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Gregors Necronomicon

von
Koautoren:  Sam_Linnifer  Gezeitenfeuer

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Chimäre

Wenn du die Kapitelüberschrift gelesen hast, dann wirst du dich jetzt vermutlich fragen: Aber Gregor, altes Haus, was hat eine Chimäre in einem Buch über Untote zu suchen? Die sind doch gar nicht untot!

Und glücklicherweise, mein Freund, hast du da Recht – die meiste Zeit.

Denn genau das ist das Problem. Bei all den Kreaturen, die es im Reich der Untoten gibt – Kadaver, Skelette, Manananggals, Wiedergänger, Ymir, Knochengolems, Zombies, brennende Kinder, Banshees, Ghoule, Mohrgs, Mumien, bis hin zum Lich -, da vergisst man ein kleines Detail schnell: Im Grunde kann König Xarak jederzeit alles in eine Existenz als Untoter zwingen, solange es zu Lebzeiten eine Seele besaß, die er verderben und aus dem Totenreich zurückzerren kann. Der gewöhnlichen Gossenratte – oder –katze – ist meisthin schlecht anzumerken, ob sie schon seit einer Woche tot ist oder nicht und gibt damit exzellente, unverdächtige und oftmals unbeachtete Spione ab. Und ich sprach in früheren Kapiteln ja schon davon, wie untote Kreaturen manchmal einfach dazu benutzt werden, Wasser- und Lebensmittelvorräte zu vergiften oder Seuchen zu übertragen.

 

Aber ich picke mir hier diesen einen, speziellen Fall raus. Weil er mir nahe geht. Und er mag euch sicherlich kurios vorkommen.

Lizbeth war zunächst eine meiner üblichen Eroberungen, erobert auf die übliche Weise. Da war dieses Dorf, ich zog herum, ich zog ein und am ersten Abend gelang es mir mal wieder im Schankraum direkt die Aufmerksamkeit des – meines Erachtens nach – hübschesten Mädchens zu gewinnen. Nur wurde mir auch schnell klar, dass Lizbeth anders behandelt wurde als die restlichen Gäste. Und sie verschwand immer wieder nach oben, auf ihr Zimmer.

Als sie das eine Mal nach einem Poltern und Klirren wieder herunter kam, waren Wirt und Gäste bereits alarmiert, sichtlich angespannt. Der Wirt hat sogar unter den Tresen gegriffen – wo er vermutlich seine Waffe versteckt hielt. Sie ließ alle wissen, dass alles in Ordnung sei, man entspannte sich wieder und Lizbeth bat um ein Glas Wasser und ein sauberes Stück Stoff. Sie verband sich vor meinen Augen eine frische, blutende Kratzwunde an der Hand.

Und erwartete wirklich von mir, dass ich ruhig da sitzen, zusehen, abwarten und nicht vor Neugier platzen würde!

Weibervolk. Also wirklich.

Sie war sehr bemüht, mich abzulenken. Ich begriff nicht ganz, warum – so tragisch konnte es ja wohl nicht sein, eine übellaunige Katze zu haben, oder? Aber zu jenem Zeitpunkt war mir noch klar, weshalb wir am gleichen Tisch saßen, weshalb ich sie auf Essen und Getränke eingeladen hatte – scheußlich saurer Wein übrigens, ich kann die Gasthäuser in den meisten Dörfern der freundlichen Leute wegen empfehlen, aber ganz bestimmt nicht für ihre exquisite Auswahl an Getränken – und nicht zuletzt, worauf ich mit alledem natürlich unweigerlich abzielte.

Ich wunderte mich nicht einmal, als wir uns auf mein Zimmer zurückzogen, statt auf ihres. Bis dahin hatte ich genug aus ihr herauskitzeln können, damit ich dachte, mir die fremdartige Behandlung erklären zu können. Sie war keine Bewohnerin des Dorfes, sie war eine andere Reisende. Und es gab so unendlich viel, das uns verband. Zugegeben, sie war keine Halbelbe. Nein – sie war eine Ifrit. Tja, da schaust du, was?

Ich wusste auch nicht, was das war.

Sie demonstrierte es mir, als sie mit dem Finger schnippte und sich darauf konzentrierte. Ein kleines Flämmlein tänzelte über ihrem Daumen und sie zündete unsere Kerze damit an. Was sie mir erklärte, klang nach Tiefling. Aber offenbar gibt es viele Arten von Tieflingen und die haben untereinander auch verschiedene kulturelle Hintergründe und Volksidentitäten. Ifrits waren die Halbblutnachkömmlinge von Feuergeistern oder Feuerelementaren oder… irgendwas mit Feuer – ich fürchte, ich habe mehr Aufmerksamkeit auf ihre hübschen, schmalen Lippen gelegt, als auf ihre tatsächlichen Worte. Sie hatte Grübchen, wenn sie lächelte. Und sie lächelte häufig.

