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Stray

von

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Endlos wie das Meer

Vorwort: Rückblickend schon faszinierend, wie sich die Dinge entwickelt haben, seit ich damals die ersten Kapitel geschrieben hatte...es ist ja nun Jahre her, aber ich erinnere mich noch recht gut an die Absichten die ich damals hatte; Antti zum Beispiel sollte ursprünglich überhaupt nicht persönlich vorkommen, war einzig als Anekdote geplant, als jemand mit dem Sakuya mal zusammengewesen war. Dann liefen sie sich doch im Eden über den Weg....Schicksal, würde ich sagen, es musste wohl passieren.

Anderes Beispiel, Marius. Marius war überhaupt gar nicht geplant gewesen, nichtmal als Nebenfigur, nichtmal als ich anfing Kapitel sechs zu schreiben (sein erster Auftritt). Dann erst, als Jamie schon im Eden war, und sich umsah, dann auf einmal stand da Mari, beziehungsweise, tanzte da Mari, und entschloss sich, mit lautem Gequietsche die Bühne des Geschehens zu betreten; zack, da war er, und schnappte sich gleich Yukio. Und mit einem Mal wurde ich den Guten nicht mehr los.

Auch Karasu kannte ich anfangs noch nicht...ich wusste, dass Antti noch einen männlichen Mitbewohner hat, mehr aber nicht. Im letzten Oktober dann begann ich zum ersten Mal, aus Fuchs' Sicht zu schreiben, und musste erfahren, dass ER, im Gegensatz zu mir, Karasu sehr wohl schon kannte (der Schlingel!).

Die liebsten Ideen sind die, die sich einfach in die Geschichte einfügen, als wäre es selbstverständlich; und sich einfach weigern, ignoriert zu werden.

Ich kann versprechen, die drei werden weiterhin laut auf ihrem Recht als Charaktere bestehen; sie haben sich aus eigener Kraft in meine Geschichte gekämpft, ich bin stolz auf diese Hartnäckigkeit.

Penetranz in ihrer schönsten Form!
 

Stray

vol.13: Endlos wie das Meer
 

Antti: Bruised
 

(…)
 

Jetzt da ich älter,

Hehl' ich die Pein,

Schließe den Kummer

Im Innersten ein.
 

Denn ich erfuhr es:

Kalt ist die Welt,

Und nur der Antheil

Lindert, was quält.
 

(...)
 

aus: Franz Grillparzer: Schweigen
 

„Karasu?“

Ein trüber Montagmorgen, es war fast finster im Flur vor Karasus Zimmer, der Himmel draußen war bewölkt und schien so schwer, als würde er jeden Augenblick zur Erde stürzen; es würde regnen, schon wieder.

Aber ich hatte mich in den vergangenen zwei Tagen gefangen, wenn es mir auch nicht leicht gefallen war. Ich hatte geschwiegen, hatte gehungert, hatte mich eingeschlossen, hatte dann und wann ein wenig geweint; und jetzt lebte ich weiter, irgendwie, und versuchte, nachts traumlos zu schlafen.

Ich klopfte mit den Fingerknöcheln an Karasus Tür; wahrscheinlich war er noch nicht wach, es war vormittags. Nach dem zweiten Klopfen hörte ich ihn von drinnen rufen. „Komm endlich rein!“

„Schläfst du noch?“ Es war dunkel im Zimmer; die Vorhänge waren noch vorgezogen; Karasu lag auf seinem Bett, die Decke halb heruntergestrampelt, einen Arm hinterm Kopf verschränkt, und starrte mir entgegen.

„Seh ich so aus?“

„Ich hab Kaffee gemacht, wenn du willst. Mari wollte vorbeikommen wegen der Outfits für heut Abend.“

„Mir egal. Ich bin zufrieden mit meinem.“ Karasu gähnte und rollte sich aus dem Bett, tappte zum Fenster, um erst Vorhänge und dann Fensterläden aufzureißen. „Wirf mal meine Kippen rüber.“

Ich fand die angebrochene Schachtel auf dem Boden und folgte dem Befehl.

Wir hatten am Abend einen Gig im Eden, einen von mehreren in dieser Woche. Ich konnte nicht sagen, dass ich unbedingt in der Stimmung dazu war, aber vielleicht würde es helfen, meine Gedanken auf etwas anderes zu richten. Das hatte mir zumindest mein Mitbewohner versucht einzureden, und ich glaubte ihm.

Ja, ich stand gern auf der Bühne; ich fühlte mich wohl mit den anderen Bandmitgliedern, und noch dazu hatten wir ein paar neue Songs zu präsentieren, was für mich jedesmal aufregend war, denn die meisten Texte waren von mir.

Ich war extra früh aufgestanden, um mich vorzubereiten; dass ich die Probe am Samstag versäumt hatte, hatte sich am Sonntag bereits sträflich bemerkbar gemacht, und ich wollte mir auf gar keinen Fall einen Fehltritt erlauben. Es gab so viele Bands in der Stadt, wir hatten einen Ruf zu verlieren. Swan war mein Baby.

Und ich liebte die langen Tage vor den Auftritten, wenn die ganze Welt den Atem anzuhalten scheint, nur für einen allein; wenn die Luft klarer scheint als sonst, die Stadt heller, jedes Wort bedeutungsvoller.

Ja, es tat mir gut, jetzt auf diesen Abend hinzuleben. Das war meine Welt. Dort war alles noch in Ordnung.

Karasu steckte sich am offenen Fenster hinter vorgehaltener Hand die Zigarette an und nahm einen hastigen Zug, eine Hand in der Tasche seiner leichten Stoffhose, in der er wohl geschlafen hatte. Er stieß den Rauch durch die Zähne aus und zischte leise, sah starr mit leicht zusammengezogenen Brauen in die dräuenden Wolkenmeere über den Dächern. „Scheiß Regen.“

„Es regnet nicht.“

„Es regnet die ganze Zeit; als ob sich jemand an die kurzen Pausen dazwischen erinnern würde.“ Das Ende der Zigarette glühte auf, als er ein weiteres Mal einen tiefen Zug nahm, Karasu trommelte mit den Fingern auf dem Fensterbrett.

„Zieh dir was an, Mari wollte um elf hier sein.“ Ich wandte mich zum Gehen. „Kaffee ist unten.“

„Wird er nicht.“

„Was?“

„Bist du taub? Wird er nicht, hab ich gesagt. Mari war gestern Abend aus, Alice hats mir gesagt. Der kommt auf keinen Fall vormittags schon aus den Federn.“ Er wandte sich zu mir und stützte sich mit den Ellbogen auf das Fensterbrett, sah mich provokativ abschätzig an. „Du musst nicht immer springen, wenn andere Leute dir irgendwas sagen, weißt du. Eine deiner vielen schlechten Angewohnheiten.“

„Ich wusste ja nicht, dass er weg war“, verteidigte ich mich automatisch; ich nahm seinen Tonfall schon gar nicht mehr richtig zur Kenntnis.

„Hat sich einen Freund von deinem Verflossenen abgeschleppt.“

„Einen Freund von Sakuya? Welchen?“

„Woher soll ich das wissen? Ist doch alles der gleiche Abschaum.“

„Karasu...“

„Was?“ Er drückte die Zigarette im Aschenbecher neben sich aus und funkelte mich an. „Ich sag nur, wenn er die ganze Nacht hindurch irgendeine willige Schlampe vom Rudel um den Verstand gevögelt hat, ist er definitiv nicht um elf hier, du kannst dich also entspannen.“

„Ich hasse es, wenn du so redest.....“ Ich hatte unwillkürlich die Stirn in die Hand gestützt, als er redete, presste die Zähne zusammen.

Er zuckte die Schultern. „Ich weiß. Ist mir egal.“

Er ging an mir vorbei und griff sich ein T-Shirt von einem Stuhl, wollte ins Badezimmer gehen; als er mich passierte, fiel mir etwas auf, und ich hielt ihn am Arm fest. „Hey. Warte mal.“

„Was ist?“ Er entwand sich mir und sah mich feindselig an wie ein in die Ecke gedrängtes Frettchen.

„Du hast es schon wieder gemacht.“

Karasu stand halb von mir abgewandt, die Arm an sich gezogen, den Kopf leicht weggedreht, aber er trug nichts am Oberkörper; normalerweise versteckte er seine Narben nicht vor mir. Aber er wusste, dass ich jede einzelne davon verhindern würde, wenn ich könnte, wenn er mich nur ließe. Und ich meinerseits wusste, dass die feinen roten Spuren auf seiner Brust, die auf der hellen Haut erblühten wie Krallenhiebe eines kleinen Vogels, der in seiner Haut zitterte und mit den Flügen schlug und zu entkommen versuchte, dass diese Spuren keine Narben waren, noch nicht, sondern frisch. „Das geht dich nichts an.“

„Klar geht mich das was an!“

„Lass mich in Ruhe“, fauchte er, versuchte mich zur Seite zu stoßen; er war stärker als ich, aber ich hatte damit gerechnet, und hielt ihn fest.

„Ich hab doch gesagt, du kannst immer mit mir reden, wenn etwas ist!“

„Du verstehst das nicht!“ Er schubste mich von sich, riss grob meine Hand von seinem Arm.

„Ich will dir nur helfen!“

„Fick dich, ich brauch dein Mitleid nicht!!“

Er stand vor mir, stieß schnaubend den Atem aus, die Arme vor der Brust verschränkt, und sah mich an, als täte es ihm leid, dass ich ihn so gesehen hatte. Ich wusste, dass es das nicht tat, das tat es nie, zumindest schien es so. Das einzige, was ihm leid tat, war, dass ich nicht aufhörte, ihn darauf anzusprechen; auf die Art hatte ich ihn überhaupt erst kennengelernt. Ich erinnerte mich wie seine Augen damals geglüht hatten, als er meine Hand von sich riss und mir ins Gesicht schlug; ich erinnerte mich ebenfalls daran, wie ich minutenlang, wie es mir schien, vor verschlossener Tür gestanden hatte, ehe ich begann, mich zu wundern, ob das Blut an meinen Fingern meines war oder seins.

Er hatte mich geschlagen, er hatte mich beleidigt, er hatte mich wochenlang vor und nach diesem Abend genauso geschnitten wie die anderen Menschen in unserer kleinen Reisegruppe, von welchen er ebenfalls nichts hielt. Er hatte mich von Anfang an ausgelacht und sich durchgängig geweigert, mit mir auf einer Bühne zu stehen.

Aber er hatte in jener Nacht so einsam gewirkt, so verzweifelt, dass ich mich nicht mehr im Spiegel hätte ansehen können, hätte ich ihn nicht angesprochen, als ich ihn fand.

Er sagte noch heute, er hasste es, dass ich ihn nicht in Frieden ließ; er sagte, ich sei unerträglich. Ich hatte ihm nie die Frage antun wollen, warum er mich dann Wochen darauf nicht einfach zurückgelassen hatte. Im Grunde wusste ich es ja schon lange.

Ich wünschte nur, er würde mir genug vertrauen, mir nicht genausoviel vorzumachen wie dem Rest der Welt.

So erwiderte ich seinen Blick nur eine Weile stumm. „Du bist mein bester Freund“, war dann das Einzige, was ich leise sagen konnte.

Karasu wandte den Blick ab und schloss kurz die Augen, atmete tief durch, drehte sich dann von mir fort, in Richtung Badezimmer. Das Gespräch war beendet. „Lass mir eine Tasse Kaffee übrig.“
 

Jamie: Mad World
 

Diese Neigung, in den Jahren,

da wir alle Kinder waren,

viel allein zu sein, war mild;

andern ging die Zeit im Streite,

und man hatte seine Seite,

seine Nähe, seine Weite,

einen Weg, ein Tier, ein Bild.
 

Und ich dachte noch, das Leben

hörte niemals auf zu geben,

daß man sich in sich besinnt.

Bin ich in mir nicht im Größten?

Will mich meines nicht mehr trösten

und verstehen wie als Kind?
 

(...)
 

-aus: Rainer Maria Rilke: Mädchenklage
 

Ich war auf der Suche nach Junya.

