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Stray

von

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...und der Regen fällt

Vorwort: Ein ganz kurzes Vorwort nur zum Auftritt :) Erstens, ich glaube durchaus nicht, dass man einfach so ohne Probe einen Musiker ersetzen kann, und jeder Zuhörer mit halbwegs musikalischem Gehör würde den lausigen Auftritt als solchen enttarnen, Jamie gehört nur nicht dazu ;) Und den Umständen entsprechend...würde ich den Gig dennoch als Erfolg verbuchen.

Zweitens, um nicht den Text zu unterbrechen, Credits für die Cover hier vorweg:

HIM – Right here in my arms

City – Am Fenster

Placebo – Ashtray Heart

Die Ärzte – Mach die Augen zu

Placebo – Fuck you (ja, ich weiß, das ist schon gecovert; ich meine aber wirklich diese Coverversion ;))

So, Lisa, da siehst du mal, was ich so wild neben dir zusammengetippt habe, und zwar alles bis zu Sakuyas erstem Part ;)
 

Stray

vol.14: ...und der Regen fällt
 

Antti: Los
 

Somebody hurt you, so you're hurting me....
 

- aus: The 69 Eyes: Sleeping with Lions
 

„Was macht ihr hier draußen noch?“

Ich sah auf, strich mir mit einer Hand die Haare aus dem Gesicht; ich fröstelte ein wenig in dem dünnen weißen Hemd, das mich kaum vor der kalten Abendluft hinter dem Eden schützte, stemmte dann die Arme in die Seite und fauchte Jimi an. „Gleich!“

Er sah mich konsterniert an. „Ist ja gut...“

„Entschuldige!“ Ich hob entnervt die Hände und verschränkte sie dann hinter dem Kopf. „Wir sind gleich da.“

„Ich geb euch zehn Minuten.“

„Fünf. Versprochen.“

Er nickte, warf seine halb gerauchte Zigarette auf den feuchten Kies vor der unlackierten Hintertür und ging dann wieder hinein, das alte Schloss rastete laut hörbar hinter ihm ein.

Es regnete nicht, dämmerte zwar langsam, doch noch immer war es ein wenig hell draußen, wozu die schwach flackernde Neonleuchte an der Betonwand neben mir nur wenig beitrug, und ein wenig entfernt stritten sich Krähen laut schreiend um irgendetwas Totes.

Ein dünner Rauchfaden zog an meinem Blickfeld vorbei, und ich fuhr wieder herum, noch immer mit der gleichen Anspannung, die mich seit der Unterbrechung durch Jimi nicht verlassen hatte.

„Kannst du mal für fünf Minuten mit der gottverdammten Qualmerei aufhören? Es NERVT!“

Karasu tat, als hätte er mich nicht gehört, lehnte in seiner offenen Lederjacke an der Wand, zwei silberne Anhänger funkelten an einer Kette auf seiner Brust und verdeckten die Schnitte vom Morgen halb. „Ich hab dir mal vertraut, Antti.“

Ich lachte hysterisch. „Du hast mir vertraut? Wann das denn? Seit drei Jahren versuche ich dich zu verstehen, und du blockst immer wieder ab!“

„Seit drei Jahren erzähle ich dir, dass du aufhören musst, in einem Märchen zu leben“, raunzte er zurück. „An allem, worüber du dich aufregst, bist du doch selber schuld, und lass deinen Frust nicht an mir aus, ich hab dir nichts getan! Ich reiße mir seit Jahren den Arsch für dich auf, wenn es mich nicht gäbe, dann wärst du ein Niemand, dann gäbe es überhaupt keine Band, dann gäbe es DICH nicht mehr. Du verdankst mir dein verficktes Leben. Und ein Jahr lang hab ich dir erzählt, Antti, vergiss den Typen, der verletzt dich nur, du hast mir nicht geglaubt, und oh! Rate mal! Ich hatte RECHT. Und jetzt kommst du zu MIR und heulst mir Tag um Tag die Ohren voll; werd erwachsen! Manche Leute sind einfach scheiße, und das solltest du wissen in deinem Alter!“

„Leute wie du?“, fauchte ich ihn an, stemmte eine Hand neben ihm an die Wand; er starrte mich eine Weile wortlos an, die weiße Kontaktlinse machte es schwer, seine Gedanken zu deuten, das andere Auge war von einer dunklen Haarsträhne verdeckt; er hob die Zigarette zum Mund und nahm sehr langsam einen Zug.

„Okay. Das wars.“

„Geh nicht weg!“ Ich krallte die Finger in seinen Ärmel, als er sich von der Wand abstieß. „Du sagst mir, ich soll erwachsen werden? Hast du sie noch alle? Du erzählst allem und jedem, du brauchst niemanden, aber weißt du was, Karasu, ich bin kein Idiot; du lügst, und du lügst nichtmal gut; wenn du so gern allein bist, warum bist du dann nicht längst gegangen? Warum bist du dann noch hier?“

„Lass mich los.“ Er senkte den Kopf.

„Ich hab keine Lust mehr auf deine Scheiße! Ich könnte dich zurzeit echt brauchen, als Freund, und was machst du, du behandelst mich wie den letzten Dreck, weil es mir schlecht geht? Weil ich einen Fehler gemacht habe? Weil ich mich einsam fühle? Verstehst du sowas unter Vertrauen? Das ist ziemlich schwach von dir, ehrlich gesagt, und es macht dich nicht besser als deine Eltern, also warum bist du dann überhaupt noch hier?“

Er stieß mich zur Seite und ich stieß ihn aus Reflex zurück, so dass er auf dem Kies einen Schritt nach hinten stolperte; es hatten sich jetzt Tränen der Wut in meinen Augen gebildet, und ich hatte die Lippen aufeinandergepresst; verdammt, ja, warum konnte der Mensch, dem ich, weiß Gott warum, auf der Welt am meisten vertraute, nicht für mich da sein, wenn ich ihn am meisten brauchte?

„Fick dich, Antti, niemand zwingt dich, mit mir befreundet zu sein; merkst du erst jetzt, dass ich ein Arschloch bin, ist das dein Ernst? Ich bin nicht da, um dein Kindermädchen zu spielen, und die bösen Jungs zu verhauen die dich ärgern; ich hab meinen eigenen Scheiß, um den ich mich kümmern muss, okay, und das solltest du auch tun! Ich hab dir gesagt, ich will nicht mit dir drüber reden, aber du willst das nicht verstehen, oder! Oder bist du zu dumm, es zu verstehen? Kümmer dich gefälligst um dein Leben und lass mich in Ruhe!“

„Warum sagst du sowas“, brachte ich heraus, meine Hände ballten sich zu Fäusten, ich krallte die Finger in den Saum meines Ärmels, als einzigen Halt, den ich in diesem Moment hatte, den nassen Kies unter den Füßen und den grauen Himmel über mir, an dem die Aasfresser ihre Kreise der Dänmmerung entgegen zogen.

„Verdammte Kacke“, schrie Karasu jetzt, packte mich am Kragen; ich zuckte zusammen und schnappte ein wenig nach Luft, entwand mich seinem Griff; er hielt den Stoff meines Hemdes unerbittlich fest und durchbohrte mich mit seinen finsteren Blicken, die Augenbrauen zusammengezogen und die Zähne gefletscht. „Warum ich das sage? WARUM? Wir haben einen JOB zu machen, verflucht, und dein Leben hat damit nichts zu tun, und mein Leben hat damit auch nichts zu tun! Also reiß dich sofort zusammen, falls du noch sowas wie Eier hast, und geh auf diese verdammte Bühne, und tu, was du am Besten kannst!“

Er ließ mich abrupt los, und wandte sich um, ich rieb mir den Hals und merkte, dass ich in der kalten Luft und vor unterdrücktem Ärger zitterte. „Ich...ich gehe nicht, ehe wir das hier nicht aus der Welt geschafft haben.“

Er stand mit dem Rücken zu mir, zündete sich hinter vorgehaltener Hand eine weitere Zigarette an. „Doch, das wirst du.“

„Karasu...“

„Ich hab gehört, was du gesagt hast, Antti, und ich will nichts von dir hören; kein weiteres Wort und auch keine Entschuldigung. Ich habe dir alles gesagt, was ich zu sagen habe.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und zog das Hemd enger um mich, es wurde rasch kälter mit der einbrechenden Dunkelheit, um uns rauschten die vor dem Himmel schwarzen Bäume. „Ist dir unsere Freundschaft so wenig wert?“

Er drehte sich nicht um, ich sah den Rauch vor seinem Gesicht aufsteigen, als er den Atem langsam ausstieß. „Ich will keine Freundschaft von dir, Antti. Ich will allein sein. Jetzt geh rein. Wir haben einen Gig.“

Ich wandte mich ruckartig um und ließ Karasu an der Tür des Eden stehen; verdammt, ich würde ihm einen Gig abliefern, und wenn ich diesen impertinenten, asozialen Mistkerl danach in die Finger bekam, dann würde ich ihm den Arsch so weit aufreißen, dass er wochenlang nicht mehr würde klar denken können; es war mir sowas von scheißegal, was er sagte, ich war doch kein Idiot, der sich mit einem 'lass mich in Ruhe' seines besten Freundes abspeisen ließ!

Meine Wut verrauchte nur langsam, und ich tigerte ein wenig um den Club herum; hier standen niedrige Büsche, und es führte ein Trampelpfad an der Betonwand entlang; auf diese Art hatte ich noch eine Minute für mich alleine vor dem Auftritt; genug Zeit, meinen Kopf wieder klar zu bekommen, und etwas durchzuatmen.

Ich stieß heiser die Luft aus, lehnte mich mit dem Rücken an die kalte Wand, die hart und rauh war durch das dünne weiße Hemd. Ich schloss die Augen und sog tief die kühle Abendluft ein. Man hörte noch immer die Vögel schreien, nun entfernter, und leise Stimmen vor dem Eden, die zu schwach waren, sie zuzuordnen. Ich fuhr mir über das Gesicht und strich mir die zerzausten blonden Haare aus der Stirn, leckte mir mit der Zungenspitze über die Lippen. Langsam spürte ich, wie sich mein Herzschlag beruhigte, und der Knoten in meinem Magen sich ein wenig aufzulösen schien. Ich schluckte, verdrängte den Wunsch, zu schreien, und nach endlosen Sekunden verschwand dieser, und hinterließ nur einen leisen Stich der Trauer, und eine Enttäuschung, die zuvor Wut gewesen war.

Ich hätte ihn nicht so sehr in die Defensive drängen sollen, indem ich ihn wiederum nach seinen Verletzungen fragte, ich hätte es besser wissen können. Karasu biss um sich wie eine Wildkatze, wenn er mit dem Rücken zur Wand stand. Aber ich hatte nicht geahnt, dass ihn das Thema dieses Mal so sehr verletzte. Ich wollte ihm doch nur helfen! Aber wie sollte ich das tun, wenn er sich mir gegenüber nicht öffnete? Ich machte mir Sorgen um ihn.

Seine Worten taten mir weh, und ich hatte fast ein wenig Angst, ihn endgültig von mir fortgetrieben zu haben; doch ich würde es wieder gutmachen. Er konnte alles von mir haben, was er von mir wollte, wenn er nur nicht meine Seite verließ. Er hatte recht; ich brauchte ihn, doch nicht so, wie er es meinte.

Ich wünschte nur, er würde in diesen Tagen für mich da sein, und nur langsam begann ich zu ahnen, dass er es möglicherweise nicht konnte.

Meine Lippen waren trocken, und ich biss mir darauf, schlug wieder die Augen auf. Es war jetzt fast dunkel, ein wenig Licht schien von einer Straßenlaterne neben mir um die Ecke des Eden. Meine Haut kühlte aus in der Luft, und ich war ohnehin spät dran; grade ich, der die anderen stets zur Ordnung anzuhalten versuchte!

Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und senkte kurz den Kopf, atmete ein weiteres Mal tief ein, und richtete dann die hellen Augen wieder auf den ausgetretenen Pfad vor meinen Füßen. Ich wollte Karasu nicht direkt in die Arme laufen, mir genügte für jetzt der professionelle Karasu, der selbstbewusste Bassist, der sich auf der Bühne verhalten würde, als sei nie etwas gewesen. Ich ordnete meine leise klingenden Ketten, die mir um den Hals hingen, strich mir die abwesend durch die Haare und den Federorhrring, den ich trug, berührte wie abwesend kurz mit den Lippen den silbernen Ring, den ich seit bald anderthalb Jahren trug; ein Ritual, das ich beinahe schon automatisch vollführte, und straffte die Schultern, trat um die Ecke, auf dem Weg zum Haupteingang des Eden.

Was ich sah, als ich unmittelbar außerhalb des Scheines der schwach summenden Neonbeleuchtung auf der Stelle stehen blieb, traf mich mitten ins Herz; und dort, in den Schatten der Bäume, in der grauen Nacht, meinte ich tief in der heißen Brust spüren zu können, wie es mit einem unhörbaren Klirren ganz sanft brach.
 

Jamie: I saw what you did there
 

Die Forderung, geliebt zu werden, ist die größte der Anmaßungen.
 

- Friedrich Nietzsche
 

„Glaubst du, mit den beiden ist alles okay?“

Ich wandte den Kopf zu Junya; es war seltsam ungewohnt, ihn wieder mit blonden Haaren zu sehen, die hatte er sich wieder gefärbt, ehe wir ins Eden gegangen waren, und ich wurde etwas rot, als er mit drei Fingern durch meine eigenen nun pechschwarzen Strähnen strich.

„Bestimmt. Dein Bruder war ja nur ein wenig erschrocken.“

„Hmm.“

Ich lehnte mich an Junyas Schulter und überschlug die Beine, auf seinem Schoß sitzend; ich ließ den Blick im bereits gut gefüllten Club schweifen und genoss seinen Atem in meinem frisch gefärbten Haar.
 

Wir waren etwa eine halbe Stunde zuvor eingetroffen, wir vier und Valentin, der sich sehr schnell zu einer Gruppe Freunde gesellt hatte, die ich nicht kannte; Junya und ich saßen jetzt in einer etwas abgeschiedenen Ecke, wo wir ungestört waren, und ich schloss die Augen unter seinen streichelnden Händen auf meinem Rücken. Der Vorfall vom Nachmittag war vergessen, und ich wollte auch nicht mehr mit ihm darüber reden; ich war froh, dass er mir nichts nachzutragen schien, sondern im Gegenteil sehr bemüht war, sanft zu mir zu sein, ich denke, es tat ihm leid, dass er mir solch gemeinen Dinge unterstellt hatte, und aus seinen Umarmungen sprach deutlich der Wunsch, den er auch mir gegenüber geäußert hatte: mich nicht zu verlieren.

Das war natürlich Unsinn. Wohin sollte ich schon gehen wollen? Ich war glücklich so, wie es war.

Dennoch machte ich mir etwas Sorgen um meinen lieben großen Bruder. Kurze Zeit nachdem wir eingetroffen waren, waren bereits Bekannte auf Sakuya und Fuchs zugekommen, ich hatte gemeint, ein generelles Köpfewenden bemerkt zu haben beim Eintreten der beiden, und der eine oder andere hatte sich tuschelnderweise zu seinem Nachbarn gebeugt, um ihn auf die Neuankömmlinge, zu denen Junya und ich nur als Anhang zählten, aufmerksam zu machen. Offensichtlich war auch hier die Gerüchteküche eifrig am Brodeln gewesen und hatte nun ein wenig an Nährboden verloren.

Fuchs, eine schlanke aufrechte Gestalt in seiner abgewetzten grauen Jeans mit den Nietengürteln, Springerstiefeln und ärmellosem schwarzen Kapuzenshirt, mehrere breite Lederbänder um den Arm sein einziger Schmuck, und an seiner Seite mein Bruder, elegant in schwarzem Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und zerfetztem schwarzen Nylon bis an die Hände, silbernen Schmuck um Hals und Finger, in Lederhose und gleichen Stiefeln wie sein Partner, betraten den Raum mit einer lässigen Arroganz wie Könige, und der Eindruck schien seine Wirkung zu tun, denn obwohl alle Tische bereits besetzt waren, wurde einer eilig geräumt, als die beiden, uns im Schlepptau, darauf zusteuerten. Ich sah in der Menge um uns herum nicht nur freundliche Gesichter, einige zeigten sogar ganz unverhohlen Verachtung; der weitaus größere Teil jedoch kam zur Begrüßung und schien sich vorwiegend auch wirklich zu freuen, die beiden zu sehen, und das auch noch gemeinsam.

