ich diese Zeilen schreibe und vorsichtig sein. Sie darf keinesfalls zurückkommen und mir dabei wieder über die Schulter schauen. Das hat zum einen pädagogische Gründe, dient zum anderen aber auch meinem bloßen Überlebensinstinkt. Und erspart mir blaue Flecken und wochenlanges Gezeter.

Da ich dir also, werter Leser, die Zusammenhänge dieses etwas wirren Szenarios, erläutern werde, möchte ich dir von meiner kleinen Schwester erzählen. Von Johanna.

Wir teilen nicht die gleiche Mutter. Die ihre, Marisa, war eine Bäuerin aus Estwen, die die Geburt des Kindes jedoch nicht überlebte. Ich war damals sehr jung und erinnere mich nur vage, auch wenn ich glaube, dass es da eine unschöne Geschichte mit dem Leichnam gab. Verständlich, dass Vater außer sich war, aber darum geht es hier schließlich nicht. Es geht um Johanna.

Das vorlauteste, vorwitzigste Balg, das man sich vorstellen kann - an schlechten Tagen jedenfalls. Wie das mit kleinen Geschwistern so ist, viele von euch werden es wissen, sie sind eine Strafe der Götter und eine Plage und nur manchmal, zu seltenen, ausgesuchten Gelegenheiten, sind sie eigentlich ganz in Ordnung.

Natürlich war sie Vaters Augenstern und überzeugt, dass jedes meiner Privilegien als älterer Bruder ihr hundertfach zustand und ich ohnehin nur existierte, um ihr zu gefallen zu sein und mit ihren Puppen Tee zu trinken. Und auch wenn manche von denen ja ganz nett waren… das war natürlich einfach inakzeptabel. Und noch schlimmer war, dass sie mir ständig nachschlich, um nur ja nichts zu verpassen. Was ich tat, das wollte sie tun. Was ich hatte, wollte sie haben. Wo ich war, wollte sie sein…

Eigentlich… hat sich seither nicht viel geändert, schätze ich. Ein, zwei unbedeutende Kleinigkeiten höchstens. Dass sie gestorben ist, beispielsweise. Es hat lange gedauert, darüber hinweg zu kommen, dass es nicht wirklich meine Schuld war. Auch wenn es natürlich die Pflicht eines großen Bruders ist, die kleine Schwester zu beschützen.

Ja, ich habe ihre Jacke versteckt - aber doch nur, damit sie zu Hause blieb und mir nicht nachschlich! Wenn man loszieht, um das Mädchen seiner Träume zu beobachten und vielleicht sogar den einen oder anderen Einblick zu erhaschen, dann kann doch wirklich niemand erwarten, dass man seine achtjährige Schwester mitnehmen möchte!

Außerdem ist Estwen gegenüber solcherlei Unterfangen ohnehin schon feindlich genug eingestellt. Allein das Klima! Viel zu kalt für ein heimliches Bad im Fluss oder andere Gelegenheiten außerhalb des Hauses nackte Haut zu zeigen. Aber zumindest gab es da diese alte, knorrige Eiche neben dem Haus des Schlachters und ich wusste, welches Zimmer das Ihre war…

Die Begebenheiten jenes Abends sind eigentlich gar nicht so wichtig, wenn ich es mir recht überlege. Kein Grund, zu viele Worte zu verlieren. Wichtig ist das Resultat. Denn natürlich schlich sie mir trotzdem nach, auch ohne Jacke und das wiederum führte letztlich zum einen dazu, dass ich gar nichts zu sehen bekam, dafür aber gesehen wurde, und zum anderen, dass ich sie, mit verletztem Stolz und nach einem schmerzhaften Abstieg aus dem Baum, mit wundem Hinterteil fürchterlich anschrie.

Ich bin alles andere als stolz darauf, aber Streit unter Geschwistern kann nun einmal leicht eskalieren und nachdem wir uns sämtliche Gemeinheiten an den Kopf geworfen hatten, die uns einfielen und ich meine überlegene Rhetorik bewiesen hatte, lief sie fort während ich mich schleunigst vor gewissen Fleischerbeilen in Sicherheit brachte. Wer hätte denn ahnen können, dass sie die halbe Nacht draußen bleiben würde, ehe Vater sie fand?

Dass sie sich dabei allerdings eine fürchterliche Erkältung zuzog, das war wenig überraschend und der Grund, warum gerade ich zwei Tage später an Mias Haus klopfen musste, um mit Mias Mutter zu sprechen. Der Medizin wegen. Die Tatsache, dass ich lebend herauskam verriet mir zumindest, dass sie nicht gepetzt hatte - aber die Tatsache, dass sie dort war und ihr Blick unablässig auf mir ruhte, gab mir zumindest das Gefühl, vor Scham zu sterben. Auch wenn, im Nachhinein betrachtet, sie vielleicht einfach zu den Weibern gehörte, die derlei als Kompliment betrachten und sich gerne zur Schau stellen.

Wohl aus blankem Sadismus richtete sie es sogar so ein, mich nach Hause zu begleiten. Hier war ich nun, am Ziel meiner Wünsche und kostbare Minuten mit ihr allein und brachte nicht ein einziges Wort hervor. Mia hatte da glücklicherweise sehr viel weniger Schwierigkeiten…

„Du schuldest mir was“, erklärte sie ganz selbstverständlich. Und wer war ich schon, zu widersprechen? Sie hielt mich am Arm fest, damit ich mich ihr zuwandte. Mir war nie aufgefallen, dass sie zu diesem Zeitpunkt einen halben Kopf größer war als ich, aber auch wenn ihr Gesicht hübsch war, bot der gesenkte Blick nicht nur Nachteile…

„Du… hast Ahnung von Geistern, oder? Ich meine, mir ist klar, dass die ganzen Geschichten, die man sich über euch erzählt, Unsinn sind, aber irgendetwas verstehst du davon?“ Ich nickte. Wenn sie mich so fragte, hätte ich wohl behauptet, mich auszukennen - ganz egal worum es ging. Und wenn ich ehrlich bin? Zu diesem Zeitpunkt wusste ich über Geister auch nicht mehr, als die Folklore hergibt. In meines Vaters Unterricht war ich ja erst bei untoten Eichhörnchen angelangt. Mia aber wirkte trotz meines leicht glasigen Blicks zufrieden.

„Gut. Dann wirst du mir helfen. Triff mich heute Abend kurz vor Mitternacht unter dem Baum. Und sei diesmal leiser.“ Sie grinste und ließ mich ein Stück vor der Haustür stehen, von wo ich ihr noch eine ganze Weile wie ein Idiot zurückgrinsend nachstarrte. Eine kleine Randnotiz, werte Leser. So viel ist wahr. Mitternacht ist eine wirklich schlechte Zeit, um auf Geisterjagd zu gehen. Es gibt streng genommen zwar nicht wirklich eine gute Zeit dafür, aber diese ist besonders schlecht. Nur… was kümmerte das einen verliebten Narren?

Ich brachte die Medizin nach Hause und nachdem ich noch immer wütend auf Johanna war, wenn auch vielleicht nicht mehr ganz so sehr, überließ ich es Vater, sich um sie zu kümmern. Schließlich… war es ja auch nur eine Erkältung.

Ich war ziemlich aufgeregt, als ich mich davon schlich. Nicht, dass es sehr schwer gewesen wäre. Mein Vater saß schließlich in Johannas Zimmer und las ihr vermutlich irgendwelche blöden Kindergeschichten vor, aber schließlich stand ich kurz davor, mich mit Mia zu treffen. Nur wir beide in tiefster, einsamer Nacht… da hatte die Sache mit den Geistern für mich schon ziemlich an Bedeutung verloren. Für sie jedoch leider nicht.

„Komm mit“, wies sie mich an, ehe ich auch nur den Mund öffnen konnte. Sie trug eine kleine Blendlaterne bei sich und hatte sich in einen dunklen Wollumhang gehüllt, der leider nicht mehr viele Einblicke zuließ. Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich um und folgte der Straße aus dem Dorf, zum verlassenen Gehöft.

Ich bin sicher, ihr kennt das. So einen Ort gibt es doch in jedem Dorf. Einen alten Friedhof, eine Kirche, ein unheilvolles Waldstück… der Ort, an dem Kinder ihre Mutproben austragen und sich den Geschichten nach die absonderlichsten Kreaturen vor lauter Platzmangel auf die Füße treten. In Estwen war es ein alter, zur Hälfte ausgebrannter Gutshof.

Nicht, dass ich viel auf die Geschichten gab, doch mitten in der Nacht dorthin zu gehen war mir doch ein wenig unbehaglich und bei aller Liebe war es doch nicht gerade der Ort, den ich für ein Stelldichein ausgesucht hätte. Nun… ich bin schon immer gut darin gewesen, einfach mit dem zu arbeiten, was sich bietet.

„Weshalb sind wir hier?“, erkundigte ich mich mit gesenkter Stimme, als wäre da irgendwer oder irgendetwas, das uns hätte hören können. Und wer weiß, vielleicht ging es ja tatsächlich nur darum, mir einen gehörigen Schrecken einzujagen - als Rache für die Spannerei? Hier konnten sich gut und gerne ein paar Jugendliche aus dem Dorf versteckt haben, um mich zu erschrecken… nicht, dass es ihnen gelingen würde!

„Wegen Jonathan. Ich glaube er ist hier.“

„Jonathan?“

„Mein Bruder“, erklärte sie ein wenig unwirsch und ich legte die Stirn in Falten.

„Ist er nicht…?“, begann ich dann und wurde harsch unterbrochen.

„Was glaubst du denn, warum ich von Geistern geredet habe? Aber wenn er einer ist, dann muss er erlöst werden und dabei hilfst du mir.“

Zugegeben, ich hatte mir… etwas anderes erhofft. Und ich wusste im ersten Augenblick nicht recht, was ich von der Sache halten sollte. Jonathan… der Junge musste vor zwei oder drei Wintern im Eis eingebrochen und ertrunken sein. Oder erfroren, ich weiß nicht, was in so einem Fall zuerst passiert.

„Wie… kommst du darauf, dass er hier ist?“, erkundigte ich mich und wollte gerade zu einem klärenden Gespräch ansetzen, als sie mich mit einer Geste zum Schwiegen brachte. Wir waren jetzt ganz nahe an der Ruine.

„Psst! Hör doch.“ Und ich hörte es. Ein leises, hohes Wimmern und Weinen. Die Stimme eines Kindes, seltsam und hallend, die mir einen Schauder über den Rücken jagte. Also… bildete sie sich doch nichts ein? Oder es war ein sehr viel besserer Streich als gedacht.

Natürlich rechnete ich mir meine Chancen aus. Geister, was wusste ich von Geistern? Aber ich war jung und von mir überzeug und vor allem bezaubert von der Vorstellung, was sie wohl tun würde, wenn ich, der strahlende Held, die Maid in Nöten rettete. Also bemühte ich mich, meine Angst nicht zu zeigen und nickte ernsthaft. „Dann sollten wir uns das ansehen. Es scheint von oben zu kommen.“

Ein wenig sorgte ich mich ja, ob das Haus nicht einfach einstürzen würde, wenn wir es betraten. Doch obwohl die Treppe grässlich knarzte und kein Geländer mehr besaß, hielt sie stand. Die Quelle der Geräusche schien sich auf dem Dachboden zu befinden und schließlich kletterten wir nach oben. Mia dabei derart resolut, dass ich mich doch fragen musste, warum ich eigentlich hier war. Zunächst war nichts zu sehen. Nur zahllose Kisten mit altem, ausgebranntem Gerümpel und wie es sich gehörte, begann Mias Lampe zu flackern, bis sie schließlich erlosch.

Wir drängten uns dichter aneinander und ich wünschte wirklich, ich hätte es genießen können, doch plötzlich schien das Wimmern und Weinen überall zu sein, uns regelrecht zu umzingeln. „Jonathan?“, erkundigte sich Mia heiser und irgendwie war ich mir sicher, dass das nicht ihr kleiner Bruder war.

„Zeigt euch!“, verlangte ich mit mehr Mut, als ich tatsächlich besaß und bereute es sogleich.

Ein geisterhafter Schimmer löste sich hinter einigen Kisten und etwas trat hervor, ätherisch, aber nicht durchscheinend, wie man es von einem Geist erwartet hätte. Die Gestalt war so groß wie ein Kind und in ein zerlumptes, gräuliches Gewand gekleidet, auf dem Kopf trug sie entweder einen Tierschädel oder aber dieser Schädel war der Kopf und hinter den leeren Augenhöhlen glomm Dunkelheit.

„Ich glaube nicht, dass das dein Bruder ist. Wir sollten gehen“, schlug ich mit kaum zitternder Stimme vor, nur um festzustellen, dass da nicht nur eines dieser Wesen war, sondern drei und dass sie uns eingekreist und den Weg zur Leiter abgeschnitten hatten. Jetzt war Mia die Angst deutlich anzusehen. „Lauf! Ich… halte sie auf. Irgendwie!“, ich bin sicher, zumindest auf sie wirkte das ziemlich heroisch. Aber es nutzte ohnehin nichts.

Die Kreaturen kamen näher und eine von ihnen schlug mit einer abgewetzten, angesengten Puppe im Arm nach ihr. Mia schrie und schlug ihrerseits nach der Kreatur, die sie mit knöchernen Kiefern in die Hand biss. Lautlos sackte das Mädchen in sich zusammen und blieb einfach liegen, während die Kreatur sich mir zuwandte.

„Uhm… können wir nicht darüber reden? Tut mir wirklich leid, dass wir euch gestört haben, aber das war nur ein Missverständnis. Wirklich!“

„Spiel mit uns“, verlangte das Wesen, das zugebissen hatte, mit Mias Stimme und ich erstarrte.

„Bleib bei uns“, rief ein anderes mit hohem, weinerlichen Klang und auch diese Stimme schien vage vertraut.

„Geht nicht wieder weg!“ Sie rückten näher und panisch ging ich meine Möglichkeiten durch, griff wahllos in eine der Kisten und fand mich mit dem Sockel einer Nachttischlampe bewaffnet, mit dem ich sie mir irgendwie vom Leib zu halten versuchte. Aber selbst wenn es mir gelang, ihnen auszuweichen… was war mit Mia?

„Was habt ihr mit ihr gemacht? Wer seid ihr?“, verlangte ich zu wissen, wirklich bemüht, nicht in Tränen auszubrechen - denn dafür war ich eindeutig zu alt. Warum genau hatte Vater mir eigentlich nicht die wirklich wichtigen Dinge beigebracht? Wie man Geistern befahl, beispielsweise, oder sie verbannte, oder sich gegen sie verteidigte?

Heute weiß ich, was mir dort begegnet ist. Bei Attic Whisperern handelt es sich um die Geister ungeliebter und verlassener Kinder. Oder nicht direkt den Geist, sondern durch selbigen animierte Gegenstände aus ihrem Besitz. Spielzeuge und Kleidung beispielsweise, die sich nach dem Tod des Kindes zu einer kindsgroßen, geisterhaften Kreatur erhoben. Angetrieben von Einsamkeit und tatsächlich mit einer natürlichen Vorliebe für Schädel. Ich vermute, sie verwenden sie als Dekoration, weil ihnen ein eigenes Gesicht fehlt.

Sie stehlen Stimmen und umgeben sich mit einer immerwährenden Aura eben dieser weinenden und flehenden Stimmen. Ihre Berührung entzieht Lebenskraft und ihr Biss bringt einen tiefen Schlaf hervor, aus dem das Opfer in der Regel nicht mehr erwacht.

Dabei kann man nicht einmal sagen, dass sie tatsächlich bösartig sind. Letzten Endes… suchen sie nur nach Gesellschaft und das bekommt denen, mit denen sie sich anfreunden wollen, nicht sehr gut. Tatsächlich verwenden sie die gestohlenen Stimmen oft, um zu locken und zu täuschen, legen Spuren aus Spielzeug und ähnliches.

Damals wusste ich nichts davon und ich bin auch nicht sicher, ob es mir irgendetwas geholfen hätte. Wichtig war allenfalls die Tatsache, dass Attic Whisperer, weil sie aus tatsächlicher Materie bestanden – anders, als die meisten Geister - physisch verwundbar waren. Nicht, weil ich mit meiner Lampe viel ausrichten konnte, oder sie damit davon abhielt, mir die Stimme oder die Lebenskraft zu nehmen, bis ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte… sondern, weil im letzten Augenblick etwas anderes geschah.

„Lasst meinen Bruder in Ruhe!“ Sie konnte mir doch unmöglich schon wieder gefolgt sein? Wie gern hätte ich sie, der Situation zum Trotz, angefahren, sie solle sich nach Hause scheren - ins Bett, wo sie hingehörte, wenn sie krank war. Aber ich brachte ja keinen Ton mehr hervor und vermutlich wäre mir das auch mit meiner Stimme nicht gelungen, als ich sie sah.

Da war Johanna barfuß und in ihrem Nachtgewand, umgeben von einem silbrigen Schimmer und so durchsichtig wie Wasser. Was das implizierte… ließ mich alles andere vergessen. Sie streckte die kleinen Hände aus, das Gesicht voll trotziger, kindlicher Wut und ihr Haar flatterte in sprichwörtlich geisterhaftem Wind, während sie etwa einen Handbreit über dem Boden schwebte.

Dutzende alte Kisten und Gegenstände erhoben sich auf ihren bloßen Willen hin und gingen auf die Attic Whisperer nieder, zermahlten die Schädel und alles, was ihren Körpern Substanz gegeben hatte. Im nächsten Augenblick lief sie zu mir und ich wurde mir bewusst, dass ich irgendwann in die Knie gegangen war. „Ich hatte solche Angst!“, jammerte sie tränenreich und stellte mich vor die schwierige Aufgabe, einen Geist zu umarmen, während Mia halb vergessen und unter Gerümpel vergraben neben der Leiter lag und langsam erwachte.

Natürlich hat sie im Nachgang nie wieder mit mir gesprochen oder mich eines Blickes gewürdigt, aber… die erste Liebe ist ja eine schöne Sache. Doch nichts geht über Familie. Und was dieses Kapitel letztlich zeigen soll… glaubt niemals, ihr wüsstet irgendetwas über Geister.

Kadaver

Meine erste Geschichte. Spannend, irgendwie.

 

Sie sind die wandelnden Toten, sie sind die halb verrotteten Leichen, sie sind das Fußvolk Xaraks. Der Zirkel nennt sie Kadaver. Und so ziemlich jeder Abenteurer, der jemals alte Ruinen betreten, seine Nase zu tief in still und dunkel daliegende Tunnelsysteme gesteckt oder in verwaisten Dörfern am Rande gruseliger Wälder herumgestochert hat, ist ihnen schon begegnet.

Ich habe Freunde. Freunde unter Magiern und Freunde, die Untote sogar noch besser verstehen als ich. Oder viele andere Schwarznekromanten. Und auch solche habe ich befragt.

Wenn man das Puzzle zusammensetzt, alle Informationen zusammen trägt, dann ergibt das ein eigentlich ziemlich trauriges Bild.

Kadaver sind das Fußvolk, ja. Aber offenbar sieht König Xarak sein Fußvolk als billig, massenhaft verfügbar und entbehrlich an. Es wird so gut wie keinerlei Mühe betrieben, eine solche Kreatur zu erschaffen. Ein Minimum an Energie und Einsatz, gerade genug, sie aus Ereshkigals und Memerus‘ Klauen zu reißen und in diese gottverhasste Existenz zu sperren.

Dieser Mangel an Sorgfalt hat Folgen.

Die Spuren zeigen sich häufig schon wenige Wochen oder Monate später. Kadaver zerfallen. Sie verrotten und verwesen immer weiter. Das Fleisch auf ihren Knochen ist magisch behandelt, der Prozess ist verlangsamt, sicherlich. Aber sie zerfallen dennoch, Stück für Stück, immer weiter. Und das führt zum Hunger.

Ein solcher Untoter muss fressen, wenn er seine Existenz erhalten will. Inzwischen sollte es eigentlich weit verbreitetes Grundwissen sein, dass in jedem Lebewesen, jedem Baum, jedem Stein Magie liegt. Selbst wenn man sie nicht zu spüren oder gar zu nutzen fähig ist, sie ist da. Diese Energie ist es, die die Untoten tatsächlich wollen, wenn sie jemanden zu packen bekommen und zu fressen anfangen. Denn jeder Brocken Fleisch enthält winzigste Spuren Magie, die ihren Zerfall noch ein kleines bisschen länger hinauszögern kann.

Das ist nämlich das wirklich Grausige daran: Die Verwandlung in einen Kadaver muss zügig erfolgen, bis zu wenigen Tagen oder maximal ein, zwei Wochen nach dem Tod des Opfers, ehe die Verwesung schon zu stark ist. Und irgendwie bedeutet das wohl auch, dass ihr Verstand zurückkehrt. Aber eben nur ein Teil davon, weil so wenig Energie darauf verwendet wird, es ordentlich zu machen. Ihresgleichen läuft so langsam, weil ihr Verstand langsam arbeitet. Weil jeder Gedanke quälend langsam und zäh daher getrottet kommt. Sie sehen etwas – aber bis sie es verstanden haben, vergeht seine Zeit.

Und ihre Persönlichkeiten sind ebenso fragmentiert vorhanden. Manche erinnern sich an Kleinigkeiten. Daran, warum sie noch immer ein Brautkleid tragen. Oder was es mit den Scharten auf ihrer Lederrüstung zu tun hat. Sie erinnern sich daran, wie man ein Rapier benutzt oder einen Schild auf dem eigenen Unterarm aufbockt. Aber es ist nicht alles da. Sie erkennen vielleicht Gesichter von alten Liebschaften, von ehemaligen Familienangehörigen. Aber wenn sie zögern? Dann gibt es irgendwo weit entfernt einen grausamen König, der sie schlicht zwingt, diese bekannten Gesichter dennoch anzufallen.

 

Ich habe es mit Marissa seinerzeit selbst erlebt.

Ihre Eltern waren keine guten Leute gewesen. Das scheint auch ein wenig das Risiko zu erhöhen, das man ‚rekrutiert‘ wird. Ich weiß nicht wirklich, was genau sie getan haben. Mit Marissa und anderen. Aber ich weiß, wie ein blauer Fleck aussieht, wenn man aus eigenem Ungeschick eine Treppe herabstürzt – und das war nicht die Ursache ihrer blauen Flecken.

In der Gegend gab es sowieso schon ständig Probleme mit Leuten, die beigesetzt wurden, aber einfach nicht liegen blieben. Als ich ins Dorf kam… ich weiß nicht genau, was sie in mir sah. Abenteuer, den mysteriösen Fremden – zugegeben, ich habe längst nicht immer nachgefragt.

Ich bemühte mich stattdessen, die Stimmung ein wenig zu heben. Mit wenig Erfolg, was die Gemeinde anging. Aber immerhin gewann ich ihre Gesellschaft und ihr Interesse für mich. Und als nach einer Woche ihre Eltern an der Lungenentzündung starben, die sie sich eingefangen hatten, da war ich an ihrer Seite, um sie zu Grabe zu tragen.

Und dann zu wachen, ob sie liegen bleiben würden.

Was sie nicht taten.

Man kann sich den Horror nur schwer vorstellen, den es bedeutet, die eigenen, frisch beerdigten Eltern nur wenige Stunden später wieder aufstehen zu sehen. Zu sehen, wie ihre Augen einen erkennen, sie einen aber dennoch anfallen. Ihr Vater und ihre Mutter erhoben sich gleichzeitig. Aber während er uns sofort attackierte, bemühte sie sich, davon zu kommen.

Marissa war, verständlicherweise, zutiefst schockiert. Geradezu paralysiert von ihrer Furcht. Ich dagegen, nun. Wie ich schon sagte: Wir Schwarznekromanten stehen dem ganzen Desaster etwas näher, begreifen es. Und sofern unser Umfeld uns nicht hysterische Panik vor unseren eigenen Fähigkeiten gelehrt hat, sind wir fähig, zu handeln.

Ich war nie sonderlich gut mit einem Schwert. Inzwischen bin ich recht passabel, aber damals empfand ich es als sinnvoller, die Schaufel zur Waffe meiner Wahl zu machen. Also schlug ich auf ihn ein. Trieb ihn zurück und brachte ihn zum Sturz. Ich versuchte ihn unten zu halten, aber weil sein Körper noch so frisch war, hatte er mehr Muskulatur und war dadurch stärker als ich.

Dann aber fiel mir der stechende Geruch auf. Nicht nach Tod und Verwesung – dafür waren sie längst nicht lange genug unter der Erde gewesen. Aber nach Schnaps.

Mitten in einem Kampf um Leben und Tod musste ich eine völlig eingefrorene Marissa irgendwie wachbrüllen, das sie mir auf die Frage antworten konnte, mit was für Habseligkeiten man ihren Vater beigesetzt hatte. Wie sich herausstellte: Mit seinem Flachmann, unter anderem. Einer meiner Schaufelschläge vor die Brust musste den Verschluss des Dings irgendwie verzogen haben. Anders kann ich mir nicht erklären, wie es aufgegangen sein sollte.

Oder er hatte in seinem Sarg einen Schluck genommen, bevor er sich entschied, emporzusteigen.

So oder so bedeutete das für mich eine Rettung aus der Situation: Ich lotste ihn flüchtend zu einer Fackel. Und wie erwartet… brannte er wie Zunder.

 

Das ist nämlich bei ihresgleichen eine der besten Waffen, die man hat. Feuer. Natürlich kann man es auch mit Gebeten versuchen – aber mal ehrlich, wer erinnert sich in so einer Situation noch an die korrekten Verse und hat Zeit und Nerv, die richtig vorzutragen?

Aber man kann ihresgleichen auch einfacher ihres Gefahrenpotenzials berauben – auch wenn dazu ziemliche Nerven nötig sind. Wenn man ihnen die Beine bricht oder abschlägt, dann müssen sie kriechen. Wenn man ihnen die Arme nimmt, können sie ihre Waffen nicht mehr führen oder einen packen und festhalten. Schlägt man ihren Schädel ab… nun, das tötet sie nicht, aber es macht ihnen enorm schwer, ihre Gliedmaßen zu koordinieren – was häufig dazu führt, dass sie zunächst den Angriff einstellen und ihren Schädel suchen.

Im Fall von Marissas Vater war die Lage noch ein wenig schlimmer für mich und ich war auf den Alkohol wirklich angewiesen, weil er ja noch so frisch war. Aber die meisten Kadaver sehen ziemlich übel aus und haben den Großteil ihrer Körperflüssigkeiten bereits verloren. Das lässt sie oftmals wie Zunder brennen.