Es war beim Frühstück gewesen, dass ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte; er schien sich von mir zurückzuziehen in den letzten Tagen, und das verwirrte mich, und verletzte mich. Ich hatte Rose angesprochen, ihn gefragt, ob er wusste, was los war, doch Rose hatte mich nur entschuldigend angelächelt, die Schultern gehoben. Er hatte keine Ahnung. Ich hatte sicher eine Stunde mit ihm in der Küche gesessen, ihm mit leiser Stimme erzählt, was mich bedrückte. Es war nicht viel, ich hatte fast das Gefühl, ich machte mich lächerlich; immer wieder hatte ich das Gefühl, Junya ginge mir aus dem Weg; doch dann, er kam immer wieder zu mir, er nahm mich in den Arm, er war so liebevoll, hielt mich sanft, als könnte ich zerbrechen, und ich liebte sein Lächeln, so warm und ehrlich, liebte die zarte Berührung seiner Lippen.

Rose hatte sich zu mir auf die Küchenbank gesetzt, einen Arm um meine Schultern, und sein Bestes getan, mir meine Gedanken auszureden – je mehr er auf mich einsprach, desto mehr hatte ich das Gefühl, ernstgenommen zu werden, dass es okay von mir war, mir Sorgen zu machen, und nicht kindisch; und seltsamerweise gleichzeitig das Gefühl, dass alles in Ordnung war. Seine ruhige Stimme war so beruhigend gewesen, vermischt mit dem leisen Singen der Vögel draußen am Schuppen durch das offene Fenster, dem leisen Gespräch der Zwillinge im Wohnzimmer, und Teufels Bellen. Ich erinnere mich nicht mehr ganz genau, was Rose zu mir gesagt hatte; aber ich weiß, dass sein Arm um mich lag, ohne mich zu bedrängen, er zog mich in keiner Weise an sich, aber ich legte von allein den Kopf auf seine Schulter, ich erinnere mich dass er leise lachte, nicht spottend, eher liebevoll. Er hatte so eine wunderbare tröstende Art an sich, seine Stimme war wie warme Milch, so sanft. In seiner Gegenwart, wenn er es denn wollte, fühlte man sich einfach so geborgen. Ich glaube, das wusste er.

Jetzt war ich in meinem Zimmer gewesen; Junya hatte seit jener Nacht nicht mehr in meinem Bett geschlafen, was mich weniger wunderte, als man meinen könnte...um ehrlich zu sein, es erleichterte mich ein wenig. Darüber redete ich mit Rose allerdings nicht. Lieber wäre ich im Erdboden versunken. Mit meinem Talent, beidbeinig in jedes Fettnäpfchen zu springen, würde ich sicherlich mit niemanden über dieses Thema sprechen, erst recht nicht mit Junya selbst, und so schien er sich glücklicherweise von alleine zurückzuhalten.

Schließlich, er war schon über zwanzig. Ah, da waren die Gedanken wieder!

- Ich sollte vielleicht mit meinem Bruder reden. Es war jetzt Montag, wir hatten den Sonntagnachmittag zusammen verbracht, waren mit Teufel durch die Stadt gegangen, Sakuya hatte mir die Gegenden in der Innenstadt gezeigt, die ich noch nicht gut kannte. Wir hatten nicht viel gesprochen, zumindest nichts Wichtiges, hatten die Gegenwart voneinander genossen.

Saku war wieder so entspannt, diese Bitterkeit, der harte Zug in seinen grauen Augen war verschwunden, wenn er auch ab und zu etwas traurig wirkte, wehmütig fast, doch immer nur für eine Sekunde, und darauf war ich mir wieder sicher gewesen, es mir einzubilden.

Und Sakuya hatte mir versprochen, mich auf einer Fahrt auf seinem Louis mitzunehmen. Ich war nicht sicher, ob ich das wagte, aber ich freute mich wie ein kleines Kind darauf; er grinste, weil er es mir, glaube ich, ansah. In einem Arm hielt er mich, in der anderen Hand Teufels Leine, und lachte, kickte mit dem Fuß eine leere Dose auf dem Kopfsteinpflaster fort. „Du wirst nicht runterfallen, ich pass schon auf dich auf.“

„Ich hab keine Angst.“

„Ich weiß.“
 

Ich war so froh, dass es ihm besser ging. Und wie bescheuert von mir, zu glauben, er hätte weniger Zeit für mich, weil er Fuchs wiederhatte! Wir konnten zum ersten Mal seit Wochen wieder miteinander herumalbern, gemeinsam Zeit verbringen, ohne etwas Bestimmtes dabei zu tun. Ich sah ja nach wie vor zu ihm auf, ich glaube, er genoss das. Er erzählte mir von der Zeit, in der das Haus hergerichtet worden war, mit Rose und Fuchs und einem weiteren Bekannten zusammen, und ich saß einfach nur neben ihm auf der Bank vor dem Haus, die Beine auf seinem Schoß und eine Tasse Kaffee in der Hand, und hörte zu, beobachtete das Lächeln in seinen Augen, wenn es auch seine Lippen selten erreichte, doch das war ich fast gewohnt. Er wirkte wie ein Intellektueller, wie er da saß, ganz entspannt, nur mit leichten Gesten redend, er hatte ein ziemlich hohes sprachliches Niveau, wie ich fand, wenn er ruhig erzählte, mit einer Brille hätte er ausgesehen wie ein Schriftsteller, wären nicht die immer misstrauisch glitzernden Augen gewesen, und die schwere schwarze Kleidung, das Leder seines Mantels, die fingerlosen Lederhandschuhe, die schweren Stiefel; er hatte ein Bein übergeschlagen, der Knöchel ruhte auf dem linken Knie, ein silbern benietetes Lederband glitzerte darum, die Schnürsenkel waren straff gebunden, um sicheren Halt zu geben.

Natürlich verbrachte Sakuya auch seine Zeit mit Fuchs – doch das geschah eher auf eine so selbstverständliche Art, als wäre es gar nicht anders denkbar, als dass sie Seite an Seite anzutreffen waren; und so war es wohl auch, wenn ich es auch nicht so von ihnen kannte. Es schien, als wären sie nie auseinander gewesen; ich erlebte es mehrfach, dass ich in eines ihrer Gespräche platzte, oder eher dazustieß, da sie es nicht unterbrachen, und auch nicht mussten: ich verstand nichts von dem, was sie einander mitteilten. Es waren viel zu viele Andeutungen und Halbsätze im Gespräch enthalten, und ständig wechselte ohne Vorwarnung das Thema, soweit ich das sagen konnte. Ich bezweifle, dass ihnen beiden das bewusst war.

So oder so, ich freute mich für die zwei, auch wenn ich nicht sicher war, was nun zwischen ihnen geschah. Es wurden soviele bedeutungsvolle Blicke ausgetauscht, dass ich schon gar nichts mehr hineininterpretieren wollte, und auch eine Berührung an der Schulter hier, ein Aneinanderlehnen dort, war alltäglich; am Vortag, also am Sonntag, hatte ich Saku vor dem Fernseher mit dem Kopf in Fuchs' Schoß schlafend gefunden.

Yukio ließ sich nicht von seiner felsenfesten Überzeugung abbringen, dass die beiden ein Paar wären; Diego widersprach, allerdings, wie ich misstrauisch annahm, wohl aus Prinzip.

Ich selber glaubte das nicht unbedingt; ausschließen wollte ich es aber auch nicht, erst recht nicht als Ilja sich irgendwann einmischte und Yuki zustimmte.

Rose als ausgewiesener Experte für Zwischenmenschliches legte daraufhin nur den Kopf leicht schräg, hob die Schultern. „Dass da überhaupt nichts laufen soll, kann mir keiner erzählen. Die lieben einander.“

Und damit hatte sich das Thema an diesem Tag erledigt.

Ich hätte Saku auch fragen können. Aber...

Ich erwähnte es bereits. Lieber nicht.
 

Was Yukio selber anging, der war am Sonntag noch ausgesprochen guter Laune gewesen, und ich hatte mich für ihn gefreut; noch am Abend hatte ich im Badezimmer auf dem Toilettendeckel gesessen und ihm Gesellschaft geleistet, als er sich zum Ausgehen fertigmachte, und mich dabei fröhlich über mein Liebesleben ausfragte, was ich eher einsilbig beantwortete. Es schien ihn nicht zu stören. Er ging ganz in Schwarz, hatte sich die Haare geglättet, und ich war baff, wieviel Makeup er verwandte, um so natürlich auszusehen.

Als er mich zum Abschied drückte, konnte ich nicht anders, als die Umarmung zu erwidern, und, danach errötend, fast albern zu kichern, als er mir einen Kuss auf die Wange drückte und dann aus dem Bad verschwand.

Das war mir unglaublich peinlich gewesen.
 

Ich hatte keine Ahnung, was an jedem Abend noch geschehen war; ich erfuhr jedenfalls von Valentin, welcher als Einziger von uns noch wach gewesen war, dass in den frühen Morgenstunden die Tür ziemlich geräuschvoll ins Schloss gefallen war, und gerade ehe er den ersten Stock erreicht hatte, Yukio im Bad verschwunden war, auch jene Tür hinter sich ins Schloss werfend.

Auf Valentins Eintreten und Nachfragen hin hatte der Kleinere sich verteidigend mit dem Rücken vor den Badezimmerspiegel gestellt, trotzig das Kinn gehoben, wollte in Ruhe gelassen werden.

Valentin hatte versucht, mit ihm zu reden, ihn zu beruhigen, Yuki war immer lauter geworden, wollte nicht darüber reden, wollte alleine sein; bis Val ihn irgendwann soweit beruhigen konnte, dass der Blonde nicht das ganze Haus zusammenschrie, nur wenige Stunden vor Sonnenaufgang.

Yuki hatte geweint, sich mit dem Handballen über die Augen gewischt, sein Makeup war schon längst fortgewischt, seine Lippen hatten gezittert, als er Valentin immer wieder sagte, er sollte ihn in Ruhe lassen.

Jener war auf ihn zugegangen, wollte ihn in den Arm nehmen, ihn trösten; der sonst zu Zutrauliche hatte den sonst so Distanzierten von sich geschoben und war aus dem Bad gegangen, ihm nur einen undeutbaren Blick über die Schulter hinweg zuwerfend, und war in seinem Zimmer verschwunden.

Als Valentin ihm nachgegangen war, war die Tür bereits abgeschlossen gewesen, und Yukio antwortete auf keine Frage hin, bis auf die eine, ob etwas mit Marius gewesen wäre.

Niemand sollte zu Mari gehen, war nachdrücklich erwidert worden. Niemand sollte mit ihm reden, oder auch nur seinen Namen erwähnen.

Das war alles, was wir bis dahin wussten.

An diesem Morgen, oder besser Vormittag, war Yuki zwar aus seinem Zimmer gekommen, umgezogen und mit völlig normaler Miene, überhörte allerdings geflissenhaft jede Nachfrage, sogar Roses, er reagierte nicht einmal auf den um ihn gelegten Arm, machte sich los, ging einfach nur in die Küche und goss sich ein Glas Milch ein.

Irgendwann hatte Rose es frustriert aufgegeben.

Dann kam langsam der Zeitpunkt, an dem ich mit Rose in der Küche gesessen hatte, und irgendwann in mein Zimmer verschwunden war, wo ich eine Weile lang auf meinem Bett gesessen hatte; ich hatte Sakus Cd-Player dabei, hatte Musik hören wollen, konnte mich aber nicht konzentrieren, und so hatte ich ihn wieder ausgeschaltet, starrte versunken an die Wand, an deren hölzerner Verkleidung trübes Sonnenlicht tanzte. Soviele Dinge geschahen um mich herum, die ich nicht verstand; Sakuya und Fuchs, Yuki und Mari, und jetzt Junya. Wenn nicht mein Bruder so unerschütterlich an meiner Seite gestanden hätte, hätte ich gedacht, die ganze Welt ginge durcheinander.

Doch selbst so hatte ich das Gefühl, vor einer Wand zu stehen, einem riesigen Spiegel besser gesagt, der mir nur mein eigenes fragendes Gesicht zeigte anstatt dem, was dahinter lag.

Und ich fühlte mich wieder so jung und dumm, und das hasste ich. Ich wollte die anderen um mich herum verstehen, aber das konnte ich nicht.