Ich hatte mich mit Junya auf einen bequemeren Eckstuhl gesetzt und den Raum beobachtet; es war fast der gleiche Kundenstamm zu sehen wie bei meinem letzten Besuch, ich meinte sogar einige Gesichter wiederzuerkennen; ein paar kamen sogar, mich zu begrüßen, was ich nur mit einem überrascht schüchternen Piepsen erwidern konnte, aber artig die Hand reichte. Die Luft war schwer von Zigarettenrauch und Patchouli, und die dröhnenden Bässe, jetzt noch vom DJ aufgelegt, woben einen düsteren Klangteppich durch das finstere, von Kerzen und Schwarzlicht erhellte Gewölbe. In meinen Betrachtungen versunken, bekam ich nur am Rande mit, dass sich Sakuyas Miene auf einmal versteinerte, während sich jemand mit ihm und Fuchs unterhielt, und er nur die Schultern hob und nickte, bis sich der Mann wieder entfernte, dann kurz die Stirn in die Hand stützte, als habe er Kopfschmerzen, während Fuchs leise auf ihn einredete, eine Hand auf seiner Schulter.

Ich sah Saku den Kopf schütteln und irgendwas erwidern, Fuchs hob eine Hand und strich ihn beruhigend über den Nacken, sah sich dann kurz im Raum um und murmelte Sakuya etwas ins Ohr, so leise, dass er fast die Lippen an dessen Haut liegen hatte. Sakuya stand langsam auf, beugte sich zu seinem Freund hinunter und sagte leise etwas zu ihm, eine Hand auf seiner Schulter; Fuchs nickte, und dann entfernte sich Sakuya mit schnellem Schritt aus dem Raum.

Ich hob den Kopf und wollte Fuchs am Ärmel greifen, der sich bereits von alleine zu mir wandte und herunterbeugte. „Swan spielen“, sagte er knapp und laut an meinem Ohr, über die dröhnende Musik hinweg.

„Was...Antti?“ Ich wandte den Kopf und mein Blick traf auf Fuchs' grüne Augen; jener nickte und legte mir kurz die Hand auf die Schulter.

„Ich bin kurz mit deinem Bruder draußen, wir sind gleich wieder da. Wenn etwas ist, Arvid da vorne, sprecht ihn einfach an, er regelt das.“

„Ähm...okay...soll ich...“ Aber Fuchs hörte mich schon nicht mehr, hatte sich schon umgewandt, und ich sah wie er den muskulösen Arm des trainierten Bogenschützen um die Schulter eines riesenhaften Metallers mit langem, glatten Blondhaar legte, welcher mit dem Rücken zu uns stand und sein Gespräch unterbrach, als Fuchs ihm ebenfalls etwas ins Ohr sagte und in unsere Richtung nickte. Der Bärtige nickte ebenfalls, erwiderte kurz etwas, und setzte dann seine Unterhaltung mit einer jungen Frau fort, während Fuchs sich nach einem Klopfen auf Arvids breiten Rücken in die Menge schlug, die sich für ihn zu teilen schien, und aus der Tür entfernte.

Nach dem Fortgang der beiden konnte ich nicht mehr wirklich ruhig sitzen, ich wandte jede Minute den Kopf, um zu sehen, ob sie nicht doch wieder hineinkamen; nicht, dass ich dachte, sie würden ohne uns wieder verschwinden, aber ich machte mir Gedanken um meinen Bruder, ich wusste ja wie sehr er sich manche Dinge zu Herzen nahm, und auch wenn Fuchs bei ihm war, ich war sein Bruder, ich sollte zumindest nachsehen, wie es ihm ging, selbst wenn Junya mir laufend versicherte, es wäre sicher alles in Ordnung und ich sollte mich einfach entspannen, es klang beim zehnten Mal beinahe etwas genervt.

„Aber sie sind immer noch nicht wieder da...“

Ich hatte jetzt wieder den Nacken halb verrenkt im Versuch, einen Blick über meine Schulter zum Eingang zu erhaschen, welcher jetzt von einer fülligen rothaarigen Schönheit im Spitzenkleid verdeckt wurde.

„Jamie... Jamie, hör doch mal.“ Junya legte einen Arm wieder um mich und den Kopf an meinen Hals; ich konnte seinen Atem spüren, als er sprach. „Fuchs ist doch draußen und kümmert sich um alles, das muss dich überhaupt nicht so aufregen. Außerdem bist du mit mir hier, und nicht mit Saku; er ist doch einfach rausgegangen, ohne dich überhaupt anzusehen; meinst du nicht, er hätte dir zumindest irgendetwas gesagt, wenn ihm was daran liegen würde, dass du dir Sorgen um ihn machst?“

Das verletzte mich, und ich wandte jetzt doch widerstrebend den Kopf zurück; Junya hatte natürlich recht, und das schmerzte. „Ich weiß....aber...“

Junyas Hände kraulten sanft meinen Rücken, und ich unterbrach meinen Satz, als ich einen Gesprächsfetzen vom Nachbartisch überhörte. „...haben sie sich vertragen, und arbeiten jetzt wieder zusammen.“

„Bist du sicher?“

„Ja, absolut. Marcel ist total angepisst, weil er letzten Sommer schon mehrere Leute an die zwei verloren hat, zweie einfach aufgeschlitzt, einer mit zwei Kugeln vom Motorrad geholt – pew! Rein und wieder raus, ganz sauber, einfach so.“

„Marcel interessiert mich einen Dreck, aber -“ Der Sprecher unterbrach sich und sah sich kurz um, auch in meine Richtung, ehe er weitersprach; ich hatte diesen abwesenden Gesichtsausdruck, den ich meist trug, wenn ich irgendwo nur zuhörte, und das schien ihm zu reichen. „- mir gefällt die Scheiße nicht, allein waren sie mir lieber; ich dachte, Wolf wäre endlich tot! Was soll das überhaupt? Machen sie sich jetzt wieder im Eden breit, mit ihrer Brut? Lichtscheues Gesindel, das; der Staat sollte eingreifen und Pack wie das abknallen. Den Arsch voller Waffen und scharen ihre Schlampen um sich, wie sie lustig sind; wo sind wir denn hier, auf Sizilien!“

„Gassi, wir haben...“

„Ist mir scheißegal, was wir haben! Wir leben in einer verdammten Demokratie, hab ich zumindest mal gelernt, und Bastarde wie die gehören aufgeknüpft, verfluchte Söldnerbande!“

„Jamie?“ Junya unterbrach mich in meinen Gedanken, und ich zuckte fast zusammen; seine dunklen Augen sahen mich besorgt an. „Alles okay?“

„Was? Ja! Ja, alles in Ordnung. Ich geh schnell raus zu Fuchs und Saku.“

„Was? Aber...“

Ich war schon von seinem Schoß und aus seinen Armen geglitten und fuchtelte hektisch mit der Hand. „Warte hier, ich bin gleich wieder da, ich will nur ganz kurz mit den beiden reden, es ist wichtig! Rühr dich nicht von der Stelle. Ich bin gleich wieder da! Versprochen.“

Junya sah mich betroffen an und senkte kurz den Blick, nickte dann aber, zog die Beine an den Körper und schloss die Arme darum. „Ja. Okay.“

„Okay! Bis gleich!“ Ich drückte ihm einen leichten Kuss auf die linke Wange und zog dann ab Richtung Tür.

Ich dachte gar nicht groß darüber nach, was ich gehört hatte; ich dachte einzig und allein daran, dass ich meinem Bruder und seinem Freund so schnell wie möglich davon berichten sollte; ich fand es bedeutend, dass sie davon wussten, wenn hinter ihrem Rücken auf diese Art über sie geredet wurde, selbst wenn die kleine Gesellschaft am Nebentisch von vorneherein nicht zu denen gehört hatte, welche die beiden allzu freundlich betrachtet hatten.

Ich schob mich an den innen vor der Tür Stehenden vorbei, und die Musik wurde etwas leiser, als ich in den schmalen Vorraum trat, das Silver Swan-Plakat zur Rechten. Dass ausgerechnet Antti heute Abend hier auftrat... Aber das konnte Fuchs ja nicht gewusst haben, seine Freundin hatte ihm wahrscheinlich ein falsches Datum genannt, oder er hatte es einfach vergessen, wie ja offensichtlich auch den Namen der entsprechenden Verehrerin und ihrer Band.

Ich warf der jungen Kassiererin ein flüchtiges Lächeln zu, welches sie fröhlich erwiderte und mir zunickte, ehe ich die Tür nach außen aufstemmte und in die kühle Nachtluft trat.

Ich ließ die Tür sanft aus den Händen gleiten und wieder gegen das Handtuch fallen, welches sie offenhielt für spätere Besucher, und wandte mich suchend um, die Arme vor der Brust verschränkt, in der Hoffnung, schnell Saku und Fuchs von dem Gehörten berichten zu können, und vielleicht auch Sakuya zu trösten, und ich hatte keine drei Sekunden über den sonst leeren kleinen Asphaltplatz geschaut, als mir auch schon der Mund offenstand, und mein Blick sich an dem sich bietenden Anblick festnagelte.

Ganz offensichtlich schien Sakuya meinen Trost nicht mehr besonders nötig zu haben.

Auf der anderen Seite des Platzes, vor der Wand des Gebäudes und im Schein des ein wenig flackernden Lichtes, das den Großteil des Asphalts erhellte und nur die Büsche und Bäume dahinter in Schwärze ließ, standen Saku und Fuchs, dicht beieinander, fast regungslos im leichten Wind und in einen stummen, innigen Kuss versunken.
 

Fuchs: Welt ohne Liebe
 

Der Du bist auf Erden gekommen,

Mich zu erlösen

Aus aller Pein,

Aus meiner Furie Blut,

Du, der Du aus Sonnenschein

Geboren bist,

Vom glücklichsten Wesen

Der Gottheit

Genommen bist,

Nimm mein Herz zu Dir

Und küsse meine Seele

Vom Leid

Frei.
 

Else Lasker-Schüler
 

Ich ließ die Tür achtlos wieder hinter mir zufallen und schritt schnell auf Sakuya zu, der sich einige Meter entfernt mit dem Rücken an die Mauer gelehnt hatte, die Arme vor der Brust verschränkt, das Gesicht mit geschlossenen Augen stumm zum Himmel gewandt, er wandte es aber mir zu, als ich näherkam, und ich sah das verräterische Glitzern in seinen grauen Augen, den gequälten Zug um seine Mundwinkel.

„Saku.”

Er stieß sich mit dem Rücken ab und stand mit gesenktem Kopf vor mir, der Mantel spielte um seine schlanke Gestalt.

„Ich hab das ehrlich nicht gewusst.”

„Ja, ich weiß. Das glaube ich dir.” Er sank gegen mich, als ich einen Arm um ihn legte, und lehnte die Stirn an meine.

Ich lächelte schwach, strich ihm mit der Hand über die Schulter. „Willst du reingehen?”

„Warum?” Er riss die Augen auf, sah mich fast überrascht an; ich legte eine Hand in seinen Nacken und strich mit dem Daumen einige lose Haarsträhnen aus dem Kragen.

„Um mit Antti zu reden.”

„Was? Ich...” Er wich meinem Blick aus, fuhr sich fast nervös mit der Zungenspitze über die Lippen, lehnte sich dann gegen mich. „Nein.”

„Bist du sicher?”

Er nickte stumm, ich legte jetzt den Arm um seinen Rücken und strich über das glatte Leder des abgetragenen Mantels.

„Vielleicht solltest du das. Du kannst ihm nicht ewig davonlaufen, weißt du. Und ich weiß, dass du noch etwas für ihn empfindest, sonst würdest du jetzt nicht so leiden.” Ich sprach leise, die Lippen an seinem Ohr; das hier war nicht für zufällig Vorbeikommende bestimmt. „Er liebt dich noch.”

Sakuya schnaufte kurz, ich deutete das als Ungläubigkeit, und wandte den Kopf, um ihm wieder ins Gesicht sehen zu können. „Ich weiß es, er hat es mir selber gesagt, und jeder der mit ihm spricht, kann es sehen.”

Mein dunkelhaariger Freund lehnte sich wieder mit einer Schulter gegen die Wand, und ich ließ ihn los, beobachtete ihn, wie er in die Leere neben mir starrte, einige verirrte schwarze Strähnen in der Stirn, die dunkel geschminkten Augen voller verletzter Wehmut. „Ja, das weiß ich.”

„Ich glaube nicht, dass er noch zu der Trennung von dir steht; was spricht dagegen, ihn einfach zu fragen, ob er es nochmal mit dir versuchen würde?”

„Warum sollte ich das denn tun?”, fragte er leise zurück und sah mir jetzt wieder in die Augen. Ich trat wieder einen Schritt zu ihm.

„Weil du glücklich warst mit ihm.”

Sakuya sah mich eine Weile an; in dem weißen Licht sahen seine grauen Augen dunkel und unschuldig aus, und seine hochgewachsene, schlanke Gestalt wirkte mit den schutzsuchend darumgelegten Armen unglaublich jung.

„Ich weiß, dass du dein Herz nicht leichtfertig jemanden schenkst, und er hat es dir nie zurückgegeben. Du hast mir mal gesagt, dass du vom ersten Moment an wusstest, dass er der Eine ist. Wenn du mir sagst, du liebst ihn nicht mehr, dann glaube ich dir das nicht. Ich sehe es in deinen Augen.”

„Ich sagte, es ist vorbei, aber ich habe nie gesagt, dass ich ihn nicht mehr liebe.” Seine Stimme war leise und brach fast, ich legte ihm eine Hand auf die Schulter, und er senkte heiser ausatmend den Kopf.

„Dann geh zu ihm”, murmelte ich und versuchte, seinen Blick einzufangen; er schüttelte den Kopf, seine Wimpern malten dunkle Schatten auf seine blassen Wangen.

„Nein.”

„Soll ich es für dich tun?”

Er schüttelte wieder den Kopf. „Ich will ihn nicht sehen.”

Ich stieß die Luft aus. „Okay.” Seine Hand legte sich in meine, und ich drückte sie leicht. „Willst du nach Hause?”

„Nein....nein. Ich will ihn singen hören. Aber ich will... Ich will nicht mit ihm sprechen. Verstehst du?”

Ich nickte, und wir schwiegen eine Weile, stumm voreinander stehend, die Hände ineinander gelegt. Ich hatte den Blick auf den regennassen Asphalt zu unseren Stiefeln gewandt und sah auf, als ich seine Stimme hörte. „Mika.”

„Hm?”

„Es tut mir leid.”

„Was tut dir leid?” Ich flüsterte, und er sah auf, mein Blick begegnete seinem umwölkten.

„Ich möchte ihn gern vergessen.”

„Das muss dir nicht leid tun.”

Ich spürte seine andere Hand, die sich um mich legte, und seinen Atem auf meinem Gesicht, als er die Stirn an meine legte, und schloss die Augen. Sein Körper war warm, so dicht vor meinem. „Mika... Ich will mit keinem anderen Mann in meinem Leben mehr zusammensein, außer mit dir. Nur noch mit dir. Immer nur mit dir.”

Ich zitterte leicht bei seinen Worten, und wich schnell seinem Blick aus; er hatte sehr leise gesprochen, fast als habe er Angst, seine eigenen Worte zu hören, doch seine Augen hielten mich gefangen, auf diese sanfte, treue Art, die ihn zu meinem Gefährten machte.

„Aber du warst glücklich mit Antti.”