Was selbst mir dann aber wirklich unter die Haut ging, das waren seine Schreie. Er hatte ja noch Stimmbänder. Das demonstrierte er in dem Moment sehr eindrucksvoll.

Denn wenn die Untoten etwas fürchteten, dann war es das Ende. Feuer, Gebete, Enthauptungen – das waren alles nur Mittel zum Zweck. Und sie hatten fürchterliche Angst vor diesem Zweck. Denn was erwartete einen wohl, wenn die Götter wirklich sehr deutlich gemacht hatten, was sie von Untoten hielten?

Wenn ein Untoter starb, seine korrumpierte, zerrüttete Seele erneut aus dem Leib drang – wie würde Ereshkigal ihn wohl diesmal in Empfang nehmen? Ich bin im Laufe meines Lebens häufig Kadavern begegnet. Und ich habe gelernt, das gerade kleine Gruppen von ihnen sich mit ihrer eigenen Angst ganz gut im Zaum halten lassen. Ein bisschen wie bei Trollen. Man hat eigentlich nur einen Schlauch voll Wasser – aber wenn man ihnen gut verkaufen kann, dass es pure Säure ist, dann werden sie plötzlich bemerkenswert vorsichtig und kleinlaut. Genauso fürchten Untote mitunter etwas so Simples wie eine Fackel.

 

Als wir den Kampf beendet hatten, war Marissa denkbar traurig und… wütend. Immerhin hatte ich ihrem Vater mit einem der Schläge die Stirn eingedellt. Doch es gelang mir, ihr rasch klar zu machen, das wir die Situation noch nicht überstanden hatten. Das noch keine Zeit für sie war, mich zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Da war immer noch irgendwo ihre Mutter.

Es fiel mir tatsächlich nicht schwer, sie zu finden.

Sie hatte sich bemerkenswert geschickt in den späten Abendstunden an den letzten, draußen herumstreunenden Dörflern vorbeigeschlichen und sich kopfüber in den Brunnen zu stürzen versucht. Nicht das erste Mal, dass das versucht wurde – deshalb das Dorfvolk in ein hochziehbares Gitter investiert hatte. Es sollte die Untoten davon abhalten, das Wasser mit ihren Leibern zu verseuchen. Diesmal jedoch konnte ich schon als ich mich dem Brunnen näherte hören, dass die Leute auf ihre Reserven in Fässern angewiesen wären: Sie erbrach sich. Würgte. Spie alles ins Wasser unter sich.

Wir holten sie mit dem Gitter nach oben, ein paar Zuhilfe gerufene Männer gingen mir zur Hand. Man überwältigte sie. Der Priester des Dorfes begann zu beten und mit Abschluss dieses Gebetes sackte sie in sich zusammen. Dennoch zündete man sie außerhalb des Dorfes an. Nur um sicher zu gehen.

Marissa war danach nicht mehr die Gleiche.

Ich vermute, gerade wenn man in solchen Gegenden wohnt, ist es wichtig, sich irgendwie an das Gute zu klammern. Zu hoffen. Sich einzureden, dass das nur anderen passiert, aber nicht einem selbst. Und wenn es dann doch soweit ist? Was dann?

Ich brachte Marissa mit ins nächste Dorf. Sie wollte, konnte dort einfach nicht mehr bleiben. Mit mir reisen, die Welt sehen, Abenteuer erleben, neue Leute treffen und fremde Gegenden sehen… das wollte sie aber auch nicht mehr. Nicht, nachdem ich so lange zögerte, ehe ich ihre Frage beantwortete, was es da draußen noch alles für Monster gab.

Ich liebe das Reisen. Ich liebe es, hier und da ein Bier zu trinken, mit einem hübschen Mädchen zu tanzen, mich mit ihr zu vergnügen. Ich liebe die Zeiten, die ich bleibe – genauso sehr wie die Zeiten, in denen ich ankomme oder abreise. Aber es wurde schnell offensichtlich, dass das nichts für sie war.

Ich frage mich heute noch manchmal, was wohl aus ihr geworden ist.

 

Kadaver sind das Rückgrat einer Armee. Die Untoten mögen häufig als Heer missverstanden werden, gleichen sie doch vielmehr einem Staat – aber Kadaver sind Fußsoldaten. Und so grässlich ihr Anblick ist, umso mehr für jene, die sie einst kannten, so effektiv sind sie. Nicht durch die Gefahr allein, die sie repräsentieren. Nicht einmal, wenn sie sich – was häufig vorkommt – zu Dutzenden, Hunderten zusammenrotten.

Die wahre Gefahr liegt darin, die Waffe nicht gegen sie erheben zu wollen, weil man diesen und jenen Kadaver einst kannte. Die Gefahr liegt darin, darauf zu hoffen, dass sie sich entscheiden könnten. Dass sie einen freien Willen hätten. Oder zumindest einen, der stark genug wäre, König Xarak zu trotzen.

 

Zum Abschluss über diese Untoten möchte ich noch mit einer Sache aufräumen.

Es wird häufig behauptet, dass der Biss eines Kadavers den Untod selbst übertragen würde, als wäre das eine Art von infektiöser Seuche, als könne man sich mit Untod anstecken. Dem ist nicht so, das kann ich versichern. Wenn ein Untoter sich erhebt, dann weil König Xarak oder seine Dienerschaft das wünscht, das will.

Das heißt nicht, dass man sich nicht dennoch davor hüten sollte, gebissen oder gekratzt zu werden. Gerade Kadaver in den vielen Stadien ihres Zerfalls sind oftmals von gefährlichen Parasiten und Aasfressern befallen, schleppen Seuchen herum oder lassen über Verletzungen ihre giftigen Verwesungssäfte in eine Wunde dringen. Während man sich also nicht mit dem Untod selbst anstecken kann – an einem recht harmlos scheinenden Biss kann man trotzdem gut und gerne sterben, wenn man sich nicht rasch und gründlich um die Wunde kümmert.

Kelpie

Bisher habe ich aus jeder meiner Erfahrung etwas Lehrreiches, etwas Gutes und letztendlich auch etwas Sinnvolles mitnehmen können. Etwas, was es wert war, erinnert und nun auch niedergeschrieben zu werden. Aus dieser Erinnerung jedoch – Nun, sie soll als Warnung dienen. Als Beispiel dafür, dass man die Welt nicht einfach in wenigen Worten und Regeln herunterbrechen kann! Und das Aberglaube nicht gleich Aberglaube ist. Es ist alleine schon Ironie genug, dass ausgerechnet ich in ein Klischee stolperte. Mit dem Selbstvertrauen der Jugend und dem Hochmut, die Welt um mich herum verstanden zu haben, lief ich in eine Gefahr, die ich einzuschätzen glaubte und letztendlich doch mehr gefordert hatte, als nötig gewesen wäre.
 

Die Rede ist von Kelpies.

Ja, die harmlos aussehenden Pferde und Reittiere, die verwaist und herrenlos in unwirtlichen Gegenden herumstreunern und alleine dadurch wirklich nicht vertrauenerweckend sind – oder sein sollten. Die Kreaturen, die Reisenden folgen und, sollte der Wanderer dumm genug sein auf diese Farce hereinzufallen und zu nahezukommen und sie auch noch anzufassen, sie ertränken, niedertrampeln und auch fressen - wie die Folklore zu berichten weiß. Dazu sollte ich sagen, dass das nicht meine erste Begegnung mit diesen Wesenheiten war.
 

Als ich also in das winzige Fischerdorf kam, hatte ich mit den Vorurteilen zu Kelpies lange aufgeräumt gehabt – aus ganz persönlicher Erfahrung. So wusste ich, dass diese Tiere in Sonnen- und Mondlicht geisterhafte Konturen hatten, während sie in Dunkelheit und düsterem Wetter tatsächlich die Form ihrer kürzlich verstorbenen Körper hatten – was je nach Todesart sie beinahe unversehrt aussehen ließ, oder sie zu scheußlichen Monstren verdammte. Sie waren Untote, die niemanden unterstanden, außer ihrem letzten Willen, ihren Herren bis nach dem Tod zu dienen; sie zu finden und zu schützen. Ruhelos an diese Quest gebunden, ohne viel Hoffnung auf Erlösung. Wenn man die Geschichten und Warnungen zu diesen Wesen hört, so ist es eigentlich traurig, was für ein falsches Bild wir von ihnen haben und wie grausam die Welt manchmal zu sein scheint. Allen Geschichten gemein ist ein Detail: Durch grausame Naturgewalten, Feindeinwirkung oder schlicht Unfällen wurden diese Reittiere dazu gezwungen sich gegen ihren Instinkt und für ihre Treue zu entscheiden. Durch Schicksalsschlag verloren sie nicht nur ihre Herren, sondern auch ihre Leben und mit diesem unerschütterlichen letzten Wunsch sind sie so tief im Jetzt verankert, dass sie sich als Geister manifestieren. Es muss natürlich noch andere Komponente geben. Nicht jedes treue Pferd wird zu einem Kelpie und nicht in jeder Gegend streifen sie umher. Wobei es wirklich interessant wäre, ob es in Wüstenregionen ebenfalls welche gibt. Bekannt ist mir jedenfalls von keinem Kelpie-Dromedar. Aus meiner Erfahrung wusste ich jedoch auch, dass sie nicht bösartig waren und zu helfen versuchten. Es war nur dummerweise wirklich keine gute Idee sie anzufassen. Ihre zersetzten Körper entzogen einem die Lebenskraft und so manch gerettetes Kind, verstarb auf dem Rücken eines Kelpies, welches es vorsichtig zu sicherem Feld trug.
 

Nun, ich ging also in dieses Dorf. Winzige und ängstlich an hohe Kalkwände gedrängte Häuser mit dem typisch freundlichen Seewetter, der einen das Vergnügen des Badens abnahm – man war vorher schon nass. Ich war wirklich nicht dort hingereist, um die Gastfreundschaft der Gegend zu testen, sondern aufgrund von Gerüchten, die mich so unwiderstehlich anlockten, wie beizender Wind und Nieselregen untrennbar zu diesem Fleckchen Erde gehörten. Seit einiger Zeit hatte es immer wieder neue angespülte Leichen gegeben, viel zu verwest, für die Zeiträume, in denen die jeweiligen Opfer als vermisst galten. Zugegeben, ich rechnete wirklich nicht mit einem Kelpie, sondern eigentlich mit einem 'Kollegen', dem man Hilfe anbieten konnte, oder im Zweifelsfall ein ernstes Wort reden, falls er einige grundlegende Sachen nicht verstehen wollte. Ich bandelte recht schnell mit einer jungen Frau an, die gerne bereit war Geschichten, Wärme und Zweisamkeit zu teilen. Lorraine war eine dieser Schönheiten, die nicht nach gängigem Standard schön waren, sondern durch ihren Charakter und ihren Willen beinahe leuchteten. Und wer war ich schon, nein zu sagen, als sie mich als eine der Ersten im Dorf begrüßte und unter ihre Fittiche nahm? „Ah, wieder einer der Abenteurer? Gut, du kommst besser mit mir.“ - Manchmal konnte das Gerüchtesammeln und Herangehen an eine Aufgabe so einfach sein!

Die Unbekümmertheit, mit der sie über dieses Thema sprach, war nur solange seltsam, bis mir ein weiterer Aspekt bewusst wurde.

Dieses Dorf lebte von seiner Düsterheit. Es war ein netter Nebenverdienst, den nicht wenigen Reisenden im Jahr die Gruselgeschichten des Ortes nahezubringen, lokale Horrorplätze zu erkunden und sie auf Monsterjagd zu schicken. Die einen suchten Geisterschiffe, die anderen Sirenen, die dritten eilten Lichtern im Wasser nach. Doch neu waren die Leichen. Das Dorf hatte seine Lektion gelernt, wie Lorraine mir mitteilte. Als die ersten zwei Dorfleute angespült worden waren – auf diese Weise entstellt, so umging man dieses Gebiet weitläufig und überließ dem Spuk sich selbst. Die restlichen Leichen stammten allesamt von Abenteurern. Ob es tatsächlich Geisterschiffe gäbe, oder andere der angeblichen Märe? Sie zuckte mit den Schultern, meinte, es wäre ihr egal. Das Dorf stünde hier seit Ewigkeiten - falls es Sirenen gäbe, so nahmen sie ihren Tribut von den Neugierigen. Gleiches galt für absurde Kreaturen, Geister und andere. Und natürlich könne ich diese Gebiete erkunden, aber keiner würde mich dorthin begleiten.
 

Zuerst zeigte sie mir einige lokale Besonderheiten. Zu dieser Jahreszeit war Lorraines Hauptverdienst das Muschelgraben. Ja, Graben. Es bedeutete durch elend tiefes, matschiges Watt zu stampfen und Würmer und unterschiedliche Muscheln zu bergen, sobald die Gezeiten es zuließen. Ich wurde von einer winzigen Insel zur nächsten geführt, bekam hier seltsam geformte Felsen, dort einen nie genutzten Galgen zu sehen. Das Wetter zog sich zu, und wir suchten Schutz auf einer der beständigeren Inseln. Mir wurde schnell unwohl in meiner Haut. Die auftürmenden Wolkenbahnen, kontrastreiches Zwielicht, das still werdende Meeresband in der Ferne, Donnerleuchten, ohne Grollen und wir winzig klein im Nirgendwo – da konnte man sich schnell unendlich unbedeutend fühlen.

Vielleicht war das auch der Grund für meine nachfolgende Dummheit – denn ich sah es zuerst. Keine hundert Meter entfernt stand da ein Kelpie. Das Tier sah unversehrt aus, ein kräftiges, dunkelbraunes Pony mit schief sitzenden, riesigen Körben auf dem Rücken. Dass es durchscheinend wurde, sobald eine Blitzreihe die Wolken aufhellte – nun, das war ein wirklich gut deutbares Indiz. Und ich? Nun, ich sagte ja, ich glaubte bereits mit den Vorurteilen aufgeräumt zu haben und zu wissen, was mich erwartete. Und vielleicht spielte auch wirklich Angst mit und der Drang sich zu beweisen – mir selbst? Lorraine? - wie mutig ich sei und wie versiert. Wie ich bereits niederschrieb: Es sind Geister. Mehr oder minder, was bedeutete, dass ich mit ihnen kommunizieren konnte. Was, nebenbei gesagt, nicht so einfach war, wie es sich anhörte. So stelle ich mir vor, wie ein Bewanderter in Naturmagie mit Tieren redete. Sobald ich mich einem Kelpie aussetze, so würde es seine Emotionen mir mitteilen können, Bilder und Facetten seiner Wahrnehmung. Ich machte also Lorraine auf unseren Gast aufmerksam und klärte sie über die Natur des Wesens auf – und was ich zu tun gedachte. Mit mehr Selbstvertrauen, als selbst mein eigener Sinn für Gefahr mir zugestand, ging ich also auf das Wesen zu und sprach beruhigenden Nonsens – denn auch das wusste ich: Sie hatten noch Reste ihres Wesens, sowohl in Instinkt, wie Ausbildung.

Dem letzten Kelpie hatte ich auf diese Art helfen können, herausfinden, wen oder was er suchte, damit man seine Erlösung anstreben könne. Unter dem Berg von Mähne und Algen war der Kopf des zottigen Viehs schwer zu deuten und nur das Spitzen der Ohren gab mir Hinweise, dass es mich bemerkt hatte. Ich hätte mich definitiv nicht umdrehen sollen, um beruhigend zu Lorraine zu lächeln, dann hätte ich eventuell bemerkt, wie sich unter dem Schopf ein unirdisches Leuchten sammelte. So war es unverhofft, als das Kelpie mich mit einem Grunzen attackierte. Es sprang mich regelrecht an, rammte den Schädel in meinen Magen, schlug mit den Hufen nach mir, verbiss sich in meine Haare und zog, im Drang, mich zu töten.

Es war nicht nur der körperliche Schmerz. Mehrmals trampelte es unsanft auf meinen Körper, verpasste mir Quetschungen und blaue Flecke – jeder Kontakt mit der Haut des Wesens war ein Zerren meiner Lebenskraft. Ich spürte, wie ich schwächer wurde, ausblutete aus einer seelischen Wunde – und das Tier damit auch noch rasender und kräftiger wurde! Ich versuchte nicht einmal, meine Waffe einzusetzen – wie gesagt: Geist. Ich entzog ihm einfach Energie, im Grunde meine eigene, und erschuf damit immerhin die Pattsituation, nur von ihm im Fleischwolf gedreht zu werden, statt ausgesaugt.

Ein schriller Frauenschrei erschrak uns beide. Oder eher das Kelpie, ich klatschte nur haltlos in den nassen und kühlen Watt, als die Bestie mit einem freudigen Wiehern über mich drüber stieg und auf Lorraine zottelte, die ihn mit einem hysterischen „Knut?“ rief. Ich schluckte und kaute Schlamm, als ich ihr warnend zurufen wollte. „Du verdammtes Mistvieh! Wo kommst du denn her? Komm her, du Missgeburt von einem Tier. Du verdammt stures Biest. Wen hast du da?“, hörte ich sie weinen und wusste bereits, dass es zu spät war, als ich genügend Kraft gesammelt hatte, um mich aufzurappeln. Die Sorge auf dem Gesicht, die Tränen und das Heben ihres Brustkorbes in unrhythmischen Schluchzen verblasste neben dem Bild, was sich mir bot. Das Pony stand direkt an ihr gelehnt und sie nestelte an den Körben. Ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Wortlaut des Gespräches, doch sie schimpfte ihn, er solle nicht beißen. Fragte mehrmals, wo Kai sei und Knut solle sie doch erst einmal zurück bringen, Kai müsse schon außer sich vor Sorge sein. Ob sie mitbekam, wie blass sie mit einem Mal war? Wie unsinnig und unkonzentriert ihre Worte wurden, als sie frustriert aufhörte an dem Gepäck zu hantieren und aufsaß? Lorraine starrte mich mit blinden Augen an, entschuldigte sich sogar für sein unmögliches Verhalten. Ich versuchte mehrmals sie mit Worten herunter zu locken, Sinn in ihren bröckelnden Verstand zu bekommen, sowie sie anzufassen – aber als letztlich auch ihre Augen anfingen, aggressiv zu leuchten, wusste ich, dass ich nichts ausrichten konnten. Hier war ich: Der mächtige Schwarznekromant-  und konnte rein gar nichts ausrichten! Mir blieb nichts anderes übrig, als in einigem Abstand zu folgen. Der Todgeweihten und dem Toten. Lorraine sprach sogar noch, erzählte in immer größer werdenden Abständen, mit vielen Pausen und Stocken, dass sie Knut aufgezogen hätte. Ein wahrer Teufel mit Fell, bissig und launisch, aber absolut treu ihrem Cousin gegenüber, der ihn letztlich ausbildete und mitnahm. Zum Fischen und Muschelfang. Sein Orientierungssinn sei legendär und mehr als einmal hätte er sowohl sie, wie auch Kai aus Eumenes Hölle befreit gehabt. Einmal, kurz vor der Küste, hätte ich sie fast gehabt. In dem Moment, als sie sich erinnerte, wie Knut bei einem Sturm ausgebüchst war - vor einigen Monaten, halb wahnsinnig vor Wut und Angst und schnurgerade im Meer verschwunden war. Mittlerweile lag sie auf dem Pferdekörper, ihre Stimme ein gedämpftes Wispern. Ich fragte, wo Kai denn sei, wenn Knut doch weg war. Doch es kam nur ein hilfloses Zucken und Seufzen und die Feststellung, dass sie müde sei. Selbst wenn sie gewollt hätte – ihr Körper war mit dem Pony verwachsen und ich sah mittlerweile ihre Knochen. Gegen Ende wurde das Kelpie immer schneller und ich hatte meine liebe Müh bei den kräftigen Bewegungen hinterher zu kommen. Ich dankte den Göttern – es erreichte nicht das Dorf. Es ging in die Knie, sobald es die Hufe auf Sand setze und löste sich mit einem wütenden und triumphierenden Kreischen auf. Zurück blieb Lorraine, mutige, störrische, halb verweste Lorraine.

Ich blieb nicht zum Begräbnis, auch wenn es das erste Mal sein sollte, dass ich Leuten begegnete, die meiner Geschichte glaubten, ohne mich aufknöpfen zu wollen und nicht nur für ihren Verlust beteten – sondern auch für das Kelpie.
 

Wie zur Strafe traf ich Kai keine zwei Dörfer weiter, wo er mittlerweile eine Frau gefunden und sich ein neues Heim gebaut hatte.
 

Und deshalb, werter Leser, nimm diese Warnung ernst – ebenso wie ich das tat und immer noch tue. Es gibt Erfahrungen, die sollte man nie tun und Erfahrungen, die braucht man nur einmal. Aberglaube mag in vielen Fällen übertrieben sein und auf Unwissenheit beruhen, doch sollte man nie in die Falle des Hochmuts fallen. Die Welt ist komplizierter als die simplen Wahrheiten, die wir uns zusammenbauen und die Erkenntnisse, die wir zu erlangen geglaubt haben.

Wiedergänger

Oh Sierra, meine süße Sierra. Von den empfindlichen Spitzen deiner gewundenen Hörner über die sanften Rundungen deiner hübschen kleinen Brüste, über deinen knackigen Hintern hinweg bis zu deinen zierlichen, zarten Füßen – wie vermisse ich unsere gemeinsamen Stunden. Und hätte ich bei den Barden, die ich in meinem Leben mehr als zahlreich traf, auch nur ein bisschen mehr aufgeschnappt, statt nur wie der Rest der Schafsherde im Takt zu klatschen, an geeigneten Stellen zu applaudieren und ein paar Münzen für die geübte Kunst zu opfern, so würde ich Oden und Lieder auf dich schreiben.

Sie würden scheußlich klingen, keine Frage. Aber versuchen kann man’s ja dennoch, nicht? Und sagt man nicht im Volksmund, dass der Gedanke es sei, der zähle?

 

Natürlich geht es nicht um Sierra. Sie ist nicht untot. Aber, wie deutlich geworden sein könnte: Sie ist ein Tiefling. Und eine meiner besseren Informationsquellen über Untote von größerer Bedrohlichkeit, die persönlich zu treffen ich vielleicht nicht überlebt hätte. Anders vielleicht als vielen anderen meiner weiblichen Bekanntschaften, bin ich mir nicht einmal sicher, ob Sierra nun meine Eroberung ist – oder ich ihre war. So oder so wünsche ich ihr alles nur erdenklich Gute für ihre Ehe, mögen glückliche Jahre auf sie warten.

Über Ishara – die mir bei diesem Eintrag ebenso sehr weiterhelfen konnte – schweige ich lieber wie ein Grab. Reiner Selbstschutz, geneigter Leser. Falls sie jemals von einem Thorin gehört haben, verstehen sie’s sicherlich.

 

Wozu nun also so viel Hilfe nötig? Ganz simpel: Hier geht es um den Wiedergänger.

 

Der Name ist Programm. Der Wiedergänger ist ein Geisterwesen. Und das ist direkt das Erste, was viele nicht begreifen. Gerade eben stolpert meine liebste Sierra gerade noch durch eine Ruine, vorbei an den zerschundenen Leibern gefallener Abenteurer, bereits mit einem unwohlen Gefühl in der Magengegend, als eine völlig ohne Leichenreste daliegende Rüstung plötzlich anfängt, zu schweben. Teil für Teil, bis sich alles an seinen Platz findet und da eine animierte Rüstung steht – mit einem unangenehm großen Zweihandhammer sehr fest von gestachelten Panzerhandschuhen umklammert.

Nur ist nicht die Rüstung das Problem. Das, was man bei guten Lichtverhältnissen gar nicht, bei Schlechten wiederum umso eindrucksvoller sieht, das ist das Problem: Ein Geist.

 

Das bedeutet schon mal, das man auf die Waffe und die Rüstung einschlagen kann, wie man will. Man kann die Handschuhe verbeulen, den Helm, den Torsopanzer, die Waffe zerstören – aber das hält den Wiedergänger nicht auf. Ihm ist mit einfacher Waffengewalt schlicht nicht beizukommen.

Und das setzt schon voraus, dass man überhaupt dazu kommt, anzugreifen. Wiedergänger sehen mühelos durch jegliche Illusionen hindurch, sie regenerieren ihnen zugefügte Schäden – sogar jene an ihrer Waffe oder Rüstung. Selbst wenn man herausgefunden hat, wie man sie verletzt, halten sie immensen Schaden aus, ehe sie bezwungen sind. Mit wenigen Worten können sie einen völlig erstarren lassen oder schlimmer noch – einen zu sich heranziehen. Bevorzugt natürlich direkt auf ihr Schwert drauf, oder in ihren nächsten Hammerschlag hinein.

Nun mag mancher sich denken: Aber Gregor, altes Haus, dann bete ich eben einfach fleißig oder werfe ihm meine Heilzauber um die Ohren, das funktioniert bei so ziemlich jedem Untoten, alles kein Problem!

Falsch gedacht, mein Freund. Also, schon – Heilzauber funktionieren. Ziemlich gut sogar. Wenn man bereit ist, sich aufspießen zu lassen, um das herauszufinden. Aber selbst ohne ihre Waffe: Der Wiedergänger läuft herum und kämpft, klar – und wenn man sich in ausreichend großer Entfernung hinsetzt und betet, am besten von ein paar Hindernissen geschützt, dann ist das ja alles kein Problem, nicht?

Doch, schon. Der Wiedergänger läuft nicht. Er fliegt. Er erweckt den Anschein, zu laufen – er erweckt sogar den Anschein, mit normaler Geschwindigkeit zu laufen. Wozu auch Eile an den Tag legen? Aber er kann fliegen, werter Leser – doppelt so schnell, wie du und ich laufen können!

 

Da hat man nun also diese unbezwingbare Geisterrüstung, der man wirklich nicht zu nahe kommen will. Was tun? Wie kommt man dem bei? Nun wie gesagt, Heilzauber sind wirklich sehr effektiv – wenn man erstmal in Reichweite kommt. Gebete helfen auch, wenn sie auch sehr viel länger brauchen. Was häufig bereits schmerzhaft unterbrochen werden dürfte. Kurzum: Es gibt einfach nicht viele Möglichkeiten, diesen Dingern beizukommen.

Und anders als Ymir, die eigentlich nur verlorene Seelen sind - untot, ja, aber hauptsächlich doch eher verwirrt -, die sich nicht wirklich von Xarak kontrollieren lassen oder an deren Kontrolle er nicht wirklich Interesse hat, sind Wiedergänger äußerst verschlagene Geister, die nicht nur vollständig unter der Kontrolle des Königs der Untoten stehen, nein – sie sind Offiziere seiner Armee. Das heißt glücklicherweise, dass es von ihnen nicht so viele gibt. Aber dummerweise dann wiederum auch, dass man mindestens einen von ihnen immer dann irgendwo in der Nähe hat, wenn man auf große Zahlen an Kadavern und Skeletten trifft, die nicht völlig unkoordiniert durch die Gegend wanken.