Wie sollte ich jemandem helfen können, wenn ich mich fühlte wie ein Kind?
 

Also war ich wieder aufgestanden und durchs Haus getigert, auf der Suche nach meinem Freund, der mal an meiner Seite war, und mal wortlos fort.

Gerade in diesem Moment, glaube ich, brauchte ich ihn; ich sehnte mich nach ein wenig Frieden in seinen Armen.

Das waren mehr oder weniger die Ereignisse die vergangenen Tage in geraffter Form gewesen, als ich nun wieder ins Wohnzimmer trat.

„Kannst du mich nicht einmal in Ruhe lassen; kannst du nicht wenigstens einen Tag lang mal so tun, als würdest du dich für die wichtigen Dinge im Leben interessieren, und nicht nur für deine Fickgeschichten?“

Ich musste einen Satz zur Seite machen, um einer Tasse Kaffee auszuweichen, die von Diego gefährlich schwappend am Henkel gehalten wurde; der Schwarzhaarige trug ein lockeres T-Shirt und eine alte Jeans und sah übernächtigt aus, dunkle Strähnen hingen ihm ins Gesicht, und seine Augen waren gerötet, den Blick hatte er starr auf das Objekt seiner Rage gerichtet, Yuki.

Jener hatte die Hände zu Fäusten geballt, die Augen mordlüstern verengt, es fehlte nicht viel, und er hätte die Zähne gefletscht. „ Du ARSCH, wie wärs wenn du mal nicht so asozial bist, oder mal mit uns redest, anstatt die Nächte in deinem Zimmer durchzumachen wie ein beschissener Nerd, ja, und allen auf den Geist zu gehen mit deiner ewigen Paranoia; niemand hier kann was dafür, wenn du Schiss hast, und glaub nur nicht, dass ich so mit mir reden lassen, schon gar nicht von einem dahergelaufenen...Assi wie dir!“

„Ah ja, was verstehst du denn, du hast doch deinen Kopf auch nur damit's nicht in den Hals regnet; hör auf mir auf den Sack zu gehen, ja? Hör einfach auf! Ilja, nimm die Finger weg, das geht dich einen Dreck an, er soll sich selber mal verteidigen!“

Der großgewachsene Blonde hatte Diego die Tasse abgenommen, die inzwischen wirklich übergeschwappt war, und ihm eine Hand auf die Brust gelegt, drängte ihn mit sanfter Gewalt zurück Richtung seines Zimmers, dabei bemüht, zwischen Diego und Yuki zu stehen, wobei sich der Spanier seinem Griff zu entwinden versuchte, und auch der Kleinere kurz davor war Diego trotz der körperlichen Ungleichheit anzugehen. „Diego.... Diego! Alle beide! Beruhigt euch! Diego, du hast nicht geschlafen, geh in dein Zimmer, lass es nicht an ihm aus -“

„Lass mich los, hab ich -“

„Halt die Schnauze und geh in dein Zimmer, sofort, sonst schwöre ich, ich prügel dich dahin!“

„Wenn du es -“

„SOFORT!“ Ilja drückte Diego die Tasse in die Hand, der Spanier baute sich vor ihm auf, war tatsächlich ein wenig kleiner als sein Freund aus dem Osten; für einen Moment sah es so aus, als wollte er sich tatsächlich mit Ilja schlagen, überlegte es sich dann aber anders, riss dem Russen die Tasse weg und richtete noch einen Finger auf Yuki, ehe er in seinem Zimmer verschwand.

„Wir sprechen uns noch!“

Yuki fauchte. „Weißt du was, Diego, fick dich! FICK DICH!“

„Yukio, du auch, halts Maul!!“

„Ich schwöre dir, Ilja, wenn du nur versuchst -“

„Weißt du was?“ Ilja ging jetzt auf Yuki zu, so dicht, dass jener zurückwich und mit dem Rücken ans Sofa stieß, und den Kopf recken musste, um dem Russen weiterhin ins Gesicht zu sehen. „Ich bin so kurz davor, einem von euch eine zu verpassen; du weißt genau, dass ich das tun würde. Also halt endlich den Mund und verpiss dich hier, und ich will kein Wort mehr von dir hören, ehe du dich nicht beruhigt hast!“

Yuki zischte durch die Zähne und stieß sich vom Sofa ab, verpasste Ilja im Vorbeirempeln eins mit der Schulter und verschwand in der Küche, die Tür mit Macht hinter sich ins Schloss werfend.

Ilja wandte sich in der entstandenen Stille um und erblickte mich, der ich die ganze Zeit über in einer Art Schreckstarre am Treppenabsatz gestanden hatte, und nun unwillkürlich ein Stück kleiner wurde, als ich die blitzenden goldenen Augen des Größeren auf mir spürte. „Oh. Hey, Jamie.“

„Äh...ähhh...“

„Schon okay....komm ruhig rein, hat nichts mit dir zu tun. Tut mir leid, dass du das mitansehen musstest, ab und zu kracht es hier mal.“

„Was war denn los...?“ Ich bewegte mich vorsichtig zum Sofa, auf leisen Sohlen, fast bedacht kein Geräusch zu machen, als würde das etwas ändern. Aber der Schreck saß mir kalt im Magen, und ich hatte einen Kloß in der Kehle, als hätte ich etwas zu Großes schlucken müssen; ich umfasste meinen linken Arm mit dem rechten und rieb ihn gedanklich abwesend, hockte mich mit angezogenen Knien aufs Sofa.

Ilja hob leicht die Schultern. „Ich weiß es leider selber nicht genau; die zwei lagen sich schon in der Wolle, als ich dazukam. Nur, die beiden lassen nicht anders mit sich reden, zumindest Yuki nicht; und ich kenne Diego, das hat noch ein Nachspiel für mich.“

„Tut mir leid....“

Er sah mich überrascht an, hob eine Augenbraue. „Wieso?“

Ich zuckte die Schultern, zog die Knie enger an mich, sie mit den Armen umfassend. Ich fühlte mich elend. Ich konnte solchen Streit um mich herum nicht ertragen; erst recht dann nicht, wenn er Menschen betraf, die mir wichtig waren. Sicher, ich wusste, dass das normal war, dass es auch unter guten Freunden vorkam, dass sie sich anschrien und Dinge an den Kopf warfen, dennoch... Ich selber tat das nicht, ich könnte es nicht. Ich konnte es einfach nicht verstehen. Und jedesmal, wenn ich so etwas mitanhören musste, war es, als würde etwas in mir brechen.

Ich hatte Yuki gern, mit seiner lieben anschmiegsamen Art; und ich hatte auch Diego gern, mit seiner kumpelhaften Ehrlichkeit. Und ich war mir sicher, dass die zwei sich auch gegenseitig mochten; zumindest sah ich sie oft genug auch im Guten miteinander herumalbern. Aber fast genauso oft stritten sie aufs Heftigste, und das verstand ich nicht.

Ilja seufzte, trat hinter mir ans Sofa, zauste mir mit einer Hand die Haare. „Hey, Kleiner, mach dir keinen Kopf. Die beiden sind Dickschädel, die geraten immer mal wieder aneinander. Lass ihnen ein wenig Zeit, um zur Besinnung zu kommen, und du wirst sehen, genauso schnell vertragen sie sich wieder; die lieben sich, wollen es nur nicht zugeben. Musst du dir nicht so zu Herzen nehmen; wir sind einfach alle angespannt, sind schwere Zeiten.“

„Ich kann das nicht haben, wenn Leute so miteinander umgehen“, murmelte ich, erwartete halb, dass Ilja mir sagen würde, dass ich lernen müsste, damit klarzukommen; er hatte ja recht, es waren schwere Zeiten.

Tat er aber nicht.

„Dafür hast du ja uns. Bleib bloß so, wie du bist. Wenn mal was ist, du kannst immer zu mir kommen, okay?“

Ich sah zu ihm auf, nickte, lächelte ein wenig. „Okay.“
 

Antti: ...that which we are, we are
 

Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.
 

Friedrich Nietzsche
 

Ich saß im Wohnzimmer, eine Tasse Tee in den Händen, und sah abwesend auf einem kleinen Notebook eine Aufzeichnung eines alten Gigs von uns an; ich konnte mich gar nicht wirklich auf das konzentrieren, was ich sah, ohnehin kannte ich das verwackelte, pixelige Video auswendig.

Mari war hier gewesen; ein paar Minuten zu spät zwar, aber dennoch.

Er sah allerdings furchtbar aus, für seine Verhältnisse; er hatte sich allergrößte Mühe gegeben, sich halbwegs tageslichttauglich herzurichten, aber man konnte sehen, dass er nicht oder schlecht geschlafen hatte; seine Augenlider waren schwer, und sein Blick etwas glasig, wie abwesend, er schien nicht ganz bei der Sache zu sein.

Zu mir war er so lieb wie immer, nahm mich zur Begrüßung in den Arm; auf meine Frage, ob alles in Ordnung wäre mit ihm, lächelte er mich nur süß an, winkte ab. Er sagte, er habe nicht geschlafen, es ginge ihm nicht so gut, er wollte daher auch nicht lange bleiben, und das glaubte ich ihm aufs Wort. Ich wünschte, er würde mir dennoch alles sagen, was passiert war, und das sagte ich ihm auch. Mari senkte darauf nur den Blick, schüttelte dann den Kopf. Das sei sehr persönlich, meinte er, er könnte nicht darüber reden, aber es wäre alles in Ordnung. Wirklich.

Ich drang nicht weiter in ihn, weil ich fürchtete, ihm zu nahe zu treten; das letzte was ich wollte, war, diesen lieben Jungen zu verletzen; zum Glück kannte Karasu diese Hemmungen nicht. Er hatte Mari die ganze Zeit über relativ stumm beäugt, und nachdem ich Mari zum Abschied eine ganze Weile länger als nötig im Arm gehalten hatte, was er seinem an mich Schmiegen nach genossen hatte, hatte Karasu ihn noch zu unserer Haustür gebracht, und war einige Minuten lang dort mit ihm geblieben, während ich mir also noch eine Tasse Kaffee gemacht hatte und im Wohnzimmer auf ihn wartete.

Als er zurückkam, ließ er sich nur neben mir aufs Sofa fallen, legte die Füße, an denen er wie gewohnt keine Socken oder Schuhe trug, auf den Tisch, zog sich eine Zigarette aus der Blazertasche und steckte sie sich an.

Ich wartete, bis er seinen ersten Zug getan hatte, ehe ich das Notebook zuklappte und ihn ansprach. „Und?“

„Er will nicht drüber reden.“

„Hast du nicht nachgefragt?“

„Ist doch seine Sache, oder? Wenn er meint, das geht mich nichts an, dann interessiert es mich auch nicht.“

„Du warst so lange weg, worüber habt ihr geredet?“

Er saß neben mir, den Kopf nach hinten an die Lehne gekippt, stieß den Rauch über halbgeöffnete Lippen aus; er strich sich wie unbeabsichtigt mit schwarzlackierten Nägeln einige Haarsträhnen nach vorne, so dass er mich nicht direkt ansehen konnte, als er den Kopf ein wenig wandte; die Spitze der Zigarette glomm auf, als er daran zog. „Er ist ziemlich niedergeschlagen; ich hab nur versucht ihn aufzumuntern; ihm gesagt, er soll nicht soviel auf andere Leute geben.“

„Oh...“ Ich biss mir auf die Lippe; wenn ich jetzt näher darauf einging, würde er wahrscheinlich wieder abblocken. Ich hatte immer allen Leuten versichert, dass er ein guter Kerl war; nur machte er meistens all meine Bemühungen wirkungsvoll und mit einer gewissen Freude an der Sache wieder zunichte.