„Ja, ich weiß.” Wir flüsterten jetzt beide, seine Stimme schwankte ein wenig, und ich strich ihm mit den Fingern über den Hals, sah wie er die Lider leicht senkte unter meiner Berührung. „Aber als er mich verlassen hat...das hat mich fast zerbrochen, weißt du. Ich habe ihm alles gegeben, was ich hatte, mein Herz, meine Seele, und er hat es fallenlassen; ich kann so etwas kein zweites Mal ertragen, ich will es kein zweites Mal ertragen.” Seine Finger bebten leicht und schlossen sich fester um meine, und ich sah es in seinen Augen schimmern, ehe er rasch den Blick senkte, er atmete etwas schneller, und ich ließ ihm ein paar Sekunden, ehe er wieder Luft holte. „Ich will nicht mehr an ihn denken. Ich will nicht nachts von ihm träumen. Ich will nicht jeden Morgen die Erinnerungen an ihn töten müssen. Ich will alles, was ich für ihn fühle, in mir einschließen, und den Schlüssel wegwerfen, bis es von alleine stirbt. Vor allem will ich niemals wieder solchen Schmerz fühlen, denn, wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob ich das kann.” Seine Stimme war am Ende so leise geworden, dass ich ihn kaum verstehen konnte, obwohl seine Lippen nur Zentimeter von meinem Ohr entfernt wisperten; ich sah etwas in seinen dunklen Wimpern glitzern, und hob das Gesicht zu seinem, berührte mit den Lippen nur sacht seine Schläfe, der Körper des Mannes, den ich mehr liebte als mein Leben, sank fast unmerklich gegen mich, schwach in diesem Moment, ich spürte seinen Kummer und die Zerrissenheit seines Herzens und hielt ihn fest, ich hätte in diesem Augenblick alles getan, alles, um ihn nicht mehr leiden zu sehen.

Meine Stimme war kaum lauter als die Brise in den Baumwipfeln, als ich sprach. „Saku, das Gleiche hast du vor ein paar Tagen noch über mich gesagt, deine Gefühle reißen dich wieder mit, bitte vergiss nicht, ich habe dich auch schon einmal enttäuscht. Was lässt dich glauben, dass ich es kein zweites Mal tun werde?”

Seine Augen waren unmittelbar vor meinen, als er sprach; ich fühlte seinen Atem leicht über meine Lippen streichen. „Wirst du es ein zweites Mal tun?”

„Nein, niemals”, flüsterte ich zurück, spürte seine Hand halb liebevoll, halb hilfesuchend leicht über meine Seite streichen, ich spürte wie mein Herz schlug, als er sprach, mit jenem unerschütterlichen Vertrauen in seine eigenen Worte, das mir ein Leben lang die Kraft gab, weiterzugehen, und mich nun an seiner Seite hierhin geführt hatte, als zwei erwachsene Männer auf einem einsamen Parkplatz in der Stadt die wir Heimat nannten, und doch verlorener als die Sterne im Weltenall.

„Das reicht mir, Mika.”

Und für den Bruchteil einer Sekunde spürte ich seine Lippen Millimeter vor meinen, fühlte seinen Herzschlag unter meiner Hand, seine Wärme, ehe ich unter einem unendlich sanften Kuss die Augen schloss; er strich mit den Lippen flüchtig nur über meine, bis ich die Berührung genauso leicht erwiderte und beide Arme über seine Schultern nach unten wandern ließ, bis ich ihn leicht an mich ziehen konnte. Mein Puls rauschte in meinen Ohren, und ich genoss seinen Geschmack, als er den Kuss intensivierte, mich zu sich forderte um dann unter meiner innigen Erwiderung des Kusses die Lippen zu öffnen, unter meiner Zungenspitze, ich spürte seine heiße Zunge, seinen starken warmen Körper, der sich völlig in meine Hände gab, im Vertrauen darauf, dass ich ihn festhielt. Ich küsste ihn lange und sanft, spürte wie er ruhiger wurde unter meinen Lippen, wie der Schmerz mit jeder Sekunde, die ich ihn hielt, schwand; ich spürte seine rauen Hände über meine bloßen Oberarme streichen, und genoss jede Berührung.

Es gab keine Worte für das, was wir fühlten; ich wusste nur, dass mein Platz an seiner Seite war, jedes Mal, wenn er einsam und verletzt war, und er wusste es auch; und so küsste ich ihn mit aller Zärtlichkeit, die ich hatte, meinen Sakuya, der mir die Welt bedeutete.
 

Sakuya: Keep you close
 

(...)

What you feel is what you get

You know there is no answer fit

We broke the code so long ago

I'm going to keep you ever close

Just like on the day we met

You pulling on me like a cigarette

So like the sea holds to the shore

I'm going to keep you ever close
 

Now the years have a way to make you forget

That we're still in the same place

No hurry yet

The path we're on is the path we chose

I'll still remember how to keep you close
 

Linger on, linger on in the scheme of things

We are only inhabiting our own dreams

They don't come true, it's the way it goes

And in the meantime I will hold you close

(...)
 

- aus: Deus: Keep you close
 

Mir schoss das Bild durch den Kopf, das von uns beiden im Karfunkel hing; fröhlich, unabhängig, völlig unberührt von Beziehungsproblemen oder dem Gedanken, dass zwischen uns jemals mehr passieren könnte als unschuldige Berührungen, Mikas Arm um meine Schulter, unser Grinsen, die besten Freunde seit über zwanzig Jahren.

Jetzt hatte ich völlig die Kontrolle über das verloren, was geschah; es war, als könnte ich ihn jetzt, da ich ihn wiederhatte, nicht mehr nah genug halten, was eigentlich paradox war, bedachte man, dass ich ihm ein halbes Jahr lang aus dem Weg gegangen war.

Aber ich brauchte ihn, ich brauchte ihn an meiner Seite, denn er war der einzige, der mir diese Einsamkeit und diese Angst nehmen konnte; Angst, dass es mein Schicksal war, nicht an die Liebe glauben zu können, in dieser Welt, in dieser Zeit, in der wir lebten. Nicht an diese Art von Liebe, die ich mir wünschen würde. Ich liebte Mika, schon lange, aber das war nicht dasselbe wie mit Antti, und das wussten wir jetzt beide.

Wir hatten immer nur uns gehabt, wir hatten nie jemand anderem vertraut, oder gar Nähe zugelassen, für sehr, sehr lange Zeit; vermutlich war das der beste Weg, die einzige Art, nicht wieder verletzt zu werden. Ich wünschte, ich wäre der Fels, den meine Freunde in mir sahen, und der starke Beschützer, den ich für meinen Bruder sein wollte, aber das war ich nicht. Ich hatte mein Leben lang immer nach vorn gesehen, weil es hinter mir nichts gab, das einen Gedanken wert gewesen wäre, und war immer wieder aufgestanden, hatte versucht, trotz aller Widrigkeiten eine Person zu werden, die sich selber noch im Spiegel in die Augen sehen konnte, und jeden Schmerz und jede Enttäuschung ertragen, immer hatte ich die Zähne zusammengebissen und der Welt die Klauen gezeigt. Ich war nicht immer stark gewesen, aber ich hatte Mika gehabt, und hatte jede Schwäche überwunden, jeden Tag meines Lebens daran gearbeitet, härter zu werden, schärfer zu werden. Worte waren für mich das Medium gewesen, mein Herz zu öffnen und der Angst und Gewalt um mich herum zu entfliehen, doch nie hätte ich gedacht, dass bloße Worte, von einem Menschen geäußert den ich näher an mich herangelassen hatte als jeden Mann vor ihm, mich derart verletzen konnten.

Ich konnte es nicht vor den anderen zugeben, aber der Tag, an dem Antti mir gesagt hatte, dass es keine Zukunft für uns gab, war die Hölle für mich gewesen, und ich wollte mir lieber selber eine Kugel ins Bein jagen, als so etwas noch einmal ertragen zu müssen. Solchen Schmerz hatte ich nicht gekannt, nicht geglaubt, dass Worte so wehtun konnten. Anttis Trennung von mir hatte mich fast vernichtet. Mika war der Einzige, der wusste, wie nahe mir das ging, wie verletzt und verletzlich ich gewesen war, der Einzige der wusste wie leicht man mich tatsächlich brechen konnte, denn ich war nicht stark, ich war ein Träumer, und es gab Dinge, die ich nicht ertragen konnte.

Dazu gehörte, von dem Mann verlassen zu werden, mit dem ich in meiner Naivität mein restliches Leben hatte verbringen wollen – es hatte sich angefühlt wie ein Messer in meinem Herzen, obwohl, oder gerade weil, ich die Tränen in seinen Augen gesehen hatte, als ich mich umwandte und ging, oder vielmehr flüchtete, unfähig zu sprechen, unfähig zu denken, unfähig etwas zu empfinden außer einer tauben Leere im Herzen und dem Brennen in meinen Augen.

Dass ich kopflos die Stadt verlassen hatte, war ein Fehler gewesen, denn in Mikas beruhigend festen Armen war ich sicher, sicher vor mir, sicher vor der Welt, sicher auch vor ihm, denn egal was er sagte oder viel eher nicht sagte, ich glaubte nicht daran, dass er in mich verliebt war. Mag sein, dass er mit mir schlafen wollte, und vielleicht konnte ich das irgendwann zulassen, wenn die Sehnsucht zu erdrückend wurde, aber das war nicht das gleiche, das war nicht einmal ansatzweise das gleiche, wie Verliebtheit, und ich war nicht sicher, ob Mika den Unterschied kannte, so gar nicht sicher, denn ein Romantiker war nicht an ihm verloren gegangen, wenn er auch immer der Einzige war, der mich verstanden hatte; belächelt, aber verstanden.

Sein Kuss war so leicht und zart, fast wie damals, als wir viel jünger gewesen waren, und zugleich auf eine gewisse Art schon so alt; sicherer nur als damals, nicht so vorsichtig. Sein Herz unter meiner Hand schlug ruhig und vertraut.

Man konnte leise die Musik von drinnen hören, und Mikas Atem strich wärmer als die kühle Nachtluft über meine Haut, als er sich von mir löste; ich sah direkt in seine klugen grünen Augen, ich bin nicht sicher, wie ich ihn in diesem Moment ansah, aber er grinste schief und strich mit mir den Fingern über den Nacken, wie er es immer tat, um mich zu beruhigen, und ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Seine Nähe war so beruhigend, fast könnte man meinen, ich bräuchte ihn, um nicht den Verstand zu verlieren. Wenn er bei mir war, konnte ich freier atmen; schon immer hatte ich in seiner bloßen Existenz die Gewissheit gefunden, nie alleine zu sein, und jetzt, wo wir wieder vereint waren, musste ich ihn fester als je zuvor bei mir halten, um sicher zu sein, dass ich ihn niemals wieder verlieren würde.

Meine ungebrochene Verehrung für ihn würde mich wahrscheinlich eines schönen Tages noch den Verstand kosten, und ich wusste schon lange, dass man uns unter unseren Feinden mit Unverständnis und Spott begegnete, doch im Moment war ich nichts als froh und dem Himmel dankbar, dass er ihn mir geschenkt hatte, mir zur Seite zu stehen.

Ich sah wie er kurz den Kopf senkte, und sich mit der Hand, deren Arm den Verband trug, fester in meinen Mantel krallte, und ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, erklären zu müssen, was ich mir selber nicht erklären konnte, wenn auch die unerbittlich harte Wahrheit immer klarer wurde, so klar und schmerzhaft, wie sie mich getroffen hatte vor jener verhängnisvollen Nacht mit dem Rothaarigen.

„Mika...” Meine Stimme war leise, er hob den Blick und sah mich aufmerksam an, eine Hand immer noch in meinem Nacken liegend. „Wegen Antti....was ich....wegen....also was mich und Antti angeht...”

Er schüttelte den Kopf und legte mir einen Finger auf die Lippen, seine andere Hand legte sich auf meine Schulter. „Ich weiß.”

Ich sah ihn eine Weile stumm an, öffnete leicht den Mund, wusste nicht recht was ich sagen wollte, bis ich irgendwann nur ein unbeholfenes „Danke” heraushauchte.

Mika lachte. Er legte mir die Hand um den Nacken und die Stirn an meine, seine Mundwinkel zuckten als er mich ansah. „Wir sind Freunde, oder? Lass uns reingehen.”
 

Ich fühlte mich ruhiger, fast zuversichtlich, als ich an seiner Seite wieder durch die Tür trat, wo wir sofort von der Wärme und Dunkelheit innen umfangen wurden; es war wie immer, wie früher, bevor ich mir mit diesen komplizierten Dingen den Kopf zerbrochen hatte, als die Welt noch aus Freunden und Feinden bestanden hatte und nicht aus Geliebten und Ex-Freunden. Ich weiß, und war froh darum, dass mein Gesicht auf die meisten Menschen völlig emotionslos wirkte, wenn ich es nicht auf das Gegenteil anlegte; in der Regel konnte niemand mir meine Gefühle ansehen, wenn hinter meinen versteinerten Gesichtszügen die Gedanken tobten. Ich wurde wegen dieser ausdruckslosen Miene oft für arrogant gehalten, was vielleicht nicht einmal unbedingt falsch war; mir war es weitaus lieber, im Eden als hochmütig zu gelten, als wenn mir jemand ansehen könnte, wie sehr ich in diesem Moment innerlich zitterte; ich war aufgeregt, Antti auf der Bühne zu sehen. Es war nicht einmal nur Angst, auch wenn es sich im ersten Moment danach anfühlte; es war etwas anderes. Ein wenig war es wie damals, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Hauptsächlich fühlte es sich aber an, als liefe ich gerade freudig zur Schlachtbank, mit dem schleichenden Wissen, einen schrecklichen Fehler zu machen, aber ich konnte nicht anders.

Mein erster Impuls war gewesen, das Eden zu verlassen, und vielleicht hätte ich das sofort tun sollen, solange ich noch den Willen dazu hatte. Jetzt aber konnte ich es nicht mehr; jetzt, wo ich wusste, dass in wenigen Minuten dieser wunderschöne Mann auf der Bühne stehen würde, mein Engel, so nah, dass ich fast würde die Hand nach ihm ausstrecken können; und selbst wenn ich es nicht täte, so könnte ich doch seine Stimme hören, den Schweiß auf seiner Haut sehen, seinen Körper treibend in der Musik die ihn umbrandete... jetzt brachte ich es nicht mehr fertig, noch zu gehen. Ich wollte ihn sehen. Nur noch einmal.

Mika war an meiner Seite, als wir wieder in den Hauptraum traten, unbehelligt von den Leuten um uns, von denen uns nur einige zunickten, und sah sich um, die Hände in die Taschen gesteckt; er wirkte völlig ruhig und fast etwas desinteressiert, aber an der Art, wie er den Blick schweifen ließ, sah ich, dass er sich schnell einen Überblick verschaffte; das war gut, sollte Antti da sein, konnte er mich notfalls schnell hinausbugsieren, ohne dass jemandem meine Unsicherheit auffallen würde.

In der Welt, in der wir uns bewegten, konnte das Zeigen von Schwäche der letzte Fehler sein, den man machte.

Ich strich mir einige Haarsträhnen zurück und straffte mich, meine Gedanken wurden kurz von Antti abgelenkt, als auf einmal mein kleiner Bruder vor mir stand, und ich konnte nicht anders als schief zu lächeln und ihm durch die frisch gefärbten schwarzen Haare zu streichen, die er sich sofort wieder glatt strich. Ich mochte das, es stand ihm gut, und ich muss zugeben, dass es mich unglaublich rührte, dass er meine Haarfarbe kopierte, wenn es bei mir auch Natur war.

Er hängte sich an meine Schulter und beugte sich zu mir hoch. „Alles in Ordnung?”

„Alles gut, Jem.“ Ich legte einen Arm um ihn und neigte den Kopf, um ihn besser verstehen zu können.

„Du bist so schnell verschwunden, ich hab mir Sorgen gemacht.“ Er sah mich anklagend an.

„Ja....tut mir leid. Tut mir leid. Ich hab erfahren, dass Antti heute Abend hier ist, und...“

„Ja, ich weiß. Willst du lieber nach Hause gehen?“

„Nein, ist in Ordnung. Ich will ihn sehen....es ist lange her.“

„Wieso...fehlt er dir so sehr?“ Er klang überrascht; wieso auch nicht, ich hatte nie wirklich viel mit ihm über Antti geredet, vielmehr hatte ich das Thema komplett abgeblockt, was mir im Nachhinein auch wieder etwas leid tat, aber ich war schon immer gut darin gewesen, Dinge einfach zur Seite zu schieben, die mir unangenehm waren, ohne es selber in jenem Moment zu merken.