Ifrits waren wohl irgendwie von Natur aus rastlose Seelen, was sich trotz der langen Linie, die sie bereits von diesem Ursprung entfernt war, noch immer in ihrem Gemüt niederschlug. Sie hatte schon beeindruckend viele Teile der Welt gesehen – und wir redeten. Wir verglichen, wo wir beide bereits waren und wir tauschten, wo der andere noch nicht war. Gaben Empfehlungen und Mahnungen, rieten von Gegenden und Häusern und Verhaltensweisen ab, nannten Namen großzügiger oder netter Leute, die aufzusuchen eine gute Idee wäre.

Wir zogen uns auf mein Zimmer zurück, ja. Aber der Spaß, den wir dort hatten, der war anderer Natur als sonst.

Irgendwann am frühen Morgen zogen wir wieder in den Schankraum um, ohne, dass sie auch nur ein Kleidungsstück abgelegt hätte. Oder ich. Wir hatten gerade eine brillante Idee gehabt und waren dabei, sie weiter auszuarbeiten, als oben wieder ein Poltern und Klirren erklang. Sie sprang auf und wurde ein wenig blasser und meinte nur, sie habe vergessen, Hektor zu füttern. Gut – Kater also, keine Katze. Ein Kater namens Hektor. Ja, warum nicht.

Sie war so schnell weg und wir waren mitten im Gespräch und überhaupt, ich war vielleicht ein klitzeklein wenig neugierig. Also lief ich ihr einfach weiter Belanglosigkeiten schnatternd hinterher. Sie antwortete natürlich nicht mehr, schien meine Präsenz aber auch irgendwie vergessen zu haben. Und ging in ihr Zimmer. Als ich sah, was sich da auf dem Bett befand, mit Krallen in die Decke geschlagen und Selbige in kleine, federreiche Bestandteile zerlegend, blieb ich sogar nicht nur freiwillig im Flur stehen, ich gaffte. Und ignorierte dabei auch die am Boden zerschellte Vase.

Lizbeth hatte eine Säuglingschimäre bei sich. Und wenn ich sage Säugling, dann meine ich: So verdammt klein!

Der Löwenkörper war da und muskulös, ja, sicherlich. Aber das Tier war nicht größer als eine tatsächliche Katze! Neben seinem Löwenkopf entsprang ein deutlich kleinerer Ziegenkopf mit winzigen Hörnchen und unruhig herumwirbelnden Öhrchen. Und statt einem Schwanz peitschte eine kleine, kurze Schlange verwirrten Blickes herum. Hektor ließ Lizbeth gegenüber sein furchteinflößendes Löwengebrüll hören, um seine Unzufriedenheit kund zu tun, und ich glaube, in dem Moment ist ein Teil meines Herzens weggeschmolzen.

Es war das mit Abstand Süßeste, was ich je gesehen habe. Und ich kenne Ishara – die beständig ihr gewaltiges Tiergefolge erweitert.

Erst nachdem Lizbeth Hektor versorgt hatte und die Miniaturchimäre sich wieder zufrieden schnurrend auf den Bettdeckenresten eingerollt hatte, kehrte ihre Aufmerksamkeit zu mir zurück. Sie nahm mich in meiner Trance beim Handgelenk, führte mich wieder in mein Zimmer und begann sich irgendwie erstmal zu rechtfertigen. Ich fürchte, ich verpasste im Zuge dessen die Geschichte, wie und wo sie ihn eigentlich gefunden hatte.

Natürlich machte da jetzt nochmals viel mehr Sinn, warum die Leute alle so angespannt waren. Da war eine Chimäre in ihrem Haus!

Vielleicht habe ich in dem Moment ein klein wenig gequietscht. Vielleicht. Ein klein wenig.

Lizbeth jedenfalls lachte auf und nahm es nicht übel. Wir redeten danach viel über Hektor. Wie er zunächst wirklich nur ein kleiner Löwe mit einem Schlangenschwanz gewesen war. Wie der Ziegenkopf vor ungefähr einer Woche begonnen hatte, herauszuwachsen. Irgendwann würde ein Drachenkopf dazukommen, und Lederflügel auf seinem Rücken. Chimären waren ziemlich ungeschickte Flieger, aber sie konnten fliegen. Der Schlangenschwanz war nicht wirklich giftig, aber die Hörner des Ziegenkopfes würden irgendwann gefährlich werden. Ganz zu schweigen vom Drachenkopf und seinem Feueratem – oder was immer er dann spie.