„Ich bin kein komplettes Arschloch, Antti.“

„Nein, mir gegenüber nicht. Für alle anderen bist du ein fleischgewordenes russisches Roulette.“

Karasu fing an zu lachen, ließ den Kopf nach hinten fallen, der Rauch kam mit seinem heiseren Gelächter über seine gepiercten Lippen; ich musste schmunzeln, es kam selten vor, dass ich ihn lachen hörte. Seine Augen funkelten, er grinste breit, als er sich nach vorne lehnte und die Kippe in den Aschenbecher drückte, er biss sich kurz auf ein Piercing und lachte dann wieder leise, als er sich zurücklehnte und mich ansah. „Das war episch.“

„Ich mach mir Sorgen um Mari.“

„Mari ist nicht aus Zucker wie du. Der kommt zurecht.“

„Das war nicht nötig.“

„Du weißt, dass es stimmt. Konzentrier dich auf den Gig heute, nicht auf Mari. Der berappelt sich schon wieder.“

„Und was ist mit dir?“

„Was soll mit mir sein?“

Ich wies mit dem Kinn auf seine Brust, wo die Verletzungen jetzt durch ein Tanktop verdeckt waren. Karasu sah mich nicht an.

„Mir geht’s gut.“

„Ist das wegen Fuchs?“

„Hör auf.“

„Sags mir.“

„Ich werds dir nicht sagen, also kannst du genauso gut aufhören zu fragen.“

„Karasu...“

Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, ließ den Kopf wieder kurz zurückkippen, wandte sich dann um und funkelte mich an. „Hör zu, verdammt nochmal. Ich sag dir das genau einmal. Du bist viel zu sensibel, du denkst immer nur an andere Leute, und nicht an dich. Das ist nicht gut für dich, irgendwann wird dich das wirklich umbringen. Zurzeit geht’s dir unglaublich dreckig wegen Sakuya; okay, es gibt gute und schlechte Tage, aber glücklich, wirklich glücklich, hab ich dich schon lange nicht mehr gesehen. Jetzt ist Sakuya mit Fuchs zusammen, und du erträgst es wie der Masochist der du bist, dann kommt Mari und hat irgendwelche Probleme, womit auch immer, und er will nicht darüber reden, weil er genau weiß, dass du mit ihm leiden wirst.

Den Teufel werd ich tun und zu dir kommen, wenn es mir schlecht geht!“ Ich wollte etwas sagen, er schnitt mir mit erhobener Hand das Wort ab. „Nein, ich weiß dass du mir helfen willst. Und ich verspreche dir, wenn es mir jemals wirklich, wirklich schlecht gehen sollte, und ich das Gefühl habe, nicht mehr alleine klarzukommen, dann bist du der Erste, und wahrscheinlich der Einzige, der es erfährt. Okay? Bis dahin – Nein. Nicht, weil ich glaube, dass du schwach wärst; du bist sogar der stärkste Mensch, den ich kenne. Ich versuche nur, dich vor dir selbst zu schützen. Das musst du hinnehmen, falls du sentimentaler Mistkerl das überhaupt kannst. Jedenfalls, aus genau diesem Grund kann und werde ich nicht mit dir über solche Sachen reden. Zumindest nicht im Augenblick.“

Ich sah ihn mit großen Augen an, und klappte den Mund auf, um etwas zu sagen, auch wenn ich noch nicht sicher war, was.

„Verdammt nochmal, nimm es einfach hin, du penetranter....Finne!“

Ich klappte den Mund wieder zu, schluckte hinunter was ich ihm am liebsten gesagt hätte, und nickte nur stumm, die Lippen aufeinandergepresst.

Karasu stieß den Atem aus und stützte die Arme auf die Knie, fuhr sich mit beiden Händen durch die ohnehin wirren Haare, sah mich dann von der Seite her an. „Hast du Lust, dir 'Saw' anzusehen?“

Ich konnte nicht anders, ich musste kurz auflachen. „Klar.“
 

„Du bist sicher, dass du zurechtkommst?“

„Alles in Ordnung. Ich freu mich auf heut Abend. Ich meine, die letzten Tage waren hart, aber alle sind am Leben und gesund, oder? Ich brauch einfach ein bisschen Zeit. Aber mir geht’s gut.“

„Red nicht solchen Schwachsinn daher. Ich weiß, dass es dir beschissen geht, und dass du nur noch durch Willensstärke zusammenhältst.“

„Ist schon okay.“

„Warum verlangst du von mir immer, dass ich mich mit meinen sogenannten Gefühlen auseinandersetzen soll, wenn du selber gerade nur verdrängst, was dich runterzieht?“

„Was bringt dich darauf, dass ich was verdränge?“ Ich biss mir auf die Lippe. „Halt still.“

„Ich kenne dich besser, als gut für dich ist. Wenn du wirklich so gelassen wärst, würde ich mir Sorgen machen, ob du was geraucht hast. - Au!“

„Du musst stillhalten! Ich bin schon fertig.“ Ich ließ die Pinzette sinken, und Karasu rieb sich mit dem Handballen über die gerötete Haut um seine Augenbrauen. „Würde es was helfen, wenn ich weine und schreie? Hätte es was geholfen, wenn ich in Panik geraten wär, als du Fuchs gefunden hast? Oder bekomm ich Sakuya zurück, wenn ich mich in meinem Zimmer verkrieche?“

„Natürlich nicht, das ist ja meine Rede!“

„Warum willst du dann nicht, dass ich Sachen verdränge? Ich meine, habe ich eine Wahl? Ich muss ja wohl damit leben.“

„Hey, du kannst viel wegstecken, aber nicht alles. Ich mach mir nur Sorgen.“

„Oh.“ Ich lächelte ihn etwas überrascht an, Karasu saß im Schneidersitz vor mir auf dem Boden, neben sich einen Spiegel an die Wand gelehnt, und zupfte sich kritisch an einer roten Haarspitze herum. „Danke, das ist süß von dir.“

„What the – spar dir die dummen Kommentare und kümmer dich um mein verficktes Makeup, okay?“

Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken; sein Worte zuvor hatten meine Gelassenheit ins Wanken gebracht, er hatte Recht. Es ging mir nicht gut. Ich dachte nur an den Auftritt, und das war in Ordnung. Doch es war, als schwämme etwas unter der Oberfläche meines Geistes, wie ein Schemen in dunklem Wasser, der nur hier und da die glatte Fläche kräuselt, wenn er mit den Schlägen seiner mächtigen Fluke vowärtsjagt, jederzeit bereit den Frieden zu stören und aus dem Meer meiner Gedanken hervorzubrechen, um sich in mein Herz zu verbeißen und nicht verheilte Wunden wieder bluten zu lassen.

Es ging mir nicht gut, ich wusste das, Karasu wusste das, und es war nur eine Frage der Zeit, bis ich nicht mehr standhalten konnte; ich konnte viel auf mich nehmen und noch schweigen, aber wenn es um Sakuya ging, war ich schwach.

Aber, auch wenn Karasu daran rührte, indem er mich ansprach, so tröstete er mich auch; zumindest wusste ich, dass ich nicht alleine war, wenn ich letztendlich wieder brach. Das war mir viel wert in jener Zeit, vielleicht alles. Denn was war es denn sonst, was ich fühlte, wenn Sakuya nicht bei mir war, als jene schreckliche, vernichtende Einsamkeit, in die mir niemand folgen konnte?

Ich war nicht, bin nicht die Art Mensch, die mit den eigenen Problemen zu anderen Menschen geht, das war mir immer schon schwer gefallen, es gibt tatsächlich nur wenige Menschen, denen ich es tatsächlich anvertraue, wenn es mir schlecht geht, Menschen von denen ich weiß, dass sie mir nicht aus Mitleid beistehen. Für einen Moment fragte ich mich, ob Karasu diese Seite an mir so gut verstand und so argwöhnisch beobachtete, weil er sie an sich selber kannte, aber dann ließ ich den Gedanken wieder fallen; sicher war er einer jener Menschen, die ihre Probleme lieber mit ins Grab nahmen, als Schwäche zu zeigen, aber ihn mit mir vergleichen zu wollen, wäre doch weit hergeholt gewesen. Nichtmal mit mir redete er viel über das, was ihn bewegte; ab und zu ein wenig, unvermutet, doch immer von sich aus, und niemals, wenn er nicht schon für sich selber zu einem Schluss gekommen war. Und dabei kannten wir uns seit langer Zeit, seit dreieinhalb Jahren lebten wir zusammen, das war nahezu unglaublich. Nichtmal er konnte noch leugnen, dass ich ihn gut kannte inzwischen.

Ich hätte diese dreieinhalb Jahre bei aller Liebe sicher nicht ausgehalten, wenn ich nicht die freundliche Seite an ihm kennengelernt hätte.

Die Seite, die mich fragte, ob es mir gut ging, die mit mir Dvds sah, und mir beim Fertigmachen für den Gig half; die Seite die mich nicht alleine ließ.

„Warum guckst du mich so an?“

Ich hielt sein Gesicht mit einer Hand fest, weil er mir fast den Lidstrich verrissen hätte. „Du darfst dich nicht bewegen!“

„Ist ja gut, zick nicht gleich rum.“

„Weißt du, wenn du dich gegenüber anderen Leuten auch mal so normal verhalten könntest, und nicht immer so tätest als seist du der größte Menschenfeind der Welt, dann würden dich mehr Leute mögen.“

„Wer sagt denn, dass ich will, dass mich Leute mögen? Ich hab keine Lust auf den Mist. Sich an andere Menschen zu verschwenden, ist doch, wie Angeln mit dem Wissen, den Köder nie wiederzusehen. Du gibst und gibst, und du bekommst nie etwas zurück. Ich behalte mein Leben lieber für mich, als meine besten Jahre für andere aufzugeben. Stört doch nur.“

„Aber du bist echt ein netter Kerl. Das glaubt mir nie jemand.“ Ich widmete mich dem anderen Auge.

„Das soll auch niemand glauben. Glaubst du nicht vielleicht, dass ich mit Absicht so bin, wie ich bin?“

„Aber du bist kein Menschenhasser.“

„Natürlich bin ich das!“

„Ah, das ist gelogen.“ Ich schraubte die kleine Kappe wieder auf. „Ich bin doch auch ein Mensch, oder?“

„Antti, du Dummkopf. Du zählst nicht.“

„Wie nett.“ Ich lehnte mich zurück und begutachtete mein Werk. „Okay, den Rest können wir mit den anderen zusammen machen, wenn wir im Eden sind.“

„Wann kommt Jimi?“ Karasu stand auf und streckte sich, ich musste sagen, er sah gut aus, wenn er komplett gestylt war; nicht, dass er mein Typ wäre, aber ich mochte seinen Stil sehr gern, und er wirkte auch viel lebendiger und selbstbewusster, nicht so abweisend wie immer, sondern auf eine ein wenig provokante Art arrogant. Eine gewisse leichte Arroganz, sowie das bisschen Verruchtheit, das meiner Meinung nach auf jeder Bühne zur Schau getragen werden sollte, hatte ich schon immer wahnsinnig sexy gefunden.

So, mit seinen Piercings und den dunkel geschminkten Augen, stechender fast noch ohne Lidschatten, und den zu fedrigen Spitzen gestylten Haaren über dem eher schlichten Cradle of Filth-Kapuzenpullover, welchen er später noch wechseln würde, und der militärisch anmutenden schwarzen Hose mit den verschiedenen Nietengürteln, beneidete ich ihn fast. Es sah immer so aus, als steckte nicht viel Aufwand in seinem Aussehen; er legte seine schweren Ringe an, vielleicht ein Dogtag um den Hals, lackierte sich die Nägel, und seine Piercings, Kontaktlinsen und Tattoos und sein provokantes Gehabe auch auf der Bühne taten meist ihren Teil.

Ich selber hatte nie das Gefühl, mit ihm mit dieser Leichtigkeit mithalten zu können; ich brauchte Stunden vor dem Gig, und bei den Haaren half mir Karasu, von Natur aus waren sie immer zu zerzaust. In meinen Outfits steckte viel Mühe; es war bestimmt nicht so, dass ich mich für hässlich hielt, da mir ja auch oft genug andere Leute das Gegenteil sagten, und Karasu selber mich tatsächlich einmal geschlagen hatte, als ich es wagte, laut zu jammern. Trotzdem war ich so, ja, so langweilig neben ihm, immer wieder. Er war einfach er selbst, er müsste sich nicht fertigmachen für einen Auftritt, meiner Meinung nach. Und ich...

Ich war so schrecklich zahm.

Aber das musste man mir ja nicht unbedingt ansehen!