„Ja. Ja, ein bisschen fehlt er mir schon.“ Ich biss mir fast auf die Zunge bei der Untertreibung. Jamie ging nicht darauf ein, sein Blick flackerte kurz zu Mika, der seinerseits Junya im Blick hatte, welcher einen Meter entfernt an der Wand lehnte und mich seinerseits düster musterte, den Blick aber abwandte, als er sich ertappt sah. In letzter Zeit erntete ich oft finstere Blicke von ihm, und das gefiel mir nicht; immerhin tat ich eine Menge für ihn, allein indem ich sein Geheimnis deckte, obwohl ich allen Grund hatte, meinen kleinen Bruder einzuweihen. Ich sah die Eifersucht in Juns Augen, wenn Jamie mit mir sprach. Wenn er nur ein einziges Mal versuchen sollte, sich zwischen uns zu stellen, dann würde er es mit mir zu tun bekommen. Niemand würde mir meinen Bruder mehr wegnehmen, nicht einmal dessen eigener fester Freund.

Valentin in seinem schwarzen Bandshirt, Lederhose und Springerstiefeln konnte ich nirgends sehen; aber das wunderte mich nicht, er hatte viele Freunde im Eden und ging daher oft seiner eigenen Wege.

Jamie sprach wieder an meinem Ohr über die laute Musik hinweg. „Ist das denn okay...wegen...“

Er brach ab.

„Weswegen?“

„Wegen dir und....naja...wegen dir und Fuchs.“ Jamie wurde rot, ich lächelte schwach.

„Das ist in Ordnung, Jem.“

„Oh! Ich muss euch unbedingt was sagen.“ Der Kleine fuhr auf einmal auf. „Hier waren vorhin Leute, die ziemlich schlecht über euch geredet haben; die haben gesagt, ihr solltet besser tot sein!“

Ich runzelte die Stirn; Mika neben uns hörte zu, hatte aber den Blick weiterhin in den Raum gerichtet. „Wer hat was genau gesagt?“

Jamie wiederholte, was er gehört hatte, fast wörtlich wie es schien; seine Augen glänzten immer mehr während er sich in Rage redete, über dieses scheinbare Unding, das er da überhört hatte.

Ich schüttelte leicht den Kopf und senkte kurz den Blick, während ich überlegte, wie ich ihm das am Besten erklären sollte; Jamie neben mir sah sich aufgeregt im Raum um und versuchte wohl, den vermeintlichen Verschwörer wiederzufinden. „Jem...hör zu....“

„Sie sind weg, glaub ich!“

„Hör mal....das ist lieb, dass du dir Sorgen machst, und dass du mir Bescheid sagst. Aber, du musst verstehen, das ist nicht ungewöhnlich, dass einige Leute hier so reden, damit leben wir. Bitte mach dir keine Sorgen deswegen. Wir passen auf uns auf, das gehört zu unserem Leben dazu. Deswegen, geh bitte auch nicht alleine in der Stadt umher. Wir haben hier viele Freunde, aber leider auch viele Feinde.“

Jamies Blick weitete sich. „Aber...das ist schrecklich!“

„Es ist nicht so schlimm, wie es klingt.“

„Stört euch das nicht, wenn die Menschen so über euch reden?“

„Nein.“ Es war jetzt Mika, der geantwortet hatte.

„Jamie, wer war es denn, der das gesagt hat?“

Mein Bruder beschrieb kurz den Sprecher, und ich tauschte einen Blick mit Mika.

„Gassi“, seufzte der.

Ich nickte. „Ist er wütend wegen seines Vaters?“

„Ich weiß nicht. Nahe standen sie sich ja nicht gerade. Aber Blut ist eben dicker als Wasser, nicht? - Jamie, wegen Gassi musst du dir wirklich keinen Kopf machen. Aus ihm kommt nichts als viel heiße Luft. Der Mann ist harmlos.“

„Was war mit seinem Vater?“

Ich strich Jamie über die Haare. „Er ist tot.“

„Oh...wieso...was ist ihm denn zugestoßen?“

Mika grinste schief, verschränkte die Arme vor der Brust, sein Verband hob sich hell vor dem ärmellosen schwarzen Shirt ab. „Ich.“

Jamie sah ihn groß an und verstummte. Ich warf Mika einen verärgerten Blick zu. Der hob die Schultern. „Was ist? Ich weiß, er ist dein Kleiner, aber er ist nicht blöd. Er weiß es doch sowieso schon.“

„Du kannst anders über diese Dinge reden.“

„Ich hab schon immer genau so über diese Dinge geredet.“

„Es ist pietätlos.“

„Pietät macht uns nicht zu besseren Menschen.“

„Streitet euch nicht!“, rief Jamie von der Seite; wir sahen ihn überrascht an. Er wurde rot. „Ich meine....streitet euch doch nicht deswegen. Ist wirklich nicht schlimm, Saku.“

Ich atmete gerührt auf; wenn ich die Dinge manchmal so sehen könnte wie mein Bruder, anstatt von meinem egoistischen Standpunkt aus...

Mika lächelte und knuffte Jamie gegen die Schulter. „Kleiner, wenn wir streiten, sieht das anders aus.“ Er hielt plötzlich inne und fokussierte seinen Blick auf einige Leute am anderen Ende des Raumes, im hinteren Teil des Eden. „Hey, da ist Jimi.“

Ich wandte den Kopf; der hochgeschossene Gitarrist mit dem langen dunkelbraunen Haar stand in der Nähe des Backstagebereiches und diskutierte aufgeregt mit jemandem, den ich nicht kannte; irgendwas schien nicht in Ordnung, und ich zog leicht die Brauen zusammen.

„Und da ist Valentin. Val!“ Mein Bruder winkte und ging auf unseren Freund zu, der ein wenig daneben stand und suchend den Blick wandern ließ beim Klang der Stimme.

Junya folgte meinem Bruder, und auch ich und Mika begaben uns langsam näher; Val grinste schief, als wir in Hörweite kamen, inzwischen hatten sich einige Leute hier hinten angefunden, ich sah viele Freunde der Bandmitglieder darunter, die ich von meiner Zeit mit Antti her noch kannte, und die mich teils misstrauisch beäugten; Valentin kam ein Stück auf uns zu, so dass wir abseits stehen konnte und nicht hörten, was Jimi mit immer aufgeregter werdendem Gefuchtel besprach.

„Was ist denn los?“

Der Blonde zog die Stirn kraus und strich sich die hellblonden Strähnen hinter die Ohren, wandte kurz den Kopf zu Jimi, der inzwischen mit den Nerven völlig am Ende schien; vor der Tür zum Backstagebereich standen inzwischen mehrere Leute und klopften und sprachen darauf ein.

Valentin drehte sich wieder zu uns, sah mich für eine Sekunde fast entschuldigend an, wirkte dann aber eher besorgt, als er sprach, die Arme vor der schmalen Brust verschränkt. „Ich weiß es nicht genau, aber es sieht so aus, als ob sich Antti eingeschlossen hat und weigert, rauszukommen.“

„Was?“

Ich bekam seine nächsten Worte nicht richtig mit; mein Magen zog sich wie ein Knoten zusammen und ich realisierte erst, dass ich in Sorge war, als Mika mich kurz am Arm berührte und ich Valentins Stimme wieder durch das Rauschen in meinen Ohren vernehmen konnte. „...wollte wohl noch auftreten, und als er nicht kam, hat Jimi gemerkt, dass abgeschlossen ist, und jetzt macht er nicht auf, und brüllt nur jeden an, sich zu verpissen.“

„Das klingt nicht nach ihm“, meinte Mika neben mir leise und beäugte die Szenerie; Jimi selber stand jetzt wieder an der Tür, ein Ohr dagegengelegt, und sprach selber sehr intensiv auf die Person im Inneren ein.

Nein, das klang gar nicht nach Antti, er gab alles für seine Band, absolut alles, und auch dass er Leute anschrie, war schwer vorstellbar.

„Weiß jemand, warum?“

Valentin hob die Schultern, sah aber kurz zu mir auf, ebenso wie Mika im selben Moment, in dem er die Frage gestellt hatte; auch einige der anderen um uns herum, und auch Jimi hatte uns jetzt gesehen. Er kam auf uns zu. „Hey. Hallo, Saku. Fuchs.“ Sich den beiden Neuen vorzustellen, hatte er wohl nicht den Nerv. „Habt ihr Antti heut getroffen?“

Mika schüttelte an meiner Stelle den Kopf. „Nein.“

Jimi sah mich an. „Saku?“ Ich war so oft mit Antti unterwegs gewesen, dass der Gitarrist zu den wenigen Leuten hier gehörte, die meinen richtigen Namen benutzten, oder zumindest die Kurzform davon. „Du hast ihn nicht gesehen? Oder was zu ihm gesagt?“

„Nein, ich hab seit über einem halben Jahr nicht mit ihm gesprochen. Was ist hier los?“

„Ich weiß es nicht. Er kommt nicht raus. - Entschuldige, ich dachte, vielleicht hat es was mit dir zu tun. Er fehlte neulich schon bei der Probe weil er -“ er deutete mit den Fingern Anführungszeichen an „ - 'krank' war – Karasus Worte, aber der hat uns nach Anttis Trennung von dir schon angelogen, und Antti sitzt auch krank noch bei uns, weißt du ja eh – ich weiß nicht, warum wirklich. Aber sowas hier ist noch nie passiert, ich meine, du kennst ihn, er würde uns mit bloßen Händen erwürgen wenn wir sowas an seiner Stelle abziehen würden.“

„Ich weiß“, sagte ich leise. „Aber ich hab ihn wirklich nicht gesehen. Soll ich...lieber gehen?“

„Nee.“ Jimi winkte erschöpft ab. „Dass du hier bist, damit hat er ja eigentlich rechnen müssen. Er -“ Der Musiker brach ab, als neben ihm eine kleinere Gestalt durch die Menge brach, Mika mit dem Ellbogen anrempelte als er sich den Weg zu Jimi bahnte. Karasus hell belinste Augen warfen mir für eine Sekunde einen so vernichtenden und hasserfüllten Blick zu, dass ich eigentlich auf der Stelle hätte tot umfallen müssen, und mir war schon klar, dass er mir für alles die Schuld geben würde, ehe er Jimi am Arm griff. „Was ist hier los?“, zischte er; ich konnte Jimis Antwort nicht hören, weil sich die beiden von uns abwandten, als Jimi seinem Kollegen leise erklärte was vorgefallen war. Karasus Blick wurde immer frostiger, und auch wenn ich ihn nur im Profil sehen konnte, merkte ich wie etwas in ihm kochte, als er die Arme vor der Brust verschränkte, sein Tattoo auf dem Oberarm schimmerte matt vor dem schwarzen Tanktop. Neben mir strich sich Mika über die Seite, wo ihn der Ellbogen getroffen hatte.

Karasu fing an zu fluchen und stieß Jimi von sich, griff einen der um die Tür Stehenden am Ärmel und riss ihn ebenso grob zur Seite, scherte sich nicht um die ihm an den Kopf geworfenen Beschimpfungen, als die anderen ebenfalls wichen. Der kleine Bassist schlug einmal so hart mit der Faust gegen die Tür, dass sie knackte. „Antti, du verdammter Scheißkerl!“

Keine Antwort.

„Hör auf mit der Kacke und komm raus, oder ich schwöre bei Gott, ich brech die verdammte Tür auf und zieh dich an den Haaren raus!!“

„Hau ab“, hörte man es dumpf von innen.

Karasu schrie vor Wut auf und trat mit einem schweren Stiefel gegen die Tür, warf sich dann mit dem Oberkörper dagegen. „Du blödes Arschloch“, brüllte er gegen das dunkel gemaserte Holz. „Du kannst uns nicht einfach hängen lassen!“

Von drinnen antwortete nur Stille; Karasu hatte die Stirn gegen das Holz gelegt und atmete schwer, die Hände zu Fäusten geballt und zitternd vor Zorn. Ich hörte Mika neben mir abschätzig ausatmen.

„Antti.“

Karasu sprach laut, um durch das Holz zu dringen, seine Stimme bebte vor unterdrückter Aggression.

„Mach auf.“

„Geh weg!“

„Mach die beschissene Tür auf und lass mich rein!“

„Nein!“

Karasu atmete tief durch und schloss die Augen, den Kopf immer noch ans Holz gelegt, er sprach sehr eindringlich. „Antti, bitte. Ich bins. Alle machen sich Sorgen um dich. Bitte, lass mich rein.“

Es antwortete nur Schweigen, und ich sah Karasu schon tief Luft holen und die Arme hinter dem Kopf verschränken, mühsam beherrscht, die Augen geschlossen, als man plötzlich ein leises Klicken hörte und sich die Tür einen minimalen Spalt öffnete; Karasu reagierte sofort und schob sich durch die winzige Öffnung, die gerade groß genug wurde, um ihn einzulassen, und sich hinter ihm sofort wieder schloss, man hörte einen Schlüssel, der sich wieder drehte und das Schloss einrasten ließ, und dann wieder nichts.
 

Ich weiß nicht genau, wie lange er dort drinnen blieb, vielleicht annähernd eine halbe Stunde; Jimi war inzwischen auf die Bühne gegangen und hatte versucht, die Situation zu erläutern; die Nachricht wurde zwar generell gut aufgenommen, da die gesamte Band mit Ausnahme von Karasu auch sehr beliebt war in der Stadt, aber der arme Jimi schien dennoch fast zu platzen vor unterdrücktem Ärger und rang sich nur mühsam zu einigen erklärenden Sätzen durch.

Wir hatten uns in der Zwischenzeit einen Tisch gesucht; Valentin saß wieder bei uns und unterhielt sich leise mit Jamie und Mika über den Vorfall. Mika saß neben mir, warf immer wieder einen Seitenblick zu mir; ich hörte mit halbem Ohr zu, war aber nicht wirklich in der Stimmung, mich am Gespräch zu beteiligen. Val drehte sich alle paar Minuten um, in der Hoffnung, Antti zu sehen, nehme ich an, ehe er wieder den Kopf mit Jamie zusammensteckte, der neben ihm saß und sich sichtlich aufregte, seine Augen glänzten und er fragte sowohl Val als auch Fuchs darüber aus, was mit Antti sein könnte, ob er krank sei, ob jemand einen Arzt holen sollte, solche Dinge. Junya schwieg die ganze Zeit über und schien in Gedanken woanders, er hatte einen Arm um Jamie gelegt, der auf seinem Schoß saß, und hielt mit der freien Hand dessen Hand fest, was mein Bruder in dem Moment vielleicht nichtmal bemerkte. Jamie seinerseits versuchte immer mal wieder, seinen Freund ins Gespräch einzubinden, was der aber nur sehr einsilbig oder gar nicht aufnahm und stattdessen aus ausdruckslosen dunklen Mandelaugen im Raum umhersah.

Ich selber machte mir meine eigenen Gedanken. Auf der einen Seite fühlte ich mich schlecht, dachte mir, dass Jimi vielleicht recht hatte, dass es wirklich an mir lag, dass Antti nun nicht auf die Bühne kommen wollte; immerhin hatte er auch bei unserer letzten kurzen Begegnung fluchtartig das Eden verlassen. Auf der anderen Seite war ich ihm den ganzen Abend über nicht begegnet, und es wäre meinem Ex auch sehr unähnlich, sich durch so etwas seine Professionalität nehmen zu lassen. Selbst ein Atomwaffenanschlag könnte ihn normalerweise nicht von der Bühne holen; er würde noch singen, wenn alles um ihn herum in Scherben lag, um den Überlebenden Mut zu machen. Antti lebte für seine Band.

Vielleicht war es auch wieder einmal unglaublich egozentrisch von mir, anzunehmen, dass ich der Grund für alles sein könnte; ich hatte überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür, und außerdem war ich nicht alles, um das sich Anttis Welt drehte, er hatte sein eigenes Leben, von dem ich schon seit einem guten halben Jahr kein Teil mehr war. Was bildete ich mir ein, auch nur zu die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass ich wichtig genug war, um Antti so zu verunsichern?