 

Obwohl ich inzwischen doch deutlich ins Alter gekommen bin, habe ich nur von vier Geschichten gehört, in denen Wiedergänger besiegt worden sind. Und ich meine auch tatsächlich besiegt, nicht: Ich war schnell genug und konnte erfolgreich und lebendig davonrennen.

Die Erste kam von Ishara und ist der Grund dafür, dass ich oben ansprach, wie gut Heilzauber funktionieren und wie sehr man dafür aufgespießt wird.

Die Zweite ist Meister Lamerak vom Zirkel der Magi zuzuordnen. Er ist ein wirklich lausiger Geschichtenerzähler – nichts für ungut, Alandor, aber da braucht es noch viel, viel, viel Übung! –, aber ein fähiger Zauberkundiger. Ein Bannwirker obendrein. Er hat getan, was er am besten kann: Er hat den Geist in der Rüstung mittels Magie dazu gezwungen, sich wieder zur Ruhe zu begeben. Er hat das Band von Geist und Rüstung aufgelöst und die Seele wieder in Ereshkigals Reich zurückgeschubst.

Die Dritte geht auf Leander zurück. Oder muss ich inzwischen von Fürst Finsterfold von Audron sprechen? Damals jedenfalls, als er noch keinen Adelstitel hatte, hat er einen Wiedergänger tatsächlich durch Beten besiegt. Jebis griff zu ihren Gunsten ein. Das muss wohl sehr eindrucksvoll gewesen sein, eine Schlange aus Licht, das volle Programm. Aber Leander konnte das auch nur, weil seine Kameraden ihm Zeit zum Beten verschafft haben.

Die vierte Geschichte stammt von meiner hübschen Sierra. Sie hatte im Verlauf ihres Lebens viele Kämpfe gegen Untote unterschiedlichster Arten. Selbst heute noch gibt es da diesen Lich, der ihr ständig ans Leder will. Alle paar Wochen, Monate, Jahre, taucht er plötzlich auf und attackiert.

Wie dem auch sei. Sie hatte auch mehrere Kämpfe gegen Wiedergänger. Warum ich ausgerechnet ihre Geschichte ein wenig näher beleuchten möchte? Nun… es ist die Lustigste, natürlich. Außerdem vielleicht die effektivste Vorgehensweise, von der ich bisher gehört habe.

 

Denn Sierra macht Würfel. Und nein – das ist keine Metapher, keine Übertreibung, kein Scherz.

Ich sagte ja schon: Man kann die Rüstungen verformen. Meine gute Sierra besitzt dank einiger sehr seltsamer Geschichten und Erzählungen, die irgendwann hoffentlich in einem anderen Buch landen werden, Transportmagie. Und irgendwie wohl Kraftmagie oder beides geht ineinander über – es ist wirklich schwer, sich zu konzentrieren, wenn man nach der vierten Runde verschwitzt kaum noch weiß, wie man eigentlich spricht.

Sie war also in diesen Wiedergänger hineingestolpert. Wortwörtlich, wenn ich mich richtig erinnere. Und er baut sich eindrucksvoll auf, nimmt sein Großschwert und der Kampf beginnt. Es ist ein hartes Gefecht, sie erschöpft sich schnell, weil sie viel teleportieren muss, um den kräftigen Schwüngen und seiner Magieanwendung zu entkommen. Dazu muss gesagt sein: Meine hübsche Sierra ist ziemlich klein. Wendig und geschickt, aber klein und nicht sehr stark. Und Wiedergänger, weil’s ja sonst einfach zu einfach wäre, erschöpfen nicht. Geist, untot, und so.

Ihr wird also schnell klar: Sie kommt dem so nicht bei. Also… versucht sie zu verhindern, dass er sein Schwert weiter benutzen kann. Statt aber dazu die Waffe zu zerstören oder ihn entwaffnen zu wollen, nutzt sie ihre Magie gegen seinen Panzerhandschuh. Und knüllt ihn mit etwas Mühe zusammen. Ich stelle mir das immer ein wenig wie einen meiner alten Liebesbriefe vor, die einfach nicht richtig gelingen wollten – also zerknülle ich das Papier. Nur macht sie das mit Metall. Und tatsächlich konnte er dann sein Schwert immer noch einhändig führen, weil er so verdammt stark war. Also zerknüllt sie den zweiten Handschuh. Da fängt er an, mit bloßen Fäusten auf sie einzuschlagen. Also, zerknüllten Fäusten. Und unsicher, ob er nun wirklich, tatsächlich sah oder nicht sah, zerknüllt sie seinen Helm. Und im weiteren Kampfverlauf auch andere Teile.

Das alles behinderte den Wiedergänger ziemlich, aber es vernichtete ihn nicht. Wie oben erwähnt: Er begann einfach, den Schaden an seiner Rüstung zu regenerieren. Also wagte sich meine süße Sierra, nachdem sie sich das so ansah, näher heran. Und stopfte den demolierten Helm, die Panzerhandschuhe, die Panzerschuhe und so ziemlich jedes andere Rüstungsteil auch… in den Brustpanzer. Und knüllte daran herum, bis er in sich geschlossen war. Sie machte einen Würfel draus. Klar, auch das waren Schäden, die der Wiedergänger regenerieren konnte und würde. Aber um die zerknüllten Teile im Inneren zu regenerieren, musste er erstmal den Brustpanzer wieder öffnen. Und das hat sie, indem sie immer mal wieder weiter Magie draufgeworfen hat, stets verhindert.

Einige dieser Würfel waren klug genug, fliehen zu wollen. Um sich irgendwo anders zu regenerieren.

Ein paar waren allerdings sehr stolz und da Wiedergänger zwar ein paar Tricks auf Lager haben, aber eigentlich völlig zu Recht als ziemlich direkt und geradlinig gelten, naja… sind sie ihr gefolgt. In dem Versuch, sie doch noch zu bezwingen, ihren gegenwärtigen Einschränkungen zum Trotz. Denn was sollte Sierra ihnen schon tun? Also, außer sie zerknüllen und in dem Zustand zu halten.

 

Werter Leser, ich bin sicherlich der Letzte, der den Untod in all seinen Ausprägungen als etwas Amüsantes darstellen will. Ich möchte nicht, dass jemand zu Schaden kommt, weil er eine Idee witzig findet oder eine Gefahr unterschätzt. Aber:

Für nur einen kurzen Moment bitte ich dich, dir vorzustellen, wie da dieser hinreißende Tiefling angelaufen kommt, frustriert und abgekämpft, aber dennoch schmunzelnd – während ein etwa brustgroßer Würfel hinter ihr her kommt. Immer wieder kippt. Manchmal erst nach dem zweiten, dritten Anlauf. Manchmal sogar mit Schwung, dann würfelt er sich selbst.

Ich werde dieses Bild nie wieder vergessen. Es lässt mich lachen, selbst an trüben, miesen Tagen.

 

Gut. Genug geschmunzelt, zurück zum ernsten Teil.

Meister Lamerak und meine niedliche Sierra sind erfahrene Kämpfer und Abenteurer, mit vielen Jahren in brenzligen Situationen und in seltsamen Gegenden. Sie wussten, was sie taten. Worauf sie sich einließen. Leander dagegen hatte gute, erfahrene Mitstreiter und Ishara, nun – sie hat um Haaresbreite einen sehr hohen Preis für ihren Sieg zahlen müssen. Den Höchsten.

Ich hoffe wie immer, hiermit ein wenig aufgeklärt, geholfen, gewarnt zu haben. Natürlich hat nicht jeder Zugang zu Magie und für die meisten wird die Flucht einfach die beste Wahl sein. Mit diesen grimmigen Geistern ist nicht zu spaßen. Sie können verstehen, können reden – tun es aber so gut wie nie. Falls du, mein Freund, einem Wiedergänger begegnest, falls du weder Magie noch Gebet nutzen kannst, falls Flucht keine Option mehr ist: Ich wünsche dir alles Glück der Welt, du kannst es gebrauchen… und was immer deine letzten Worte sein mögen: Er hört und versteht sie.

(… vielleicht kannst du ihn austricksen!)

Chimäre

Wenn du die Kapitelüberschrift gelesen hast, dann wirst du dich jetzt vermutlich fragen: Aber Gregor, altes Haus, was hat eine Chimäre in einem Buch über Untote zu suchen? Die sind doch gar nicht untot!

Und glücklicherweise, mein Freund, hast du da Recht – die meiste Zeit.

Denn genau das ist das Problem. Bei all den Kreaturen, die es im Reich der Untoten gibt – Kadaver, Skelette, Manananggals, Wiedergänger, Ymir, Knochengolems, Zombies, brennende Kinder, Banshees, Ghoule, Mohrgs, Mumien, bis hin zum Lich -, da vergisst man ein kleines Detail schnell: Im Grunde kann König Xarak jederzeit alles in eine Existenz als Untoter zwingen, solange es zu Lebzeiten eine Seele besaß, die er verderben und aus dem Totenreich zurückzerren kann. Der gewöhnlichen Gossenratte – oder –katze – ist meisthin schlecht anzumerken, ob sie schon seit einer Woche tot ist oder nicht und gibt damit exzellente, unverdächtige und oftmals unbeachtete Spione ab. Und ich sprach in früheren Kapiteln ja schon davon, wie untote Kreaturen manchmal einfach dazu benutzt werden, Wasser- und Lebensmittelvorräte zu vergiften oder Seuchen zu übertragen.

 

Aber ich picke mir hier diesen einen, speziellen Fall raus. Weil er mir nahe geht. Und er mag euch sicherlich kurios vorkommen.

Lizbeth war zunächst eine meiner üblichen Eroberungen, erobert auf die übliche Weise. Da war dieses Dorf, ich zog herum, ich zog ein und am ersten Abend gelang es mir mal wieder im Schankraum direkt die Aufmerksamkeit des – meines Erachtens nach – hübschesten Mädchens zu gewinnen. Nur wurde mir auch schnell klar, dass Lizbeth anders behandelt wurde als die restlichen Gäste. Und sie verschwand immer wieder nach oben, auf ihr Zimmer.

Als sie das eine Mal nach einem Poltern und Klirren wieder herunter kam, waren Wirt und Gäste bereits alarmiert, sichtlich angespannt. Der Wirt hat sogar unter den Tresen gegriffen – wo er vermutlich seine Waffe versteckt hielt. Sie ließ alle wissen, dass alles in Ordnung sei, man entspannte sich wieder und Lizbeth bat um ein Glas Wasser und ein sauberes Stück Stoff. Sie verband sich vor meinen Augen eine frische, blutende Kratzwunde an der Hand.

Und erwartete wirklich von mir, dass ich ruhig da sitzen, zusehen, abwarten und nicht vor Neugier platzen würde!

Weibervolk. Also wirklich.

Sie war sehr bemüht, mich abzulenken. Ich begriff nicht ganz, warum – so tragisch konnte es ja wohl nicht sein, eine übellaunige Katze zu haben, oder? Aber zu jenem Zeitpunkt war mir noch klar, weshalb wir am gleichen Tisch saßen, weshalb ich sie auf Essen und Getränke eingeladen hatte – scheußlich saurer Wein übrigens, ich kann die Gasthäuser in den meisten Dörfern der freundlichen Leute wegen empfehlen, aber ganz bestimmt nicht für ihre exquisite Auswahl an Getränken – und nicht zuletzt, worauf ich mit alledem natürlich unweigerlich abzielte.

Ich wunderte mich nicht einmal, als wir uns auf mein Zimmer zurückzogen, statt auf ihres. Bis dahin hatte ich genug aus ihr herauskitzeln können, damit ich dachte, mir die fremdartige Behandlung erklären zu können. Sie war keine Bewohnerin des Dorfes, sie war eine andere Reisende. Und es gab so unendlich viel, das uns verband. Zugegeben, sie war keine Halbelbe. Nein – sie war eine Ifrit. Tja, da schaust du, was?

Ich wusste auch nicht, was das war.

Sie demonstrierte es mir, als sie mit dem Finger schnippte und sich darauf konzentrierte. Ein kleines Flämmlein tänzelte über ihrem Daumen und sie zündete unsere Kerze damit an. Was sie mir erklärte, klang nach Tiefling. Aber offenbar gibt es viele Arten von Tieflingen und die haben untereinander auch verschiedene kulturelle Hintergründe und Volksidentitäten. Ifrits waren die Halbblutnachkömmlinge von Feuergeistern oder Feuerelementaren oder… irgendwas mit Feuer – ich fürchte, ich habe mehr Aufmerksamkeit auf ihre hübschen, schmalen Lippen gelegt, als auf ihre tatsächlichen Worte. Sie hatte Grübchen, wenn sie lächelte. Und sie lächelte häufig.

Ifrits waren wohl irgendwie von Natur aus rastlose Seelen, was sich trotz der langen Linie, die sie bereits von diesem Ursprung entfernt war, noch immer in ihrem Gemüt niederschlug. Sie hatte schon beeindruckend viele Teile der Welt gesehen – und wir redeten. Wir verglichen, wo wir beide bereits waren und wir tauschten, wo der andere noch nicht war. Gaben Empfehlungen und Mahnungen, rieten von Gegenden und Häusern und Verhaltensweisen ab, nannten Namen großzügiger oder netter Leute, die aufzusuchen eine gute Idee wäre.

Wir zogen uns auf mein Zimmer zurück, ja. Aber der Spaß, den wir dort hatten, der war anderer Natur als sonst.

Irgendwann am frühen Morgen zogen wir wieder in den Schankraum um, ohne, dass sie auch nur ein Kleidungsstück abgelegt hätte. Oder ich. Wir hatten gerade eine brillante Idee gehabt und waren dabei, sie weiter auszuarbeiten, als oben wieder ein Poltern und Klirren erklang. Sie sprang auf und wurde ein wenig blasser und meinte nur, sie habe vergessen, Hektor zu füttern. Gut – Kater also, keine Katze. Ein Kater namens Hektor. Ja, warum nicht.

Sie war so schnell weg und wir waren mitten im Gespräch und überhaupt, ich war vielleicht ein klitzeklein wenig neugierig. Also lief ich ihr einfach weiter Belanglosigkeiten schnatternd hinterher. Sie antwortete natürlich nicht mehr, schien meine Präsenz aber auch irgendwie vergessen zu haben. Und ging in ihr Zimmer. Als ich sah, was sich da auf dem Bett befand, mit Krallen in die Decke geschlagen und Selbige in kleine, federreiche Bestandteile zerlegend, blieb ich sogar nicht nur freiwillig im Flur stehen, ich gaffte. Und ignorierte dabei auch die am Boden zerschellte Vase.

Lizbeth hatte eine Säuglingschimäre bei sich. Und wenn ich sage Säugling, dann meine ich: So verdammt klein!

Der Löwenkörper war da und muskulös, ja, sicherlich. Aber das Tier war nicht größer als eine tatsächliche Katze! Neben seinem Löwenkopf entsprang ein deutlich kleinerer Ziegenkopf mit winzigen Hörnchen und unruhig herumwirbelnden Öhrchen. Und statt einem Schwanz peitschte eine kleine, kurze Schlange verwirrten Blickes herum. Hektor ließ Lizbeth gegenüber sein furchteinflößendes Löwengebrüll hören, um seine Unzufriedenheit kund zu tun, und ich glaube, in dem Moment ist ein Teil meines Herzens weggeschmolzen.

Es war das mit Abstand Süßeste, was ich je gesehen habe. Und ich kenne Ishara – die beständig ihr gewaltiges Tiergefolge erweitert.

Erst nachdem Lizbeth Hektor versorgt hatte und die Miniaturchimäre sich wieder zufrieden schnurrend auf den Bettdeckenresten eingerollt hatte, kehrte ihre Aufmerksamkeit zu mir zurück. Sie nahm mich in meiner Trance beim Handgelenk, führte mich wieder in mein Zimmer und begann sich irgendwie erstmal zu rechtfertigen. Ich fürchte, ich verpasste im Zuge dessen die Geschichte, wie und wo sie ihn eigentlich gefunden hatte.

Natürlich machte da jetzt nochmals viel mehr Sinn, warum die Leute alle so angespannt waren. Da war eine Chimäre in ihrem Haus!

Vielleicht habe ich in dem Moment ein klein wenig gequietscht. Vielleicht. Ein klein wenig.

Lizbeth jedenfalls lachte auf und nahm es nicht übel. Wir redeten danach viel über Hektor. Wie er zunächst wirklich nur ein kleiner Löwe mit einem Schlangenschwanz gewesen war. Wie der Ziegenkopf vor ungefähr einer Woche begonnen hatte, herauszuwachsen. Irgendwann würde ein Drachenkopf dazukommen, und Lederflügel auf seinem Rücken. Chimären waren ziemlich ungeschickte Flieger, aber sie konnten fliegen. Der Schlangenschwanz war nicht wirklich giftig, aber die Hörner des Ziegenkopfes würden irgendwann gefährlich werden. Ganz zu schweigen vom Drachenkopf und seinem Feueratem – oder was immer er dann spie.

Ich war danach natürlich umso eifriger darin, unsere Idee weiter auszubrüten: Wir setzten uns gemeinsame Ziele. In einem Monat treffen wir uns in Dorf X – obwohl es nur eine Reise von zwei Wochen dorthin war. So konnte man weiterhin viel reisen, sich unterwegs Zeit lassen, Leute treffen, Dinge tun und dennoch einander wiedersehen. Denn das war der Kniff an der Sache: Ich wollte sie wirklich, wirklich gerne wiedersehen.

Ein Jahr lang reisten wir, einander treffend und wieder verlassend. Tauschten uns über Geschichten und Erlebnisse aus. Und es dauerte bis zu unserem vierten Treffen, ehe wir das Bett teilten. (Ehrlich, ich wäre stolz auf mich, würde ich etwas auf die sonst überall angepriesene Zurückhaltung geben. So hingegen frage ich mich nur, ob ihre Geschichten wirklich so gut waren.)

Natürlich sah ich nebenher Hektor aufwachsen. Chimären haben ungefähr die Lebensspanne eines Menschen, vielleicht etwas weniger. Sie wachsen daher zügig. Und wir fanden uns dann unweigerlich, wie konnte es anders sein, im Zelt einer Hellseherin, als sich die Möglichkeit dazu bot. Sie behauptete, Magierin des Zirkels zu sein und eher aus Langeweile und Reiselust mit dem Zirkus zu ziehen. Und sie bot uns an, einen Blick in unsere Zukunft zu werfen. Für uns. Mit uns. Mit Hilfe ihrer Kristallkugel.

Ich hatte noch nie eine funktionierende Kristallkugel gesehen. Bei denen, die ich vorher kannte, waren die Effekte mal mehr und mal weniger gut, aber immer… durchschaubar.

Sie erzählte von der Romanze zweier Reisender, von einer Familie, getrennt und doch zusammen – und von Hektor.

Aufgrund ihrer Abstammung würde Lizbeth so lange leben wie ich. Aber die Magierin warnte uns, dass Hektor sterben würde… und nicht tot bliebe. Der Untod würde ihn befallen und unseren Freund wieder ins Dasein zwingen. Er würde Lizbeth anfallen und schwer verwunden. Lahm für den Rest ihres Lebens mit Schmerzen bei jedem Schritt würde sie das Reisen aufgeben müssen – schlimmer aber wurde es für unseren Erstgeborenen, den Hektor in Stücke reißen würde.

Ich weiß bis heute nicht, ob ich auf diese Magierin wütend sein sollte oder nicht.

Wir waren natürlich sehr… aufgewühlt nach diesem Besuch. Niedergeschlagen, verwirrt. Aus irgendeinem Grund hatte das Eindruck hinterlassen und wir konnten nicht mehr aufhören, darüber nachzudenken. Lizbeth wurde von Sorgen und Ängsten zerfressen. Sie hatte sich Familie gewünscht – aber wusste nicht, wie sie das mit einem Dasein als Reisende vereinbaren sollte. Das Reisen aufgeben kam ihr jedoch wie Folter vor. Also… redeten wir. Viel. Lange. Über all die Dinge. Und fanden Lösungen, hier und da.

Ich weiß nicht, wie das mit der Hellseherei funktioniert. Ob die Vision gehört und gesehen zu haben zu ihrem Eintritt führt. Oder ob man etwas Gesehenes verhindern kann. Ob das Gesehene überhaupt immer stimmt oder nicht. Aber von Lizbeths Familienwünschen wusste ich vorher nichts. Und erst im Gespräch wurde mir klar, wie wenig ich dagegen hatte. Nicht nur, Kinder in die Welt zu setzen, sondern mich ihrer tatsächlich anzunehmen.

Und wir überlegten uns auch Dinge für Hektor. Wir waren ein junges Paar, denke ich. Verliebt, vermutlich. Und Hektor war immer bei allem mit dabei. Er war das fünfte Rad am Wagen, ohne wirklich je zu stören. Und wenn er sich langweilte, dann machte er Unsinn. Niedlichen Unsinn, meist. Es war schwer, sich vorzustellen, wie wir eines Tages die Waffen gegen ihn erheben würden. Aber diese Möglichkeit immer im Hinterkopf, behielten wir ihn dann und wann genauer im Auge. Wie er jagte. Wie er graste. Was er fraß, in welchen Mengen. Wie oft er seinen Feueratem tatsächlich zu nutzen fähig war. Natürlich bemühten wir uns auch um andere Arten der Vorbereitung. Ninafer stellte für uns Kontakt zum Ereshkigal-Kloster in Ilmwacht her und Meister Lamerak kontaktierte Meister Halon für uns. Aber alle sagten uns das Gleiche: Es gab Möglichkeiten, aber keine Garantien.

Ich glaube, das war das erste Mal, das mir eine Unwägbarkeit des Lebens wirklich, wirklich schwer im Magen lag.

 

Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, ist Hektor alt. Irgendwo dort draußen sind winzige, unglaublich süße Chimärenwelpen, die ihre ersten, tapsigen Schritte setzen. Und der Moment, auf den wir uns vorbereitet haben, rückt mit jedem Tag näher. Wird er schlafen und einfach nicht mehr aufwachen? Wird es einen letzten Kampf für ihn geben? Werden wir schlafen, während er verwandelt wird? Wird er uns überraschen?

Wenn Hektor dem Untod anheimfällt, dann wird er alles haben, was er jetzt hat. Den Feueratem, die Hörner, die Mäuler und Pranken. Und eine noch viel gefährlichere Waffe: Uns. Unsere Liebe zu ihm. Unser Vertrauen in ihn. Unsere Hoffnung und Unsicherheit. Wird Lizbeth zögern, zuzuschlagen? Werden die Zauber versagen, die Gebete? Ich weiß es nicht. Und früher bereitete mir das sehr viel Unruhe. Heute ist es besser geworden. Ich habe mich, irgendwann, irgendwie, damit abfinden können.

 

Hektor ist ein extremes Beispiel. Was ist mit deiner Hauskatze, mein Freund? Hättest du es in dir, sie zu erschlagen, nachdem sie starb? Ihr den Schädel einzuschlagen, weil sie, klein und winzig, jetzt deine Kehle mit ihren Klauen aufzuschlitzen versucht? Dir die Augen auskratzen will? Es ist eine Sache, auf gesichtslose Skelette und namenlose Geister einzuschlagen. Der wahre Schrecken des Untodes liegt darin, dass er die Bande, die wir vorsichtig und mühsam knüpfen, die wir eifrig pflegen, gegen uns verwendet.

Mein Sohn heißt Joshua. Er ist der Älteste von drei. Und er liebt Hektor abgöttisch. Ob er wohl da sein wird, wenn es passiert?

Bakekujira

Entgegen dem, was manch übervorsichtige Mutter oder schwer besorgter Vater vielleicht einwenden mag… entgegen dem, was einige – und wohlbemerkt, völlig zu Recht – ängstliche junge Burschen und Mädels wohl meinen mögen: Das Abenteuer lässt sich nicht nur im eigenen Dorf finden. Gewiss, es ist eine spannende Sache. Was stellt der Hund wohl an, sollte er sich wirklich irgendwann erfolgreich in den Hühnerstall graben können? Wie sieht das eigentlich aus, wenn des Nachts so ein Wolfsrudel einfällt und ein Schaf reißt? Manches Dorf mag sogar an irgendeiner gefährlichen Stelle errichtet worden sein. Vielleicht tauchen dann und wann Risse auf, grässliche Dämonen strömen durch oder Teufel in Menschengestalt versuchen, die Einwohner zu Sünden und Verrat zu verführen. Oder ein Magier baut seinen Turm in der Nähe.

Und während ich keineswegs bestreiten will, dass das alles Abenteuer sind – manche größer als andere -, so sind es doch nicht die Abenteuer. Die wirklich Großen. Die, nach denen sich viele sehnen – oftmals, bis sie Hals über Kopf in eines hineinstolpern und sich ihre Prioritäten plötzlich maßgeblich verschieben, oftmals zu einem ‚Hilfe, Hilfe, Hilfe, ich will hier schnellstmöglich weg, ich will wieder heim!

Ich muss gestehen – mir ging es auch gelegentlich so.

Abenteuer sind gefährlich. Je größer, desto gefährlicher werden sie. Bis zu einem Punkt, an dem ein normaler Verstand wie deiner, werter Leser, oder auch meiner, nicht mehr abzuschätzen fähig ist, wie gefährlich es eigentlich ist. Auf wie viele Arten es gefährlich ist. Und dennoch gibt es furchtlose – oder dumme, wirklich, die Linie dazwischen ist nicht so breit, wie mancher gern behaupten mag – Gestalten, die es stets aufs Neue wagen, die es kontinuierlich weiter in die Ferne zieht.

Das ist auch der Grund, warum ich mich eines hübschen, sonnigen Tages – oder vielmehr in der lauwarmen Nacht darauf – in einer Taverne in Sundergrad wiederfand. Ich war nicht etwa auf der Suche nach Abenteuern, die ich, um sie zu erleben, lediglich auf mein Zimmer mitnehmen musste. Auch wenn das war, womit ich endete.

Was ich suchte, war eine Gelegenheit zur Überfahrt. Mir war damals ehrlich gesagt völlig egal, wohin es ging. Lumiél hatte seinen Reiz, gewiss. Es gab viele interessante Ecken. Aber Lumiél war, allem zum Trotz, eben doch nur ein Land. Eines. Dort draußen aber gab es dutzende Nationen und Völker und Regionen, Gebirge, Seen und Magiertürme, Bibliotheken, Städte und Geheimnisse. Eine ganze Welt, die noch darauf wartete, erkundet zu werden.

Nein, ich war nicht knapp bei Kasse. Überhaupt nicht.