Ich weiß, dass ich selbst auf der Bühne noch eher zierlich und unschuldig wirke, was ja auch an meiner selbstverschuldeten Aufmachung lag, und sich höchstens in eine milde Verruchtheit wandelte, wenn meine Stimme langsam etwas rauer wurde und die Hitze des Gigs ihren Tribut einforderte, aber ich würde nie an die offensive Erotik meines Bassisten herankommen, der sich vor allem in den Jahren davor einen Spaß daraus gemacht hatte, den vornehmlich weiblichen Fans einzuheizen, ohne jemals etwas zurückzugeben.

Das war natürlich gut; ich wusste, dass Sakuya mich in unseren ersten Wochen auf der Bühne nahezu mit den Augen verschlungen hatte, ihm gefiel das Versprechen von verdorbener Unschuld unter meiner weißen Kleidung.

Ha, und, oh, er hatte es geliebt, zu lernen, dass ich zumindest im Bett genau wusste, was ich wollte und wie ich es bekommen konnte!

„Antti.“

„Hm?“ Ich schrak auf. Karasu wedelte mir mit einer Hand vor dem Gesicht herum.

„Will ich wissen, wo du grad warst?“

Ich sah ihn ein paar Sekunden lang mit halboffenem Mund an, ehe ich den Kopf schüttelte und dem Himmel dankte, dass ich nicht schnell rot wurde. „Nein.“

„Dachte ich mir. Komm, wir gehen runter; ich hab Hunger.“

Ich stand auf, als er schon halb aus der Tür war. „Soll ich dir was machen?“

„Deswegen hab ichs gesagt. Bring meine Kippen mit!“, rief er noch aus dem Flur.

Ich seufzte und richtete mich auf.

Irgendwann würde ich mich gegen ihn wehren. Aber nicht heute.

An jenem Tag hatte ich gedacht, ich würde meinen eigenen Kummer herunterschlucken, und Karasu mit meiner Fragerei nach seinen eigenen Gedanken nerven; rückblickend merke ich, wie naiv ich war... Drehte sich doch all mein Denken und Fühlen in jenen Tagen um mich allein, und von Karasus Schmerz hatte ich damals keine Ahnung. Vielleicht hätte ich ihn mehr bedrängen sollen, aber wahrscheinlich, und da bin ich mir recht sicher, war nicht ich derjenige, der sich zuviele Gedanken um andere machte, sondern es war Karasu, der sich zuviele Gedanken um mich machte.

Von wegen Menschenfeind.
 

In der Küche fand Karasu jedoch relativ schnell zu seiner gewohnten Form zurück und lümmelte auf seinem Stuhl; ich wusch klaglos das benutzte Geschirr ab. Jeder Versuch, ihn um Mithilfe zu bitten, hätte nur zu gehässigen Kommentaren geführt, und darauf hatte ich, so kurz vor dem Gig, keine Lust. Ich spürte sein Grinsen in meinem Rücken.

„Du bist die perfekte Hausfrau.“

„Sei still.“

„Nicht so unfreundlich, auf die Art bekommst du keinen netten Mann ab.“

„Was weißt du von netten Männern!“ Ich war in Versuchung, ihm das nasse Handtuch um die Ohren zu hauen, begnügte mich dann aber damit, die trockenen Teller in den Küchenschrank zu stellen und das Spülbecken mit einer Hand und laufendem Wasser sauberzuwischen.

„Genausoviel wie du.“

Ich drehte mich zu ihm um; er lehnte mit dem Ellbogen auf dem Küchentisch, einen Fuß auf meinen leeren Stuhl gestemmt, und drehte sich gerade eine Zigarette, mit einer Hand strich er sich ein schwarze Strähne aus dem Gesicht und funkelte mich an.

„Was ist?“

„Was soll das heißen?“

„Wir neigen beide zu Sex mit emotional verwirrten Kerlen, die sich offensichtlich nichtmal zu einem schlichten Danke durchringen können, oder? Ich dachte immer, du hasts echt nötig, aber ich wohl auch.“

„Im Gegensatz zu dir war ich sehr wohl schon mit netten Männern zusammen.“

„Im Gegensatz zu mir?“

„Du weißt genau, was ich meine. Einfach jemanden nur zum Sex zu treffen und dann nie wiederzusehen, darauf hab ich keine Lust. Ich will Gefühle, okay, ich will eine Beziehung! Du verstehst das nicht.“ Ich wischte mit dem fast durchweichten Handtuch provisorisch die Spüle sauber und fing dann an, mir die Hände zu waschen. Mein weißer Nagellack begann abzusplittern. Mist. Ich hätte mich nicht dazu überreden lassen sollen, für Karasu zu kochen, so knapp vor dem Gig. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich keine Zeit mehr hatte, das zu korrigieren.

Mein Mitbewohner hinter mir fing an zu lachen. „Jaaa, klar! Du bist die Unschuld vom Lande! Wie lange kennen wir uns, drei Jahre, vier Jahre? Wie alt bist du jetzt? - Du bist öfter als einmal mit irgendeinem Fremden backstage verschwunden, und jetzt lieferst du dich selbst ans Messer; du hast mir sogar davon erzählt, also warum lügst du mich jetzt so dreist an?“

Ich wandte mich zu ihm um, warf dann das Handtuch auf die Arbeitsfläche, drehte mich wieder weg, mit beiden Händen auf den Rand der Fläche gestützt, die Haare fielen mir ins Gesicht. „Ich rede nicht von vorher, ich rede von jetzt!“

„Haben wir jetzt eine neue Zeitrechnung, vor Sakuya, nach Sakuya?“

„Halt die Klappe!“

Er war eine Weile still, und ich zog unwillkürlich den Kopf ein; ich glaube, ich hatte lauter gesprochen, als ich es gewollt hatte, und ich fürchtete, ich war zu weit gegangen; jetzt würde er merken, dass er sich zuviel herausgenommen hatte. Was glaubte er überhaupt, wer er war, mich so abzuurteilen? Ja, es gab eine Zeitrechnung Vor- und Nach-Sakuya in meiner Welt!

Ich lag aber falsch, Karasu ließ sich von mir nicht beeindrucken. „Das war klar, dass du dir von dem Versager jetzt diktieren lässt, wer du zu sein hast, du schamloser Mistkerl. Dein Sakuya war ein psychotischer Jammerlappen, und wenn du jetzt einen auf sexuell frustrierter Teenager machst, spar dir das Geschleime. Don't fuck with me, okay? Don't fuck with me, Antti. Wenn du ihn so dringend willst, geh zu ihm, fick ihn, und dann ist Ruhe, mehr kann er dir doch sowieso nicht bieten.“

Ich riss mich los und drehte mich wieder zu ihm; er rauchte in aller Ruhe, sah mich nicht einmal an, sondern starrte gedankenversunken in die dünnen Rauchschwaden über dem Tisch. Ich fuhr mir mit einer Hand über das Gesicht, krallte mich mit der anderen an meiner eigenen Hosentasche fest. „Kannst du – hör bitte auf zu rauchen.“

„Zwing mich.“

„Karasu, hör auf zu rauchen, ich hab keinen Bock mir deinetwegen die Stimme zu ruinieren!“

Er sah langsam zu mir und atmete gemütlich den Rauch aus, ich erwiderte den Blick mit zusammengepressten Lippen; ich wusste verdammt genau, dass er mich nur provozieren wollte, indem er noch einen weiteren Zug nahm, und meine Hand zitterte ein wenig; ich griff wieder hinter mich und suchte Halt an der Arbeitsfläche, während er in aller Seelenruhe die Kippe ausdrückte, dabei den Blick aus den ausdruckslosen hellen Augen nicht von mir nahm.

Ich senkte den Blick. „Danke.“

„Leck mich.“

Es klingelte, Karasu stand auf, ging an mir vorbei, ich stand mit gesenktem Kopf und atmete tief ein und aus. Er blieb einen Schritt hinter mir stehen und sah halb über die Schulter zurück.

„Kommst du?“
 

Jamie: Angst
 

Kein Himmel. Nur Gewölk ringsum

Schwarzblau und wetterschwer.

Gefahr und Angst. Sag: Angst - wovor?

Gefahr: Und sprich - woher?

Rissig der Weg. Das ganze Feld

Ein golden-goldner Brand.

Mein Herz, die Hungerkrähe, fährt

Kreischend über das Land.
 

- Albrecht Goes: Landschaft der Seele
 

Ilja hatte für mich Tee gemacht und zum Sofa gebracht, auf dem ich lange gehockt hatte; ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich begonnen hatte, an einem Nagel zu kauen, und wurde rot, als er mir grinsend die Tasse hinhielt. „Hier. Tut dir gut.“

Ich murmelte leise ein Danke und ließ die Beine vom Sofa gleiten, nahm einen Schluck des dampfenden Getränks. Ilja ließ sich auf den Sessel sinken und legte die Fingerspitzen aneinander. „Ich glaube, ich kann dir sagen, warum Diego so genervt ist.“

„Hm?“ Ich sah den hochgewachsenen Mann über den Tassenrand hinweg an, er sah nachdenklich aus dem Fenster, lehnte sich dann zurück, zog sich sein schwarzes Metalshirt zurecht.

„Er schläft wenig in letzter Zeit, macht meist die Nächte durch. Ich schwöre dir, neulich ist er mir fast in der Garage eingeschlafen, mitten im Arbeiten.

Er hat dieses Radio in seinem Zimmer, und hört alle lokalen Radiostationen; für diese Stadt wäre das Yannis' und Mos Programm, die beiden kennst du ja, aber auch von den umliegenden Städten, gibt überall mal so kleine Sender, eigentlich aus dem ganzen Bundesland und weiter aus dem Osten. Das Problem ist.... ich mach es kurz, weil ich auch selber glaube, dass er übertreibt und Gespenster sieht.

Wir haben ja überall noch Probleme in diesem Land, in den meisten Städten wird noch Militär eingesetzt, und dann fangen einige Städte an, sich selbstständig zu machen, und sich untereinander anzugreifen, was eigentlich ziemlich bescheuert ist; weiter im Norden versucht angeblich irgendeine Splittergruppe ein ganz neues Regime zu bilden, aber davon weiß ich auch nicht mehr. Ich weiß nicht, ob du von alldem schon gehört hast, Wolf sagte, du wärst nicht so viel herumgekommen.

So oder so, es ist alles ziemlich chaotisch, und Diego ist nun davon überzeugt, dass wir kurz vor einem Bürgerkrieg stehen, und dass früher oder später alles auch hier zu uns kommen wird; und er macht sich Sorgen. Die halbe Nacht hängt er am Radio, um nichts zu versäumen, und sobald mal in der Gegend jemand aus nur halbwegs politischen Motiven erschossen wird, dreht er völlig durch.

Du musst ihm das nachsehen, er hat eine Menge durchgemacht, verstehst du, er ist aus seinem eigenen Land vertrieben worden und ein Zeitlang in Kriegsgefangenschaft gewesen, und er hat tierisch Panik, dass alles wieder von vorne losgeht.

Das, und der Schlafmangel dazu.... Deswegen ist er immer wieder so schlecht gelaunt. Du darfst ihm nicht böse sein, er meint es wirklich nur gut. Naja, Yukio ist natürlich selber schuld, wenn er ihn provoziert, in der Stimmung in der beide sind.“

Ich nickte langsam, Ilja sah wieder aus dem Fenster.

„Bevor du mich fragst, ich weiß nicht ob das realistisch ist was Diego sich ausmalt, ich glaube aber schon dass er übertreibt; und selbst wenn es stimmt, Panik können wir nicht gebrauchen. Wenn wirklich etwas im Busch wäre, glaub mir, dann würden wir es schon ohne Radio merken.“ Er lachte trocken.

„Du sprichst wahrscheinlich auch aus Erfahrung, oder?“

„Allerdings.“

„Willst du drüber reden?“

„Nicht wirklich.“ Er sah zu mir und grinste mich schief an, tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn. „Aber danke für das Angebot.“

„Danke dir für den Tee“, erwiderte ich etwas unbeholfen, und Ilja fing an zu lachen, schloss kurz die Lider über den goldbraunen Augen.