Dann aber, und der Gedanke versetzte mir einen winzigen, doch die ganze Nacht über andauernden Stich: der Gedanke, dass Antti so stark emotional auf mich reagierte, nein, eher, allein dass er nur auf mich reagiert haben könnte, weckte in mir absurderweise einen wilden Adrenalinstoß, der sich fast anfühlte wie Sehnsucht.

Und beinahe bereute ich es wieder, nicht gegangen zu sein, denn jetzt war mir die Erinnerung an Antti so nah, als säße er bei mir, als müsste ich nur die Augen schließen, um seinen Duft zu riechen, die Berührung seiner Hand zu spüren, sein warmes Gewicht an meiner Schulter zu spüren, wie so oft, als wir gemeinsam hier gewesen waren.

„Karasu ist wieder draußen.“ Mikas Finger stupsten mich leicht in die Seite, und als ich aufschreckte, sah ich in seine blitzenden Augen, und wusste, dass ihm genau klar war, woran ich dachte, als er mich angrinste, sich etwas näher zu mir beugte, so dass niemand sonst ihn hören konnte. „Alles okay?“

Ich nickte nur, sah dann auf. Karasu stand mit Jimi und dem Drummer der Band, Samir, vor der Tür und redete auf beide ein, sie standen zu dritt über einen Zettel gebeugt, und nach einer Weile fauchte Karasu alle Umstehenden an, die sich daraufhin so weit zurückzogen, dass die drei wieder unter sich waren, während Samir den Zettel an die Wand hielt und darauf schrieb.

Jimi und der Drummer schienen beide aufgebracht, aber der Kleinere knurrte sie solange an und unterband jeden Widerspruch, bis sich irgendwann beide fügten und nur noch nickten auf alles, was er mit gebieterischer Miene verkündete. Es war faszinierend anzusehen, interessierte mich in diesem Moment allerdings nur peripher. Die Tür war noch immer verschlossen und irgendetwas daran wirkte so, als würde sie das auch bleiben.

Ich richtete mich allerdings auf, und Mika trat Valentin unter dem Tisch ans Schienbein, und sogar mein Bruder unterbrach sich im Satz, wahrscheinlich aber mehr aus Verwirrung, als Karasu sich umwandte und zielsicher auf unseren Tisch zusteuerte, ungeachtet der Leute, die ihm im Weg standen.

Ich warf einen Seitenblick zu Mika, für einige Sekunden starrte er dem Herankommenden entgegen und wirkte fast hilflos, setzte dann aber seine bewusst kühle Miene auf und ließ den Blick an Karasu vorbei wandern.

Karasu blieb neben uns stehen, er trug die schwarz-roten Haare in wilden Strähnen zur Seite gestylt und weiße Kontaktlinsen in den nur mit schwarzem Lidschatten geschminkten Augen; seine Hose war aus Kunstleder und im Bondage-Stil mit mehreren breiten Bändern umwickelt, mehrere Nietengürtel hingen um seine eher schmale Hüfte, und er hatte die Arme vor dem schlichten schwarzen Tanktop verschränkt, das an seinem trainierten Oberkörper anlag; an den Fingern trug er drei schlichte und einen Gliederring.

Ich sah wieder kurz zu Mika, der schon wieder den Blick auf den kleinen Bassisten geheftet hatte.

Jener ließ herablassend den Blick über uns schweifen. „Hallo, Valentin. - Hallo, Arschloch“, fügte er mit einem kurzen Blick in Mikas Richtung hinzu.

Ich fuhr auf. „Hey -“

„Sakuya“, fauchte Karasu mich an und wies mit dem Finger auf mich. „Halt deine beschissene Klappe, mit dir rede ich nicht! Du hast schon genug Schaden angerichtet.“

„Was willst du?“, erwiderte Valentin an meiner Stelle ungehalten und stand auf; er war ein paar Zentimeter größer als Karasu, was den aber nicht zu stören schien.

„Du kannst doch Bass spielen.“

„Was? Ich bin Gitarrist.“

„Das weiß ich, das hab ich nicht gefragt; kannst du Bass spielen oder nicht?“

„Was? Ich....was? Ja! Was soll das? Was willst du?“

„Du kennst auch unsere alten Alben.“

„Ja, natürlich!“ Valentin wirkte fast beleidigt; allerdings wirkte er immer beleidigt in Karasus Gegenwart, aus dem simplen Grund heraus, dass er fast immer Grund dazu hatte.

„Gut. Du musst bei uns einspringen. Es muss nicht perfekt sein, gib einfach dein Bestes. Es geht nicht ohne dich.“

Valentin sah ihn giftig an; Karasu erwiderte den Blick ungerührt, noch immer die Arme verschränkt. „Nenn mir einen einzigen Grund, aus dem ich DIR helfen sollte, Wichser!“

„Mir? Keinen. Ich bitte dich nicht, MIR zu helfen. Ich bitte dich, meiner Band zu helfen. Uns bleibt leider keine Wahl; wenn der Gig ausfällt, fehlt uns diesen Monat eine Menge Geld. Für mich musst du überhaupt nichts tun, aber du tätest Antti und Jimi und Samir einen großen Gefallen, und die drei haben dir nichts getan.“

Valentin atmete tief ein und aus, wirkte durcheinander. „Was.... verdammt. Was soll der Scheiß?“

„Tu mir einen Gefallen und stell dich nicht dümmer, als du bist. Antti kommt nicht raus, ich hab mit ihm geredet. In seinem Zustand kann er nicht auftreten. Wir haben zusammen beschlossen, dass wir improvisieren. Ich springe für ihn ein, so gut ich kann. Aber von den anderen beiden spielt keiner Bass. Und unter den ganzen musikalischen Legasthenikern in diesem Raum gibt es niemanden, dem ich das auch nur ansatzweise zutrauen würde. Ich mag dich nicht besonders, aber du bist gut, und das wissen wir beide. Du kannst und sollst nicht versuchen, zu spielen, was ich sonst spiele, begleite uns einfach irgendwie. Wir streichen die Soli.“ Karasu sah aus, als habe er in eine Zitrone gebissen, bei dem von ihm selbst geäußerten Befehl, den Bass zu einem vernachlässigbaren Begleitinstrument zu machen. „Ich kann dich nicht zwingen, aber sieh es als Chance, zu zeigen, was du kannst; mit deinen eigenen Hampelmännern hast du die ja nicht so oft. Wir zahlen dir deinen Anteil natürlich aus.“

Valentin zögerte. „...Ich will Anttis Anteil an der Gage nicht.“

„Du bekommst nicht Anttis, du bekommst meinen. Damit solltest du leben können.“

Karasu atmete tief aus und sah kurz zu Boden, dann wieder zu Valentin auf, der sich auf die Unterlippe biss und mit der Zunge an seinen Piercings spielte, sichtlich durcheinander wirkte. „Und, was sagst du?“

Val fuhr sich durch die silberblonden Haare, musterte Karasu kurz, als suche er die Falle in dem Angebot; jener erwiderte seinen Blick nur ruhig. Ich wusste, dass Val ein hervorragender Musiker war, und dass er eitel genug war, sich zu freuen, dass Karasu es ihm ebenfalls sagte, denn so etwas geschah selten genug. Ich wusste aber auch, dass mein jüngerer Freund nicht sehr selbstbewusst war, und die Vorstellung, so ins kalte Wasser zu springen, ihm Angst machte.

Wir anderen beobachteten die Szene nur größtenteils ungläubig.

Valentin leckte sich über die trockenen Lippen. „...Ich hab keinen Bass hier, ich muss ihn erst holen.“

„Du bekommst meinen.“

Der Blonde sah Karasu überrascht an. „Ist das dein Ernst?“

Jener nickte stumm, presste kurz die Lippen aufeinander. Ich verspürte fast das Bedürfnis, zu lachen; dieses Instrument war der wertvollste Besitz von Anttis Mitbewohner, Fremde ließ er nicht einmal einen Finger daran legen, da er niemandem vertraute. „- Wenn du ihn kaputtmachst, bring ich dich um.“

„Schon gut, ich habs verstanden!“

Karasu hielt Valentin eine Hand hin; jener sah unsicher einige Sekunden darauf und schloss dann kurz die Augen, ergriff dann die dargebotene Hand; Karasu nickte und ließ wieder los, wirkte für eine Sekunde richtig erleichtert, ich meinte fast ihn lächeln zu sehen, aber das war doch eher absurd. „Okay.“ Er drückte Valentin den Zettel von vorher in die Hand. „Hier ist die geänderte Setlist, die neuen Sachen sind gestrichen, schau drüber und sag mir was du nicht kannst, ich geb den anderen Bescheid.“ Er wandte sich zum Gehen, ich stand auf.

„Karasu! Warte. Was ist mit Antti?“

Der Musiker drehte sich langsam um und wandte den Kopf zu mir, wirkte für eine Sekunde als wollte er mir antworten, warf mir dann nur einen langen, unglaublich hasserfüllten Blick zu, stieß verächtlich die Luft aus und seine Mundwinkel zuckten in einem kurzen sarkastischen Grinsen nach oben, ehe er sich wieder abwandte und zurück zu Jimi und Samir ging.

Ich ballte die Hände zu Fäusten und stemmte sie auf den Tisch; Mika war ebenfalls aufgestanden, hatte mir eine Hand auf die Schulter gelegt, vielleicht aber weniger, um mich zurückzuhalten, als vielmehr, um sich selber zurückzuhalten, denn seine Kiefermuskeln arbeiteten, als er die Zähne zusammenpresste und Karasus Rücken mit Blicken durchbohrte.

Jamie sprang auf. „Jungs!“

„Was?“, knurrte Mika entnervt; Jamie ließ sich nicht beirren und entwand sich Junyas Griff, kam zu uns herüber und stellte sich zwischen uns beide.

„Bitte, setzt euch wieder! Es hilft doch nicht, wenn ihr euch über ihn aufregt!“

„Oh, ich könnte ihn....!“ Mika fauchte gereizt, setzte sich aber wirklich wieder, und zog mich am Ärmel mit sich hinunter; ich stützte frustriert den Kopf in die Hände.

„Saku? Alles in Ordnung?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht. Aber lass, Jem. In Karasus Augen bin ich sowieso immer schuld, wenn etwas mit Antti ist.“ Und ich fühlte mich auch mies.

„Du weißt ja nicht, woran es liegt“, versuchte mich mein Bruder zu trösten. Ich hatte die Hände im Nacken verschränkt.

„Ist mir eigentlich auch egal...ich will einfach nicht, dass es ihm schlecht geht“, murmelte ich, mehr zu mir selbst.

„Was hast du gesagt?“

„Nichts.“ Ich sah auf, zu Mika, der sich auf einen Nagel biss. „Fuchs?“

„Ich hasse diesen Kerl.“

„Das tun wir alle“, meinte Valentin düster und leicht abwesend, im Schneidersitz auf seinem Stuhl hockend und mit leicht gerunzelter Stirn die Liste überfliegend.

Mika sah wieder auf und zu ihm, stützte sich jetzt wieder auf den Tisch um sich näher zu ihm zu beugen. „Kommst du damit zurecht?“

Valentin nickte, faltete die Liste wieder zusammen und lächelte uns unsicher an. „Verrückte Sache, oder?“

„Du schaffst das.“

Val grinste schief, ich stand auf und ging um den Tisch herum. „Komm her.“ Er stand auf, ich legte einen Arm um ihn. „Karasu hätte dich nie gefragt, wenn er glauben würde, dass du es versaust. Jeder von uns weiß, was du kannst. Jetzt kannst du es auch mal allen anderen zeigen.“

„Der Mann ist ein Fuchs, der weiß verdammt genau, dass so ziemlich jeder Musiker in der Stadt bei jedem neuen Album versucht, Swans Titel zu spielen.“ Valentin schnaubte, umarmte mich kurz, lachte dann verlegen in die Runde. „Komisch, ich hab eigentlich nur unglaubliche Angst, dass ich den Bass fallenlasse oder so.“

Mika lachte jetzt doch, etwas leise erst, dann stahl sich wieder der übliche Schalk in seine Augen. „Ich fürchte, in dem Fall können wir nichts mehr für dich tun.“

„Du machst das!“, rief Jamie strahlend von der anderen Seite des Tisches her. „Du bist echt gut! Und wir drücken dir die Daumen.“

„Danke, Jamie.“ Valentin tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn. „Na dann....die Todgeweihten grüßen dich. Ich geh dann mal.“

Er trottete davon zu den anderen; Jimi und Samir begrüßten ihn mit großem Hallo und erleichterten Umarmungen, vielleicht ermutigte ihn das etwas; Karasu hielt sich vornehm im Hintergrund.

Ich ging wieder zu Mika und setzte mich neben ihn; er biss wieder auf einem Fingernagel herum und starrte düster vor sich hin, Jamie redete aufgeregt auf seinen Freund ein, so dass uns niemand überhörte, als ich einen Arm um den Rothaarigen legte und mich zu ihm neigte. „Was ist los?“

„Warum ist er auf einmal wieder so wütend auf mich?“, murmelte Mika leise und sah mich kurz an, seine grünen Augen schimmerten unsicher. „War das jetzt nur deinetwegen, oder...?“

„War er nicht immer so?“

„Naja.... ähnlich. Er war nie wirklich höflich. Aber...nicht SO. Wir kamen miteinander aus.“ Er unterbrach mich, ehe ich etwas sagen konnte. „Ich meine damit, auf rein mentaler Ebene! ...Ich verstehe das nicht, es ist gar nichts mehr passiert, seit Freitag. Und da war er eigentlich sogar erstaunlich lieb.“

„Hast du was zu ihm gesagt, ehe du gegangen bist, was ihn verärgert hat?“

Mika schüttelte den Kopf, antwortete genauso leise, wie ich sprach. „Nein, ich hab überhaupt nichts zu ihm gesagt. Ich hab ihn ja seitdem nichtmal mehr gesehen.“

„Hm.“ Ich beobachtete kurz Mika, der eher verärgert als traurig schien; er hasste es zutiefst, wenn er Dinge nicht verstand. „Ich glaube nicht, dass du etwas dafür kannst. Er ist doch letztendlich immer so. Er lässt sogar an Antti seine Launen aus, und der hat ihm nie was getan. Er hat einfach Spaß daran, dich zu beleidigen.“

Mein Freund lehnte sich an mich. „Ja... Stimmt.“

„Bedrückt dich das?“

„Ein bisschen.“

„Kann ich was für dich tun?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Er kann gern so tun, als wäre nie etwas gewesen; für mich ist das Thema sowieso abgeschlossen.“ Mika seufzte, senkte kurz den Kopf und fuhr sich durch das Haar, grinste mich dann von unten breit an. „Jetzt kannst du Karasu zum ersten Mal im Leben auf der Bühne versagen sehen, anstatt dass ich dich nach drei Liedern mit einem halben Herzinfarkt und Nasenbluten nach draußen tragen muss und mir die ganze Nacht dein Geseufze anhören darf.“

Ich sah ihn an, lachte kurz und überrascht auf. „Als wenn!“

„Na klar, hast du doch beim ersten Mal auch gemacht, die ganze Nacht bis morgen früh, wie ein liebestoller Kater!“
 

Jamie: Wie einsam diese Nacht
 

We'll rise above this, we'll cry about this

as we live and learn

A broken promise ... I was not honest

Now I watch as tables turn

and you're singing

I'll wait my turn to tear inside you...

watch you burn

I'll wait my turn, I'll wait my turn

I'll cry about this and hide my cuckold eyes

as you come off all concerned

I'll find no solace in your poor apology

in your regret that sounds absurd

keep singing

(…)
 

aus: Placebo: Broken Promise
 

Ich wurde relativ abrupt von meinem Gespräch mit Junya abgelenkt, als sich Saku und Fuchs auf der anderen Seite des Tisches zu prügeln anfingen, zumindest sah es für mich aus den Augenwinkeln so aus, als Fuchs sich unter einem Schlag wegduckte, ich hörte ihn aber laut lachen, als mein Bruder ihn um den Oberkörper griff und ihm so beide Arme an den Körper gedrückt hielt, Fuchs' grüne Augen blitzten und er grinste breit als er versuchte sich ihm zu entwinden, die Haare im Gesicht. Sakuya hielt ihn mit ein wenig Anstrengung fest, ließ ihm aber nach einer Weile eine gnädige Lücke und musste sich seinerseits von Fuchs' Gegenangriff wegducken, drehte ihm dann aber den Arm, den er noch immer hielt, auf den Rücken, so dass der Rothaarige relativ hilflos auf den Tisch gedrückt wurde. Ich sah meinen Bruder leicht gehässig grinsen und sich eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn pusten, was die zwei redeten konnte ich über die laute Musik nicht hören, ich meinte etwas in Richtung 'läufige Hündin' zu vernehmen, hatte mich aber wahrscheinlich getäuscht.