Aber man führt nicht ein Leben wie das Meine, ohne sich gewisse Gewohnheiten zuzulegen. Wenn sich eine Möglichkeit erbot, ein paar Münzen zu sparen – warum dann nicht nutzen? Und solche Gelegenheiten boten sich eigentlich immer, man musste nur danach suchen, die Augen offen halten. Gerade in Sundergrad. Das ist ja gewissermaßen die Stadt der Möglichkeiten – im Guten wie im Schlechten.

Ich fand meine Chance in einer Aasimar. Willy war ihr Name. Natürlich nicht ihr richtiger Name. Aber sie war Piratenkapitän, hatte ein eigenes Schiff, segelte für Shandra, ihre Fürstin, und ihre Crew schien ihr loyal und zugetan. Sowas ist wichtig. Wenn es auf See erstmal zu einer Meuterei kommt, dann will man ganz sicher nicht der Passagier sein, der die letzte bewusste Entscheidung des Kapitäns symbolisiert. Ich meine, gut, vielleicht hätte ich mir auch eine zuverlässig sichere Überfahrt auf einem gewöhnlichen Schiff organisieren können. Aber vom Preis ganz abgesehen, mal ehrlich – Piraten! Hallo?!

Willy war anders. Damit meine ich nicht ‚anders als alle anderen Frauen‘, nein. Anders als andere Aasimare. Denen begegnet man ja selten. Sie hatte keinen Heiligenschein. Ihre Haare waren dreckig. Ihr Atem roch nach Schnaps. Sie schwitzte. Sie betrog beim Kartenspiel. Immer und immer wieder. Und ich kann bestätigen, dass sie anatomisch in jedweder Hinsicht mehr Mensch war als alles andere. Mit einer rühmlichen Ausnahme, die trotz der dünnen Blutlinie offenbar verblieben war: Diese riesigen, weißen Federschwingen.

Ich kann dir sagen, lieber Leser – das sind ziemlich empfindliche Dinger. Das mag in manchen Bereichen wirklich spaßig sein und glaube mir, ich bemühte mich in jener Nacht, davon so viel wie möglich auszukosten. Aber wenn man erstmal zur Ruhe kommt, dann wird es kompliziert. Wohin mit den Dingern? Auf dem Rücken liegen empfand sie als unbequem. Bevorzugt schlief sie auf dem Bauch, die Flügel ausgebreitet. Aber die mussten natürlich nach so viel Rauferei erstmal gerichtet und gepflegt werden. Und dann, dann waren da Flügel auf mir. Nicht mal das ungewohnte Gefühl hielt mich wach, sondern das gelegentliche Zucken, wenn sie träumte – und bei Telete, waren die verdammten Dinger warm.

Willy und ich, wir hatten es von Anfang an gut getroffen. Ich trat ein, mein Blick flog über den Schankraum und traf ihren. Wir starrten uns eine Weile an, bis ich zum Tresen ging, mir einen Krug Bier bestellte und zu ihr rüber ging. Vielleicht kam es mich am Ende sogar teurer zu stehen, mich von ihr abzocken zu lassen, als mich die normale Überfahrt gekostet hätte. Aber das ist in Ordnung. Denn all die Geschichten, die diese Leute erzählen können…! Die hört man auf anständigen Schiffen von anständigen Seemännern nicht. Vielleicht wissen das die Seemonster auch und lassen sich deshalb mehr bei Piraten blicken?

Willy war es ziemlich egal, das ich war, was ich war. Obwohl Aasimare ja in einem gewissen Ruf stehen. Im Gegenteil – sie erließ mir von dem ohnehin geringen Preis für die Überfahrt die Hälfte, sollte ich meine Magie unterwegs sinnvoll einsetzen können, um Gefahren abzuwenden. Und da, da war ich ja zuversichtlich.

Mir war nur nicht klar, dass sie da eine ganz bestimmte Gefahr im Hinterkopf hatte.

Wir fuhren am späten Morgen nach einem guten Mahl also los und die ersten Tage war auch wirklich alles prächtig. Ihre Mannschaft teilte Geschichten mit mir – und Rum. Ich erlebte sogar aus nächster Nähe einen Überfall. Natürlich hatte ich mir extra ein Schiff der Rotflaggen gesucht, mir war nicht sonderlich danach, all das Blutvergießen miterleben zu wollen. Es war erstaunlich, wie präzise und schnell sie vorgingen. Ein Raubüberfall ohne Tote. Klar, Säbel wurden gezogen und eifrig gerasselt, ein paar Bolzen wurden gefeuert, aber das war alles mehr oder minder Einschüchterungstaktik. Beide Mannschaften waren auf See – Wunden zu versorgen war hier so viel schwerer, also legte es niemand darauf an, überhaupt erst welche davon zu tragen.

Dann aber, am… oh, es muss die dritte Woche gewesen sein? Auf den Tag, so fürchte ich, werde ich es nicht mehr eingrenzen können. Da saß ich oben im Krähennest und, wie der Zufall es so wollte, erzählte mir der Schiffsjunge im Ausguck gerade von Willys größtem Triumph – und ihrer größten Niederlage, zugleich.

Lieber Leser, du kennst sicherlich die Geschichte von Noah und dem Wal, oder? Von Raserei verzehrt hörte der Gute einfach nie auf, das Tier zu jagen. Sie jagten einander, irgendwie. Bis es zum tragischen Ende kam. (Wobei, um ehrlich zu sein, man hier darüber streiten könnte, für wen das nun eigentlich wie sehr tragisch war oder eben auch nicht.) So oder so kann ich das Buch nur empfehlen – gute Lektüre, gehört in jede anständige Sammlung!

Willy hatte ihren eigenen Wal. Ein gigantisches Ungetüm, ein Geschöpf der See, ein Tier von Eumenes. Sie hatte den Koloss tagelang, wochenlang gejagt. Es war das größte und prächtigste Tier, das sie je gesehen hatte – der musste also einiges wert sein. Und wenig überraschend gelang ihr auch, ihn zu erlegen. Sie war ja schon gute anderthalb Jahrhunderte Piratin, da lernt man den einen oder anderen Trick, schätze ich.

Der Wal blieb aber nicht tot.

Keine Woche, nachdem sie den Wal getötet hatten, nachdem sie ihn ausgeschlachtet und seine Reste dem Meer übergeben hatten, nachdem sie in einem Hafen angelandet waren und all die Beute gegen reichlich gutes Geld verkauft hatten, da wurde ihr Schiff angegriffen. Gerammt. Sie konnten die Bestie abwehren, bis sie in den glücklicherweise nicht weit entfernten Hafen zurückkehren konnten. Und ein halbes Dutzend Mal probierten sie die unterschiedlichsten Finten und Manöver aus, um dem Tier zu entkommen. Bis sie nicht nur die letzte Gulde ihres Gewinns in Reparaturen und Vorbereitung ihrer Flucht investiert hatten, sondern sogar Schulden aufnehmen mussten.

Es gelang ihr letztlich, zu entkommen. Aber der Wal blieb hartnäckig. Er kam immer wieder. Irgendwie… fand er Willy. Stets aufs Neue. Bis es selbst unter Piraten hieß, das sie verflucht sei und sie kaum noch den Hafen verlassen konnte. Das tat mir dann wieder fast schon leid.

Naja, bis ich aus der Geschichte gerissen wurde, weil das Schiff gerammt wurde.

Jetzt stell‘ dir mein Gesicht vor, mein Freund, als ich aus dem Krähennest nach unten schaue und da dieses Ding sehe. Genau das Ding aus der Geschichte, die ich gerade eben noch hörte. Ein gewaltiges Biest, wahrlich, aber den Wal erkannte man nur schwerlich wider. Das Monstrum bestand nur noch aus Knochen, aber war umgeben von einer dunklen Wolke aus altem Blut und Verwesungssäften, die das Wasser fast schwarz färbte.

Nach der ersten Ramme zog sich der weiße Knochenriese zurück in die Tiefe. Er gab auf, hoffte ich. Er wendet, schrien alle anderen. Sie machten sich kampfbereit und bis heute muss ich mich doch ehrlich fragen: Was macht man gegen solch einen Knochengiganten eigentlich?

Als er das zweite Mal auftauchte, da stieß er einen Laut aus, den ich meinen Lebtag nicht vergessen werde. Es klang ganz entfernt verwandt mit den sonst so ruhigen, friedlichen Walgesängen, die man auf See sicherlich dann und wann zu hören bekommt. Aber so viel… zorniger. Getragen, gespeist von Hass und Wut und Raserei. Ich sah unten Holz bersten und ein paar der Seemänner umkippen, aus Augen und Ohren blutend, reglos liegen bleibend. Ich bekam es zugegeben furchtbar mit der Angst zu tun – erst Recht, als der Riese wieder abtauchte und wenig später in einiger Entfernung zu sehen war.

Wie er Anlauf nahm.

Als er diesmal das Schiff rammte, da brach es. Er zerschmetterte die äußere Hülle und der ganze verdammte Kahn begann zu kippen. Ich sah ein paar der Piraten in ihrer Verzweiflung ins Wasser springen und was ich da zu sehen bekam, das bereitete mir nur noch mehr Übelkeit. Diese Wolke? Die war lebendig! Darin waren dutzende, vielleicht hunderte kleiner Seetiere. Fische und Krabben und Quallen. Sogar Seevögel. Allesamt untot. Wie ein gieriger Schwarm aus Schnäbeln, Scheren und Mäulern fielen sie über jeden her, der den Fehler beging, die Wolke um den Wal auch nur zu streifen.

Ich sah, wenn ich ehrlich bin, meinen Tag gekommen. Willy war auch dort unten. Sie heilte ihre Leute. Sie warf mit Feuer nach einer Kreatur, die im Wasser schwamm. Sie konnte schlicht und ergreifend nichts tun. Niemand konnte etwas tun, als die dritte Ramme das Schiff in der Mitte durchbrach. Wir alle gingen baden, unweigerlich. Und dort unten, im Wasser, da wartete er. Der untote Wal und seine Wolke aus totem Getier.

Wie ich das wohl überlebt haben mag, das fragst du nun, was? Die Antwort ist etwas beschämend. Der Angriff erfolgte keine zwei Tagesreisen von unserem Zielhafen entfernt. Ein Fischerboot las mich aus dem Wasser auf, nachdem ich zum Weiterschwimmen keine Kraft mehr gehabt hatte. In jenem Hafen fand ich auch andere aus Willys Mannschaft wieder, die es ebenfalls irgendwie geschafft hatten.

Der Wal hatte sie verschont. Er hatte sich für keinen von ihnen interessiert. Nur für Willy. Wer in die Wolke kam, natürlich, der war tot. Wurde zerfressen. Aber der Wal jagte nicht das Schiff oder seine Besatzung, er jagte nur sie.

Bakekujira. Das ist der Name dieser Monster, von denen es – wie ich später erfuhr – sogar einige geben soll. Der Name entstammt Yǔyán, der Sprache, die man in Shou Lang spricht. Man sagte mir, dass das tatsächlich am ehesten mit Geisterwal übersetzt werden könne.

Ich mochte Willy. Und hätte ihr ein besseres Ende gewünscht als das. Ob Noah auch von einem wütenden Geisterwal verfolgt worden wäre, hätte er seinen Wal tatsächlich umbringen können?

Lass dir gesagt sein, guter Leser: Nur weil man ihnen nicht oft begegnet, heißt das nicht, das sie nicht da wären oder existieren würden. Untote gibt es in allen Farben, Formen und Größen – und an jedem Ort. Jedem. Selbst auf See, wo man ihnen schrecklich wenig entgegensetzen kann.

Brennendes Kind

Ich denke es wird niemanden überraschen zu hören, dass ich eher ungern allein reise. Nun, zugegeben. Eigentlich reise ich grundsätzlich nie allein, aber als der gesellige Typ, der ich bin, weiß ich die Vorzüge lebendiger Reisegesellschaft mindestens ebenso sehr zu schätzen, wie die der Toten, wenn nicht mehr. Im Laufe der Jahre kam es daher gelegentlich vor, dass ich mich der einen oder anderen Abenteurergruppe anschloss und wenn wir auch nicht gerade loszogen, um den sprichwörtlichen Drachen zu erschlagen, leistete ich doch zumindest meinen Beitrag zu der einen oder anderen kleinen Heldentat.

Diese Gruppen wechselten häufig oder brachen auseinander, länger als ein paar Wochen blieb ich nur selten, beginnend damit, dass es mit fortschreitender Zeit natürlich komplizierter wurde meine Natur vor denen zu verbergen, die damit nicht umgehen konnten oder es wurde nötig, die Bande der einen oder anderen Liebschaft, die einfach zu eng zu werden drohten, zu sprengen. Ich bin und bleibe nun einmal ein Freigeist.

Was sich zweifelsohne sagen lässt, ist, dass man nirgends als an der Straße und in den meist etwas heruntergekommenen Gasthäusern am Wegesrand interessantere Persönlichkeiten und bunteres Volk finden kann. Eine dieser Persönlichkeiten war Stella auch wenn sie auf den ersten Blick eher geradlinig und langweilig anmutete. Eine große, ziemlich muskulöse Frau, für meinen Geschmack trotz der halblangen Haare ein wenig zu maskulin, doch mit einem wirklich schönen Lächeln. Wenn sie denn mal lächelte, denn die meiste Zeit zeigte sie doch eine recht grimmige Miene und verbissenen, geradezu getriebenen Ernst. Nun… Wir alle haben unsere Geschichte.

Dass wir überhaupt ins Gespräch kamen lag wohl daran, dass jener Abend mit geradezu sinflutartigem Regen gestraft war, der so ziemlich alle ins Innere des Gasthauses spülte, was nicht festgenagelt war. So auch mich, obgleich mein Vorrat an Münzen damals nicht gerade üppig war. Noch hoffte ich vielleicht eine Gelegenheit zu finden das zu ändern, ein kleines Spiel zum Beispiel. Ich weiß, dass es mich nicht unbedingt zum vorbildlichsten großen Bruder macht, meine untote kleine Schwester zum Schummeln zu missbrauchen, aber in Notsituationen wie dieser konnte es nun einmal wirklich hilfreich sein das Blatt des Gegenübers zu kennen! Und die Notwendigkeit ihr die Spielregeln überhaupt erst beizubringen scheint mir an dieser Stelle wahrlich Strafe genug. Ich kann versichern: Johanna findet Poker unendlich öde.

Jedenfalls zerstreute sich diese Hoffnung rasch nachdem das Gasthaus völlig überfüllt war und die meisten Leute darin sich wie begossene Pudel zusammendrängten. Das wirkte nicht, als wäre irgendjemand leicht zu einem Spielchen zu motivieren und noch weniger, als würde er eine Niederlage ohne größeren Groll in Kauf nehmen. Vielleicht lag es daran, dass das Bier dort wirklich miserabel war. Also aus der Traum von einem deftigen Braten auch wenn das im Nachhinein vermutlich besser für meine Gesundheit war. Nur zumindest ein Plätzchen um trocken zu werden und auszuruhen, vielleicht ein Glas Wein, davon konnte ich noch träumen. Bloß waren fast alle Plätze besetzt… Bis auf zwei an einem Tisch in der Ecke. Dem Tisch, an dem dieses massige Weibsbild mit der glänzenden Brustplatte saß, den schweren Umhang mit einer Schnalle verschlossen, die die Insignien des Göttervaters Mermerus erkennen ließ, einem gewaltigen Breitschwert neben sich und einer Miene, die wahrscheinlich Milch gerinnen ließ.

Ich hatte so eine Ahnung, warum diese Plätze noch frei waren, doch von Natur aus optimistisch und vor allem durchweicht und durchgefroren entschied ich auf meinen unbestechlichen Charme zu vertrauen und mein Glück zu versuchen. Der Einstieg ins Gespräch war… Es wäre höflich ausgedrückt, es holprig zu nennen. Immerhin, sie gestattete mir Platz zu nehmen… Und machte dabei gleichsam sehr deutlich, wie wenig erwünscht ich war. Ohnehin eine Kunst, die sie hervorragend beherrschte. Die Kunst des wortlosen Missfallens.

Zunächst war ich entschlossen mich dementsprechend um Nonexistenz zu bemühen. Meinen Wein zu genießen, soweit das bei dieser sauren Pisse eben möglich war und mich allmählich an das Gefühl von Wärme zu erinnern. Die Luft war, wenig überraschend bei so vielen Gästen, abgestanden und schal wie das Bier, rauchig vom Kamin und von Schweißgeruch durchzogen, aber zumindest war es warm. Treue Leser werden bereits ahnen, welchen Fehler diese Gleichung enthielt.

So zahlreich und vielschichtig meine Talente und Vorzüge auch sein mögen… Schweigen zählt nicht dazu, tat es nie, wird es vermutlich nie. Als Nekromant habe ich immerhin berechtigte Erwartungen selbst im Tode nicht zu verstummen. Also begann ich mit zunächst kläglich scheiternden Versuchen ein Gespräch zu beginnen und wurde natürlich, immer wieder abgeschmettert.

Vielleicht lag es am Wein, auch wenn ich mir nicht sicher bin, wieviel Alkohol tatsächlich darin enthalten war, am Sauerstoffmangel oder wissen die Götter woran, aber die Herausforderung packte mich und ich blieb hartnäckig, bis hin zu der glorreichen Idiotie, sie zu einem Wettrinken herauszufordern. Ich. Bei der vorherrschenden Qualität der Getränke. Nein, wir müssen nicht darüber reden. Tatsächlich würde ich dieses kleine Detail wirklich gern vergessen. Es… ist nur wichtig für die Geschichte, weil alles, was weiter geschah, vermutlich genau damit begann. Einem Augenblick geistiger Umnachtung. Ist das nicht, wie die besten Abenteuergeschichten ihren Anfang nehmen?

Ich denke ich muss nicht viel über den Ausgang der Sache sagen und der Ehrlichkeit halber, ich könnte nicht, selbst wenn ich wollte. Aber das Ergebnis war, dass ich die Nacht in Stellas Zimmer verbrachte. Auf dem Boden neben dem Bett in einer Lache aus Erbrochenem. Keine meiner Besten Nächte. Dass ich am nächsten Morgen mit dem wahrscheinlich übelsten Kater meines Lebens erwachte und feststellen musste, dass dieses Weib mehr getrunken hatte, als ich mir leisten konnte. Ehrlich. Ich war das ganz sicher nicht!

So allerdings, wie mich mein allzu großes Mundwerk in diese Situation gebracht hatte, schien es mich glücklicherweise auch wieder heraus zu manövrieren. Offenbar war ich in nicht mehr ganz nüchternem Zustand ein wenig… redselig geworden. Hatte aus dem Nähkästchen geplaudert und den Göttern sei Dank zwar genug Verstand besessen, nicht zu erwähnen, was ich war und was ich konnte, wohl aber von den zahlreichen Absurditäten erzählt, denen ich bereits begegnet war. Attic whisperern und Wiedergängern beispielsweise, um nur einige zu nennen… Und das wiederum hatte Stellas Interesse letztlich doch noch geweckt. Nicht unmittelbar an mir, Was mir eigentlich auch ganz recht war, Aber an meinem… Erfahrungsschatz. Genug sogar, um die Schuld im Gasthaus zu begleichen und mir zu erklären, dass ich sie wiederum bei ihr begleichen würde. Indem ich ihr half. Was soll ich sagen? Ich war schon immer ein hilfsbereites Kerlchen. Erst recht dem schwachen Geschlecht gegenüber und erst recht, wenn selbiges einen Kopf größer ist als ich und mindestens doppelt so viel wiegt.

So also wurde Stella zu meiner Reisegefährtin. Oder ich zu ihrem Reisegefährten, ich vermute das ist eine Frage der Perspektive. Sie war… eine interessante Frau. Gewissermaßen. Sonderlich redselig wurde sie nie, aber das eine oder andere brachte ich in den nächsten Tagen doch hervor.

Stella hatte ihr Leben tatsächlich in Mermerus Dienst gestellt, wenngleich sie kein wirklicher Kleriker oder Paladin war. Ihr Gott hatte zumindest noch nie wahrnehmbar auf irgendein Gebet oder irgendeine Heldentat reagiert, geschweige denn, ihr irgendwelche Kräfte zur Verfügung zu stellen, aber das schien ihr nicht viel auszumachen. Ich schätze Götterdiener sind Undankbarkeit zwangsläufig gewohnt.

Vielleicht sollte ich irgendwann Ishara danach fragen. Oder Ninafer… Oder vielleicht Leander? Der ist mit Abstand am, wenigsten gruselig, aber anderseits wäre es da unwahrscheinlich, dass er ein schlechtes Wort über Jebis verlieren würde. Jemals.

Daeri? Aber nein, die ist keine Götterdienerin. Und wahrscheinlich ergäbe die Antwort sowieso keinen Sinn. Ich weiß Sierra! Auch wenn ich da eigentlich gar nicht fragen muss. Diese Sache mit dem Pegasus… Allein der Gedanke ist immer noch… Aber nein. Fokus. Hier geht es schließlich um Stella. Auch wenn Sierra, soweit man mich fragt, die mit Abstand größere Augenweide ist. Eigentlich jeder der Genannten, ironischerweise inklusive Leander. Nur über Daeri möchte man in diesem Zusammenhang wirklich nicht nachdenken.

Jedenfalls… Stella. Stella zog in der Gegend herum und bemühte sich die Probleme der kleinen Leute zu lösen und ihnen beizustehen. Bevorzugt natürlich, wenn es um Probleme ging, die sich im Kampf beseitigen ließen, aber letztlich war sie nicht wählerisch darin, ihr Bestes zu versuchen. Der Unterschied zum Standardabenteurer war nur, dass sie keinen Lohn dafür wollte. Natürlich nahm sie, was man ihr freiwillig geben wollte und konnte, schließlich musste sie auch von etwas Leben und verkaterte Halbelben aus schmierigen Tavernen freikaufen, aber das war kaum ein Hungerlohn.

Andererseits schien diese Frau auch so gut wie nichts zu brauchen. Sie hatte nicht viel Freude am Leben würde ich sagen, auch wenn das irgendwie unfreundlich klingt.

An jenem schicksalhaften Abend befand sie sich bereits auf dem Weg zu ihrem neuesten Ziel eine Ortschaft namens Sonnhain, irgendwo im westlichen Grünland. Ich bezweifle, dass ihr es auf irgendeiner Karte finden werdet.

Dieser Tage ist dort nicht mehr als eine lose Ansammlung von vielleicht zwei Dutzend Höfen, die sich um einen zentralen Markt gruppieren, Überrest des Stadtkerns einer ehemals etwas größeren Siedlung, vielleicht sogar kleinen Stadt, doch das liegt weit zurück. Das alte Herrenhaus ist ebenfalls ein Überbleibsel jener Zeit, bevor das Adelsgeschlecht der Sonnhains erst verarmt und schließlich ausgestorben ist.

Wie es sich gehört gibt es in so einer Gegend natürlich allerlei Geistergeschichten, doch Sonnhain hatte zu dieser Zeit noch ein anderes, sehr viel weltlicheres Problem: Brandstiftung. Weil Stella allerdings pragmatisch war, schienen ihr die allgegenwärtigen Gruselgeschichten auch ohne Beleg Grund genug, sich ihren ganz persönlichen Experten für Übernatürliches zuzulegen, noch dazu wenn er, wie ich unglücklicherweise zugeben muss, so billig zu haben war.

Die Frau hat vermutlich im Laufe ihres Lebens mehr Monster gesehen als ich… und ihr wisst, ich kann so einige Geschichten aufbieten! Also… Nun ich kann verstehen, dass sie lieber mit dem unwahrscheinlichen rechnete und schließlich… Hat sie am Ende Recht behalten.

Es folgten noch zahllose weitere Reisetage im Regen, die nicht eben dazu beitrugen, meine Stimmung zu bessern. Abende bei denen das Gespräch ähnlich zäh war, wie das Trockenfleisch, dass es zumeist zu essen gab, weil an ein Feuer nicht zu denken war. Habe ich erwähnt, dass Stella keine Frau großer Worte war? Kurz… Es war grässlich und auch wenn ich mich dessen schäme mag es sein, dass in Ermangelung von Alternativen Johanna diejenige war, die den Großteil meines Missmuts über sich ergehen lassen musste. Das wiederum führte dazu, dass sie regelmäßig verschwand, häufiger und länger als normalerweise, wohin auch immer Geister eben verschwinden aber schließlich… Was hätte ihr schon passieren sollen?

Immerhin waren die Götter gnädig genug, dass es in Sonnhain ein kleines Gasthaus gab. Mehr oder weniger ein Familienbetrieb mit einem Schankraum in dem sich vornehmlich die Gemeinde allabendlich sammelte und zwei kleinen Gästezimmern für die seltenen Reisenden. Es gibt nicht viele Gründe, diese Gegend zu besuchen.

Die Wirtin war eine mollige, mütterliche Frau namens Martha und das Sinnbild eines Klatschweibes, aber sie konnte kochen und hielt ihre Zimmer sauber und das Stroh beinahe flohfrei. Was will man mehr? Selbst das Bier war in Sonnhain deutlich besser, als in der Spelunke am Wegesrand, in der ich Stella getroffen hatte. Und es gab sogar einen regionalen Schnaps aus Sonnenblumen, den ich durchaus empfehlen kann, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie genau das funktionieren soll.

Wer jemals das Leben eines Abenteurers geführt oder sich zumindest über das hinaus, mit ihnen beschäftigt hat, was die üblichen Geschichten erzählen, der weiß, dass mit unserer Ankunft der langweilige Teil begann. Informationsbeschaffung und –sichtung. Die Leute waren durchaus auskunftsfreudig. Sogar sehr und das hieß, dass Stella ihre Zeit damit verbrachte umherzugehen, verirrte Kätzchen von Bäumen zu pflücken und mit Leuten zu reden um dann stoisch die Gespräche zu vergleichen und zu filtern, was sich deckte und daher wahrscheinlich der Wahrheit entsprach. Sie fertigte sogar Notizen dafür an!

Meine Aufgabe wiederum… Bestand vorerst darin ihr entweder durch den unaufhörlichen Regen hinterher zu laufen, der mich ernsthaft daran zweifeln ließ, wie es hier überhaupt ein Problem mit Feuer geben konnte, auch wenn die Spuren allgegenwärtig und deutlich waren, oder im Gasthaus zu sitzen und auf sie zu warten.

Letzteres hätte durchaus eine angenehme Beschäftigung sein können. Das eine oder andere Gespräch, ein nettes Spiel vielleicht und es gab durchaus das eine oder andere hübsche Bauernmädchen… Vor allem aber gab es in jener Zeit Schwierigkeiten mit den Elben in Jegurath, was dazu führte, dass ich, alles andere als willkommen war. Unter nassen Haaren sind spitze Ohren leider sehr viel schlechter zu verbergen und diese Leute kannten Elben genug, um das Blut in mir zu erkennen.