„Kein Problem. Du bist echt in Ordnung, Kleiner.“

Ich wurde etwas rot und sah in meine Tasse, pustete ein wenig auf dem Tee herum, um ihn abzukühlen. Mir fielen einige Haare in die Stirn, und ich war ganz dankbar dafür; ich merkte, dass Ilja mich noch beobachtete, und rutschte etwas auf meinem Platz herum, bis er den Blick wieder abwandte.

Ich versuchte, über das nachzudenken, was er mir gesagt hatte; aber es war so schwer, eine konkrete Vorstellung davon zu entwickeln, was Diego befürchtete; das alles klang so weit entfernt. Ich selber hatte nie den Kontakt mit dem Krieg gehabt, ich hatte immer Glück gehabt. Natürlich hatte ich vieles gehört, aber von etwas zu wissen und es selber zu erleben, dazwischen lagen Welten. Ich wollte es auch nie erleben; ich wollte nie diesen Schatten in den Augen haben, den ich von meinem Bruder kannte, und auch jetzt gerade von Ilja, der sonst immer ein Lachen im Blick trug.

Vielmehr tat mir Diego leid; es musste unglaublich anstrengend sein, sich ständig diese Sorgen zu machen, und doch nichts dagegen tun zu können.

„Kann nicht jemand mit Diego reden? Ich meine, es tut ihm ja nicht gut, wenn er sich ständig mit so etwas herumplagt.“ Ich strich mir jetzt doch die Haare aus dem Gesicht, sah aber weiterhin in meinen Tee.

„Das hat wenig Sinn, er ist starrsinnig. Er hört erst auf, wenn er selber genug hat davon. Ich hab ja versucht, ihm alles auszureden, aber er ist absolut überzeugt davon.“

„Was ist mit Yuki?“

„Hm?“

„Ich meine...was ist los mit ihm heute? Ich weiß ja dass er Diego gern ärgert, aber das war doch ein bisschen viel vorhin, und Valentin hat mir schon gesagt, dass er wegen irgendetwas total durcheinander ist. Hat er dir was gesagt?“

Ilja hob die Schultern. „Sorry, ich weiß es auch nicht, nur das was Valentin dir auch gesagt hat, schätze ich. Irgendwas ist wohl passiert als er mit Mari aus war, naja, es muss wohl was mit dem zu tun haben, sonst würde Yuki nicht so auf die bloße Erwähnung seines Namens abgehen, oder?“

Ich biss mir mit einem mulmigen Bauchgefühl auf die Lippe. „Aber Mari schien so nett, als ich ihn getroffen habe.“

„Mari ist total nett! Ich kenne ihn jetzt nicht sehr gut, aber Val ist mit ihm befreundet, und er ist wirklich einer von den Guten, unser Valentin freundet sich nicht mit jedem an. Ich weiß auch nicht, was passiert ist; ich will auch nichts gegen Yuki sagen, ich hab ihn sehr gern, aber vielleicht hat er auch selber Mist gebaut. Das musst du ihn fragen. Vielleicht sagt er es dir.“

„Das glaube ich nicht, wenn er es nichtmal euch erzählt.“ Ich nahm einen größeren Schluck von meinem Tee.

„Täusch dich nicht. Die Leute erzählen dir Sachen. Merkst du das nicht? Fuchs hats mir gesagt. Du kannst gut zuhören. - Kannst du übrigens wirklich.“

Ich wurde wiederum rot. „Ich kann nicht... ich meine... ich höre einfach nur zu, das ist alles, ich meine, da ist keine Kunst dabei.“

Ilja grinste mich an. „Manchmal macht das schon den ganzen Unterschied aus.“
 

So kam es dann doch, dass ich meinen Tee austrank und das Haus verließ; draußen schlug mir direkt ein kühler Wind entgegen, der im Lauf des Tages deutlich aufgefrischt hatte. Auf dem kleinen Hof lag Teufels Kauspielzeug verteilt, und Laub vom benachbarten Hinterhof sammelte sich in den Ecken; der Himmel hing trüb und grau über der Stadt wie ein regenvoller Schleier. Auf der Ladefläche eines kleinen Wagens, den Ilja und Diego neben dem Schuppen stehen hatten, saß Yukio, ein Knie an den Körper gezogen, das andere Bein von der Kante baumeln lassend, wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht, als er mich kommen sah.

Ich ging langsam auf ihn zu; ein paar Tauben hüpften vor mir davon und verschwanden dann mit kräftigen Flügelschlägen hinter dem Haus.

Yuki sagte nichts, als ich näherkam; seine Augen waren gerötet, und er hielt sein Knie mit beiden Armen umfasst. So wie er da saß und mir mit großen Blicken hilflos entgegensah, wirkte er seltsam schutzlos; jegliches Strahlen, das er sonst zeigte, war geschwunden und zu einem Schleier aus Trauer und Schmerz geworden, der sich über seine klaren Züge legte.

Ich blieb ein Stück vor ihm stehen, ein wenig unsicher, weil er gar nichts sagte. „Soll ich wieder gehen?“

Entgegen aller Erwartung schüttelte er den Kopf, seine hellblond gebleichten Haare legten sich über die verweinten Augen. Ich ließ mich neben ihm nieder, er wandte leicht den Kopf zu mir.

„Alles okay?“ Ich biss mir sofort nach meinen Worten auf die Lippe; wie blöd von mir, offensichtlich war es das nicht.

Yu schüttelte den Kopf wischte sich die Tränen ab, legte dann die Hand vor den Mund, seine Augen waren dunkel.

„Willst du drüber reden?“

Er schüttelte wiederum den Kopf. „Tut mir leid...Jamie...ich kann nicht.“

Ich legte die Händen in den Schoß, verschränkte die Fußknöchel in den Converses. „Das verstehe ich nicht...“

Er atmete tief auf, sah unter glatten blonden Strähnen hervor Richtung Haus, ohne es wirklich anzusehen.

„Weißt du, was schlimm ist....das Gefühl kennst du nicht, aber kannst du dir vorstellen, wie erbärmlich das ist, wenn du jemanden verloren hast, der dir eine Menge bedeutet....“, wisperte er erstickt, ohne mich anzusehen, „...und das Schlimme ist, das ist jetzt erst eineinhalb Jahre her, und ich bin immer noch traurig, aber....es ist so übel, dass ich seitdem mit so vielen Männern geschlafen hab, keine Ahnung, ein paar Dutzend, dass ich mich nichtmal mehr an seinen Geruch erinnere....aber ich habe ihn wirklich geliebt, ehrlich, sehr sogar...“ Er unterbrach seinen Satz, und ich sah seine schmalen Schultern zittern, als er tief Luft holte.

„Ja, das sieht man...“ Ich legte ihm unbeholfen eine Hand auf die Schulter und streichelte ihn in dem Versuch, ihn zu beruhigen. Die Haut war kühl unter dem dünnen Stoff im Frühlingswind. „Bist du deswegen so traurig heute?“

„Nein“, stieß er hervor und konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken, das seinen zierlichen Körper schüttelte; er zog beide Beine an sich und drückte sich mir in die Arme, das Gesicht an meiner Schulter, noch immer vom Weinen geschüttelt.

Ich hielt ihn fest und streichelte ihm ein wenig über den Rücken; ich weiß nicht ob es ihm half, aber ich selber kam mir nicht ganz so hilflos vor; denn was hätte ich sagen sollen? Keins meiner Worte hätte irgendwie Sinn gemacht. Und so saßen wir einige Minuten so da; mich fröstelte ein wenig, weil ich nur ein T-Shirt trug, aber Yukis Körper war warm und weich, und schmiegte sich an mich wie ein kleines Kätzchen, nur an seinem leichten Zittern merkte ich, dass er noch immer weinte. Er rührte sich kaum; ich spürte seinen Atem an meinem Hals, und seine Finger, die sich auf meinen Arm gelegt hatten.

Irgendwann fing er von sich aus wieder an zu sprechen, etwas heiser in der Kehle. „Weißt du, es ist ja nichtmal nur das.“ Er hob den Kopf, seine Wangen waren feucht, aber sein Blick war klarer geworden. „Es ist...“ er hob etwas hilflos die Schultern, und holte noch einmal tief Luft, während er sich wieder aufsetzte. „Es ist einfach alles. Ich meine, es ist toll dass sich Fuchs und Saku wieder vertragen, und ich dachte, wenn die beiden endlich zusammenkommen, dann bin ich auch glücklich, aber bin ich nicht, weil.... ich weiß nicht, ich wüsste gern wohin mit meinem Leben; aber das ist doch normal, oder! Und ich habe nicht, ich meine, ich will nicht....hältst du mich für eine Schlampe, Jamie?“ Er schniefte und sah über den Hof, wartete meine Antwort gar nicht ab, während ich noch nach Worten suchte, völlig überrumpelt von der Frage. „Kannst du auch, weil es stimmt, und, keine Ahnung, ich meine, okay, ich bin vielleicht eine Schlampe, aber Mari...Mari...Mari ist ein Arschloch!“ Er biss sich auf die Unterlippe. „Und ich will überhaupt nicht über ihn reden, also lass ich es jetzt auch!“

„Er schien mir eigentlich immer total nett, vielleicht war es ein Missverständnis, was immer er getan hat?“, fragte ich wenig hoffnungsvoll.

„Nein, das war kein Missverständnis, er war einfach nur rücksichtslos und total unmoralisch und ich hasse ihn, ich will ihn nicht mehr sehen!“

„Hat er...dir was getan?“

„Ich will nicht drüber reden, okay??“ Yuki wurde ungewollt etwas laut. „Oh Gott, tut mir leid, Jamie, du kannst ja nichts dafür. Ich will wirklich nicht darüber reden, ja? Nichtmal mit dir.“

Das überraschte mich, und ich vergaß für einen Moment meine Sorge. „Nichtmal mit mir?“

„Naja, du hast was an dir, ich rede gern mit dir.“

Jetzt wurde ich endgültig rot. „Warum das?“

„Jetzt frag doch nicht immer weiter...“ Langsam kehrte der Schalk in seine Augen zurück, in einem kurzen Aufblitzen. „Du bist so ein lieber Mensch, Jamie. Wie kann man dich denn nicht gern haben?“

„Ich hab auch Fehler“, murmelte ich im Versuch, die Röte zu vertreiben.

„Klar hast du Fehler, wir alle haben Fehler, aber das macht doch nichts, weil du ein lieber Kerl bist.“ Yuki umarmte mich und dann, für eine Sekunde, sah ich seine goldenen Augen direkt vor mir, ehe ich weiche Lippen spürte, die sich sanft auf meine legten, und ich erstarrte wie elektrisiert unter dem sanften Kuss. Yukio roch zart nach Vanille.

Er verharrte nur eine Sekunde vielleicht, ohne jegliche Forderung in der Berührung; dann löste er sich genauso leicht wie er gekommen war, lächelte mich matt an und hüpfte in einer fließenden Bewegung von der Ladefläche. „Alles wieder okay. Lass uns reingehen, es ist kalt!“ Und ich konnte nicht anders, als ihm stumm zu folgen, als er mir schief grinsend den Arm um die Schultern legte und mit mir zurück ins Haus ging.
 

Alles, was blieb, als er sich von mir löste und in seinem Zimmer verschwand, war allerdings das nagenden Gefühl, dass mein Gespräch mit ihm nichts besser gemacht hatte, und Yukio einfach nur ein unglaublich mieser Schauspieler war. Und ich verachtete mich selber für eine Weile dafür, dass ich ihm nicht nachging und ihn tröstete....aber wie, das hätte ich nicht gewusst. Wie soll man für jemanden da sein, der das nicht will?

Ilja war nicht mehr im Wohnzimmer, und ich war allein. Ich hockte mich auf die Sofalehne, starrte gedankenversunken aus dem Fenster, draußen kam das trübe Sonnenlicht wieder ein wenig hervor und ließ die dreckigen Glasscheiben schimmern, Staub tanzte fein im Licht. Ich zog ein Knie an den Körper und legte das Kinn darauf, umfasste mein Bein mit den Armen.

Es war so still hier, wahrscheinlich waren alle ausgeflogen, bis auf Ilja und Diego, der in seinem Zimmer schmollte, und natürlich Yuki, der sich erstaunlich rasch jeder Nachfrage entzogen hatte.