Eine junge Frau kam kurz zu den beiden hinüber, ich wusste nicht ob sie vielleicht im Eden arbeitete, und ich glaube, sie versuchte ihnen zu erklären, dass sie sich nicht hier drinnen schlagen durften, beide hörten brav zu, Fuchs halb auf dem Tisch, Sakuya auf ihm, er ließ ihn aber los, nachdem sie gegangen war. Die Musik wurde leiser, und jetzt konnte ich sie auch hören.

„Klären wir das draußen?“

„Der Auftritt ist gleich.“

„Schiss, zu verlieren?“

„Von wegen.“

„Nach dem Auftritt. Gewinner darf an der Wand schlafen. Schlag ein.“ Fuchs grinste und hielt Sakuya die Hand hin.

„...vielleicht geh ich dir doch lieber heute Nacht auf die Nerven.“

„Ooh. Hey, Kopf hoch.“ Fuchs legte einen Arm um meinen Bruder und grinste ihm ins Gesicht. „Ich bin da. Alles wird gut.“

Die Musik setzte wieder ein, und ich konnte nicht mehr hören, was Saku zu seinem Freund sagte, den Kopf an seinen geneigt um sich verständlich zu machen, aber er lächelte, Fuchs schnitt eine Grimasse, und mein Bruder lachte, stieß ihn mit der Schulter an.

Als ich den Kopf wandte, sah ich Karasu, seine drei Kollegen im Schlepptau wie eine Glucke ihre Küken, der Sakuya und Fuchs einen Blick zuwarf, als würde er gleich anfangen zu schreien; nur kurz, dann wandte er den Kopf ab und sah wieder nach vorn.
 

Wir gingen in den Nebenraum, als Swan minus Antti plus Valentin gerade beginnen wollten, zu spielen; ich hatte schon unruhig auf meinem Stuhl gesessen, aber sowohl mein Bruder als auch sein Freund schienen sich Zeit lassen zu wollen und stellten sich nach hinten in den Raum, den Rücken an die Wand, Sakuya verschränkte die Arme vor der Brust. Junya schien überhaupt kein Interesse zu haben, die Band zu sehen, sondern war in Gedanken scheinbar woanders; er beteiligte sich nicht an Gesprächen und sprach auch nicht von sich aus, aber immer, wenn ich den Kopf zu ihm wandte, schien er mich anzusehen, und ließ die ganze Zeit über meine Hand nicht los.

Es war unerwartet voll im anderen Raum, die Leute standen dicht bis an die kleine Bühne auf den engen knapp vierzig Quadratmetern; ich sah, wie sich Köpfe zum jeweiligen Nebenmann wandten und Getuschel laut wurde, als Karasu ohne eine Miene zu verziehen zum Mikrofon stolzierte und zu sprechen begann.

„Für diejenigen, die es noch nicht mitbekommen haben: Antti fällt heute Abend aus. Es geht ihm schlecht, und ich lasse ihn in seinem Zustand weder auf die Bühne noch in diesen Raum.“ Er sagte das völlig monoton, ohne eine Spur von Bedauern oder jener schlecht unterdrückten Arroganz, die ich vorhin gehört hatte. Seine Blicke strichen über die Menge hinweg, ohne jemanden dabei direkt anzusehen, es war, als stünde er hinter einer massiven Mauer und spräche mit sich selbst. Die Menschen vor uns wurden lauter, ich hörte Pfiffe laut werden.

„Ruhe. - Wir haben umbesetzt und werden trotzdem auftreten, so gut wir können.“ Die Pfiffe wurden lauter, und jetzt fauchte Karasu doch ärgerlich ins Mikro. „SCHNAUZE!“ Er wartete einen Moment, bis es etwas ruhiger geworden war; eine kleine Gruppe von Leuten schob sich an uns vorbei und verschwand aus dem Raum. „Schön, die ersten gehen schon. Es steht jedem frei, den Raum JETZT zu verlassen, wenn er kein Interesse mehr hat; Geld gibt es nicht zurück, das ist nicht unsere Entscheidung, das müsst ihr mit dem Eden ausmachen. Könnt ihr mal aufhören, dazwischenzurufen, wenn ich etwas zu sagen versuche? Sehr nett. - Wir ziehen unseren Auftritt durch, wie geplant, und ihr könnt gehen oder bleiben; ich wiederhole, wenn ihr gehen wollt, dann tut es jetzt, und spart euch die Pfiffe. Niemand zwingt euch, hier zu sein. Ich richte Antti gern aus, dass ihr lieber ihn sehen wollt, und ich weiß, dass die meisten von euch, oder alle, mich nicht so gern mögen wie ihn, aber vielleicht denkt ihr daran, dass es noch andere Leute in dieser Band gibt, die hart für diese Musik gearbeitet haben, und die sich nicht hinter Anttis Stimme verstecken müssen. Jimi und Samir sind beide mindestens ebenso gut in dem, was sie tun, wie Antti; und-“ Er wies zur Seite zu Valentin, „für die, die ihn noch nicht kennen sollten, Valentin von Daring Lucifer am Bass, der heute Abend einen verflucht harten Job macht. - Und wir werden euch verdammt nochmal zeigen, wer wir sind!

WIR SIND SILVER SWAN!

Dieses erste Lied ist für Antti, also haltet die Schnauze, damit er auch was hören kann!“ Er trat kurz vom Mikro zurück und beugte sich noch einmal zu Valentin, der ein wenig blasser aussah als er ohnehin schon war, aber nickte, als er ihm zuhörte, mit den Fingern der Rechten wie abwesend auf dem dunklen Blutrot von Karasus Bass trommelnd. Ein paar Leute mehr waren gegangen, die meisten aber waren noch da, und ich hörte Applaus und vereinzelte Jubelrufe, eine kleine Gruppe von jüngeren Mädchen intonierte als Sprechchor Jimis Namen und johlte, als jener ihnen zuwinkte, und ich hörte auch jemanden, wohl einen Bekannten, „Val! Eh! Val!“ rufen, was jener aber nur mit einem kurzen Flackern des Blicks zur Kenntnis nahm, den Kopf immer noch mit Karasu zusammengesteckt; eine Frau in Sakuyas Alter vor uns reckte den Kopf zu ihrem Begleiter und raunte: „Gott, er ist soo heiß! Oder ist der auch schwul?“ „Nein, der steht auf Frauen, aber lass die Finger von ihm, der ist ein asozialer Perverser“, murmelte jener zurück; ich wusste nicht, wen von den Vieren sie meinte – wahrscheinlich doch nicht Valentin! – aber Fuchs neben mir grunzte plötzlich, als wollte er ein Lachen unterdrücken, aber ich kam nicht mehr dazu, ihn zu fragen, was so lustig gewesen sein sollte, weil Karasu vorne wieder ans Mikro trat. Er hatte sich wohl direkt zuvor wieder umgezogen und trug jetzt nur noch einen dünnen schwarzen Blazer offen über der Hose, er wirkte angespannt, und ich fragte mich, ob er sehr nervös war, als er mit schwarzlackierten Nägeln das Mikro fester griff. Ich wäre es in jedem Fall, wenn ich so ins kalte Wasser geworfen würde, und obwohl er ziemlich konstant eine eher herablassende Einstellung zur Schau stellte, und ich ihn nicht gerade sympathisch fand, trotz allem was er für Fuchs getan hatte, tat er mir in diesem Moment leid; er hielt an diesem Abend die Fäden in der Hand innerhalb der Band, das sah man, und er stand aufrecht und ungehemmt auf der Bühne, was ich nicht fertigbringen würde, vor so vielen Menschen, wenn alle auf mich sähen; aber ich glaube nicht, dass er der Typ war, sich vielen Leuten auszusetzen, ohne eine gewisse Sicherheit zu wahren, ohne etwas wie ein Schild um sich zu haben, hinter dem er sich zurückziehen konnte – warum sonst sollte er sich so abweisend und feindselig verhalten, wenn nicht, weil er Angst vor anderen Menschen hatte und sie von sich fernhalten wollte? So schien es mir - , und dieses hatte er offensichtlich nicht, denn auch wenn er zuvor gesagt hatte, er würde Anttis Job ebenfalls beherrschen, was ich ihm glaubte, denn sonst wäre er sicher nicht so waghalsig, es trotzdem zu versuchen, war es doch unglaublich mutig, in meinen Augen, sich dort vorne hinzustellen und einen Schritt ins Ungewisse zu tun, und das galt für Valentin nicht weniger, der ein wenig so aussah, als müsste er sich gleich übergeben, aber dennoch ruhig und gefasst da stand, die Augen auf den kleinen Sänger gerichtet.

Jener hatte die Augen kurz geschlossen, der schwarze Lidschatten ließ sein Gesicht noch umschatteter wirken, und leckte sich kurz mit der Zungenspitze über seine gepiercte Lippe, als Samir den Takt angab; für eine Sekunde erwartete ich noch halb, dass er versagen und aufgeben würde, und der Stille im Raum nach zu urteilen, dachten fast alle dasselbe; Sakuya starrte düster brütend auf die Bühne als wünschte er es sich fast, und dann setzten Jimi und Valentin ein, Karasu öffnete die Augen, sein stechender Blick war fest geworden, sobald die Musik ihn umbrandete, und er begann zu singen.

Ich wusste nicht, wie Swan normalerweise klangen, ich hatte nur diese eine, nicht besonders gute Aufnahme gehört, aber der kurzen Stille und dem dann sekundenlang aufbrandenden vereinzelten Applaus aus Teilen des Publikums nach zu urteilen, machten die vier ihre Sache nicht so schlecht. Karasus Stimme unterschied sich auf jeden Fall deutlich von Anttis, sie war rauchig, kehlig, ein Bariton, wenn ich raten müsste, oder vielleicht Tenor, nicht so arg tief, aber dieses Heisere gab der rockigen Ballade, mit der sie begonnen hatten, etwas Dreckiges, wo sie bei Antti vielleicht sogar romantisch geklungen hätte. Der ehemalige Bassist schien selber nach den ersten Takten an Sicherheit gewonnen zu haben, als er sich selbst hören konnte, und bewegte sich leicht zur Musik, sang und schrie ins Mikrofon mit einer Natürlichkeit, als täte er auf der Bühne nie etwas anderes; Valentin hatte die Unterlippe zwischen den Zähnen klemmen, das konnte ich sehen, aber er grinste, sein Augen funkelten wild, er schien Spaß zu haben, wenn er auch unendlich konzentriert auf nichts anderes starrte als seine eigenen Finger.

Ich fragte mich, ob Antti es auch hören konnte, wie seine Band ohne ihn spielte.

Karasus Stimme wurde lauter und er schloss die Augen, ich sah Fuchs neben mir zucken. „Er ist gut“, murmelte er leise in Sakus Richtung.

Der nickte, sich auf die Lippe beißend, seine Stimme klang aber bitter. „Er ist viel schlechter als Antti.“

Ich schloss kurz die Augen; das Lied hing über der Menge und verwob sich mit Jimis Gitarrenriffs, das Original kannte ich nicht, aber dieses Cover gefiel mir gut, diese Ausdruckslosigkeit in Karasus Augen, die Gefühllosigkeit in seinen Worten, in seiner Musik war nichts mehr davon zu spüren, und als dann die anderen drei nach der ersten Strophe verstärkt einsetzten, war bis auf die eine oder andere Note, die Karasu etwas unsauber sang mit seiner Raucherstimme, kaum zu merken, dass er nur Ersatz war, wenn er auch immer wieder die Augen schloss, ich weiß nicht, ob aus Konzentration, oder weil ihn der Blick ins Publikum verunsicherte.
 

„So hard she's trying

But her heart won't turn to stone... oh no

She keeps on crying

But I won't leave her alone

She'll never be alone
 

She'll be right here in my arms

So in love

She'll be right here in these arms

She can't let go“
 

Ich jubelte mit den anderen, als das Lied vorbei war; Karasu hatte den Kopf gesenkt und die Haare fielen ihm ins Gesicht, so dass ich seine Miene nicht sehen konnte, aber Jimi strahlte und hob die freie Hand, um den Applaus etwas anzuheizen, pfiff und lachte.

Das nächste Stück begann, und ich sah mit leuchtenden Augen auf die Bühne, dann kurz zu Junya, wollte gerade wieder nach vorne sehen, als ich merkte, dass er mich mit undeutbarem Blick anstarrte. „....Was ist?“ Es war schwer, über die Musik hinweg zu sprechen; Jun zuckte die Schultern und lächelte schwach, es erreichte nicht ganz seine dunklen Augen.

„Nichts.“

Ich lächelte ebenfalls unsicher. „Okay...“

Ich wandte mich wieder nach vorne, als ich mich plötzlich an der Schulter genommen fühlte, und Junyas Lippen spürte, die sich auf meine pressten; ich war so überrascht in diesem Moment, dass ich gar nicht dazu kam, den Kuss zu erwidern, wenn er auch sehr sanft war, und nur die Augen aufriss; ich habe keine Ahnung, was ihn in jenem Moment dazu getrieben hatte, doch er hielt mich an der Schulter, und wir standen zwar ganz hinten im Raum, aber dennoch standen andere Leute neben uns, und auch vor uns drehten sich ein paar Menschen um bei der schnellen Bewegung Junyas, und ich fühlte ihre Blicke auf mir ruhen, mir wurde heiß im Gesicht, wahrscheinlich war ich knallrot angelaufen.

„Jun-!“ Ich löste mich von ihm, drückte ihn etwas von mir weg, ich merkte wie mein Atem stoßweise kam, und musste erstmal nach Luft schnappen, meine Wangen brannten immer noch. „Nicht hier...!“

„Was denn?“ Er starrte mich verständnislos an, den Mund leicht offen, wirkte fast verletzt, und ich fühlte den Bedarf, mich zu erklären. Ich sah kurz zu Boden.

„Ich mag das nicht....vor allen Leuten.“

„Warum denn nicht? Wir gehören doch zusammen, oder?“

„Ich will nicht, dass uns jeder zusieht!“ Ich trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als er sich etwas zu mir lehnte, und wandte den Kopf leicht ab, schloss beschämt die Augen, auch wenn sich die Leute vor uns inzwischen wieder zurückgewandt hatten, ein junger Punk neben uns verfolgte unsere kleine Diskussion immer noch.

„Warum denn nicht??“

„Ich will es eben nicht – au!“ Junya hatte mich am Arm gegriffen, als ich zurückgewichen war, und seine Finger hatten sich fester als beabsichtigt in meine Haut gegraben, als ich reflexartig versucht hatte, ihm den Arm zu entziehen.

Der Blonde sah mich groß und etwas erschrocken an und ließ dann meinen Arm los, als habe er sich verbrannt, als Saku und Fuchs wie ein Mann den Kopf wandten und ihn misstrauisch musterten.

Fuchs wandte relativ schnell den Blick wieder zur Bühne, Saku ließ seinen noch einige Sekunden mit gerunzelter Stirn auf uns ruhen, und ich schenkte ihm ein Lächeln und winkte ab, bis er wieder fortsah.

„Jamie...ich...das tut mir leid...“

„Was sollte denn das?“, zischte ich, vielleicht etwas wütender als beabsichtigt. „Du kannst doch nicht -“ Ich verstummte, als ich seinen Arm spürte, der sich unendlich sanft um mich legte und mich leicht an seinen warmen Körper zog, ich spürte seinen Atem im Nacken, als er sich zu mir beugte und einen Kuss auf die weiche Haut unter meinem Ohr hauchte, dann die Lippen an meinem Hals entlangwandern ließ und meine Hand griff, die Finger mit seinen verschränkte, seinen Kopf ganz leicht an meine Schulter gelegt.