Ich muss ihnen zugestehen, dass niemand offen feindselig war. Sie duldeten mich aber eben auch nicht mehr als das. Und mit Martha als einziger möglicher Gesprächspartnerin, die dafür entschlossen schien das Schweigen der anderen im Alleingang wett zu machen und den Dorfklatsch der letzten Jahrzehnte aufzuarbeiten… Es mochte trockener und wärmer werden, aber wirklich besser wurde es nicht. Auch nicht mit meiner Laune, so sonnig mein Gemüt auch üblicherweise ist.

Es war der dritte Abend und ich saß allein über meinem Bier, als Johanna nach fast zwei Tagen Abwesenheit in besserer Laune zurückkehrte, als zuvor. Sie kann furchtbar trotzig werden, wenn wir streiten. Vor allem aber war sie zuvor nie solange fort gewesen, nicht einmal, nach der Sache mit dem besessenen Teddybären… Aber das ist eine andere Geschichte.

„Wo warst du?“, erkundigte ich mich entsprechend mürrisch, ganz der verantwortungsbewusste große Bruder der ich, zumindest gelegentlich bin. Natürlich verzog sie sofort das Gesicht und blitzte mir trotzig entgegen: „Bei Jinny!“ „Wer ist Jinny?“ „Mein Freund!“ Das ließ mich doch einen Augenblick inne halten. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kinder sich Freunde ausdenken. Wer hat das nicht irgendwann getan? Aber der imaginäre Freund eines Geistermädchens? Das ist doch wirklich reichlich absurd und mir fehlte eindeutig die Geduld für das nötige Feingefühl auch wenn ich mich zunächst bemühte:

„Aha. Und wo hast du ihn getroffen?“ „Am Teich. Er wollte Enten füttern. Glaube ich. Aber er hatte kein Brot. Deshalb war er traurig.“, erklärte sie mit der Entschiedenheit eines Kindes, das sich nicht um Realität oder Logik schert. Die Skepsis war mir wahrscheinlich anzusehen.

„Und was habt ihr dann gemacht?“ „Verstecken gespielt. Und Fangen. Und morgen gehe ich wieder hin. Jinny ist nämlich viel netter als du! Du spielst überhaupt nicht mehr mit mir!“ „Ich hab ja auch besseres zu tun.“, erwiderte ich grantig genug, damit sie mir die Zunge herausstreckte und wieder verschwand.

Vielleicht war es trotzig. Immerhin, ich war es gewohnt, gewissermaßen der Mittelpunkt der Welt meiner kleinen Schwester zu sein, der geliebte große Bruder und möglicherweise war ich ein wenig eifersüchtig so plötzlich von einem Hirngespinnst abserviert zu werden, abgesehen davon dass das alles, wie bereits erwähnt keine wirklich angenehme Zeit war. Vielleicht gereicht mir das zur Entschuldigung, doch wann immer Johanna im Folgenden zurückkehrte, neue wirre Geschichten im Gepäck, hackte ich mit Wonne auf Jinny und all den Ungereimtheiten herum, die sich zwangsläufig ergaben. Es machte die Sache natürlich nicht gerade besser.

Nach einer Woche, als das nächste Feuer ausbrach ergaben sich die ersten, relevanten Spuren. Stella war natürlich dort, zog sich beim Versuch die eingeschlossenen Schafe zu retten ein paar üble Verbrennungen zu und wurde den Gestank von verbrannter Wolle für Tage nicht mehr los. Sie sprach nicht wirklich über das, was geschehen war, doch war danach fest entschlossen, sich im Herrenhaus umzusehen, einer teilweise heruntergebrannten Ruine, als vermute sie einen Zusammenhang zwischen Spuk und Feuer oder aber, dass der Brandstifter sich dort verborgen hielt, was immer seine Intention war.

Dabei wurde das Haus von den Dörflern zwar der Einsturzgefahr wegen gemieden, bot der Dorfjugend jedoch ein beliebtes Ziel für Mutproben. Wie schlimm konnte es also sein?

Seltsam war, dass es noch immer verbrannt roch. Manchmal mehr, manchmal weniger, doch obgleich das Feuer Jahrzehnte zurückliegen musste, wenn nicht mehr, haftete noch immer Rauchgeruch an den Überresten einer ehemals edlen Inneneinrichtung. Es war das Feuer, das die letzten Mitglieder des Adelsgeschlechtes ums Leben gebracht hatte, verursacht angeblich von den wirren alchemistischen Experimenten des letzten Hausherren, der die ohnehin schwindenden Besitztümer der Sonnhains durchgebracht hatte.

Das war durchaus guter Stoff für eine Gruselgeschichte, doch erschien es nur wenig Sinn zu ergeben. Der wind heulte gelegentlich durch zerstörte Fenster und dann und wann mochte man sich einbilden es klänge wie ein leises Schluchzen, aber da war nichts Greifbares… Und was immer Stella gesucht hatte, sie schien es nicht zu finden.

Nach zwei Wochen bestand der einzige Hinweis darin, dass es in den betroffenen Gebäuden vormals Streit gegeben hatte und dass das Feuer sich schneller und nachdrücklicher ausbreitete, als es angesichts der Umstände sollte. Wir waren also nicht wirklich klüger als zuvor und obgleich ich auch damals wusste, dass es feuerassoziierte Untote gab, war ich doch ebenso ratlos wie Stella. Es gab ja keine tatsächlichen Angriffe und das einzige Todesopfer bis dahin war ein alter Mann, der es nicht rechtzeitig aus einem der Wohnhäuser geschafft hatte und der vielleicht auch einfach vorher schon im Schlaf verschieden war…

Tatsächlich konnte ich mir vieles sogar erst Jahre später nach und nach zusammenreimen und weiß manches bis heute nicht mit Sicherheit. Ich denke was Stella in der Scheune fand waren Handabdrücke, kleine Brandflecken. Und das gleiche, hohe, kindliche Weinen, das wir im Herrenhaus gehört hatten, das ihre Verbissenheit nur noch mehr zu bestärken schien. Und ganz sicher nicht von einem Schaf stammte… Weinen, das tatsächlich einige gehört hatten, doch im Chaos von Feuer und Schreien eben längst nicht alle, als es um die vorangegangenen Brände ging.

Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, wäre es leicht gewesen das Rätsel zu lösen, aber ich glaube das scheint einem immer so. Und bis dahin hatte ich nie auch nur von brennenden Kindern gehört und wahr wahrscheinlich ohne dieses Wissen sehr viel glücklicher. Es gibt, gerade im Reich der Untoten zahllose Absurditäten und Grausamkeiten, meine Leser werden das wissen, doch diese brennenden Kinder sind nicht einmal Xaraks Schöpfung sondern das Ergebnis alchemischer Experimente bei denen unschuldige Seelen qualvoll im Feuer zu Tode kamen.

Die meiste Zeit sind sie beinahe harmlos. Verharren am Ort ihres Todes oder streifen in dessen Nähe umher, unsichtbar und unbemerkt, allein ihr stetiges verzweifeltes Weinen begleitet sie, auf der Suche nach ihren Eltern, gemeinsam mit einer Aura des Unbehagens für die, die sensibel genug sind, sie zu spüren.

Kommt es jedoch in der Nähe eines solchen Geisterkindes zu Kämpfen oder ähnlichen Eskalationen, dann kann es passieren, dass sie in ein aktives Stadium übergehen, ein brennendes Abbild ihrer ehemaligen Gestalt mit immenser Zerstörungskraft. Flammende Auren, Feuerbälle, Feuerstrahlen, sie können sogar Feuer speien.

Ich vermute allmählich ergeben die Geschehnisse in Sonnhain mehr Sinn, nicht wahr? Endet die Eskalation kehrt das Kind nach einer gewissen Zeit in seinen passiven Zustand zurück, ohne außer Brandruinen irgendwelche Spuren zu hinterlassen.

Man kann sie zerstören, wie man jeden Untoten zerstören kann, wenn man nur weiß wie und bei Geistern ist das schwierig genug, doch… Wenn man es nicht richtig macht, dann erscheinen sie immer und immer wieder, wie Stella und ich ebenfalls leidvoll erfahren mussten. Doch eines… nach dem anderen.

Die raren Hinweise führten dazu, dass Stella mich letztlich erneut zum Herrenhaus schleppte und einen Streit initiierte. So lange, bis ein Geist erschien, allerdings nicht der eines brennenden Kindes, sondern meine kleine Schwester, ein Abbild kindlichen Zornes: „Hört auf“, herrschte sie mich an. „Ihr tut ihm weh!“ „Was?“, fragte ich geistreich und vergaß, dass Stella nahe genug war, um es zu hören. Glücklicherweise kam sie nicht dazu, nachzufragen und was immer sie gedacht haben mag… Sie behielt es bis zuletzt für sich.

Ich halte mich nicht gerade für dumm. Manchmal vielleicht ein wenig begriffsstutzig, sicherlich, aber wem geht es nicht gelegentlich so? Und nur, weil ich heute zurückblicke und mich frage, wie mir die Zusammenhänge entgehen konnten, heißt das noch lange nicht, dass es für mein damaliges Ich tatsächlich hätte offensichtlich sein sollen. Wie gesagt, hinterher ist man immer klüger. Und nur einige, wenige Details von dem, was Johanna in den letzten Tagen berichtet hatte passte tatsächlich ins Bild.

„Jinny mag das nicht“, fauchte Johanna und im Moment meiner Erkenntnis manifestierte sich der, nicht ganz imaginäre Freund meiner kleinen Schwester. Der Geisterfreund meiner kleinen Schwester. Wirklich, wer hätte damit rechnen können?

Von uns abgesehen gab es im Herrenhaus nicht viel, das hätte brennen können, was uns wahrscheinlich das Leben gerettet hat. Wie einem die Logik nahe legt sind brennende Kinder empfindlich gegen Kälte, wie die meisten Untoten vertragen sie keine Heilmagie und wie Geister mögen sie keine Kraftmagie und können nur von magischen oder gesegneten Waffen überhaupt verletzt werden. Vielleicht war das der Moment, in dem sich Stellas Gebete auszahlten oder die Waffe war einfach mehr wert, als man der schartigen Klinge ansah, doch es gelang ihr letztlich, die erbärmlich heulende Kreatur niederzustrecken in einem langen, harten Kampf.

Ich werde den Ausdruck ihrer Augen niemals vergessen. Ich weiß es nicht, kann es nicht wissen und bin mir doch zweifelsohne sicher: Was immer sich hinter Stella verbarg, welche Geschichte sie dorthin geführt hatte, das war der Zorn und der Kummer einer Mutter, die ihr Kind verloren hat. Vielleicht mehr als das.

Wir blieben in Sonnhain, um uns von unseren Verletzungen zu erholen, verbreiteten die Kunde und brachten so nach und nach in Erfahrung, was sich hinter dieser Begegnung verbergen mochte. Offenbar hatte jener letzte Sonnhain das Feuer, indem nicht nur sein kleiner Sohn Jeremia und seine Frau umkamen selbst verursacht und schlimmeres als das. Unklar blieb zunächst, weswegen nach so langer Zeit erst Angriffe erfolgt waren, warum er das Herrenhaus verlassen hatte. Die Brände tobten immerhin erst seit einigen Monaten.

Ein Rätsel, zu dessen Lösung Johanna beitragen konnte als sie sich entschieden hatte, wieder mit mir zu sprechen. Einer der Jugendlichen war bei einer der üblichen Mutproben im Erdgeschoss in einen Zwischenboden eingebrochen. Der Raum, mit Abstand am meisten von Flammen versehrt, mochte einmal das Laboratorium des Alchemisten gewesen sein. Das passte dazu, dass im Schutz des Hohlraums einige Aufzeichnungen das Inferno überdauert hatten, aus denen wir uns die Details dessen zusammenreimen konnten, wie ein flammendes Kind geschaffen wird. Nichts, das ich hier oder an anderer Stelle jemals wiederholen möchte. Ich habe heute noch gelegentlich Alpträume davon und will nicht wissen, was es für Stella bedeutet haben muss.

Als diese Papiere das Haus verließen, nicht mehr als eine Trophäe, weil die Kinder zum Glück für ihr Seelenheil wirklich nichts damit anfangen konnten, begab Jinny sich auf die Suche danach.

Das hätte das Ende der Geschichte sein können, doch nur fünf Tage nach dem Kampf brannte das Gasthaus. Natürlich hatten wir Aufzeichnungen bei uns und wo lässt sich mehr Konflikt finden, als zu später Stunde in einer Taverne? Dazu muss er ja nicht einmal ernst gemeint sein, er muss nur so wirken.

Alle Versuche Johannas ihren Freund zu besänftigen scheiterten ebenso wie entweder mutigeren oder dümmeren unter den Dörflern, die ganz klassisch nach Keulen oder Mistgabeln griffen, statt wie die klügere Mehrheit zu fliehen, jetzt, da ihnen der Feind bekannt war. Nicht, dass das etwas nutzte, es trug nur dazu bei, die Zahl der Todesopfer zu erhöhen und diente vielleicht der natürlichen Selektion.

Stella war noch immer schwer angeschlagen und in keiner Verfassung diesen Kampf nochmal zu schlagen und sie musste es wissen, doch natürlich war es keine Frage, dass es Sonnhains Bevölkerung zu beschützen galt und nicht allein auf dem einfachen Weg. Das Gasthaus evakuieren, abbrennen lassen und wieder aufbauen und vorher jeden Schnipsel verdammten Pergaments, der den Brand überlebte oder wenn nötig auch die Asche wieder zum Herrenhaus schaffen und sicher dort deponieren, damit Jinny bis in alle Ewigkeit friedlich spuken konnte. Zugegeben, es hätte einen bitteren Beigeschmack gehabt, aber vielleicht wäre es möglich gewesen, jemanden zu kontaktieren, der sich auskannte und dem Jungen helfen würde? Was waren ein paar Wochen mehr nach so vielen Jahren?

Ich weiß nicht, ob es göttliche Einflüsterung war oder simpler Mutterinstinkt. Für mich wirkt es noch heute gleich einem Wunder, was ich sah, während ich noch am Eingang des längst brennenden Gastraumes stand, hin- und hergerissen zwischen dem Instinkt zur Flucht und dem Drang, Stella beizustehen. Immerhin besteht eine gewisse, unausgesprochene Verpflichtung unter Reisegefährten. Allem zum Trotz.

Sie trat dem tobenden Geisterkind entgegen, doch statt das Schwert zu heben, kniete sie nieder und umarmte es. Ignorierte die Flammen, die ihr Fleisch verzehrten, die Haare verbrannten und die Rüstung zum Glühen brachten, bis sie unter fürchterlichem Gestank mit der Haut darunter verschmolzen.

Als würde sie keinen Schmerz verspüren sang Stella, mit ihrer rauen, kratzigen Stimme, ein weit verbreitetes Wiegenlied das mir seither jedes Mal wieder eine Gänsehaut beschert, untermalt vom Tosen der Flammen und Bersten der Balken.

Und dies meine geschätzten Leser ist der einzige Weg ein brennendes Kind auf Dauer zu zerstören oder eben zu erlösen. Es zu Umarmen und zu trösten. So lange, bis es sich von seinem Leid lösen und das Feuer hinter sich lassen kann.

Alles was ich tun konnte, war Stella aus dem brennenden Gebäude zu ziehen, als es vorbei war. Ich schäme mich nicht zuzugeben, dass ich wie ein Schlosshund heulte und selbst über Stellas sonst so regloses Gesicht zogen sich die Spuren vergossener Tränen. Von Johanna gar nicht zu reden.

Stella erlag den grässlichen Verbrennungen und dem Fieber, das sie hervorbrachten nach drei weiteren Tagen, doch als sie starb lag ein Lächeln auf ihren Lippen. Das erste und einzige, das ich zu sehen bekam. Und es war, wie bereits gesagt ein wirklich schönes Lächeln, allem zum Trotz.

Ihr Grab liegt nahe dem Herrenhaus in Sonnhain, als Kreuz dienen die vom Feuer verformten Überreste des Schwertes und das Dorf feierte sie als die Heldin, die sie war, doch ohne wirklich zu ahnen, dass es viel mehr war, als das Schlachten von Monstern. Ich weiß nicht, ob Worte überhaupt genügen, es zu erfassen, ob ihr begreifen könnt, warum sich jene Erinnerung so tief eingegraben hat und mich wahrscheinlich bis zum Sterbebett nicht verlassen wird. Es ist mit Sicherheit nicht das grässlichste, was ich im Laufe meines Lebens sah, nicht das größte Wunder, nichts davon. Aber es berührte mich, wie kaum etwas anderes.

Ich vermute die Verbindung zwischen Eltern und Kindern wird immer etwas Besonderes sein und wer weiß, vielleicht kommt irgendwann der Tag, an dem ich das aus erster Hand erfahren will. Heute aber gebe ich mich weiterhin gern mit der Rolle des großen Bruders zufrieden und bin zutiefst dankbar dafür, dass Johanna niemals das Alter erreichen wird, in dem sie anfängt irgendwelchen Geisterjungen schöne Augen zu machen.

Es hat lange genug gedauert, sie irgendwie über Jinny hinweg zu trösten…

Danse Macabre

Der Tag ist trüb und grau. Seit einer halben Woche regnet es schon und um ehrlich zu sein, ich bin nicht bester Laune. Ich weiß, ich weiß – aber warum setzt du dich dann hin, um zu schreiben? Tja, werter Leser – weil die Stimmung, so gedrückt sie auch sein mag, passt. Passt zu dem Tag, der heute ist. Der Tag, wegen dem ich heute schreiben will und werde.

Heute ist Annas Jahrestag. Oder vielmehr: Es jährt sich, das Anna starb.

Anna, das war ein junges Mädchen aus Dardamen. Sie entstammte einer wohlhabenden Familie. Sie hatten etwas Land, gute Erträge, einiges an Vieh. Keine Händler und nicht reich genug, sich irgendwo einzukaufen. Sie waren nicht adlig. Einfach nur eine wohlhabende Familie. Ein großes Ding in der Region. Und Anna war die zarte Blüte ihrer Familie. So jung und voller Hoffnung. Voller Träume für ein größeres, besseres, schöneres Leben. Inzwischen denke ich sie weit besser zu verstehen. Anna wollte die Welt sehen. Wie so viele junge Leute. Sie wollte Abenteuer. Nicht die Welt retten oder Schurken mit einem Schwert bedrohen, nein. Kleine Abenteuer hätten ihr gereicht. Eine große Stadt besuchen. Vielleicht sogar dort leben. Exotische Waren auf den Märken aufstöbern. Fremde Gewürze ausprobieren.

Ihr war einfach nur Dardamen zu klein und eng.

Kann ich verstehen. Ich habe in meinem Leben inzwischen mehr als genug Dörfer besucht. Jeder kennt jeden – und jedermanns schmutzige Wäsche. Manche empfinden das als Traum oder kennen es nicht anders, können es akzeptieren. Aber nicht Anna. Sie war eine kleine Wunderblume. Mir eigentlich gar nicht unähnlich.

Mancher mag mich nun als Spaßvogel kennen. Und mich flatterhaft nennen. Aber nein, ich habe nie versucht, mit Anna ins Heu zu kriechen. Das überließ ich Lucy, die im dortigen Gasthaus angestellt war. Und selbst das hatte offenbar einfach nicht sein sollen, wurden wir doch ständig unterbrochen, bevor es lustig wurde.

Anna hatte sich damals ihrer Familie gegenüber um Kopf und Kragen geredet. Irgendwie hatte sie es geschafft, alle davon zu überzeugen, dass es diesmal anders wäre. Nicht nur eine dumme, flatterhafte Schwärmerei, nein, jener Aasimar, der seit Jahrzehnten zurückgezogen am Dorfrand lebte hätte wirklich zugestimmt, sie zu heiraten. Sie hatte einen Fehler begangen und es nicht übers Herz gebracht, ihn zu korrigieren. Alle waren so erfreut. So voller Hoffnung. Für sie, für ihr Glück in Liebe und Ehe, für ihre Zukunft.

Und wir, wir waren nur die reisenden Fremden, an die sie sich mit verzweifelter Hoffnung wenden konnte. Um zu verhindern, dass die Pleite ihre Familie entblößte und beschämte. Einen Aasimar zur Hochzeit umstimmen. Na wenn es sonst nichts weiter war. Natürlich scheiterten wir daran – der Kerl war so lebhaft und gefühlskräftig wie jeder ordinäre Fels, den man im Feld fand und anschrie, weil man nun den Pflug neu schärfen musste.

Aber es hätte andere gegeben. Wir… handelten nur nicht rechtzeitig. Anna nahm sich das Leben. Vor unseren Augen.

Das ist nun schon viele, lange Jahre her. Viel ist passiert. Aber selbst heute noch verfolgen mich die Bilder manchmal im Traum. Einzelne Nächte im Jahr, die die Erinnerungen wieder wachrufen. Jeden Satz, den ich zu ihr gesagt habe. Jeden Gedanken, den ich nicht aussprach. Alles, was ich tat – hätte tun können – hätte tun sollen.

Was Annas Todestag nun mit diesem Werk und dem Eintrag hier zu tun hat?

Ich schrieb ihrer Familie. Gelegentlich. Später, als ich mich das traute und die Last der Schuld mir an manchen Tagen die Luft zum Atmen zu rauben drohte. Ich bettelte sie um Vergebung an und natürlich waren sie… sehr verwirrt. Also erklärte ich meine Lage. Meine Taten. Jedes Wort von mir, jedes von ihr – so gut ich mich erinnern konnte. Auch wenn es wie erwähnt die Träume nicht völlig vertrieb, so linderte es die Last. Es auszusprechen. Darüber zu sprechen, was geschehen war. Warum es geschehen war. Was ich sonst hätte tun können. Dass es Dinge gab, die ich hätte tun können. Ich fand in ihrer Familie zwar keine vollständige Vergebung… aber zumindest Verständnis.

Sie bekam eine kleine Schwester. Sehr viel später. Victoria.

Es ist seltsam, den eigenen Lebenszyklus so stark von dem der Menschen gelöst zu sehen. Sich zu erinnern, wie diese ersten Briefe waren. Zu hören, dass sie geboren worden war, welchen Namen man ihr gegeben hatte. Wie sie ihre ersten Schritte wagte. Irgendwann schrieb ich nicht mehr mit Victorias Mutter, sondern mit ihr selbst. Ich las ihre Geheimnisse. Ihre Wünsche. Und es war schmerzhaft, wie oft sie mich an Anna erinnerte. Wie viele Träume beide teilten. Ich weiß bis heute nicht, wie Victoria eigentlich aussah. Also stelle ich mir irgendwie immer Anna vor, wenn ich an sie denke. Vielleicht etwas jünger.

Victoria wollte auch die Welt sehen. Dringender, drängender, sehnsüchtiger noch als ihre große Schwester. Sie hatte ein Handwerk ergriffen und sparte jede Münze. Sie wünschte sich keine Puppen, kein Pferd, keinen Tand für ihr Zimmer. Sie wünschte sich Wanderstiefel. Einen derben Rucksack. Münzen. Und in jedem Brief, in der letzten Zeile, rechnete sie mir vor, wie viel Geld sie hatte, wie lange sie noch sparen müsse und wie viele Tage das noch wären, bis sie aufbrechen konnte. Bis sie die engstirnigen Grenzen Dardamens hinter sich lassen und die Welt sehen würde, auf eigene Faust und nach ihren eigenen Regeln.

Sie war wagemutig, meine kleine Victoria. Sie hat in einer Woche Geburtstag. Oder hätte gehabt.

Mir war die Regelmäßigkeit nicht klar, in der wir einander schrieben. Aber mir fiel sofort auf, als sie mir zu schreiben aufhörte. Der erste fehlende Brief war ungewöhnlich. Der Zweite besorgte mich. Beim Dritten packte ich meine sieben Sachen und zog los, um sie zu besuchen.

Dardamen gab es nicht mehr, wie ich bei meiner Ankunft feststellen musste.

Nur eine Menge Hüten und Häuser in unterschiedlich gutem Zustand. Nicht angegriffen, wohlgemerkt. Man sah ihnen nur an, wer mit seinem Tagewerk zu beschäftigt war, um das Dach auszubessern. Wer sich Leute leisten konnte, die sowas taten. Und all die Leute? Die Einwohner Dardamens? Die lagen in den Straßen. Kreidebleich und reglos. Es stank nach Verwesung und unzählige Vögel pickten an ihnen herum.

Sie waren tot. Alle. Wirklich restlos alle. Das ganze Dorf war ein Geisterdorf geworden und ich fand keine Kampfspuren, keine Flüchtlinge. Die Tiere waren tot, die Leute waren tot, alles war tot. Die Vögel, die hier das Mahl ihres Lebens fanden, mussten von außerhalb gekommen sein.

Ich weiß nicht recht. Vielleicht hatte ich geglaubt, Annas Andenken besser in Ehren halten zu können, wenn ich mit ihrer kleinen Schwester schrieb. Vielleicht hoffte ich, irgendetwas wiedergutmachen zu können. Aber als ich blass und grün durch diese Straßen lief, der Geruch mich würgen ließ und mir klar wurde, das Victoria irgendwo zwischen diesen Kadavern liegen musste… da brannte bei mir irgendwas durch.

Ich übergab mich ein Stück außerhalb des Dorfes. Und reiste weiter. Einfach auf gut Glück zum nächsten Dorf. Ich fand lebendige, vergnügte Leute vor. Also verweilte ich nicht, sondern zog einen Kreis um Dardamen. Und fand beim dritten Dorf, das ich auf diese Weise passierte, das gleiche Schauspiel vor. Damit hatte ich eine Richtung. Was immer es war, kam aus Dardamen und war in Willingen eingeschlagen. Wenn es seine Richtung hielt – dann wusste ich, wohin es zog. Und dorthin zog auch ich.

Ich musste es wissen. Musste es sehen. Und das tat ich auch.

Ich weiß nicht ganz, wie das Dorf eigentlich hieß. Ich… irgendwie reizte mich nie, danach zu fragen. Aber ich fand dort die Leute vor, alle Leute vor, wie sie feierten. Wie sie tanzten. Manche edel und anmutig, andere wild und feurig und voller Leidenschaft. Es wirkte… freudig, auf den ersten Blick.

Auf den ersten Blick.