Der kleine Kuss von ihm hatte mich so überrascht, dass ich völlig vergessen hatte, dass ich eigentlich hinausgegangen war, um ihn zu trösten und herauszufinden, was mit ihm geschehen war. Was er mir erzählt hatte, ergab für mich überhaupt keinen Sinn; er hatte so schnell und so durcheinander gesprochen, dass ich selber gar nicht wirklich dazu gekommen war, etwas zu sagen, und so war unser Gespräch weniger ein Gespräch gewesen als vielmehr ein Ablenkungsmanöver Yukios, um allein zu sein, so kam es mir fast vor.

Nun, das hatte er geschafft, ich war völlig aufgeschmissen gewesen.

Über den Kuss selber machte ich mir keine großartigen Gedanken; ich kannte Yu ja inzwischen und wusste, dass er das mit jedem machte, Diego vielleicht ausgenommen, das war mehr als Spielerei gemeint als irgendetwas anderes. Und schließlich hatte mein Bruder mich sogar gewarnt, ehe wir hierhergekommen waren.

Jener schien ebenfalls nicht im Haus zu sein, und wenn dem so war, dann war Fuchs sicherlich bei ihm. Vielleicht brauchten die beiden ein paar Stunden unter sich.

Ich wurde etwas rot bei dem Gedanken daran, und ich vergrub das Gesicht weiter an meinem Bein.

Ich wusste ja nicht genau, was für eine Art Beziehung die zwei führten, aber die Vorstellung, wie mein Bruder und sein Freund einander küssten und sich näherkamen, erschien mir total indiskret, und ich wollte eigentlich gar nicht genauer darüber nachdenken, dennoch blieb das Bild eine Weile lang in meinem Kopf.

Ich würde es ihnen ja wünschen, denn mir war schon klar, dass sie einander sehr liebten, dennoch war mein Bruder....mein Bruder eben! Und somit asexuell!

So dauerte es auch mehrere Minuten, ehe ich Stimmen aus der Küche hörte, die mir verrieten, dass ich doch nicht so alleine war, wie ich gedacht hatte.

Sie sprachen so leise, dass ich nicht gleich ausmachen konnte, zu wem sie gehörten; dann war wieder kurz Ruhe, ehe ich etwas wie ein heiseres Aufatmen oder Schluchzen hörte.

Ich glitt vom Sofa und ging zur Tür, ohne groß darüber nachzudenken; zögerte dann davor. Die Tür war fest ins Schloss gezogen, und ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt wissen durfte, was dort drin geschah, ich wollte sicher niemandem ein Geheimnis entreißen oder ihn in Verlegenheit bringen. Es war wieder still geworden darin, und während ich noch unsicher vor der Küchentür stand und nachdachte, hob eine Stimme wieder an zu sprechen; ich stand jetzt nahe genug, um Worte vernehmen zu können, und aus genau diesem Grund unterbrach ich den Sprecher drinnen, indem ich mit dem Fingerknöchel anklopfte. Ich wollte nicht versehentlich jemanden belauschen.

Einige Sekunden war es still, dann hörte ich Yuens oder Minhs Stimme. „Komm rein.“

Ich zauderte noch eine Sekunde, dann öffnete ich dir Tür vorsichtig und warf einen Blick hinein. „Stör ich euch?“

Die Zwillinge saßen nebeneinander auf der Küchenbank, einer von ihnen hatte beide Arme um seinen Bruder geschlungen, der sich mit dem Handrücken über die Nase wischte; er sah aus als hätte er geweint. Auf seinem Oberarm, etwa da wo die Hand des anderen lag, war seine Haut gerötet. Er schüttelte anstelle seines Zwillings den Kopf. „Nein.“

„Ist was passiert?“

Ich trat jetzt ganz ein und schloss die Tür wieder hinter mir; der, in dem ich Yuen vermutete und der geweint hatte, wischte sich mit dem Handballen über die Augen und schüttelte den Kopf.

Der andere schloss die Arme fester um ihn und wandte sich an mich. „Kannst du uns bitte ein Glas Wasser geben?“

Ich nickte eilig und füllte eines an der Spüle; als ich mich wieder umwandte, hatte Bestimmt-Yuen den Kopf an die Schulter seines Bruders gelegt, die Augen geschlossen und atmete gepresst, während sein Zwilling leise auf ihn einsprach, sich dann zu mir wandte, als ich das Glas auf den Tisch stellte. „Danke.“

„Danke“, echote es schwach von seiner Schulter her und der andere richtete sich etwas auf.

Sein Bruder fragte ihn etwas, und er nickte schwach, griff nach dem Glas und trank einige eilige Schlucke.

„Ist alles in Ordnung? Kann ich irgendwie helfen?“ Ich stand etwas verloren hinter dem Tisch und sah die beiden aus großen Augen an.

„Schon okay, Jamie, mir geht’s nicht so gut, es geht gleich wieder. Alles wieder okay.“

Inzwischen war ich mir doch recht sicher, dass es sich bei dem Blonden um Yuen handelte. „Seid ihr sicher? Soll ich jemanden holen?“

Yuen hielt das Glas mit beiden Händen umfasst und trank, Minh, einen Arm um die Schulter seines Zwillings gelegt, antwortete. „Nein, ist in Ordnung, aber danke. Es geht ihm schon besser, schau, er ist wieder ganz er selbst.“ Er fuhr seinem Bruder mit der Hand durch die Haare, der leise murrte. „Es war ein anstrengender Tag, wir bleiben noch ein bisschen hier sitzen, bis es Yuen wieder ganz gut geht, glaube ich. Mach dir keine Sorgen, es ist alles gut. Wenn du Ilja siehst, sagst du ihm bitte, dass er in den nächsten Tagen in der Nähe bleibt? Nur zur Sicherheit.“

Yuen verkrampfte die Finger um das Glas und sah aus geröteten Augen zu Boden bei Minhs Worten. Ich nickte. „Klar. Mach ich.“

Ich stand eine Weile unschlüssig, wollte mich dann zum Gehen wenden; ich fühlte mich wie ein Eindringling.

„Oh – Jamie?“

„Hm?“

„Danke.“

Ich lächelte schwach. „Ja...kein Problem.“

Ich streifte die beiden nur mit einem flüchtigen Blick, wie sie da saßen, Yuen, sonst so munter, sah so zerbrechlich aus, Minh hielt ihn noch immer eher fest, als dass er ihn stützte.

Als ich die Küche verließ, hörte ich ganz leise hinter mir seine Stimme. „...ich hatte gehofft, es passiert nicht zu unserem Geburtstag...“
 

Sakuya: Ich sehe was, was du nicht siehst
 

You will always be my friend. You know too much.
 

Anonym
 

Ich beobachtete Mika sicher einige Minuten lang, ohne dass er es merkte.

Wir hatten Nigel in der Stadt aufgetan und unseren Vorrat an Munition relativ preisgünstig aufgestockt; nachdem wir so viele Monate getrennt gewesen waren, mussten wir erst einmal unser gemeinsames Arsenal auf den neuesten Stand bringen, und auch uns gegenseitig; ich hatte ja bis dahin nicht gewusst, was er im vergangenen halben Jahr alles getrieben hatte.

Ich hatte ihn außerdem im Karfunkel endlich auf das Thema festnageln können, dem er seit Tagen immer wieder ausgewichen war: Karasu.

Wir hatten uns eine ruhige Ecke gesucht, in die wir uns mit unserem Kaffee zurückzogen, und jetzt, wo Mika keine Ausreden mehr hatte, berichtete er mir erst zögerlich, dann langsam sicherer von dem Abend, an dem er zum ersten Mal mit dem Bassisten geschlafen hatte. Ich hatte ihn nicht mehr gefragt, wieso er das getan hatte; ich verstand es zwar noch immer genauso wenig wie zuvor, aber ging nicht davon aus, dass er eine befriedigende Antwort für mich parat hätte. So lauschte ich dem Bericht, in einigen Punkten nicht überrascht, in einigen jedoch schon; dass Karasu tatsächlich eine rücksichtsvolle Seite an sich hatte und es ihm nicht völlig egal gewesen war, dass sein Partner bis dahin noch mit keinem Mann geschlafen hatte, konnte ich mir nicht recht vorstellen, doch Mika schwor, es sei so gewesen.

Für mich selber war die Vorstellung ungewohnt; sicher, ich wusste seit einigen Jahren, dass er bisexuell war, doch ich hatte ihn bisher immer nur mit Frauen erlebt, selbst bei ihnen war er wählerisch gewesen; aber nie mit Männern, nie mehr als ein kleiner Flirt, eine Berührung hier und da, keiner seiner Verehrer war ihm je gut genug gewesen, ihn zu sich ins Bett zu holen. Der Gedanke war mir keinesfalls unangenehm, wie man meinen könnte; sicherlich, er war mir seit meiner Kindheit ans Herz gewachsen wie ein Bruder, ich liebte ihn abgöttisch, und ich kannte ihn gut genug um mir vorstellen zu können, dass dieser kontrollierte Mann es genoss, sich jemandem hinzugeben, der beinahe gleich stark war - natürlich konnte ich das verstehen, ich konnte es sogar sehr gut verstehen; die Vorstellung allein wäre für mich selber erregend gewesen, gäbe es denn jemanden außer Mika selbst, dem ich so sehr vertrauen würde, mich ihm zu unterwerfen.

Dennoch hatte ich Mika nie in dieser Rolle erlebt, es war immer nur ein Wissen gewesen, während der reale Mann den Frauen vorbehalten blieb. Für ihn selber schien, seinen Worten nach, jene Position ungewohnt, vielleicht mit Überwindung verbunden, vielleicht aufgrund dessen gerade so aufregend. Denn dass ihm die neue Erfahrung gefallen hatte, daran bestand für mich kein Zweifel, ich sah das Funkeln in seinen Augen, als er mir mit leiser Stimme von den rauen Fingern und dem für ihn ungewohnt harten Körper des Bassisten erzählte, von seiner eigenen Lust am gleichen Geschlecht, von der Art, wie der Sex mit Karasu nicht minder erregend gewesen war als der mit einer Frau, und doch ganz anders.

Ich verstand ihn gut. Mein Freund Mikael war ein stolzer und kompromissloser Mann. Niemand, der ihn mit Samthandschuhen anfasste, wäre überhaupt fähig, ihn zu erregen. Dass aber ausgerechnet Karasu bei ihm einen Nerv getroffen zu haben schien, traute ich dem übellaunigen Einzelgänger kaum zu.

Überhaupt bildete sich, je länger ich zuhörte, das Bild eines doch auch zärtlichen und leidenschaftlichen Liebhabers; auf meine diesbezügliche Nachfrage hin fuhr Mika auf, Karasu sei ein ausgemachtes Arschloch, und ich beschloss, ihn nicht darauf hinzuweisen, dass er sich selbst widersprach.

Dass Karasu kein netter Kerl war, hatte ich ja am eigenen Leib erlebt; ständig hatte er mich vor Antti schlecht geredet, hatte mich verhöhnt, sich über meine Freunde lustig gemacht, mir gedroht, ich hatte ihn nur um Anttis Willen in Ruhe gelassen. Das sagte ich Mika, und jener nickte.

„Ja, ich weiß, so ist er die ganze Zeit.“

„Warum hast du dann...“ Ich biss mir auf die Lippe, Mikas Blick huschte zu mir.

„Ich hab mit ihm geschlafen, weil es mir gefallen hat, okay?“

„Entschuldige, ich wollte nicht fragen.“

„Warum verstehst du das nicht?“

„Was ist mit Vertrauen?“

Mika drehte seine Tasse in den Fingern. „Ich hab ihm ja vertraut.“

„Siehst du, das verstehe ich nicht.“

Seine Mundwinkel zuckten kurz nach oben. „Ich auch nicht.“

Er schwieg eine ganze Weile und sah aus dem Fenster, ich nahm einen Schluck Kaffee aus meiner Tasse.