„Es tut mir leid. Das hab ich nicht gewollt.“

„Macht nichts“, erwiderte ich leise, dass auch jetzt alle möglichen Leute uns zusehen könnten, war mit der Sekunde vergessen, in der ich Junyas leise, dunkle Stimme so dicht an meinem Ohr hörte und seine weichen Lippen spürte. Mein Herz schlug schneller, wie ein gefangener Vogel, und ebenso leicht wie Flügelspitzen glitten Junyas Finger um meinen Körper und hielten mich fest, die Hände ließ er sanft auf meiner Hüfte ruhen, am unteren Saum meines T-Shirts, so dass ich ganz leicht nur die Haut seiner Fingerspitzen auf meiner Haut spüren konnte; ich wurde knallrot, und er zog mich etwas enger an sich, so dass jetzt mein Kopf an seiner Schulter ruhte.

„Ich liebe dich, Jamie.“

Wir hörten die nächsten Lieder schweigend aneinandergeschmiegt; Sakuya und Fuchs waren sehr ruhig, Fuchs sah ich nie auch nur die Hand ein wenig heben, auch wenn er unentwegt die Bühne fixierte; Sakuya sah ebenfalls in Richtung Bühne, aber sein Blick hatte etwas so Abwesendes, dass ich mir sicher war, er nahm nichts wirklich von dem wahr, was gespielt wurde; oder vielleicht war es in seinem Kopf Antti, der da sang. Immerhin, wenn es alles alte Lieder waren, musste er sie kennen. Und auch, wenn er jetzt mit Fuchs zusammen war, hatte er ja sicher viele schmerzhafte Erinnerungen an die Trennung. Und er hatte schon den ganzen Abend so traurige Augen gehabt, seit er gehört hatte, dass Antti dort war. Ob das Fuchs nicht verletzte, fragte ich mich; aber wahrscheinlich kannte und verstand er Sakuya zu gut, um ihm etwas vorzuwerfen. Es schien zumindest nicht so, als wäre er übermäßig um Saku besorgt, viel eher sah ich ab und an Sakuya einen Blick zu seinem Freund werfen.
 

„Einmal fassen, tief im Blute fühlen

Dies ist mein und es ist nur durch dich.

Nicht die Stirne mehr am Fenster kühlen

Dran ein Nebel schwer vorüber strich“
 

Das Publikum taute langsam richtig auf; zwar hatten wiederum ein paar Leute den Raum verlassen, aber die verbliebenden ehrten jedes weitere Lied mit Applaus und Gejohle, am Rand sah ich zwei Mädchen selbstvergessen miteinander zur Musik tanzen, ihre Finger strichen ab und an nur ganz leicht über ihre Körper. Die Luft war inzwischen schwer von Hitze und Rauch, was Karasu wahrscheinlich nicht so sehr stören würde wie Antti, nach allem was ich von ihm gehört hatte; Sakuya hatte gesagt, er rauchte unglaublich viel.

Seine Stimme verließ ihn dennoch ab und an; manche Töne erwischte er nicht, ob es tatsächlich an der Ermüdung lag oder einfach an der Kunstfertigkeit, konnte ich nicht sagen, aber ich fand, es machte nicht so viel aus.

Valentin hatte sich langsam eingespielt, wenn er sich auch sehr zurückhielt, kaum konnte ich ihn einmal heraushören. Ob er seine Sache gut machte, konnte ich daher auch gar nicht sagen, aber seinem Grinsen nach war dem so; er wirkte so viel lockerer mit dem Instrument auf der Bühne, selten sah ich ihn so viel am Stück lachen, sogar ins Publikum rufen, er war wie eine veränderte Person, und glich damit dem kleinen Sänger sehr. Jener strich sich die doch etwas feuchten Strähnen aus der Stirn und warf seinen Blazer neben dem Drumset ab, als er bei einer kleinen Pause zwischen zwei Liedern einen Schluck trank. Ich sah jetzt erst sein Tattoo auf dem Oberarm; sein Dogtag um den Hals klebte ein wenig an der verschwitzten Haut seiner doch muskulösen Brust; er wirkte recht schmal, wenn er voll bekleidet war, das war er aber gar nicht so sehr. Etwas an ihm fiel mir auf, und ich reckte den Kopf; etwas Rotes auf seiner Haut, wie über den Torso geschmiert, es sah aus, als habe er sich an etwas gekratzt oder die Haut aufgescheuert, und ich sah sehr dünne Furchen in dem vom Scheinwerfer produzierten harten Schatten auf seiner Haut, auch an den Armen, aber es war alles so fein, dass ich es aus der Entfernung und durch den leichten Rauch nicht zuordnen konnte. Niemanden sonst schien es zu stören, eingeschlossen ihn selber, vielleicht bildete ich es mir auch nur ein, oder er war möglicherweise vor dem Auftritt gestürzt.

Ich wandte mich zu Fuchs, der direkt zu meiner Linken stand; er schrak förmlich auf, als ich ihn anstupste, hatte den Blick völlig versunken nach vorn gerichtet gehabt, ich sah kurz wie er sich mit der Zunge über die trockenen Lippen fuhr, ehe sein Blick zu mir flackerte, und dann wieder zurück, als er sich leicht zu mir herunterlehnte. „Hm?“

„Was ist das, auf seiner Brust? Hat er sich was getan?“

„Was? Ja...“ Fuchs' sprach ruhig wie immer, sah noch immer nach vorn. „Das war er selber; das weiß sowieso jeder hier. Ich meine, er provoziert einfach gern, ich persönlich finde das jämmerl.... jedenfalls versteckt er es nichtmal. - Muss er ja auch nicht“, murmelte er noch leise hinterher. Ich sah, wie er unwillkürlich die Arme vor der Brust verschränkte, am Linken noch immer den Verband, nach dem keiner von uns ihn mehr gefragt hatte.

„Bei dir ist das ja was anderes“, versuchte ich trotzdem, in dem Drang, ihn aufzubauen. Der Rothaarige schenkte mir ein flüchtiges Grinsen und legte kurz die Hand auf meinen Rücken, wie er es manchmal bei Sakuya tat.

„Das weiß ich, Jamie, aber trotzdem danke.“

Ich wurde rot. „Das geht mich ja auch nichts an“, murmelte ich peinlich berührt.

„Tut mir leid, das ist ein bisschen kompliziert. Vielleicht reden wir bei Gelegenheit mal drüber.“

Etwas an seinem Tonfall sagte mir, dass das weder der Fall sein würde, noch interessierte es ihn gerade wirklich. Er lehnte sich etwas zurück an die Wand; ich sah, wie Saku den Kopf wandte und ihm etwas zuflüsterte; Fuchs schloss kurz die Augen und stieß sich dann wieder von der Wand ab, beugte sich kurz zu meinem Bruder, ich konnte nicht sehen, was er tat, sein Gesicht war sehr nah an Sakuyas Hals, aber wahrscheinlich sagte er etwas zu ihm, Saku sah für eine Sekunde überrascht aus, ließ sich dann aber nichts anmerken, und auch Fuchs setzte wieder eine undeutbare Miene auf, einzig die grünen Augen lauernd, wie ein großes Raubtier, zur Bühne gerichtet.

Ein weiteres Lied endete, und ich sah Karasu schwer Luft holen, die vergangene Stunde verlangte langsam ihren Tribut; Jimi strich sich die langen Strähnen aus der Stirn und nahm einen großen Schluck aus der Flasche neben sich, während Karasu wieder das Mikro fester griff, die schlanken Finger darum schmiegte, seine Haare legten sich ebenfalls feucht an seinen Nacken, er schien wie die anderen drei auch erhitzt, obwohl er bereits halbnackt war; auch Valentin schien ein wenig zu leiden im Scheinwerferlicht, ließ sich aber nichts anmerken. Ich sah ihn einen kurzen Blick zu Karasu werfen, der ihm nur ein flüchtiges Nicken zukommen ließ, ehe er sich straffte, den Blick aus den eisigen weißen Augen durch den Raum schweifen ließ, seine Hose hing ihm schwer durch den Gürtel gehalten an den schmalen Hüften, aber sein Stand in den Springerstiefeln war sicher, als das nächste Lied einsetzte.

Es dauerte eine Strophe, bis sogar ich es als Placebo-Cover erkannte.
 

„We were alone before we met,

No more forlorn than one could get.

How could we know we had found treasure?

How sinister and how correct.

And it was

A leap of faith I could not take,

A promise that I could not make.

A leap of faith I could not take,

A promise that I could not make.
 

My ashtray heart...“
 

Es war, als lege er noch einmal alles, was er hatte, in dieses Lied; für einen Moment hatte ich das Gefühl, er sähe sogar direkt ins Publikum, fast suchend, dann aber war es wieder vorbei, und sein Blick war so starr und undurchdringlich wie zuvor, wenn er auch das Mikro fest umklammert hielt und sang, mit soviel Ausdruck, als gälte es sein Leben, er hielt die Augen geschlossen beim Refrain, die Lippen eng ans Mikrofon geschmiegt, sein Gesicht wirkte angespannt, fast wütend, fast schrie er, heiser, mit fester Stimme, eine Hand geballt, der Schweiß auf seiner Haut mischte sich mit dem roten Blut.
 

„I tore the muscle from your chest,

Used it to stub out cigarettes.

I listened to your screams of pleasure

And I watch the bed sheets turn blood red.“
 

Langsam schien der Auftritt allen vieren vorne an die Substanz zu gehen; sicher war es auch in dieser ungewöhnten Situation sehr viel schwerer für alle, ich war voller Bewunderung. „Die machen das toll! Dafür, dass sie alles ändern mussten, und so kurzfristig!“

Valentin vorne am Bass wirkte aufgedreht, aber auch erschöpft, seine Haare strich er sich mit gespreizten Fingern nach hinten, atmete schwer durch halbgeöffnete Lippen, grinste aber, als ihn ein Blick Karasus traf, welcher nach jedem Lied schnell etwas in Valentins Ohr murmelte, von jenem immer mit einem konzentrierten Nicken bedacht.

Der Dunkelhaarige grinste zurück, eine wilde Glut in den Augen, wie ein Wahnsinniger, wie ein Amokfahrer zu seinem Beifahrer, und der lodernde Hass zwischen den beiden schien in dem gemeinsamen Ziel vergessen, als Karasu seinem Ersatzmann auf den Rücken klopfte, etwas ins Ohr brüllte über den Lärm des Publikums hinweg, Val lachte und nickte.

Die Band setzte mit neugefundener Kraft wieder ein, ein weiteres Cover; Valentin wirkte entspannter, kannte das Lied wohl gut, Jimi sah ich kaum, weil seine Haare ihm ins Gesicht fielen, Samir war hinter seinem Drumset ohnehin fast unsichtbar; Karasu stand mit geschlossenen Augen am Mikro, die feinen Linien seiner Verletzungen durchbrachen den Schimmer seiner goldenen Haut.
 

„Mach die Augen zu und küss mich,

und dann sag,

dass du mich liebst.

Ich weiß genau

es ist nicht wahr,

doch ich spüre keinen Unterschied

wenn du dich mir hingibst...“
 

Ich verlor kurz die Bühne aus den Augen, als Fuchs sich an mir vorbeischob. „Was....? Was ist...“ Und er war schon weg; ich wandte mich zu meinem Bruder. „Was ist denn los?“

„Toilette“, murmelte der abwesend. „Alles in Ordnung.“

Ich wandte den Blick und starrte gedankenversunken Fuchs hinterher, der so fluchtartig den Raum verlassen hatte, vielleicht bildete ich es mir ein, aber er hatte unglaublich wütend ausgesehen, fast hätte ich Angst bekommen. Mag aber sein, dass es nur das schlechte Licht hier hinten gewesen war, das diesen Schatten in seine Miene gemalt hatte.
 

„Es ist mir absolut egal,

ob du nur noch mit mir spielst...

Tu was du willst.“
 

Karasus Stimme brach in den folgenden Liedern immer öfter, und alle hatten inzwischen mindestens zwei Flaschen Wasser geleert, als der Auftritt sich seinem Ende neigte. Fuchs war immer noch nicht wieder zurück, und ich wollte ihn fast suchen, Saku jedoch neben mir schien nicht beunruhigt, wirkte auch weniger weggetreten noch als beim Rest des Gigs, so dass ich, mit einem Seitenblick auf Junya, der mit ausdruckslosem Blick lauschte, schloss, es sei für heute genug mit dem Sorgen machen, und an meinem Platz stehen blieb.

Zudem gefiel mir, wie dem Großteil des Publikums, die Musik gut, und es hatten nur noch wenige Leute den Raum verlassen. Wie gerne würde ich jetzt einmal hören, wie Silver Swan mit Antti am Mikro klangen! Und ich musste auf jeden Fall daran denken, Valentin meine Hochachtung zu bekunden, wenn wir zuhause waren.

Karasu stand erschöpft am Mikro am Ende des Auftritts, und ich sah nur Valentin seinen Nacken reiben und Jimi den letzten Schluck gierig aus einer Flasche nehmen; ich dachte, das wäre es gewesen, als ich den Sänger die stechenden Augen öffnen sah, die jetzt umschattet wirkten, müde. „Ein Letztes noch.“

Seine Stimme hatte leise geklungen, fast kraftlos, und als er zu singen begann, war es erst sehr leise, und er hatte den Blick gesenkt, wirkte mehr, als sänge er zu sich selber, gewann aber sehr schnell an Stärke, als werfe er alle Kraft, die er übrig hatte, in die Musik, und im Vergleich zu allem anderen zuvor war es so viel intensiver, so viel tiefer, so viel eindringlicher; ich sah ihn schwer atmen, wenn er Luft holte, und den Schweiß auf seiner Haut, seine Lider flatterten kurz, als er in die Menge sah, dann die Augen leicht verengte, wie vor Zorn, das Mikro umklammert, seine Stimme so voller Schmerz und Leidenschaft, dass ich sie bis ans Ende des Raums spüren konnte, sein sehniger Körper war angespannt.
 

„There's a look on your face I would like to knock out

See the sin in your grin and the shape of your mouth

All I want is to see you in terrible pain

Though we won't ever meet I'll remember your name
 

Can't believe you were once just like anyone else

Then you grew and became like the devil himself

Pray to God I can think of a kind thing to say

But I don't think I can

So fuck you anyway“
 

Er riss den Kopf zurück als die Gitarrenriffs über ihn brandeten, öffnete dann die Augen ganz, die Lippen eng ans Mikrofon geschmiegt.

Seine Stimme klang so voller Wut und Hass, seine Augen sahen stechend nach vorn, dass ich mich fast duckte; so viel Emotion, so viel Zorn, es loderte in seinen Augen, und ich war überzeugt, jemand, der so sang, musste die Empfindungen kennen, von denen er erzählte, und Karasu tat mir unglaublich leid, denn es musste hart sein, mit diesen Gefühlen zu leben; vielleicht erklärte es aber auch einiges. Und ich fragte mich, wer es war, den er so hasste. Und mit einem Mal traf mich ein Gedanke wie ein Donnerschlag, so dass ich unwillkürlich die Hände ballte.
 

„You are scum

You are scum

And I hope that you know

That the cracks in your smile are beginning to show

Now the world needs to see that it's time you should go

There's no light in your eyes and your brain is too slow“
 

Karasu sah nicht ins Publikum, sondern über uns hinweg, auch wenn seine Augen brannten, als starre er jemanden direkt an, seine Finger hatten sich wie haltsuchend um das Mikrofon gekrallt, und als ich ihn nach der Strophe ganz kurz nur die Augen schließen sah, und für eine Sekunde nur den Blick senken, als wolle er den Kopf abwenden, nur um dann mit geschlossenen Augen und neu erwachter Pein in der Stimme fortzufahren, wurde mir klar, dass nur ich annahm, er denke bei dem Text an jemand Bestimmten und habe ihn deshalb zum Schluss aufgehoben; was denn, wenn dieses Lied ihn so bewegte, weil er dabei an eine Person dachte, die er so verabscheute, dass er ihr bereitwillig selber Schmerzen zufügte?