Auf den Zweiten dagegen? Diese Gesichter waren verzerrt von Angst und Schmerz und Erschöpfung. Ihre Haut blass, verschwitzt. Ihre Füße blutig. Sie tanzten, tanzten, tanzten, konnten einfach nicht damit aufhören. Ihre Gesichter spiegelten ihre endlosen Qualen wieder. Sie erschöpften sich, verhungerten, verdursteten, übermüdeten, überanspruchten. Und in ihrer Mitte stand der Schuldige. Oder vielmehr, das Schuldige.

Eine Skelettgestalt, gekleidet wie ein Hofnarr. Der Umhang, die Mütze, seine übergroßen Hosen, selbst die spitz nach oben laufenden Schuhe waren in einem ausgewaschenen Rot gehalten. Man sah von seiner untoten Gestalt nicht viel – außer dem Gesicht. Hier, mit allen Leuten des Dorfes in seinem Bann, da brauchte er keine Magie mehr, um seine wahre Natur zu verbergen. Ein Skelettschädel mit boshaftem Grinsen. Er spielte eine Flöte, dann und wann, aber auch wenn die nicht an seinem lippenlosen Mund lag, hörte ich die Musik, zu der alle tanzten.

Sie klang wirklich hübsch.

Ich hatte meinen Schuldigen. Und ich war rasend. Dieses… dieses Monster hatte Victoria getötet! Irgendwie, irgendwo in meinem Hinterkopf, war mir durchaus klar, für wie viel mehr Tod er verantwortlich war, als ich ihm gerade zur Last legte. Aber die anderen kannte ich nicht. Ich kannte nicht ihre Namen. Ich wusste nicht, wovon sie träumten. Dass sie als Kinder Angst vor dem Monster unter dem Bett gehabt hatten. Oder Rübensuppe widerlich fanden. Ich wusste nicht, dass sie sich in einen Burschen namens Wilbert verliebt hatten, obwohl der ein Scheusal war und sie sich selbst nicht begriffen. Das alles galt nur für Victoria.

Also nahm ich einen Stein. Ich ging ein Stück herum und suchte mir den wuchtigsten Stein, den ich heben und verlässlich werfen konnte. Ich ließ mir Zeit – er sich ja offenbar auch. Ob er mich nicht bemerkte oder mich ignorierte, war mir nicht klar. Er hatte diese eindrucksvolle Sense, aber schien seine Flöte vorzuziehen. Während ich meinen Stein suchte, starb jemand aus der Menge. Eine alte Frau, weiße Haare, gekrümmte Gestalt. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drehte Pirouetten, ein ums andere Mal, bis sie völlig entkräftet zusammenbrach. Aus ihrem Körper löste sich ihre Seele. Ich konnte es sehen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass jeder das hätte sehen können. Das jeder das gesehen hatte. Dieses Ding machte kein Geheimnis mehr daraus, wozu es fähig war und warum es hier war.

Also zielte ich und warf. Der Stein ging durch ihn durch. Einfach so. Er sah zwar nicht danach aus… aber dieser Hofnarr war so tot und körperlos wie die Seelen der Toten, mit denen er tanzte.

Aber ich war nicht mehr der naive junge Mann, der mit Geistern nicht umzugehen wusste. Ich hatte neue Magie gelernt. Und ich zwang diesen Bastard, wieder körperliche Gestalt anzunehmen. Und als es soweit war, da ging ich auf ihn los. Rannte im Zickzack zwischen den Tänzern hindurch. Ich spürte natürlich, wie er auf mich eindrang. Geistig. Wie dieser Drang wuchs, selbst zu tanzen, mitzutanzen, wie schön die Melodie doch war, wie ansteckend der Rhythmus. Aber ich erreichte diese Missgeburt und ich prügelte ihm sein hässliches Grinsen vom Knochenschädel.

Es dauerte fast eine halbe Woche, bis die Heiler des Dorfes – in Ermangelung der Dorfältesten, die als eine der ersten an Entkräftung gestorben war – alle Knochensplitter in meiner Hand gefunden hatten. Und noch weit länger, bis die Hand vollständig genesen war. Ishara sei Dank – andernfalls hätte ich vermutlich heute noch Probleme, sie richtig zu bewegen. Doch in dem Moment war es mir das wert.

Ich vernichtete ihn. Schlug seinen Schädel in Stücke. Und als mein Zauber endete und er wieder geisterhaft wurde, da war auch diese Existenz verloschen. Die Tänzer stürzten zu Boden, reihenweise, erschöpft. Und die Geister, die Seelen, die er gefangen hatte, flohen. Zu besseren Orten, hoffe ich. In Ereshkigals Arme, hoffe ich. Sie wurden unsichtbar, wie sich das eigentlich auch gehörte. Ich konnte natürlich manche noch immer sehen, aber nicht alle.

Und dann war da diese Kraft. Sie hob meine Hand. Ich spürte sie an meiner Hüfte. Ein Zug nach links. Ein Zug nach rechts. Ein Schritt nach vorne, einer zurück. Es dauerte, bis ich das Muster erkannte.

Ein ziemlich simpler, klassischer Tanz. Einer, von dem Victoria mir vorgeschwärmt hatte. Ich weiß nicht… ich hoffe, dass sie es war. Dass ich für ein paar wenige, kostbare Minuten mit meiner kleinen Victoria tanzte. Als ein großer, prächtiger Rabe von einem der Hausdächer herunter krächzte, spürte ich es. Diese tiefe… Gelassenheit. Diese Ausgeglichenheit. Ich kann keine Worte finden, um den Frieden in Worte zu fassen, der mich in jenem Moment überkam. Der Rabe glitt auf seinen pechschwarzen Schwingen herab, flatterte einen Moment vor mir, ganz nah. Als würde er auf jemandes Schulter sitzen, so rede ich mir ein. Er krächzte mich an, leise. Und als er sich wieder in die Lüfte erhob, da war mein Tanzpartner fort. Die Kraft verschwunden, die gerade eben noch meine Hand etwas fester gedrückt hatte.

Victoria… ich vermisse deine Briefe. Jeden Tag.

Und Anna… es tut mir noch immer so schrecklich leid.

Dir aber, treuer Leser, rate ich eines. Siehst du einen Fremden im Narrenkostüm, der Flöte und Sense trägt und dessen Musik von weitem zu hören ist, obwohl er allein kommt und die Flöte nicht an den Lippen hat – renn!

Witchfire

Okay, gut, fein! Wisst ihr was, Leute? Wir müssen reden! Also wenn ihr in diesem Kapitel seid – Memo: Kapitel möglichst früh reinsetzen, ist wichtig! -, dann lest gefälligst weiter! Setzt euch hin und lest!

Gut. Gut. Sortieren.

Ich bin gerade in Nephilim. Wir hatten hier dieses hübsche kleine Fest, das Emrhiéns Familie wohl alle paar Jahre mal ausrichtet. Mit Lichtern und Girlanden und Laternen, hübsch geschmückt und viel zu essen, die Tiere waren freundlich – sogar zu mir. Und die Leute hatten Spaß. Und dann, mittendrin, fliegt einer der Vögel gegen den Baum und bricht sich das Genick. War nur ein kleiner Vogel. Also, nicht, dass das irgendwas zur Sache tut! Jedenfalls fängt dieses kleine Mädchen an, fürchterlich zu weinen. Ich weiß nicht, ob sie den Vogel kannte oder mochte oder hübsch fand oder das erste Mal mit irgendwas Totem konfrontiert wurde. Vielleicht versuchte ihre Mutter auch einfach gerade, ihr zu erklären, was es damit auf sich hätte und sie mochte nicht, was sie zu hören bekam.

Jedenfalls reißt sich die Kleine los, sicherlich keine sechs Jahre, und rennt zu dem Vogel rüber. Sie bekam nicht mit, wie sie die Lebensenergie aus ihrer Umgebung entzog. Sie war nicht heilmagisch begabt. Das ist Nekromantie, Leute. Das Arbeiten mit Lebensströmen. Mit Lebenskraft. Mit arkaner Energie. Die in uns allen steckt.

Dass die Elben entsetzt waren, gut, fein. Ihre armen Bäume und Zierpflanzen. Aber das Kind zusammenschreien? Das Kind verbrennen wollen?!

Himmel Herrgott, Zweig und Zwirn! Wir sind in Nephilim, verdammte Scheiße, das ist nicht Zadiora oder Galieth oder Lairuinen, das ist Nephilim! Können wir vielleicht bitte einfach damit aufhören, den bösen Nekromanten verbrennen zu wollen? Und wirklich, da sollte es gar keine Rolle spielen, ob es sich um einen böswilligen, finsteren Gesellen von vierzig Jahren handelt oder um ein völlig verschüchtertes, verängstigtes Mädchen von sechs Jahren – aber wenn wir schon mal an dem Punkt sind – wieso um alles in der Welt eskalieren die Dinge immer wieder so schnell und ausgerechnet in diese Richtung?!

Sie war sechs, verflucht noch eins! Sechs! Und hatte nur dem verflixten Vogel helfen wollen!

Wollt ihr wissen, was aus Nekromanten wird, die man verbrennt? Das löst nämlich eure Probleme nicht. Kein Bisschen. Im Gegenteil: Gewissermaßen bringt ihr euch damit selbst um! Ich weiß das. Ich habe es schon einmal erlebt.

 

Tamara war keine sechs und verängstigt. Sie war auch keine vierzig und boshaft. Sie war zwanzig und… noch auf der Selbstsuche. Einfach nur eine junge Frau auf der Suche nach ihrem eigenen Weg im Leben. Sie hat nicht boshaft kichernd Kinder verschleppt und über offenem Feuer rotieren lassen. Aber sie war eine schwarznekromantische Hexe. Hat sie sich und ihre gesamte Identität darüber definiert? Nein. Das war für sie völlig normal. Wie für mich auch. Wie atmen. Zehn Finger haben. Laufen. Darüber denkt man nicht nach, es ist einfach da. Es ist normal.

Genauso, wie es die verdammte Stimme in ihrem Kopf war. Denn das ist eine Bürde, die die anderen – ihr – einfach nicht versteht. Einfach nicht kennt. Die Selbstzweifel, die sie tagein, tagaus säht. Wie sie in eure Träume reinquatscht. Wie sie eure Entscheidungen hinterfragt. Wie sie euch Lösungen für eure Probleme aufzeigt – aber nur, wenn ihr über Leichen geht. Manchmal sprichwörtlich, manchmal wortwörtlich. Denn sie ist durchtrieben und führt einen langsam heran, wenn sie kann. Und jeder, wirklich jeder Schwarznekromant mit einem Funken Verstand ignoriert sie so gut und lange, wie er nur kann.

Aber. Sie. Ist. Da.

Wir leben damit. Jeden Tag unseres Lebens. Versucht euch das vorzustellen! Versucht es wenigstens!

Ihr wacht auf – da rät euch jemand, liegen zu bleiben. Aber ihr wisst, dass euer Hof wichtig ist. Zehn Tagelöhner, fünfzehn Ochsen, ihr bringt einen guten Ertrag mit dieser Ernte ein. Das Dorf lebt davon. Ohne euch gibt es vielleicht keine Hungersnot – aber wenn die Dinge schlecht laufen, sich ein paar andere Sachen dazu anhäufen, dann könnte es plötzlich eng werden. Kein Grund, das Risiko einzugehen. Also steht ihr auf – und man rät euch, die Morgenhygiene wegzulassen. Wozu, wenn die Zeit doch so drängend ist, es so viel Arbeit zu tun gibt! Aber wollt ihr wirklich riskieren, krank zu werden? Andere vielleicht auch noch anzustecken? Ihr geht essen, zieht euch an, geht zum Stall rüber und seht den verdammten Stallburschen im Heu schlafen. Ihn mit der Heugabel erstechen, das hätte er verdient!, klingelt’s da in eurem Kopf. Ja – vielleicht schon. Man scherzt ja ständig über sowas. Aber das auch tatsächlich machen?! Natürlich nicht! Also geht ihr an die Arbeit. Stundenlang. Diese Bewegung ist falsch. Dieser Griff nicht korrekt. Nimm lieber dieses Werkzeug. Oh schau, der Pflug – leg dich doch einfach drunter, dann bist du mich, das Stimmlein in deinem Kopf, ganz schnell los. Mitsamt deinem Kopf. Beim Abendessen wird euch dann empfohlen, ihr könntet eurem Weib wirklich mal sagen, wie widerlich ihr verdammter Haferbrei ist. Streit, Missgunst, Krankheit, Tod.

Stellt euch diesen Tag vor. Und dann stellt euch vor, jeder Tag wäre so. Jeder. Einzelne. Jede Woche. Jeden Monat. Jedes Jahr. Euer ganzes Leben lang. Das ist, was wir mitmachen. Durchmachen. Was wir täglich erdulden. Der Kampf, den wir fechten. Für uns und, ob ihr mir das nun glauben wollt oder nicht, auch für euch!

Als Wilfried krank wurde, wusste die Dorfälteste nicht mehr, was sie noch versuchen sollte. Keine Medizin war stark genug und alle Heilkundigen hatten ihre Mittel erschöpft. Magische Heilung wäre vielleicht möglich gewesen. Irgendwie hätte man sicherlich das Geld zusammenkratzen können, wenn das ganze Dorf mithalf. Aber keiner hätte rechtzeitig einen Magier auftreiben können. Was also tun?

Tamara wusste, was sie tun konnte. Also bot sie an, ihm zu helfen. Und wirklich, alle waren so verdammt verzweifelt, dass niemand, aber auch wirklich niemand vorher mal auch nur kurz und knapp anfragte, wie sie eigentlich zu helfen gedachte, seit wann sie irgendwas von Heilkunde verstand!

Tat sie nämlich nicht!

Sie opferte ein paar Tiere. Nicht in blutigen Ritualen mit einem Dolch mit gewellter Klinge, nicht von blutigen Runen und Kreisen umgeben, nicht in einer spezifischen Anordnung aus blutroten oder nachtschwarzen Kerzen. Sie ging einfach in den Wald und zog ihnen mit Blicken und Konzentration und ein paar Handgesten Lebenskraft ab. Ich war dabei. Ich half ihr. Die dortige Hasenpopulation war sowieso am explodieren – was Hasen nunmal so tun -, also kam es auf die paar ja wohl auch nicht an.

Und klein Wilfried ging es im Nu besser. Oh Wunder, oh Wunder, und alle danken Jebis und keiner hinterfragt es. Immer noch nicht. Bis dann natürlich der Jäger auftaucht, der von seinem Hochstand gesehen hat, wie wir das gemacht haben. Und plötzlich sind die Leute, die ihr gerade noch dankend und sie auf die Wange küssend am Hals hingen nicht mehr so freundlich. Plötzlich werde ich niedergeschlagen und legt man sie in Ketten.

Solch eine absurde, irrationale Angst hatten sie plötzlich vor ihr, dass sie sie verbrennen wollten. Mich hatte man auf dem gleichen Platz an den Pranger gestellt, wo ich wieder wach wurde. Dank der aufgewühlten Rufe des Mobs, der sich geformt hatte. Ich rief und schrie, dass man zur Vernunft kommen und die Sache mal für einen Moment überdenken solle, aber hörte irgendjemand zu? Natürlich nicht!

Sie trugen artig und fleißig und geschäftig wie ein Ameisenstaat ihr Feuerholz zusammen, ignorierten Tamaras angsterfülltes Flehen und Betteln, banden sie da oben fest, übergossen alles großzügig mit Öl und zündeten das Holz und sie gleich mit einfach an. Denn warum auch nicht, was? Brennt es nieder! Feuer als Lösung für all eure Probleme!

Nur das da immer noch das Stimmchen in ihrem Kopf war. Das immer schon darauf gewartet hatte, dass ihre Verzweiflung überhand nehmen würde. Dass sie es wäre, die Todesangst litt. Dass sie bereit wäre, sich auf seinen Rat einzulassen. In seine Arme zu fliehen. Ihr wart es, die sie damals so weit getrieben haben. Ihr, die ihr nicht nachdenkt und den ach so bösen Schwarznekromanten direkt erstmal verbrennen wollt, nur um sicher zu gehen!

Ich war da, ich sah zu. Ich roch es. Als sie brannte. Ich hörte ihre gequälten Schreie. Und ich sah die Panik in den Augen der Leute, als ihnen klar wurde, dass sie selbst dann noch vor Pein schrie, als sie längst hätte tot sein sollen, als sie längst nicht mehr hätte fähig sein sollen, zu kreischen. Ich sah, wie sie versuchten, das Feuer zu löschen. Wie es immer weiter brannte. Immer höher schlug.

Ich hatte ihr beigebracht, ihre eigene Gabe nicht zu fürchten. Und lange habe ich nach diesem Tag gezweifelt, ob das eine gute Entscheidung war. Ich sah, wie das Feuer grün wurde. Wie es zu Hexenfeuer wurde. Wie sie eine Witchfire wurde. Ihr Körper vollständig verzehrt, ein dürres, geisterhaftes Abbild ihrer Selbst. Noch immer schön, aber kaum noch zu erblicken hinter dem Schleier grüner Flammen. Sie war ein Geist geworden, verzehrt vom Feuer, wiedergeboren ins Feuer. In dem  Glauben, sie sei noch immer nur das Mädchen, das sie zu dritt hatten überwältigen können, gingen die Ersten in ihrer Verzweiflung auf sie los. Und wer immer Tamara berührte, brannte. Wurde von grünen Flammen verzehrt. Egal, wie sehr sie sich auf dem Boden wälzten. Egal, wie viele Eimer Wasser sie darüber kippten. Sie brannten.

Als würde sie der lächerlichen Abwehrversuche spotten, wurde sie dann und wann unsichtbar, täuschte mit Illusionen das Flackern von Flammen an anderen Orten vor, spielte ihren Sinnen mit dem Geräusch von Knistern und Fauchen Streiche. Und immer wieder ging sie in die Offensive, warf mit Feuer um sich.

Und Tamara hörte nicht auf. Egal, wie sehr ich ihr zurief, wie sehr ich sie anflehte, nicht alles zu ruinieren, wofür wir gearbeitet hatten. Egal, wie sehr ich um das Leben dieser Narren flehte. Sie schoss Feuer um sich, bis das ganze Dorf brannte und jeder darin tot war. Bis eine dicke Wolke aus Qualm und Rauch über allem lag und dieser beißende, fürchterliche Gestank. Dann erst wandte sie sich dem Pranger und mir zu. Sie schoss nicht. Sie kam zu mir herüber und schmolz das Schloss vom Pranger.

Ich konnte sie sehen. Irgendwo da drinnen. In dieser schrecklichen, untoten Geistergestalt, von Feuer verzehrt und verdeckt, da war noch immer sie. Da war noch immer Tamara. Litt und schrie, weil man sie unbedingt hatte verbrennen müssen. Wisst ihr, meine Leser, was sie dann tat? Ich löste mich aus dem Pranger, richtete mich auf, rieb mir die schmerzenden Handgelenke. Sie beugte sich herab, hockte sich vor Johanna, den Geister meiner kleinen Schwester.

„Sie werden uns immer hassen und fürchten. Es kann keinen Frieden geben.“

Diese Worte haben sich mir eingebrannt. Sie werden uns immer hassen und fürchten, es kann keinen Frieden geben. Es kann keinen Frieden geben. Das war, was Tamara aus ihrem jungen, viel zu früh beendeten Leben gelernt hat. Zwanzig Jahre eines guten, gerechten Lebens. Ruiniert durch eine einzige, gute Tat… und deren Konsequenzen.

Das war, was sie meiner kleinen Schwester sagte. Das ist das Letzte, was ihr einen jungen Menschen gelehrt habt, bevor ihr aus ihr eine Untote machtet.

Ich kämpfe. Ich kämpfe tagein, tagaus. Nicht nur gegen die Stimme, die auch in meinem Kopf wildert. Sondern gegen diese Lektionen. Gegen die Gedankenlosigkeit. Gegen die Fackeln und ‚Zündet es an!‘-Rufe dieser Welt. Ich kämpfe dafür, dass Tamara falsch liegt. Gegen den Hass und gegen die Angst. Das ist der Grund, warum ich dieses Buch überhaupt erst zu schreiben begann! Um mehr Verständnis zu schüren. Damit es Frieden geben kann. Irgendwann.

 

Dieses Mädchen heute war sechs Jahre alt, schätze ich. Was hätte aus ihr werden können, wäre das einfach nur ein weiteres, ganz normales Fest gewesen? Was wäre geworden, hätte sie den Vogel wiederbelebt und niemanden hätte es gekümmert? Was wird nun aus ihr werden? Wieviel Angst wird sie nun vor sich selbst haben? Oder vor euch?

Ich bin kein guter Lehrer. Ich will mich nicht hinstellen und mahnend mit dem Finger wackeln. Das ist nicht meine Art und wirklich, wer könnte mich da schon ernst nehmen? Aber Tamara damals auf diese Weise zu verlieren… diese Worte von ihren geisterhaften, brennenden Lippen zu hören, nachdem ich so viel Zeit und Mühe investiert hatte, ihr eine andere, hoffnungsvollere Perspektive zu erschließen… das ist eine Tragödie. An manchen Tagen ist es schwerer als an anderen, bei alledem das Lächeln zu bewahren. Mir meine Frohnatur zu bewahren.

Also lasst mich heute damit enden: Wenn du unbedingt etwas anzünden willst, guter Leser, dann belass‘ es bei einer Kerze oder einer Laterne. Bau eine schöne Girlande. Häng sie an deinem Haus auf. Feier mit deinen Nachbarn. Liebe dein Weib und deine Kinder. Sei ein guter Vater, Bruder, Sohn. (Das gilt für die Mädels natürlich umgekehrt ebenso.) Hass und Gewalt kann nur zu noch mehr Hass und Gewalt führen. Versuch es mit Sympathie. Und wenn du vor etwas Angst hast… dann versuch es zu verstehen, bevor du es mit einer Kerze verwechselst.

Kerzen sind ziemlich klein und aus Wachs. Wirklich, das sollte nicht so schwer sein.

Lantern Goat

Lieber Leser – guter Freund. Nachdem ich mit dem letzten Kapitel ja nun ein wenig über Bord ging mit all der Dramatik und-

Und dem vorletzten Kapitel ebenso, wenn ich mir das so anschaue.

Wie dem auch sei. All die Dramatik ist ja nun nicht gerade meine Art. Es entspricht einfach nicht meiner üblichen Natur. Also wollen wir zurückkehren zu etwas Unterhaltsamerem, etwas Leichterem, Amüsanterem. Denn wie ein Bekannter aus früheren Tagen immer so schön zu sagen pflegte: Du darfst niemals zulassen, dass ein Thema so schwer und ernst wird, das man keine Witze mehr darüber reißen darf – denn dann hast du wahrlich Probleme!

Im Sinne dessen – lass uns über Ziegen reden.

Natürlich meine ich nicht einfach nur irgendwelche Ziegen, nein. Auch wenn ein Gespräch über Ziegen im Allgemeinen sicherlich auch sehr unterhaltsam sein könnte, schätze ich. Sie können recht praktisch sein. Ziegenfleisch schmeckt nicht allzu übel – auch wenn ich Rind und Schwein und vor allem Huhn jederzeit vorziehen würde. Ziegenmilch ist eigentlich sogar recht lecker. Und Ziegenkäse erst! Als sehr kleiner Bub dachte ich noch, Ziegenkäse sei Käse, der tatsächlich aus Ziegen hergestellt werde. Aber gut, ich vermute, ähnliche Probleme hat jedes Kind auf seine Weise.

Und dann erst all die lustigen Geschichten, die sich beim Umgang mit Ziegen ergeben. So ein Ziegenbock ist schon ein störrisches und furchteinflößendes Wesen, wenn er das will! Und tut das weh, von denen in den Matsch gerammt zu werden! Ziegenfell dagegen ist nicht mal halb so angenehm, wie man es mir angepriesen hatte.

… ich gerate ein wenig abseits, nicht?

Nein, lieber Leser, mir geht es um die Ziegen. Sogenannte Laternenziegen. Und da hätte mein sehr, sehr, sehr viel jüngeres Ich endlich mal triumphieren können: Der Name ist Programm. Es sind Ziegen. Mit Laternen. (Andererseits – vielleicht hätte ich auch vermutet, dass es Laternen sind, die man aus Ziegen herstellt… wer weiß.)

Ich sprach ja in früheren Kapiteln bereits grob an, dass der gute König Xarak – nicht wirklich gut, aber einerlei – sich gelegentlich, ja häufig sogar, Tieren bemächtigt. Solange es eine Seele hat, kann er es korrumpieren. Ratten geben gute Werkzeuge ab, um Kornspeicher zu verseuchen, weil sie jeden Winkel kennen, durch jedes Loch durch kommen. Katzen sind wirklich vorzügliche Späher, weil jeder Idiot sie in seine Wohnstube lässt, wenn sie halbwegs lebendig aussehen.

„Aber Ziegen?“, mag der geneigte Leser jetzt grübeln.

Ja. Ziegen.

Ich weiß nicht, ob Xarak ein solch ausgeprägtes Interesse daran hat, die Ställe aller Nationen auszuspionieren. Vielleicht, um irgendwelche Krankheiten in unser Vieh einzuschmuggeln, damit das wiederum uns vergiftet? Spekulieren kann man viel, wissen wenig.

 

Ich war auf Reisen, wie das eben meist so der Fall war. Wilde Jugend. Eigentlich auch wildes Danach.

Und als der Abend nahte, begann ich natürlich, mich nach einer Bleibe umzuschauen. In der Theorie hatte ich alles dabei, was ich brauchte. Zeltplane, Stöcke, Seil, eine dicke, derbe Stoffbahn – alles, was ein gewohnter Reisender braucht, um sich ein ganz vorzügliches Nachtlager zu bereiten. Nur wird mir an dieser Stelle selbst der hartgesottenste Verfechter des Lebens auf der Straße hoffentlich zustimmen, dass kein selbstgemachtes Nachtlager, gleich wie gut, jemals ein tatsächliches, echtes Bett schlagen wird.

Wenn man kann, schaut man sich eben nach einer guten Unterkunft um. Üblicherweise gibt es Gasthäuser am Wegesrand. In manchen Gegenden schießen die wie Pilze aus dem Boden. (In manchen magischen Gegenden vielleicht wortwörtlich.) Ich hatte an diesem Abend kein solches Glück – aber immerhin mehr Glück, als erwartet. Denn da lag ein Gehöft eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt, gut sichtbar, umgeben von einem Acker und sehr vielen Weideflächen. Das Grundstück musste riesig sein und auch, wenn das Haus angemessen groß war, fragte ich mich doch, ob da überhaupt genug Leute drin hausen konnten, um so viel Land zu bewirtschaften.