Ich war danach natürlich umso eifriger darin, unsere Idee weiter auszubrüten: Wir setzten uns gemeinsame Ziele. In einem Monat treffen wir uns in Dorf X – obwohl es nur eine Reise von zwei Wochen dorthin war. So konnte man weiterhin viel reisen, sich unterwegs Zeit lassen, Leute treffen, Dinge tun und dennoch einander wiedersehen. Denn das war der Kniff an der Sache: Ich wollte sie wirklich, wirklich gerne wiedersehen.

Ein Jahr lang reisten wir, einander treffend und wieder verlassend. Tauschten uns über Geschichten und Erlebnisse aus. Und es dauerte bis zu unserem vierten Treffen, ehe wir das Bett teilten. (Ehrlich, ich wäre stolz auf mich, würde ich etwas auf die sonst überall angepriesene Zurückhaltung geben. So hingegen frage ich mich nur, ob ihre Geschichten wirklich so gut waren.)

Natürlich sah ich nebenher Hektor aufwachsen. Chimären haben ungefähr die Lebensspanne eines Menschen, vielleicht etwas weniger. Sie wachsen daher zügig. Und wir fanden uns dann unweigerlich, wie konnte es anders sein, im Zelt einer Hellseherin, als sich die Möglichkeit dazu bot. Sie behauptete, Magierin des Zirkels zu sein und eher aus Langeweile und Reiselust mit dem Zirkus zu ziehen. Und sie bot uns an, einen Blick in unsere Zukunft zu werfen. Für uns. Mit uns. Mit Hilfe ihrer Kristallkugel.

Ich hatte noch nie eine funktionierende Kristallkugel gesehen. Bei denen, die ich vorher kannte, waren die Effekte mal mehr und mal weniger gut, aber immer… durchschaubar.

Sie erzählte von der Romanze zweier Reisender, von einer Familie, getrennt und doch zusammen – und von Hektor.

Aufgrund ihrer Abstammung würde Lizbeth so lange leben wie ich. Aber die Magierin warnte uns, dass Hektor sterben würde… und nicht tot bliebe. Der Untod würde ihn befallen und unseren Freund wieder ins Dasein zwingen. Er würde Lizbeth anfallen und schwer verwunden. Lahm für den Rest ihres Lebens mit Schmerzen bei jedem Schritt würde sie das Reisen aufgeben müssen – schlimmer aber wurde es für unseren Erstgeborenen, den Hektor in Stücke reißen würde.

Ich weiß bis heute nicht, ob ich auf diese Magierin wütend sein sollte oder nicht.

Wir waren natürlich sehr… aufgewühlt nach diesem Besuch. Niedergeschlagen, verwirrt. Aus irgendeinem Grund hatte das Eindruck hinterlassen und wir konnten nicht mehr aufhören, darüber nachzudenken. Lizbeth wurde von Sorgen und Ängsten zerfressen. Sie hatte sich Familie gewünscht – aber wusste nicht, wie sie das mit einem Dasein als Reisende vereinbaren sollte. Das Reisen aufgeben kam ihr jedoch wie Folter vor. Also… redeten wir. Viel. Lange. Über all die Dinge. Und fanden Lösungen, hier und da.

Ich weiß nicht, wie das mit der Hellseherei funktioniert. Ob die Vision gehört und gesehen zu haben zu ihrem Eintritt führt. Oder ob man etwas Gesehenes verhindern kann. Ob das Gesehene überhaupt immer stimmt oder nicht. Aber von Lizbeths Familienwünschen wusste ich vorher nichts. Und erst im Gespräch wurde mir klar, wie wenig ich dagegen hatte. Nicht nur, Kinder in die Welt zu setzen, sondern mich ihrer tatsächlich anzunehmen.