Und ich konnte, und wollte, diesen Gedanken nicht weiterdenken, den ich mir da zusammenzuspinnen begann mit meinem elenden Phantastengehirn, weil ich nicht einmal versuchen wollte, mir jemanden vorzustellen, der solche Gedanken mit sich herumtrug, weder, wenn sie an eine andere Person gerichtet waren, noch, wenn man dem eigenen Spiegelbild diesen Hass entgegenschleuderte, ich war unfähig mir auszumalen, wie man sich selber hassen konnte, genauso wie ich unfähig war mir auszumalen wie man sich selber Verletzungen zufügen konnte, und so starrte ich den kleinen Sänger mit den Narben nur an und hörte zu; möglicherweise irrte ich mich ja, möglicherweise dachte er doch an jemand anderen.
 

„Bet you sleep like a child with your thumb in your mouth

I could creep up beside, put a gun in your mouth

Makes me sick when I hear all the shit that you say

So much crap coming out, it must take you all day
 

There's a space kept in hell with your name on the seat

With a spike in the chair just to make it complete

When you look at yourself do you see what I see?

If you do, why the fuck are you looking at me?
 

Why the fuck are you looking at me?
 

Why the fuck

Why the fuck are you looking at me?“
 

Erst als der letzte Ton verklungen war und Jimi zu Karasu gesprungen kam, dem erschöpft Dastehenden um den Hals fiel, lachte und auf ihn einredete, bis jener schwach, aber zufrieden grinste und einen Arm um den Gitarristen legte, bis sich Samir von der anderen Seite hinzugesellte und erst Karasu, dann Jimi umarmte, und auch Valentin, der erst etwas verlegen daneben gestanden hatte, einbezogen worden war, erst dann merkte ich wirklich, warum die vier das Ganze so gut über die Bühne gebracht hatten; drei von ihnen waren perfekt aufeinander eingespielt, und das mussten sie wohl sein, denn zum ersten Mal am ganzen Abend sah ich Karasu wirklich lachen, als alle drei auf ihn einredeten, Jimi und Samir hatten je einen Arm um ihn gelegt, und verschwanden, Val im Schlepptau, durch einen Seiteneingang von der Bühne.

Und erst, als ich jetzt den Blick abwandte, merkte ich, dass Fuchs im Türrahmen stand und auf die Bühne sah, fast etwas abwesend; ich wusste nicht, wie lange er da schon gewesen war, ich hatte ihn nicht bemerkt.

Als er meinen Blick sah, grinste er, kam zu uns, einen Arm um Sakus Schulter hängend. „Gehen wir heim?“
 

Sakuya: Downright Heartbroken
 

Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?
 

aus: Hermann Hesse: Demian
 

Ich konnte nicht leugnen, dass ich auf der einen Seite froh war, dass Antti nicht gesungen hatte, auch wenn ich mir Sorgen um ihn machte. Ich hätte nicht gedacht, dass mich sein Ausfall so aufwühlen könnte, ohne dass ich überhaupt wusste, was der Grund dafür gewesen war.

Der Gig selber war okay gewesen, ich war nicht begeistert. Es war kein Vergleich zu Anttis Gesang, nicht im Ansatz. Karasu kannte die Texte, das war es auch; aber was erwartete ich auch groß von ihm. Er war einfach nur ein von sich selbst eingenommener Megalomane, schon immer gewesen, und er genoss es einfach, das Sagen zu haben. Wenn Samir und Jimi sich entschlossen hatten, ihm wie Schafe zu folgen, war das ihr Problem. Wenigstens Valentin hatte seine Sache gut gemacht und musste sich mit der abgelieferten Leistung vor niemandem verstecken.

Was mich eigentlich ärgerte, war nun Mika; ich wollte eigentlich Junya im Auge behalten, da mir seine Aktion mit Jamie zu Beginn des Gigs gar nicht gefallen hatte, jetzt hatte sich mein bester Freund aber entschieden, schlechte Laune zu haben, und zwar richtig. Er hatte genug Anstand, meinen Bruder nichts merken zu lassen, der sich ohnehin nur wieder würde einmischen wollen, aber sein falsches Grinsen konnte mich schon seit Ewigkeiten nicht mehr hinters Licht führen, und als er dann noch, als ich ihn zur Seite genommen hatte, aggressiv mir gegenüber geworden war, musste ich an mich halten, nicht ebenfalls laut zu werden. Er wusste selber, dass wir uns nicht vor Fremden streiten sollten, und so starrte er mich nur eiskalt an, mit angespannten Kiefermuskeln.

Als ob ich nicht genügend eigene Probleme hätte, um die ich mir Gedanken machen musste; Antti, Junya, und jetzt warf mir mein bester Freund und Partner vor, ich wäre ohnehin nicht Herr meiner Gefühle, hetzte von Leidenschaft zu Leidenschaft und proklamierte den Weltuntergang, sobald ich mich allein gelassen sah, wie ein kleines Kind, das ein Spielzeug erst dann haben will, wenn es jemand anderen damit sieht.

Ich versichere, ich hätte ihn fast geschlagen, und nur die Umstehenden, und mein Bruder, hielten mich davon ab.

Ja, sicherlich, die Sehnsucht nach Antti wuchs nur zurzeit; war das aber nicht verständlich, jetzt, da er auf einmal wieder so nah war? Wessen alte Wunden würden nicht wieder aufbrechen? Sollte mich Mika, mein Mika, mein Bruder, nicht eher unterstützen, als mich zu verhöhnen?

Manchmal, nur manchmal, hasste ich ihn dafür, dass er nicht empfinden konnte und wollte, wie ich es tat.

Die Liebe, die in meinem Herzen wohnte, war nicht rational, war es nie gewesen, egal, zu wem; warum erwartete er, dass ich ausgerechnet jetzt, wo meine ganze Welt viel komplizierter geworden war als jemals zuvor, begann, nach Sinn und Ordnung zu suchen, wo es keine gab?

Und, abgesehen davon, war nicht er es, der sich irrational verhielt – der sich noch während des Gigs zu mir gebeugt hatte, mir leise ins Ohr geraunt hatte, wie er sich in diesem Moment nach dem Egomanen vorne am Mikro verzehrte, nur um dann mich zu küssen, genau auf eine Stelle, an der ich unglaublich sensibel war, was er auch verdammt genau wusste – um dann wieder in eine Art Schreckstarre zu verfallen, darauf den Raum zu verlassen, und jetzt Gift und Galle zu spucken, mit einem hochgradig angepissten Gesicht, als habe ihn eben jemand eine Bahnhofsnutte genannt, versteckt hinter diesem aufgesetzten Lächeln?

Gott, ich schwöre, ich wollte ihm die Verstocktheit aus dem Leib prügeln, in diesem Moment, und ich war noch wütender, weil ich genau wusste, dass er das wollte; er konnte nicht herausbrüllen, was ihn so wütend machte, deswegen benutzte er mich als Ventil. Ich wusste das, konnte aber nichts daran ändern.

Warum war er überhaupt so zornig? Ich vermutete, es ging damit einher, dass er Karasu nicht haben konnte, wenn er es wollte, so wie zuvor, weil jener aus ebenfalls unverständlichen Gründen wütend zu sein schien, und das reizte ihn.

Jetzt wollte er mich als Ersatz oder Sündenbock; keines von beiden würde er bekommen. Ich kannte ihn; er wurde nicht oft auf diese Art wütend, aber wenn, dann endete es meist damit, dass er sich ins eigene Fleisch schnitt und klein beigeben musste.

So sehr ich ihn liebte, und so sehr ich seine rationale Art manchmal verabscheute; wenn er aufhörte, sich rational zu verhalten, konnte er unausstehlich sein.

Jamie war der Einzige in unserer kleinen Runde, der gut gelaunt schien, als wir das Eden verließen; Mika an meiner Seite, natürlich, oh, ich liebte ihn innig, und würde sogar wieder in dieser Nacht eine Decke mit ihm teilen, aber vermutlich erst, nachdem ich ihm die Nase blutig geschlagen hatte. Mit etwas Glück ginge er dann sofort in Bewusstlosigkeit über und ersparte mir weiteren Ärger mit ihm.

Valentin war sehr still, was aber daran lag, dass er unglaublich erschöpft war von dem unvorbereiteten Auftritt und unerwarteten Erfolg. Nach dem Gig waren einige Leute zu ihm gekommen, um ihm Lob auszusprechen; bei seiner eigenen Band, bei der er ja strenggenommen auch nur Ersatz war, wenn auch dauerhafter, geschah das nicht ansatzweise so häufig. So war er jetzt glücklich, und müde genug, nichts von meiner schlechten Laune zu bemerken. Von Mikas würde er ohnehin nichts mitbekommen, dafür kannte er ihn nicht gut genug, zudem war der Rothaarige ein ausgezeichneter Schauspieler.

Ich hielt den anderen die Tür auf, als wir in die Nacht traten; es war nach Mitternacht, und die Luft war kalt, vereinzelt waren Sterne am Himmel zu sehen, hier und da trieb ein Wolkenfetzen davor hin, und ganz leise rauschte ein Windzug in den hohen schwarzen Baumwipfeln.

Die Musik und die Stimmen hinter uns verklangen, als die Tür dumpf ins Schloss fiel, und meine Ohren brauchten eine Weile, sich an die Ruhe zu gewöhnen; man hörte nur das leise Knirschen des Asphalts unter unseren Stiefelsohlen, und Vals erleichtertes Aufatmen, als die klare Luft seine Lungen füllte; er schlang leicht fröstelnd die Arme um den Oberkörper. Ich wollte ihn gerade fragen, ob er meinen Mantel nehmen wollte, bis wir zuhause waren, als ich mich von Mika am Arm gefasst fühlte, nicht fest; als ich irritiert den Blick in seine Richtung wandte, nickte er nur wortlos nach vorn, nachdem er mir einen nahezu undeutbaren Ausdruck aus seinen grünen Augen zugeworfen hatte.

Ich folgte seinem Blick und schluckte, meine Kehle wurde schlagartig trocken; ein Stück entfernt an der Straße standen vier Leute, im Dunkeln nicht leicht zu erkennen, aber diese schlanke Gestalt, wenn auch mit dem Rücken mir zugewandt, würde ich noch blind unter Tausenden erkennen.

Jimi und Samir standen neben Karasu und Antti und schienen sich grad leise zu verabschieden, noch hatten sie uns nicht bemerkt; Karasu hatte einen Arm auf Anttis Rücken liegen und hatte jetzt wieder sein Tanktop übergezogen, allem Anschein nach trug der Blonde neben ihm Karasus Blazer fest um den schmalen Körper geschlungen, er hielt den Kopf gesenkt, und vom Wind herbeigetragen meinte ich, ganz leise seine sanfte Stimme zu hören, auch wenn ich keine Worte ausmachen konnte.

Jimi und der Drummer verschwanden die Straße hinauf, und Valentin, der inzwischen die Gruppe ebenfalls entdeckt hatte, sah schnell zu mir. „Warte; ich geh und frage, was los war.“

Ich nickte dankbar, biss mir auf die Unterlippe und zog die Brauen zusammen; ich hasste mich in diesem Moment dafür, dass ich nicht selber die Kraft hatte, zu Antti zu gehen, doch vermutlich hätte das nichts besser gemacht, mit Anttis Bulldogge an seiner Seite, und zudem, ich konnte mich keinen Zentimeter rühren; da stand Antti, nur zehn bis zwanzig Meter entfernt, und ich konnte nicht zu ihm. Es tat weh. Mika legte mir eine Hand auf die Schulter.

Karasu und Antti hatten sich angeschickt, die Straße Richtung Brücke zu überqueren, blieben aber stehen, als Valentin um sie herumlief und vor Antti stehen blieb. Was er sagte, konnte ich nicht hören, aber Teile von Karasus Antwort, die zwar etwas heiser, aber deutlich lauter kam. „...schon die ganze Zeit über irgendwelche Leute; wir wollen jetzt schnell nach Hause, ehe noch jemand angeschissen kommt. Antti....“ Er wurde wieder leiser, „...und deswegen machen wir, dass wir wegkommen, mal sehen wie wir das die Tage regeln.“

Antti schien wieder was zu sagen, und Valentin stand mit in die Taschen gesteckten Händen, wippte ein wenig auf den Zehenspitzen, nickte knapp. Karasu sprach wieder.

„...kümmer mich um ihn. Und danke nochmal, du hast uns da drin den Arsch gerettet.“

Ich sah Val schief grinsen und hörte Satzfetzen hinüberdringen. „Nein.... ...dass es geklappt hat. ….kommt gut nach Hause. ...Antti.... am Besten einfach hinlegen, wenn du was brauchst....“

Er war doch krank? Dann hatte Jimi Unrecht gehabt, und Karasu hatte nicht gelogen, als er den Sänger bei der Bandprobe entschuldigt hatte.

Valentin sah kurz zu uns hinüber und nahm den Blonden dann sanft in den Arm, was jener herzlich erwiderte, verabschiedete sich von Karasu per Handschlag, was für sich genommen ungefähr genau so bemerkenswert war wie Tod und Auferstehung Jesu, mich aber in diesem Moment nicht wirklich interessierte, und kam wieder zu uns.

Karasu hatte seinerseits einen Arm um Antti gelegt und zog diesen mit sanfter Gewalt mit sich; als ich zu den beiden sah, stockte mir der Atem, als ganz kurz, nur den Bruchteil einer Sekunde lang, mein Exfreund scheu den Kopf wandte, das Gesicht halb von seinen wirren blonden Strähnen verdeckt, und sich für einen winzigen Moment nur seine blauen Augen in meine bohrten, sich wie erschrocken weiteten, ehe er sich hastig umwandte und mit seinem Freund neben sich auf der anderen Seite der Straße im Dunkel verschwand.

Valentin kam zu uns, sah mich lange an.

„Er war also krank?“, sprach Mika leise aus, was ich gedacht hatte, während ich noch in die Nacht starrte. Mein Herzschlag setzte einen Moment aus, als Val ihm antwortete.

„Nein.“

Er sah mich wie entschuldigend an, hob die Schultern, die Schatten unter seinen Augen wirkten tiefer, als er ein wenig den Blick senkte.

„Er hat gesagt, er konnte nicht mehr, deinetwegen.“
 

Ende 14/?



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Last_Tear
2012-05-08T23:28:56+00:00 09.05.2012 01:28
>Dänmmerung
Dämmerung

wuhu ich hab ein Fehlerli gefunden *O*
*es adoptier*

Nyan O__O
*starr*
Ich.WILL.Da.Hin. >3<
Ich mag Karasu singen hören Q_Q
*fieps*

Also XD Fangen wir von vorne an. Fuchsi und Saku *drop* Ich glaub, ich werd die beiden nie verstehen, aber ich mag sie auch wenn ich ihnen gern eine reinhauen würde momentan o.ov
+hust+
Eh ja =D
Gut, sie hätten ja nich damit rechnen können, dass Antti sie sehen würde û.u
Aber aber aber >3<
Is ja wohl klar, dass er dann nicht mehr kann
*drop*
Und argh, ich hab das Bedürfnis Karasu zu knuddeln oder zu knutschen mir beides recht weil er kümmert sich ja eben DOCH um Antti >3<
Ich weiß nicht wieso, aber mich freut das gerade tierisch o.o"

Und wuhu O___O" Dass sie einspringen is nice, ja >.<
Also Valentin und wtf *o*
*sabber*
Gott, nochn Grund wieso ich das seeeeehr gerne LIVE gesehen hätte T___T
Hab ich schon erwähnt, dass ich den Kapiteltitel tollig finde? T_T
Es passt einfach so toll von wegen weil alles immer weiter geht, die Fäden sich weiter verflechten und alles AH ;____;
*FF knuddel*
>3<
+schnurr+

Haw, glückliches Sayu, ich weiß nicht wieso, aber das Kapitel macht mich glücklich ^-^
Und bei dem letzten Lied nya <.<
Meine erste vermutung war, dass Karasu dabei an Saku denken muss
*drop*
bis dann Jamie aufgefallen is, dass er auch sich selbst meinen könnte, aber ich tendiere irgendwie mehr zu Saku meinem Gefühl nach >3<

Und das mit dem Küss mich, sag mir dass du mich liebst etc. das war an Fuchs gerichtet *drop* Aber sowas von û.u What ein mieses Arschloch <3
*Karasu nur mehr anlieb*
^O^
*strahl*
Du hast mir die Nacht gerettet, dankeschön <3


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