Mein Eindruck wurde nicht unbedingt weniger verwirrend, als ich klopfte und mir Anna-Marie öffnete. Die gute Anna war schätzungsweise Mitte dreißig, etwas stämmiger gebaut, hatte raue Hände und einen kräftigen Druck damit. Nicht unbedingt mein üblicher Typ, wirklich, aber sie hatte sich für ihr Alter und ihre Beschäftigung gut gehalten und machte einen offenen, freundlichen Eindruck. Und… ich merke gerade, dass ich versuche, mich zu verteidigen.

Einerlei. Anna bot mir Unterkunft an, als ich danach fragte. Ich sollte ihr noch bei ein paar abendlichen Arbeiten helfen. Wir fuhren einen Karren in die Scheune. Wir versorgten das Vieh in der Scheune. Wir… machten einen auffällig großen Bogen um die zweite Scheune. Ich fragte danach, selbstredend, aber sie vertröstete mich auf später – mit dem ominösen Hinweis, es könne ja vielleicht zuhören.

Also beendeten wir die Arbeiten und kehrten ins Haus ein. Ein riesiges, wirklich gewaltiges, zweistöckiges Haus. Totenstill. Leer. Das warf natürlich noch viel mehr Fragen auf und sie stellte rasch fest, dass sie schon lange keinen so geschwätzigen und neugierigen Gast mehr gehabt hatte wie mich. Wohlbemerkt: Das empfand sie offenbar als was Gutes. Ihr Lächeln und der leicht spitze Ton machten das deutlich… hoffe ich.

Jedenfalls wurde ich auch prompt zu den Abendmahlvorbereitungen mit eingespannt. Eine Zwiebel schneiden, so widerlich das Tränen auch ist, bekomme ich noch auf die Reihe. Ich bin ein Mann der Straße – ich kann mich selbst versorgen. Wirklich. Auch wenn Ishara mir bescheinigte, dass das bei mir dennoch nicht viel mit Kochen zu tun habe.

Als wir dann also bei unserer Suppe und ein paar Scheiben Brot beisammen saßen, begann ich unweigerlich wieder zu plappern. Und sie zu löchern. Anna lebte tatsächlich gar nicht so allein auf dem riesigen Gutshof. Allein könnte sie das auch alles wirklich gar nicht bestreiten. Nein, sie hatte vier Schwestern. Zwei Söhne. Drei Nichten, einen Neffen. Frauenstarke Familie, wirklich. Ihre Eltern waren schon vor Jahren an Lungenentzündung gestorben und ihren Mann hatte vor vier Jahren eine Blutvergiftung dahingerafft. Selbst die zwei ihrer Schwestern, die Nachwuchs bekommen hatten, hatten mit ihren Männern ähnlich viel Pech gehabt. Man mochte fast meinen, auf der Familie lag ein Fluch.

Ich wiederum war lediglich zu einem glücklichen Zeitpunkt eingetrudelt, wie sie mit einem Grinsen versicherte. Eine ihrer Schwestern war aus, um den Antrag eines Freiers anzunehmen. Zwei waren auf dem Markt, die letzten Waren im Lager verkaufen – und damit drei Tagesreisen hin und drei zurück unterwegs. Und die Vierte hatte ihre Söhne geschnappt und war für eine kleine Rundreise zu Bekannten und Verwandten in den umliegenden Dörfern aufgebrochen. Ihre Art von Urlaub, schätze ich. Die Kinder bekamen etwas mehr von der Welt zu sehen und sie hatte ein paar Tage Frieden. Natürlich hatte sie einige Tagelöhner eingestellt, aber die schliefen nicht hier. Mit nur einer Frau im Haus wäre das auch reichlich verfänglich gewesen.

Nicht, dass meine Gegenwart es da besser machte – dachte ich mir. Aber das ließ sie offenbar gut und gern unter den Tisch fallen. Ich war mir natürlich darüber im Klaren, dass sie Pläne hatte. Was genau an mir ihr so gefiel, weiß ich nicht. Vielleicht war ich nur zur rechten Zeit am rechten Ort – ich beklage mich nicht.

Doch seit dem Vortag gab es Probleme mit eben jenen angeheuerten Kräften. Sie hatten die Arbeit niedergelegt, allesamt. Was für Tagelöhner wirklich seltsam ist. Normalerweise sind solche Leute froh, Arbeit zu haben. Sich ihr Brot verdienen zu können, egal womit. Das Problem war der Stall – womit wir gleich zum nächsten Thema kamen, das mich so brennend interessierte.

Dort waren die Rinder und Ziegen untergebracht. Ein Teil davon, zumindest. Üblicherweise der Teil, bei dem man gegenwärtig Krankheit vermutete. Es war einleuchtend, als sie mir auf meinen zweifellos verwunderten Blick erstmal erklärte, dass man kranke Tiere von den Gesunden separieren sollte, damit nicht die ganze Herde angesteckt werde. Offenbar ging des Wetters oder der Jahreszeit wegen irgendwas um und fast ein Drittel ihrer Ziegen stand nun dort drinnen, dazu drei Rinder.

Ein einzelner Ziegenbock stand dort ebenfalls.

Und ich wurde hellhörig, als sie mir zutrug, was nicht nur die Tagelöhner ihr erzählten, sondern sie auch selbst mit eigenen Augen bestätigt hatte. Das Tier stand dort, obwohl der Bock – der eine Bock, den das Gehöft gezählt hatte – eigentlich bei den gesunden Tieren war. War er auch tatsächlich. Und obwohl sie sich über aus dem Nichts erscheinende Tiere normalerweise nicht beschwert hätte, war dieses Tier… anders.

Es begann damit, dass es nicht blinzelte. Oder sich sonderlich zu bewegen schien. Die meiste Zeit stand es an der immer gleichen Stelle. Und starrte einen an. Egal, wohin man sich bewegte, man spürte diesen stechenden, bohrenden Blick. Dieses Starren.

Der Bock atmete auch nicht. Anna hatte sich viel Überwindung zusammengekratzt, ein wenig Mut angetrunken und ihn beobachtet. Zurückgestarrt. Er atmete nicht. Er blinzelte nicht, rührte sich nicht, atmete nicht. Sie konnte schon verstehen, warum die Tagelöhner ihr durchbrannten. Schlecht war nur, falls sich das rumsprach. Dann würde der Hof eine Weile keine neuen Kräfte anheuern können – das könnte die Wirtschaft ruinieren.

Ich bot großzügig an, mich darum zu kümmern. Ohne wirklich darüber nachzudenken, was ich da tat. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt ja Erfahrung mit so einigen Kreaturen aus Xaraks Reich gemacht, aber… Ziegenböcke? Nein, keine.

Und das es sich um eine untote Kreatur handelte, war ja überhaupt auch nur ein Verdacht. Wovon Anna nämlich nicht geredet hatte? Fliegen. Oder Verwesungsgestank. Als amtierende Kraft des Hofes sollte sie den vermutlich kennen – davon war aber nichts erwähnt worden.

Natürlich musste ich mit meiner Vermutung ja auch unbedingt Recht behalten.

Sie hatte sich in der Nacht mit einer Mistgabel bewaffnet. Wir waren nach ein, zwei Krügen zu dem Entschluss gekommen, dass wir ruhiger würden schlafen können, wenn diese Sache geklärt wäre. Das Bild hatte sich in meinem Kopf manifestiert, wie ich des Nachts im Bett schweißgebadet und mit dem Gefühl eines Eindringlings in meinem Zimmer aufschrecken würde, nur um aus dem nachtschwarzen Winkel des Zimmers zwei leere Ziegenbockaugen mich anstarren zu sehen. Und in dem Versuch, zu entfliehen, wandte ich mich zur Seite – wo ein zweiter Bock stand, bereit, sich auf mich zu stürzen.

Ja – wir wollten das doch geklärt wissen. (Vielleicht hätte ich ihr nicht davon erzählen sollen, was mir so im Kopf herumging. Aber danach ist man ja immer schlauer.)

Ich hatte die Öllampe und – weil sich nunmal eine Hand mit einer Lampe befassen musste – ein Kräuterbeil, dass sie für entbehrlich hielt. Oder, wie sie so schön gesagt hatte: Was immer mit diesem widerlichen, unnatürlichen Ding in Kontakt kommt, wird im Feuer gereinigt werden! Da haben wir’s schon wieder – Feuer als Lösung. Also wirklich. Übelnehmen konnte ich ihr das an der Stelle jedoch wirklich nicht.

Wir wagten uns hinein und der Bock starrte uns an. Starrte uns nieder, regelrecht. Kalte, leere, tote Augen. Ich seufzte innerlich. Nein, da war kein Gestank. Keine Fliegen. Aber… es war dennoch eindeutig. Nennen wir’s ein Gespür, das ich nach all den Jahren entwickelt hatte. Oder vielleicht auch nur eine korrupte Kreatur, die eine andere erkennt.

Wir wagten uns bis auf wenige Meter heran. Anna hielt die Mistgabel hoch und ich machte mir ehrlich Sorgen, ob sie mir das Ding nicht aus Versehen oder vor Schreck in die Schulter rammen würde. Und dann, ja. Dann schien selbst dem Ziegenbock klar zu werden, wozu wir gekommen waren.

Er begann zu würgen. Und würgte und würgte und würgte eine Laterne hervor. In seinem struppigen, dreckigen Fell hatte man die Kette nicht sehen können, die um seinen Hals lag. Kurz darauf baumelte die Laterne daran. Ein unheimliches Licht brannte darin. Und binnen eines Herzschlages öffnete sich auf magische Weise die Klappe der Laterne. Ein widerlich zähes, gelbes Licht drang daraus hervor. Der Kegel erfasste uns und ich spürte, wie sich mir alle Haare zu Berge stellten. Anna dagegen ließ die Mistgabel fallen und rannte, panisch schreiend floh sie aus der Scheune, während der Ziegenbock übellaunige Laute von sich gab, die definitiv mehr nach Untotem als nach Ziege klangen. Ich stand noch dort. Ich war nicht hysterisch geflohen. Das gefiel ihm nicht – also stürzte er sich auf mich!

Ich ließ vor Schreck meine eigene Lampe fallen, das Beil gleich mit und warf mich rücklings zu Boden. Der Bock sprang über mich hinweg, trabte ein paar Schritte, ehe er wendete und zu einem neuen Sprint ansetzte. Wild tastete ich am Boden nach dem verflixten Beil, bekam aber stattdessen die Mistgabel zu fassen. Sie war falsch herum. Aber wen kümmerte das schon? Mich in dem Moment ganz gewiss nicht! Ich stemmte die Spitzen auf den Boden, richtete das Ding auf und spießte die Holzstange in die Brust des heranstürmenden Bocks. Das Holz splitterte ungefähr auf der Hälfte der Stangenlänge, das Gewicht trug den Bock weiter voran und er wurde ein zweites Mal aufgespießt, vom Rest der Gabel. Geifernd und sabbernd schnappte er nach mir, die Laterne baumelte noch immer unheimlich um seinen Hals und wild tastete ich herum, bis… ich das verdammte Beil endlich griff. Ich wartete auf den richtigen Moment, trotz meiner innerlichen Panik und dann – zack! Beil im Kopf.

Bei all der Finesse, die man von den Defensivmöglichkeiten höherer Untoter zu erwarten hat, sind manche dieser Kreaturen auf ganz gewöhnliche Art und Weise zu bezwingen. Mein Kampf gegen die Laternenziege war gewiss nicht elegant. Aber ich bin auch kein versierter, ausgebildeter Kämpfer.

Was ich dagegen bin? Froh, noch am Leben zu sein.

Erst im Nachgang des Gefechtes wurde mir klar, dass sich da mehr abgespielt hatte, als ich mitbekam. Der Bock hatte einige der anderen Tiere getötet und in unauffälligen, schwer einsehbaren Gegenden des Stalls versteckt. Ihre Seelen waren es, die ich aus der zerbrochenen Laterne strömen sah, als das Geschöpf verendete.

Kampf gewonnen, der Held strahlt, was? Nein. Erinnerst du dich noch an die von mir erwähnte Öllampe?

„Ist vielleicht besser so“, meinte Anna lediglich, als wir draußen vor der Scheune standen und zusahen, wie sie abbrannte. Ich hustete natürlich noch immer ziemlich. Und keiner von uns erwähnte, wie Anna einfach kreischend geflohen war. Es gab keinen Grund, es reinzureiben. In ihren Augen war ich der Held. Sie konnte nun rumerzählen, dass sie sich eigenhändig um den dämonischen Bock gekümmert hatte, dass keine Gefahr mehr bestünde. Ich fand’s ein bisschen schade, aus meiner eigenen kleinen Heldengeschichte rausgeschrieben zu werden, aber was will man machen. Hätte nur komische Fragen gegeben, hätte sie von dem Mann geredet, den sie über Nacht zu bleiben einlud.

Beenden will ich das Kapitel an dieser Stelle mit einer Bitte. Versuch du dir, lieber Leser, das mal vorzustellen. Da ist diese ominöse, düstere Halle. Halbverweste, ernste Gestalten stehen versammelt um einen gewaltigen Thron aus Schädeln und Knochen. Die pompöse Gestalt des Königs der Untoten thront darauf, erhaben, unbeugsam, unbezwingbar.

„Wir müssen unsere Truppen verstärken!“, meint einer der Lich.

„Mehr Wiedergänger, sage ich!“, erklärt ein Zweiter.

„Aber wir brauchen mehr Truppen – ein paar tausend Kadaver wären gut!“, zetert ein anderer.

„Ich hab’s!“, unterbricht der König selbst, die knöcherne Faust auf die Armlehne seines majestätischen Thrones schmetternd, „Wir rekrutieren Ziegen! Und hängen ihnen Laternen um!“

 

Ich fress ‘nen Besen, wenn du nicht mindestens grinst, mein Freund.

Crawling Hand

Dieses Buch, mein Freund, ist dazu gedacht, Wissen zu sammeln – und es zu verbreiten. Denn Wissen, davon bin ich überzeugt, ist unsere mächtigste Waffe im Kampf gegen Unverständnis und Angst. Schwarznekromanten werden stets und allzeit gefürchtet sein – es sei denn, wir können genau aufzeigen, was es damit auf sich hat. Wozu sie fähig sind – und wozu nicht. Was es bedeutet, Xaraks Mal zu tragen. Welche Bürde auf ihren Schultern liegt. Und wie man ihnen helfen kann.

In Folge dessen habe ich natürlich viel darüber nachgedacht, wie es mit diesem Buch weitergehen soll. Ich bin als Halbelb ziemlich langlebig – aber längst nicht so ausdauernd wie, sagen wir, ein Zwerg. Oder ein vollblütiger Elb. Eines Tages werde ich an Alter sterben, falls mich nicht vorher was anderes dahinrafft. Und ich kann einfach den Gedanken nicht akzeptieren, dass dieses Werk – seine Mission – damit endet. Natürlich werde ich es vermachen. Meinen Kindern, falls ich kann. Freunden, falls ich muss. Irgendwem, falls es nicht anders geht.

Aber es wäre töricht von mir, zu behaupten, dass gerade ich die Weisheit mit Löffeln gefressen hätte. Das gerade ich alles Wissen über den Untod horte. Dort draußen gibt es schwarznekromantische Magier, die seit Jahrtausenden den Untod und die zahllosen Facetten seiner Wirkungsweise studieren. Deren Wissen, die Berge ihres Verständnisses, überschatten das wenige Bisschen bei weitem, was ich mir hier zusammenschaufeln kann. Wisst ihr, was das Problem mit denen ist? Sie reden nicht darüber. Wollen sie auch gar nicht. Sie können sich ihrer eigenen Haut ja bestens erwehren und alles jenseits davon interessiert sie nicht. Friss oder stirb.

Das ist Unrecht. Und andere haben ebenso Wissen. Wenn sie es teilen wollen, will ich ihnen zuhören – wie ich es bisher auch tat. Und was dieses Buch angeht, nun. Falls ich ihr Wissen bestätigen kann. Falls ich ihnen glaube. Dann will ich mehr tun, als nur zuzuhören. Dieses Buch soll Verständnis schaffen. Ein Fundus an Wissen sein, für all jene, die danach suchen. Also will ich nicht nur meine Erkenntnisse preisgeben – sondern auch die anderer. Erfahrungen wiedergeben, die nicht ich machte, doch die mir zugetragen wurden. Ich will natürlich vermeiden, dass hieraus ein Märchenbuch wird. Also werde ich viel Zeit investieren, um zu recherchieren, ob das Erzählte auch den Tatsachen entspricht. Und lieber gebe ich eine Geschichte zu wenig wieder, als eine, die erschwindelter Humbug ist.

Genug der großen Einführung. Die folgende Geschichte ist keine von meinen – es ist eine von Lizbeth.

Ist schon witzig. Da lebt man Jahre zusammen, teilt das Bett, den Pfad auf der Straße, die Feuerstelle nach schwerem Regenfall, teilt Freude und Schmerz gleichermaßen und trotzdem findet man selbst dann, selbst Jahre später, immer noch Details und Erinnerungen, die einem neu sind.

Lizzie hatte auch schon Begegnungen mit Untoten.

Im kleinen Dörfchen Lairuinen, in Lumiél, um genau zu sein. Wir hatten uns in Audron getrennt. Ich kannte Lairuinen. Seine raue Gegend, unwirtlich und feindselig, die ebenso unwirtliche und feindselige Menschen formte. Die hartgesottenen Hünen Lairuinens sind in Lumiél kleine Legenden, aber tatsächlich dort zu sein ist… unangenehm. Nicht, das man direkt rausgeworfen werden würde. Wer vorher brav seine Hausaufgaben macht, sich über Bräuche und Traditionen informiert und immer schön höflich bleibt, der kommt ungeschoren durch. Aber Gastfreundschaft ist da oben ein Fremdwort.

Lizzie wollte es trotzdem besuchen. Mögen die Götter wissen, wieso. Also zog ich nach Norwingen, um mir die Hermelinfarm anzuschauen und mir eine Mütze zuzulegen, und sie versprach, später aufzuholen.

Florian Aandergast war elf Jahre alt. Er geriet allem, was mir berichtet worden ist nach zu urteilen, wohl ziemlich nach einem alten Bekannten. Eher dürr geraten, fahrige Bewegungen, wirkte immer etwas zerstreut. Herzensguter Junge, aber ziemlich chaotisch und ständig hibbelig. Eine Bürde für seine überforderten Eltern, zweifellos. Anders als Alistair stellte er sich wohl aber dennoch ganz gut bei der Jagd an, war kerngesund und… nun ja, nach Lairuinens Verhältnissen sicherlich nicht kräftig, aber zumindest stark genug. Er gewann seine Kämpfe durch Köpfchen. Eine kleine Silberzunge, dazu ein paar gut gezielte Schläge an der richtigen Stelle. Er wusste sich durchzusetzen unter seinen Gleichaltrigen.

Als Lizbeth eintraf, hatte die Familie jedoch ganz andere Probleme. Man war im Grunde drauf und dran, den Jungen – Florian – zu hängen.

Es hieß, er habe die Ambjorns im Schlaf getötet. Mutter, Vater, Sohn und Tochter. Alle erdrosselt, mit bloßen Händen. Nicht, das man ihn tatsächlich im Akt erwischt hätte. Aber seine rechte Hand passte perfekt zu den Würgemalen an ihren Hälsen. Ein neunmalkluger Reisender, der sich auf dem Weg nach Jiggary dorthin verirrt hatte, spekulierte irgendwelchen psychologischen Krempel darüber, dass es mit dem kürzlichen Tod des Vaters Florians zu tun habe. Der Mann sei auf der Jagd überrascht und von einem Bären zerfetzt worden.

Lizbeth hatte ihre Zweifel. Nicht an der Geschichte über den Tod des Vaters, natürlich. Sondern simpel an dem Umstand, dass Florian Florian war und damit einfach nie und nimmer stark genug, einen dieser ausgewachsenen Riesen Lairuinens zu erdrosseln. Schlaf hin oder her. Der Hausherr würde aufwachen und ihm eine dachteln, dass es seinen Kopf gegen die Wand dreschen würde. Das hätte, sehr wahrscheinlich, sogar die Hausherrin hinbekommen. Ganz zu schweigen davon: Selbst hätte er die Tochter zuerst angegriffen, die Jüngste und Schwächste im Haus, hätte die gezappelt, gestrampelt, geschrien, Dinge geworfen, gekratzt. Irgendwas getan.

Lizzie ist Ausländerin. Sie stammt eigentlich aus-

Oh, wartet. ‘Tschuldige – das darf ich gar nicht erzählen. Sie kommt jedenfalls nicht aus Lumiél. Sie kennt Magie. Und sie ist gewohnt, dass es davon sehr viel mehr gibt. Sie vermutete das Wirken von Zauberei. Etwas könnte die Mitglieder der Familie paralysiert haben. Das hätte ihm erlaubt, sie zu erwürgen, hätte sie wehrlos gemacht, ja. Aber mehr passte nicht ins Bild: Die Würgemale waren stark ausgeprägt. Tief. Selbst mit den stärksten Zaubern hätte sich aus Florian kein solch kräftiges Monster machen lassen. Und dann war da natürlich noch der simple Umstand, dass Florian selbst beschwor, er habe es nicht getan und wisse von nichts. Er sei die Nacht ins Bett gegangen und am Morgen in seinem Bett aufgewacht. Keine Spuren, dass er das Haus verlassen habe, nichts dergleichen.

Das war den guten, störrischen Männern und Frauen Lairuinens natürlich ziemlich egal.

Lizbeth schaffte es – mögen die Götter wissen, wie, mir erzählt sie immer nur, wie sie mit ihnen geredet hätte -, sie immerhin soweit zu bekommen, dass man ihr erlaubte, mit Florian zu reden. Und die Sache eventuell aufzuklären, bevor man ihn hängte. (Ernsthaft. Sie hatten von diesem Plan nicht abgelassen – nicht mal, als sie indirekt einräumten, dass er möglicherweise unschuldig sein könne.)

Also redete sie mit Florian. Wieder und wieder. Sie musste drei Mal die Leute davon abhalten, ihn jetzt doch einfach aufzuknüpfen. Florian selbst war… verschüchtert. Verstört und verängstigt – und wer hätte ihm das verübeln wollen? Das sind kleine, eng verknüpfte, geradezu eingeschworene Gemeinschaften, diese Dörfer. Alle, die er kannte, waren plötzlich auf seinen Tod aus.

Es dauerte, bis Lizzie zu ihm durchdrang. Und was sie fand, war eigentlich noch viel bedenklicher.

Der Vater des Jungen war ein Säufer gewesen. Ein Hurenbock, will ich meinen. Nicht, das er tatsächlich herumgehurt hätte. Aber er ließ seinem Weib auch nicht wirklich die Wahl, ob sie gerade Lust hatte oder nicht. Ganz zu schweigen davon, dass er dem Jungen kräftig eins reindrückte, wenn der sich schützend dazwischenzuwerfen versuchte. Prügel gab es wohl offenbar sowieso oft genug. Und längst nicht immer blieb es so ‚harmlos‘.

Für die Familie – den Rest davon – muss es der Tragödie zum Trotz wohl trotzdem irgendwie eine Erleichterung gewesen sein, als es hieß, ihr Vater käme nicht zurück. Aber Florian berichtete weiter, dass in jener Nacht – der Nacht nach dem Tod seines Vaters – die Alpträume begannen. Er sah sich selbst dabei zu, wie er aufstand, durch das Haus wanderte. Stundenlang am Bett seiner Mutter stand und sie anstarrte, ehe er in sein Zimmer zurückkehrte und schlief. Oder das Haus verließ. Herumwanderte und durch die Fenster anderer Häuser schaute.

Er hatte auch einen Traum davon gehabt, wie er die Ambjorns erwürgte. Seine rechte Hand hatte einige seltsame Bewegungen gemacht, spastisches Zucken, wie er es beschrieben hatte – und dann hatten sie ganz still gelegen. Und mit weit mehr Kraft, als er zu haben glaubte, hatte er ihnen die Kehlen zerdrückt. Ehe er seelenruhig zum nächsten ging. Und am Ende in sein Bett zurückkehrte. Lautlos und unbemerkt.

Florian war fest davon überzeugt, seine Hand sei verflucht. Der rachsüchtige, boshafte Geist seines Vaters sei zurückgekehrt, um die Familie mit ihm in den Ruin zu reißen. Der Geist habe Besitz von seiner Hand ergriffen und würde ihn des Nachts, wenn er angreifbar war, übernehmen und Unrecht tun. Schreckliche Verbrechen begehen… wie beispielsweise das Auslöschen einer ganzen Familie.

Lizbeth war natürlich besorgt. Sie untersuchte ihn mit ihren begrenzten Mitteln auf Besessenheit, auf an ihm haftende Magie, auf alles, was ihr einfiel. Die Ergebnisse waren ernüchternd unergiebig. Sie beriet sich sogar mit dem Reisenden, der diesen Unsinn geplappert hatte und holte seinen Rat ein, wie man in solch einer Lage wohl am besten zu verfahren hätte.

Dem Rat folgend – weil es einfach nichts Besseres gab -, beobachtete sie Florian die folgende Nacht. Und wie der Junge preisgegeben hatte, schlafwandelte er. Bekam sie sogar durch die Gitter seines Gefängnisses zu fassen und mit einer Kraft, die dem Jungen fremd war, hätte er ihr fast das Handgelenk gebrochen. Glücklicherweise ist mein Mädchen härter, als sie aussieht und besitzt ein paar nette kleine Tricks – Feuermagie, insbesondere.

Die Leute forderten derweil immer lauter und ungeduldiger Blut. Lizbeths neuste Erkenntnisse interessierten sie nur dahingehend, dass es sie in ihrem Vorhaben bestärkte. Der Junge war gefährlich. Warum, das interessierte einfach niemanden. Es war Florian selbst, der in seiner Verzweiflung ob der sich stetig und zügig verschlechternden Lage zu derartig radikalen Mitteln griff. Er brach die Gitter seines Gefängnisses mit eben jener Stärke, die er nicht hätte haben sollen und überwältigte seinen Wächter, ohne ihm tatsächlich ernsthaft Schaden zuzufügen. Er rannte heim – nicht unbemerkt. Eine Meute sammelte sich rasch um das Haus, bereit, es notfalls niederzubrennen.

Er war allein da drinnen. Also bat Lizbeth um wenige weitere Minuten – und folgte ihm hinein. Der Junge lag in der Küche am Boden, Blut überall, kreidebleich und ächzend. Auf dem Tisch ein Brett, darin klemmte ein wuchtiges Beil. Er hatte sich die Hand abgeschlagen.

Lizzie stoppte die Blutung, so gut sie konnte. Derweil warnte Florian sie vor irgendeiner Gefahr. Erst begriff sie nicht, bis er mit der Linken ihren Oberarm packte und sie in einem Moment der Klarheit fragte: Wo ist die Hand?