Und wir überlegten uns auch Dinge für Hektor. Wir waren ein junges Paar, denke ich. Verliebt, vermutlich. Und Hektor war immer bei allem mit dabei. Er war das fünfte Rad am Wagen, ohne wirklich je zu stören. Und wenn er sich langweilte, dann machte er Unsinn. Niedlichen Unsinn, meist. Es war schwer, sich vorzustellen, wie wir eines Tages die Waffen gegen ihn erheben würden. Aber diese Möglichkeit immer im Hinterkopf, behielten wir ihn dann und wann genauer im Auge. Wie er jagte. Wie er graste. Was er fraß, in welchen Mengen. Wie oft er seinen Feueratem tatsächlich zu nutzen fähig war. Natürlich bemühten wir uns auch um andere Arten der Vorbereitung. Ninafer stellte für uns Kontakt zum Ereshkigal-Kloster in Ilmwacht her und Meister Lamerak kontaktierte Meister Halon für uns. Aber alle sagten uns das Gleiche: Es gab Möglichkeiten, aber keine Garantien.

Ich glaube, das war das erste Mal, das mir eine Unwägbarkeit des Lebens wirklich, wirklich schwer im Magen lag.

 

Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, ist Hektor alt. Irgendwo dort draußen sind winzige, unglaublich süße Chimärenwelpen, die ihre ersten, tapsigen Schritte setzen. Und der Moment, auf den wir uns vorbereitet haben, rückt mit jedem Tag näher. Wird er schlafen und einfach nicht mehr aufwachen? Wird es einen letzten Kampf für ihn geben? Werden wir schlafen, während er verwandelt wird? Wird er uns überraschen?

Wenn Hektor dem Untod anheimfällt, dann wird er alles haben, was er jetzt hat. Den Feueratem, die Hörner, die Mäuler und Pranken. Und eine noch viel gefährlichere Waffe: Uns. Unsere Liebe zu ihm. Unser Vertrauen in ihn. Unsere Hoffnung und Unsicherheit. Wird Lizbeth zögern, zuzuschlagen? Werden die Zauber versagen, die Gebete? Ich weiß es nicht. Und früher bereitete mir das sehr viel Unruhe. Heute ist es besser geworden. Ich habe mich, irgendwann, irgendwie, damit abfinden können.

 

Hektor ist ein extremes Beispiel. Was ist mit deiner Hauskatze, mein Freund? Hättest du es in dir, sie zu erschlagen, nachdem sie starb? Ihr den Schädel einzuschlagen, weil sie, klein und winzig, jetzt deine Kehle mit ihren Klauen aufzuschlitzen versucht? Dir die Augen auskratzen will? Es ist eine Sache, auf gesichtslose Skelette und namenlose Geister einzuschlagen. Der wahre Schrecken des Untodes liegt darin, dass er die Bande, die wir vorsichtig und mühsam knüpfen, die wir eifrig pflegen, gegen uns verwendet.

Mein Sohn heißt Joshua. Er ist der Älteste von drei. Und er liebt Hektor abgöttisch. Ob er wohl da sein wird, wenn es passiert?



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Nhaundar
2017-05-08T12:38:10+00:00 08.05.2017 14:38
Ach ja! Die Geschichte ist toll, amüsant und traurig und hoffnungsvoll zugleich.
Ich finde es schön, dass Gregor die eine gefunden hat, mit der er zusammen bleibt, trotz der negativen Aussichten, das beste versucht und einfach hofft, das Schicksal abzuwenden.
Das offene Ende finde ich auch sehr toll. Irgendwie ein Happy End und irgendwie auch nicht. Das mag ich sehr gerne. Hektor ist übrigens verdammt cool! Wer hält sich schon ne Chimäre als Haustier? ;D Da bleibt nur zu hoffen, dass es gut ausgeht, dass die Wahrsagerei sich nicht bewahrheitet, sondern nur eine von vielen Möglichkeiten ist deren prozentuale Wahrscheinlichkeit sich durch Maßnahmen sehr verringert hat.
Gut das hier Gregor mal Eier beweist und trotz der Aussichten bei Lizbeth bleibt und dass er eine Familie hat, mit Hektor. <3 Sehr niedlich das ganze.


Generell habt ihr euch echt selbst übertroffen! Ich finde das einfach großartig! <3 Wirklich sehr schön. Hat mich durch alle möglichen Gemütszustände gejagt, was ich richtig gut finde, denn so soll das mit einer guten Geschichte sein. :)

Danke euch dafür! >-< Ihr seid die Besten! D: *alle flausch*
Kann mit Fug und Recht sagen, dass es das beste Geburtstagsgeschenk ist. <3
Antwort von:  Nhaundar
08.05.2017 14:38
Allein, wie viel Mühe irh euch damit gemacht habt. >-< Ihr seid viel besser als jedes Bday-Geschenk der Welt. ;^; *sniff*


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