Natürlich ging sie davon aus, dass sie beim Brett lag. Da war sie schließlich – ziemlich offensichtlich – abgeschlagen worden. Aber sie erinnerte sich nicht, sie dort gesehen zu haben. Und als sie aufschaute… war da eine Blutspur, die vom Tisch wegführte. Das Gefühl, beobachtet zu werden, stellte ihr alle Nackenhaare auf. Sie drehte sich um und da war sie – sprang ihr ins Gesicht. Die abgeschlagene Hand Florians versuchte zuerst, ihre Augen auszukratzen. Dann, sie zu ersticken, indem sie in ihre Kehle krabbelte. Dann, sie zu erwürgen. Sie schaffte es, das Ding von sich zu reißen und wegzuwerfen. Flink wie die schnellste Spinne hatte sich das Ding aufgerappelt und war verschwunden. Klein, schmal – sie konnte sonstwo sein. Wann würde sie wieder angreifen? Wen würde es als nächstes treffen? Was, wenn sie dem Haus entkäme? Eine Hand! Sie konnte über Tage und Wochen das Dorf terrorisieren, vielleicht sogar auslöschen.

Also schulterte sie Florian, zog ihn hoch und schleppte ihn aus dem Haus. Zwei weitere Attacken musste sie auf den wenigen Metern abwehren. Kaum die Tür hinter sich, warf sie sie zu und brüllte die Leute an, dass sie das Haus anzünden sollten. Und Acht zu geben hatten, dass nichts dem Inferno entkam, gleich wie unscheinbar es sein mochte!

Die Crawling Hand, wie ich ihr später in Norwingen hatte erzählen können, ist eine gemeingefährliche untote Kreatur. Keiner weiß so wirklich, ob sie tatsächlich von Geistern besessen sind oder Xarak einfach betrunken war, als er das Ding erstmals erschaffen hat. Tatsächlich ist selbst mir wenig darüber bekannt, wie sie funktionieren. Florians Fall beweist, dass sie sich selbst an Lebenden manifestieren können. Ist das Zufall? Gibt es Auslöser dafür? Sind manche mehr gefährdet als andere? Ich weiß es nicht. Wenn man diese Dinger erstmal gestellt hat, ihrer habhaft wird, sind sie nahezu ungefährlich. Man kann ihre Knochen brechen und sie damit in Tempo und Gefährlichkeit verkrüppeln. Man kann sie erstechen. Verbrennen. Es gibt viele Methoden, sich ihrer zu entledigen. Ihre Gefahr liegt darin, unerkannt zu bleiben. Versteckt zu bleiben. Und zuzuschlagen, wenn wir am schwächsten sind: Im Schlaf.

Der Umstand, dass Lairuinen noch existiert, lässt mich hoffen, dass dieses Ding damals im Haus verbrannte. Oder unter den Trümmern zerquetscht worden ist.

Und der arme Florian? Ein Bekannter in Samara suchte zufällig einen Knecht und eine Zofe. Die große Stadt steht den beiden sowieso besser zu Gesicht. Ich habe sogar eine kleine, irre Tieflingsfreundin, die ihm anbot, ihm eine mechanische Hand zu bauen. Bei der Geschichte vermutlich nicht verwunderlich, dass er… wenig begeistert war.

Death Coach

Geneigter Leser – wenn du es bis zu diesem Kapitel geschafft hast: Meinen Glückwunsch zu so starken Nerven. Ich weiß nicht, warum du noch liest. Ob aus morbider Kuriosität heraus oder Amüsement oder vielleicht tatsächlich einfach, weil ich wie mit diesem Werk anvisiert, tatsächlich etwas in dir bewegt habe. So oder so mag dir im Verlauf der vorangegangenen Kapitel sicherlich bewusst geworden sein, dass ich eine sehr spezifische Persönlichkeit bin. Ein Charakter, der für manche Dinge wie geschaffen ist – und für andere wiederum wirklich so gar nicht.

Beispielsweise bin ich freiheitsliebend. Sehr. Ich mag meine Selbstbestimmung. Den Gedanken, dass mein freier Wille es ist, der mich lenkt und mein Leben bestimmt. Was daher wirklich nicht passt? Söldnerarbeit.

Das mag auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen. Aber Gregor, altes Haus – magst du jetzt denken -, warum nicht? Als Söldner kannst du anheuern, bei wem immer du willst! Ja, mein guter Freund, das mag sein. Aber hast du einmal angeheuert, ist dein Auftraggeber es, der bestimmt, wie die Dinge zu laufen haben. Er sagt, wer was tut. Wann, wo und wie. Mancher mag da mehr Freiräume zugestehen als andere, sicherlich. Aber es wird ein spezifisches Ergebnis gefordert und oftmals auf spezifische Weise. Hinzu kommt, dass ich weder ein brillanter Stratege, fähiger Krieger noch mächtiger Zauberer bin. Söldner verkaufen ihre einzigartigen Fertigkeiten. Und die, die ich da aufbiete… nun ja. Ich sollte nicht unbedingt damit hausieren gehen, nicht wahr? Das Zeitalter, von dem ich träume – das Zeitalter, in dem Nekromanten sich nicht mehr verstecken müssen -, ist eben noch fern.

Außerdem weiß man nie wirklich, wem man da Gehorsam schwört – selbst wenn’s nur vorübergehend ist. Zu viele Leute in dieser Welt verstehen sich ganz wunderbar darauf, andere zu täuschen, doppelte Spiele zu spielen. Und so mancher Lehnsherr streicht einem bei Nichterfüllung der Aufgabe nicht einfach nur den Sold. Anzuheuern und dann zu sagen „Nah, das gefällt mir nicht, ich zieh weiter“ – diesen Luxus lassen einem die Wenigsten.

Was das mit mir zu tun hat? Oder dem, wovon ich üblicherweise berichte? Nun: Ich heuerte an.

Ein paar Mal in meinem Leben. Ich kann’s, wenn ich mir Mühe gebe, mich zu erinnern, vermutlich immer noch an einer Hand abzählen. Ich bin einfach kein sonderlich guter Söldner. Aber wie du sicherlich inzwischen auch hast feststellen können: So bescheiden ich im Umgang mit anderen auch bin, so offenherzig und gern mal prahlerisch bin ich beim schönen Geschlecht. Und das war die Schlinge um meinen Hals, damals.

Ihr Name war Mirabelle-Antoinette Justinia Valisé. Aber da diese ordewey’schen Adelsnamen so lang und kompliziert auszusprechen sind und ihre Leute von oftmals einfacher Natur waren, erlaubte sie gewöhnlich, dass man sie einfach Mira rief. Ich mochte Mira. Sehr. Was ja irgendwie das Problem war – oder vielmehr, wurde. Sie hatte sehr kurzes, kastanienbraunes Haar. Ein schmales, fast schon dürres Gesicht. Kaum Brust. Ihre gesamte Figur war sehnig. Sie wirkte die meiste Zeit mehr wie ein Mann als alles andere. Und es war ein schönes Spiel, ihr ihre weiblichen Seiten zu entlocken. Sie mochte Süßspeisen. Und hatte mal jemandem Zähne ausgeschlagen, weil er gewagt hatte, darüber zu schmunzeln. Sie mochte Kleider. Sehr. Je aufwendiger, teurer und pompöser, desto besser. Aber sie trug sie nie. Ihre Arbeit als Söldnerin verwehrte ihr diese Freude. Gelegentlich lieh sie sich bei einem Schneider eines, probierte es an und flanierte für ein paar wenige Minuten in seinem Laden umher, ehe sie es wieder abgab. Das waren ihre Freuden. Ihre Momente, in denen sie sich als Frau fühlte. Ehe sie wieder in ihre Brustplatte schlüpfte, sich Dreck ins Gesicht schmierte, ihren Blick kalt und hart werden ließ und ihren wuchtigen, magischen Hammer nahm.

Der Hammer hat mich immer verwundert. Für so ein Ding braucht man zwei Arme, starke Arme. Aber sie schien ihn immer mühelos führen zu können. Hatte vermutlich was mit der Magie zu tun, die darin verzaubert lag.

Mira war sowas wie ein Hauptmann. So versuchte sie mir jedenfalls zu erklären, wie die Dinge bei ihr liefen. Sie führte einen kleinen, bunt zusammengewürfelten Haufen an Söldnern an. Ich war völlig ahnungslos in die Region spaziert, in der sie ihr Netz hatte. Kontakte in diverse Dörfer und Städte, Bekannte und Vertraute überall. Sie stellte ihre Truppe für jeden Auftrag zugeschnitten zusammen. Wen sie gerade nicht brauchte, der durfte sich solange andernorts Arbeit suchen. Rumziehen. Sie hielt niemanden wirklich fest. Naja, außer mich dann.

Ein kleines, verschlafenes Dörfchen hatte einen Hilferuf per Eilboten gesendet. Der Reiter hätte sein Pferd um Haaresbreite getötet. Irwing? Irwig? Illwir? Irgendwie sowas.

Ein Lehnsherr war dort samt seiner Familie auf dem Weg zu einem Ball verunglückt. Es galt wohl als offenes Geheimnis, dass ein Rivale da nachgeholfen hatte. Mich interessierte das alles leidlich, dummerweise hatte Mira von meinen Fähigkeiten und meiner Begabung erfahren. Irgendwelche magischen Handschuhe, die sie trug, erlaubten ihr, Johanna zu sehen. Sie gab sich neutral und beobachtete, wie vertraut wir miteinander waren. Das gab ihr alle nötigen Hinweise. Also erpresste sie mich dazu, ihr Angebot anzunehmen: Ich würde ihr helfen. Ich wäre ihr Experte für untoten Krempel. Ich würde dafür bezahlt werden, gleicher Anteil für alle – und sie würde mein Geheimnis nicht verraten.

Was hatte ich schon für eine Wahl? Sie war sehr überzeugend. Und hatte sehr stramme Schenkel.

Also bekam ich eine Rüstung und ein Breitschwert, von dem ich hätte schwören können, dass es schartig war. Man erwartete nicht wirklich von mir, dass ich kämpfte. Ich sollte lediglich aussehen, als könnte ich das. Um das Bild ihrer Truppe nicht zu brechen. Und dann, dann zogen wir nach I-irgendwas.

Der Lehnsherr sei als Untoter zurückgekehrt, hieß es. Ein grässliches Grauen, welches bei Nacht die Straßen des Dorfes heimsuchen würde. Unzählige Opfer habe es schon gefordert!

In dem Dorf mochten vielleicht ein paar Dutzend leben? Unzählige Opfer, wie sich zeigte, waren drei Betrunkene, die nachts die Taverne verlassen hatten und der Kreatur begegnet waren. Ging nicht gut für sie aus.

Dummerweise hieß das auch, dass niemand uns so wirklich sagen konnte, was das eigentlich für ein Geschöpf sein mochte. Man erzählte vom Rattern von Maschinen und dem Wiehern von Pferden, dem irren Lachen des Lehnsherrn und dem verzerrten Säuseln seiner Kinder. Hätte ich nur mal die Mühe investiert, nach dem Unfall zu fragen, hätte ich vorab erfahren können, dass sie per Kutsche unterwegs gewesen waren. Dass das gesamte Gespann eine gewaltige Böschung abgerutscht und in eine Schlucht gestürzt war. Aber ich war zu beschäftigt damit, unleidlich zu sein, über mein tragisches Schicksal zu jammern – innerlich natürlich -, und Mira auf den straffen Hintern zu glotzen.

Es ärgert mich sehr. Es ist nicht so… nicht so vernichtend und zermürbend und mich nachts mit Alpträumen auffressend wie es das vermutlich einige Jahre zuvor gewesen wäre. Ich hätte Leben retten können, hätte ich mal einen Moment nachgedacht. Aber Mira und ihre Truppe, die hatten magische Waffen und Rüstungen, Schriftrollen und Zaubertränke, Magie in solcher Vielfalt… da war es einfach schwer, zu glauben, dass ich tatsächlich irgendetwas hätte beitragen können.

Hinzu kommt zudem die Sache mit der Erpressung. Ich kann es wirklich nicht leiden, wenn Leute mich in irgendwelche abstrusen Geschichten hineinzwingen. Ich habe auch meinen Stolz – ich laufe lieber blindlings selbst hinein!

 

Mira legte einen Hinterhalt aus. Es gab nur eine wirkliche Straße und die führte einmal quer durchs gesamte Dorf. Sie wollte der Bestie auflauern und sie mit ihren sechs Mann Verstärkung niederbringen. Ich hätte sieben Leben retten können, hätte ich ihnen nur gesagt, dass sie’s lassen sollen.

Es ist schwierig, die Kreatur zu beschreiben, die dort ankam. Technisch betrachtet simpel, aber in seiner Ganzheit schwierig.

Es war die Kutsche. Die Pferde noch vorgespannt, deren Beine gebrochen, ihre Bäuche an scharfkantigen Felsen aufgeschnitten, der Hals verdreht. Vom Kutscher fehlte jede Spur auf der Sitzbank. Und die Vorhänge der Kutsche, schwarz wie die Nacht, waren allzeit zugezogen. Die Kutsche selbst war… nicht wirklich. Nicht materiell. Die Kutsche selbst war zum Geist geworden, mitsamt der Pferde und der Familie, verschmolzen mit ihnen und wiedererweckt.

Es gibt wenige Verzauberungen, die Waffen und Rüstungen befähigen, gegen Geister effektiv zu sein. Keiner von ihnen hatte etwas dergleichen bei sich. Sie konnten das Gespann beschädigen. Oder vielmehr, es verwunden. Aber es nicht bezwingen. Dafür war die Death Coach einfach zu mächtig, zu stark – zu schnell.

Ich sah ihre Leute, gestandene Kämpfer aus wer weiß wie vielen Schlachten, zittern und leise beten, als sie auf das Ding losgingen. Und die Kutsche, sie fuhr. Sie fuhr den Pfad entlang, bog nach oben in die Lüfte ab, schwenkte und sauste wieder hernieder, bretterte mit ratternden Rädern und unheimlich wiehernden Pferden durch die Meute durch. Mit jedem Mal riss sie jemandes Seele aus dessen Leib. Mit nicht mehr als einer Passage. Einer Berührung. Mehr war nicht nötig.

Und mit jeder gefangenen Seele, deren leises Wehklagen aus dem Inneren der Kabine zu hören war, wurde die Kutsche schneller.

Ich stand dort. Ich sah es, sah alles. In dieser unheimlichen Vollmondnacht, mit wenigen Fetzen Wolken am Himmel, unter kahlen, kränklichen Spätherbstbäumen, sah ich die Seelen guter Leute aus ihren Leibern gerissen, verdammt, die Erlösung verwehrt, um eine untote Kreatur schrecklicher Macht zu betreiben.

Vielleicht hatte die Kutsche mich nicht wahrgenommen. Aber ich wage es zu bezweifeln. Untote sind geduldig. Sie sind genügsam. Sie haben keine Eile. Vielleicht war ihr das Mahl genug. Vielleicht wollte sie einen Zeugen zurücklassen. Vielleicht… wollte sie nur abwarten, bis Xaraks Stimme auch mich verdorben hat und ich auf ihre Seite wechsle.

Ich erinnere mich noch, als noch zwei von ihnen standen, wie Mira sich mir zudrehte. Wut flackerte in ihren Augen. „Tu etwas!“, schrie sie. Was? Was um alles in der Welt hätte ich tun sollen? Mein Schwert zücken? Mich ebenfalls fressen lassen? Ich erwog, loszustürzen. Sie umzurennen. Zu Boden zu werfen, hoffend, dass die Kutsche uns verfehlen würde. Aber das verdammte Ding hatte schon fünf Seelen inne – es war einfach zu schnell. Es erreichte sie lange vor mir. Und riss die letzten Zwei von den Beinen. Und mit sich, gewissermaßen.

Ich empfand, dass ich es Mira schuldig war, das von mir verschuldete Desaster zu korrigieren. Und ich wusste, dass es gerade hier, in Ordewey, Möglichkeiten dazu gab. Die Seelen, die eine Death Coach gefangen hat, sind nicht automatisch verloren. Sie werden nicht sofort korrumpiert oder gefressen oder dergleichen. Die Kutsche fängt sie und nutzt sie, um sich selbst zu stärken, zu beschleunigen. Aber den Seelen selbst geschieht nichts. Und wird die Kutsche vernichtet, sind die Seelen frei.

Ich war es, der einen zweiten Hinterhalt legte. Ich war es, der in die nächste Stadt marschierte und vom dortigen Priester Hilfe forderte. Ich war es, der mit zwei Dutzend Anhängern Mermerus‘ auf der Lauer lag, gesalbte Priester, Orakel, Kleriker und Paladine. Mit solcher Übermacht, vorbereitet und gewappnet, war der Kampf weniger ein solcher als vielmehr ein Schlachtfest. Die Kutsche tauchte auf, ahnungslos, und ritt direkt in die Falle. Als der transparente Rahmen der Geisterkutsche brach, die Seelen in die Freiheit flohen – in Ereshkigals wartende Arme und Mermerus‘ heiliges Reich -, da herrschte genug Chaos, damit ich ungesehen davon schlüpfen konnte.

Tage später, als ich schon in ganz anderen Landstrichen unterwegs war, auf dem besten Weg in Richtung eines Hafens, um dieses vermaledeite Land zu verlassen, da erzählte mir Johanna von Mira. Dass sie wider meiner Bitte dort gewesen sei und zugesehen hätte. Dass sie sie hatte davonziehen sehen, zusammen mit ihrer Truppe, die sie selbst dann noch herumzukommandieren schien.

Ich weiß bis heute nicht, ob Johanna mich damit zu trösten versuchte und sich das alles ausgedacht hatte… oder ob es ihr ernst war. Ich bin dankbar, so oder so. Und ich habe, so will ich hoffen, für die Zukunft gelernt.

Dir, lieber Leser, soll diese Geschichte eine Warnung sein. Falls du erwägst, anderen Leid zuzufügen – sei dir gewiss: Es wird, früher oder später, einen Weg zu dir zurück finden. Also tue dir selbst einen Gefallen, wenn schon nicht um deiner Mitmenschen Willen, und versuche es stattdessen mit Diplomatie, mit Kompromissbereitschaft, mit Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit.



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Kommentare zu dieser Fanfic (15)
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Von:  Nhaundar
2018-06-03T11:03:36+00:00 03.06.2018 13:03
Auch ein sehr schönes Kapitel. :) Leider auch etwas traurig. Irgendwie hab ich den Eindruck, dass man als Nekromant immer sehr viel Leid und Tod erlebt, wenn man etwas herumreist. Vielleicht ist man auch einfach prädestiniert dafür, weil vielleicht auch Xarak immer wieder seine Finger im Spiel hat? Wer weiß. Aber ist auch wichtig, dass Gregor schön weiter reist und die Menschen und Elfen und anderen Völker die davon keine Ahnung haben darüber aufklärt was so alles in der Welt dadraußen los ist, zumindest was untotes Zeug betrifft. :D Sehr schön, freu mich wahnsinnig drüber und noch einmal herzlichen Dank für das tolle Geschenk mit dieser FF, immer wieder aufs Neue. ^^
Von:  Nhaundar
2018-06-03T10:47:59+00:00 03.06.2018 12:47
Hat da jemand zu viel Evil Dead gesehen? XDDD (https://www.youtube.com/watch?v=awxz-8XR938) Ich finds echt genial, dass es sowas gibt, wobei mich wirklich interessieren würde, wie es funktioniert. Besonders, wenn sie untot ist, aber doch noch an nem Lebenden dran hängt, wie das überhaupt funktionieren kann! o.o Sehr spannend. Und die Geschicht auf jeden Fall auch. <3 Außerdem finde ich, dass Florian das Angebot mit der mechanischen Hand annehmen sollte. Damit kann man vieles machen... und Dinge ran basteln, die eigentlich gar keine Hand mehr sind.... praktisch, praktisch. XD
Von:  Nhaundar
2018-06-03T10:22:23+00:00 03.06.2018 12:22
Männer die auf Ziegen starren... eher Ziegen die auf Männer starren... Ziegen die Laternen hervorwürgen....Unheimlich. Widerlich. Immernoch. XD Und verdammt lustig. Irgendwer muss es sich ja tatsächlich ausgedacht haben. Also wenn es verstörend sein soll, dann hat Xarak damit diesen Zweck definitiv erfüllt. Ich bion nur sehr froh, dass der Ziegenbock nicht in lauter keine Ziegenböcke zerstoben ist, die dann auch starren und alle kleine Minilaternen hervorwürgen.... XD
Sehr unterhaltsam! XDDD
Von:  Nhaundar
2018-06-03T10:04:33+00:00 03.06.2018 12:04
Diese Geschichte finde ich auch sehr schön. Besonders weil sie aktuell ist, immer sein wird, ob nun in einer Fantasywelt oder in der Realität. Man sollte nicht immer alles gleich anzünden, weil man es nicht versteht. Besonders wenn es einfach nur ... Magie ist die man sich nicht aussuchen kann. Je nachdem was man mit der Magie anstellt, kann jede Magie tödlich oder nützlich sein. Ich hoffe irgendwann wird auch Nekromantie mal so richtig nützlich gegen Xarak sein. XD Und ihm so heftig in den arsch treten, dass er nicht mehr weiß wo oben und unten ist.
Von:  Nhaundar
2018-06-03T09:45:16+00:00 03.06.2018 11:45
Auch die Geschichte hat mir lange keine Ruhe gelassen, besonders weil sie so kurz nach den Ereignissen im RPG aufgetaucht ist. ;)
Die Stelle hat Gregor nämlich tatsächlich übel mitgenommen, wie viel man davon jetzt noch merkt oder nicht, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass das alles genauso weiter gelaufen ist. Auch wenn es traurig ist. Ich finde es schön, dass Gregor vermutlich einen letzten Tanz mit Victoria hatte, bevor sie vom Raben weiter getragen wurde. Übrigens finde ich es auch toll, dass das hier eingebaut wurde. Das ist einer der Gründe weswegen ich Raben mag. Nicht nur weil sie hübsch aussehen und clevere Tiere sind, sondern auch, weil sie als Symbol so eine tiefe Bedeutung haben und schon immer hatten. Auf jeden Fall auch eien sehr schöne Geschichte. <3
Von:  Nhaundar
2018-06-03T09:37:47+00:00 03.06.2018 11:37
Die Geschichte ist mir auch besonders gut in Erinnerung geblieben. Ich finde sie wirklich traurig, aber auch irgendwie schön. Zumindest für das brennende Kind ist es gut ausgegangen, vielleicht aber auch für Stella. Kinder zu verlieren ist alles andere als einfach. Trotzdem war es ein trauriges Ende. Gregor muss echt viel durchmachen auf seinen Abenteuerreisen. Auf jeden Fall ebenso schön geschrieben, wie die anderen Kapitel und es macht jedes Mal erneut ganz viel Spaß Gregors Abenteuer zu erleben nd zu sehen was oder wem er so begegnet. :)
Von:  Nhaundar
2018-06-03T09:10:34+00:00 03.06.2018 11:10
Hach, eine tolle Geschichte. :D
Allerdings auch furcheinflößend. Ich mag offene, große, besonders tiefe Gewässer nicht sonderlich. Da man nie weiß was da so alles rumschwimmt und es eines der wenigen Gebiete ist, die vom Menschen noch nicht so ganz erforscht sind...Wenn dann da noch ein Geisterwal sein Unwesen treibt ist es vermutlich schnell vorbei mit der guten Laune.
Auf jeden Fall ein gelungenes Kapitel, ich mag Willy und finde es schade, dass es so zu Ende mit ihr geht... da gehts mir ein bisschen wie Gregor. Aber wir ernten leider auch alle was wir sähen.
Von:  Nhaundar
2017-05-08T12:38:10+00:00 08.05.2017 14:38
Ach ja! Die Geschichte ist toll, amüsant und traurig und hoffnungsvoll zugleich.
Ich finde es schön, dass Gregor die eine gefunden hat, mit der er zusammen bleibt, trotz der negativen Aussichten, das beste versucht und einfach hofft, das Schicksal abzuwenden.
Das offene Ende finde ich auch sehr toll. Irgendwie ein Happy End und irgendwie auch nicht. Das mag ich sehr gerne. Hektor ist übrigens verdammt cool! Wer hält sich schon ne Chimäre als Haustier? ;D Da bleibt nur zu hoffen, dass es gut ausgeht, dass die Wahrsagerei sich nicht bewahrheitet, sondern nur eine von vielen Möglichkeiten ist deren prozentuale Wahrscheinlichkeit sich durch Maßnahmen sehr verringert hat.
Gut das hier Gregor mal Eier beweist und trotz der Aussichten bei Lizbeth bleibt und dass er eine Familie hat, mit Hektor. <3 Sehr niedlich das ganze.


Generell habt ihr euch echt selbst übertroffen! Ich finde das einfach großartig! <3 Wirklich sehr schön. Hat mich durch alle möglichen Gemütszustände gejagt, was ich richtig gut finde, denn so soll das mit einer guten Geschichte sein. :)

Danke euch dafür! >-< Ihr seid die Besten! D: *alle flausch*
Kann mit Fug und Recht sagen, dass es das beste Geburtstagsgeschenk ist. <3
Antwort von:  Nhaundar
08.05.2017 14:38
Allein, wie viel Mühe irh euch damit gemacht habt. >-< Ihr seid viel besser als jedes Bday-Geschenk der Welt. ;^; *sniff*
Von:  Nhaundar
2017-05-08T12:32:20+00:00 08.05.2017 14:32
Haha! Darauf hab ich gewartet, als ich es entdeckte! XD Das ist ein einmaliger Umgang mit Wiedergängern! Und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Gregor Sierra ganz toll findet. Und das gebotene Schwiegen über Ishara. XD Trotz allem würde der Tunichtgut es versuchen. Selbst wenn er es am Anfang versucht zu vermeiden, wegen Thorin... vor Gregor ist man nicht sicher. XD Nie. Sehr amüsant und lehrreich zu lesen. Gefällt mir mit am besten, weil es doch etwas fröhlicher stimmt, auch wenn das Thema an sich kein lustiges ist. Ich finde ihr habt hier die Kurve prima bekommen. ^^
Von:  Nhaundar
2017-05-08T12:29:11+00:00 08.05.2017 14:29
Toll und traurig. Mit einer schönen Lehre. Gerade als Nekromant ist man irgendwie Magnet für so etwas. Da bin ich doch ganz froh, dass Gregor da nicht so finster in die Welt schaut, das würde sonst schnell hässlich werden.
Ich mag seinen Optimismus und seine teilweise stark vorhandene Unbekümmertheit. Anders ließe sich das wohl nur schwer ertragen.
Habt ihr toll eingefangen. :D Ihr habt ihn generell so gut getroffen! X3


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