Mika hob nach einer Weile wieder zu sprechen an. „Weißt du, Antti hat ja einen Grund, mit ihm zusammenzuleben; er ist zwar rücksichtslos und oft verletzend und sehr egoistisch, aber er ist zumindest ehrlich; die ganze Zeit, in allem was er sagt und tut. Und das ist nicht immer schön, aber zumindest kann man sicher wissen, woran man bei ihm ist, verstehst du?“

„Ist das ein Grund?“

„Das, und die Tatsache, dass er trotz seiner einssiebzig unglaublich geil aussieht. Ich mag eigentlich keine kleineren Männer, aber er ist scharf, selbst seine Piercings sind noch sexy. Glaubst du mir das wenigstens?“

„Ich glaube es dir alles, ich kann es mir nur schwer vorstellen.“

„Für dich wäre er nichts.“

„Das kann ich mir wiederum sehr gut vorstellen.“

„Viel zu kühl, viel zu herb. Nicht so süß und heiß wie Antti.“

Ich schnaubte leise bei seinem neckenden Tonfall, mit dem er mich ohnehin nur ablenken wollte, stellte die Tasse vor mich ab und wandte den Blick zu ihm auf. „Und willst du ihn immer noch?“

„Nein, das mit uns hatte nie eine Zukunft; das war nur Sex, und ich brauche ihn nicht mehr. Ich will ihn nicht mehr. Es war von Anfang an eine idiotische Idee.“

„Hmm.“

Das war der Punkt, ab dem Mika wieder aus dem Fenster zu starren begann, und ich ihn dabei beobachtete.

Ich machte mir ein wenig Sorgen um ihn; Mika war immer, schon seit seiner Kindheit, ein ausgesprochen vernunftgesteuerter Mensch gewesen, der sich die Welt gern selber erklärte, der für alles einen Beweis brauchte, um es zu glauben. Aber so wie er sich zurzeit verhielt, nicht immer, aber ab und an, so abgelenkt, sich selbst widersprechend, und zugleich so unsicher, das konnte und wollte ich nicht alles auf seine Erlebnisse der letzten Woche zurückführen. Sicher, er war noch immer erschüttert, er sprach nicht gerne darüber, und ich ließ ihm Zeit, zu mir zu kommen. Ich hielt ihn fest, wenn er es brauchte, und versuchte ihn aufzumuntern, ihm zu zeigen, dass er sich keine Sorgen mehr zu machen brauchte, wovon ich überzeugt war. Ich konnte verstehen, dass sein ganzes Selbstbild gekippt war; mir selber schnürte sich die Kehle zu, wenn ich daran dachte, aber ich wollte es ihn nicht wissen lassen, und was würde es helfen? Wir mussten uns gegenseitig stützen, wie immer. So nahm ich nur seine Hand, lachte mit ihm, schlief mit ihm ein, und wurde mit ihm gemeinsam langsam wieder ruhiger, während die letzten sechs Monate von uns fielen wie eine alte Haut.

Nein, ich kannte ihn gut, und diese Abwesenheit kam nicht von seinen Sorgen; auch dass er einem Thema auswich, war selten, und dass er mir etwas nicht erklären konnte, war fast ein Unding.

Ich wollte nicht sagen, so verhielt sich jemand, der dabei war, sich zu verlieben, das wäre übertrieben; aber definitiv würde Mika sich nicht so verhalten, wenn er mit Karasu abgeschlossen hätte und ihn wirklich nicht mehr wollte, und das bereitete mir Sorgen.

Zum einen, weil ich Karasu schlicht nicht mochte; vor allem aber, weil ich wirklich nicht glaubte, dass es gut für Mika wäre, würde er doch etwas für den Zyniker empfinden. Das wäre sogar ganz und gar nicht gut. Karasu war niemand, mit dem man sich länger abgeben sollte.

Dass Mika auf Musiker stand, war schön und gut, allerdings gab es derer viele in der Stadt, und die meisten davon kannte er auch persönlich. Er verschwendete sich an jemanden wie den kurzgewachsenen Bassisten. Jener war seit Jahren bereits ein Klotz am Bein für Antti, hochgradig suizidgefährdet und auch noch stolz darauf; ein asozialer Schmarotzer, der Befriedigung darin fand, andere schlechtzureden.

Dass Mika gerade diese spezielle Kälte an Karasu reizvoll fand, konnte ich ansatzweise nachvollziehen, jedoch wusste ich auch, dass jener meinem Freund wehtun würde, und zwar einfach nur aus Freude, und dafür hasste ich ihn bereits. Mika konnte Karasu nicht kontrollieren; und zugleich war er nicht der Typ, es zu ertragen, die Kontrolle zu verlieren, wie er uns allen eindrucksvoll bewiesen hatte, auch wenn er noch immer nicht mit den anderen darüber sprach.

Mika gehörte mir, und niemand würde ihn ausnutzen, solange ich lebte.

Ich wusste allerdings auch nicht, was ich dagegen tun sollte, oder sagen. Letztendlich war es seine freie Entscheidung gewesen, mit Karasu zu schlafen, und er hatte sich seine Freiheit hart erkämpft; ich wollte für ihn da sein, aber ich wollte ihm nichts ausreden, er würde es sofort merken, und es würde ihm nicht gefallen.

Vielleicht war es am besten, ich schwieg und behielt die Entwicklung stumm im Auge. Wahrscheinlich würde Mika ihn im Lauf der Wochen einfach wieder vergessen.

Und er war Vernunftmensch, er würde es merken, wenn er etwas Dummes täte. Darauf vertraute ich felsenfest.

Dass es meine eigene Schuld gewesen war, wenn auch nur über Umwege, dass Mika sich von Karasu hatte verführen lassen, tat weh, aber ich verdrängte den Gedanken. Ich hatte ohnehin so vieles falsch gemacht und so viele Leute verletzt, es hätte einiges anders laufen sollen.

Das galt aber auch für Mika selber, und erst recht für Karasu, und es galt sogar für Antti, wenn es nach mir ging.

Dass Antti seine Zeit an Karasu vergeudete, mehr als einmal seinetwegen niedergeschlagen gewesen war, immer versuchte sich schützend vor Karasu zu stellen und dabei mehr litt als jener, dem die Meinung anderer ohnehin egal war, hatte mir damals schon wehgetan, und ich verachtete den Kleineren dafür, dass er nichts tat, um Antti diese Last zu nehmen, außer höhnisch zu grinsen.

Ich hatte mich allerdings nie gewundert, warum mein Ex sich so aufopferte, ohne etwas zurückzubekommen; er hatte das Gefühl, Karasu sein Leben zu schulden, und bezahlte dafür mit seiner Freundschaft.

Die Faszination, die der Bassist nun aber auch noch auf meinen besten Freund ausübte, ärgerte mich mehr, als ich zugeben mochte; er hatte die Zuwendungen dieser beiden wundervollen Männer nicht verdient, nahm sie dennoch wie selbstverständlich hin.

Ich sah beim besten Willen nichts, absolut nichts, das an Karasu anziehend oder gar liebenswert gewesen wäre.

Und Mika, ausgerechnet Mika, mein Fuchs, der immer so vernunftgesteuert gewesen war, der Menschen immer mehr mit dem Kopf beurteilt hatte als ich, der gnadenlos war in seinen Urteilen und selten etwas zurücknahm, der kompromisslos liebte und kompromisslos tötete, hatte offensichtlich alle seine Prinzipien über Bord geworfen und sich jemandem geschenkt, den er früher nur ausgelacht hätte. Es ärgerte mich. Ich kannte ihn so nicht. Ich hatte mich immer auf seine Logik verlassen, und jetzt war seine einzige Erklärung, er habe Karasu attraktiv gefunden - das war noch nie ein Grund für ihn gewesen.

Dies war tatsächlich das erste Mal in meinem Leben, dass ich es bereute, so wenig Erfahrung in diesen Dingen zu haben; fast alles, was ich über so etwas wie Anziehung zu wissen glaubte, hatte ich aus Büchern. Und das wenige, das ich selber gelernt hatte, hatte sich schlussendlich als falsch herausgestellt.

Ich war einfach verlassen worden, ohne ein Wort, ohne Erklärung; und auch, wenn ich es jetzt zu verstehen glaubte, tat es doch weh.

Ich hatte Antti geliebt, als gäbe es kein Morgen; er war der Weg und das Ziel, mein Licht in der Dunkelheit, das leise Flüstern, das sich in langen Nächten ins Herz stiehlt und einem verrät, dass alles gut wird.

Er war alles, was ich immer nur für Phantastereien aus meinen Büchern gehalten hatte; mit einem Mal war es wahr geworden. So gutgläubig und empfindlich und introvertiert er auch war, so perfekt war er in meinen Augen. Ich hatte es geliebt, ihn unter meinen Küssen erzittern zu spüren.

Er hatte mich ebenfalls geliebt, bis zum Schluss, daran glaubte ich; ich hasste ihn nicht, hielt ihn auch nicht für einen Lügner.

Ich wünschte, ich könnte es. Denn umso mehr schmerzte die Erinnerung an ihn, wie ein Messer in meiner Brust. Sein Lachen war unauslöschlich in meinem Gehirn eingebrannt, sein Gesicht wenn er schlief, seine müden Augen morgens vor dem ersten Kaffee, seine Hand auf meiner Haut. An alles konnte ich mich erinnern.

Deswegen wollte ich ihn auf keinen Fall wiedersehen und auch nicht an ihn denken. Ich wollte nur noch mit Mika zusammensein, ich wollte nie wieder einem anderen Mann so nahe kommen, und vor allem nicht Antti, der mein Herz aufbrechen konnte und es zerreißen, ohne es zu wollen, mit einem einzigen Blick. Ich war endlich wieder zuhause angekommen, und ich musste mit der Vergangenheit abschließen. In den letzten Monaten mit Jamie war es um so vieles einfacher gewesen, so viele andere Sorgen hatte ich gehabt, und die eine oder andere schlaflose Nacht war bedeutungslos.

Aber jetzt, wo ich wieder in der Stadt war, in der ich mit Antti zusammengewesen war; jetzt, wo ich all die Orte wiedersah, an denen wir uns geküsst hatten, an denen ich seinen Atem gespürt hatte, an denen seine Hand in meiner gelegen hatte...

Es war um so vieles schwerer, und es tat so viel mehr weh. Fast war es, als habe es die letzten sechs Monate nicht gegeben.

Doch mein Mika war wieder bei mir, und das war das wichtigste; ich konnte auf alles in der Welt verzichten, konnte alle meine Gefühle in meinem Herzen einschließen, konnte nach jedem Verlust aufstehen und weitergehen, doch niemals ohne ihn, das wusste ich jetzt besser als je zuvor. Ich vermisste Antti, es schmerzte, doch es änderte nichts; ihn hatte ich verloren, und solange Mika bei mir war, konnte ich es ertragen, und irgendwann würde ich ihn vergessen.

Meine Gedichte waren letztendlich doch nur Phantastereien gewesen, die Bücher nichts als schöne Illusion; letztendlich war es vielleicht das Schicksal der Welt, dass Liebe allein nicht zum vollständigen Glück führt, dass alle Liebe letztendlich Illusion ist, und mit einem Satz nur zerstört werden kann.

Manchmal wünschte ich, ich könnte mehr Vernunftmensch sein, so wie mein bester Freund, und Gefühle auf Sex reduzieren.

Wenn es nur einzig der Sex gewesen wäre, den ich an Antti geliebt hatte! Es wäre alles um so vieles einfacher.

Wochenlang hatte ich Antti in einen hinteren Winkel meines Gehirns verbannt, hatte es mit Bravour geschafft, so zu tun, als habe ich mit allem abgeschlossen, und einzig dadurch, dass Mika sich ausgerechnet mit dessen Mitbewohner hatte vergnügen müssen in der Zeit seiner geistigen Umnachtung, wurde ich jetzt wieder an den Blonden erinnert. Er hätte nach Helsinki zurückgehen sollen. Mari hätte ihn mir nie vorstellen sollen.

Dass Mika mich die ganze Zeit beobachtete, während ich diese Gedanken hatte, merkte ich überhaupt nicht.

„Saku.“

Ich schrak auf. „Hm?“

„Woran denkst du?“

Ich erwiderte den Blick aus seinen klugen grünen Augen einige Sekunden lang wortlos; aus irgendeinem Grund wollte ich ihm nicht die Wahrheit sagen, obwohl ich wusste, dass er sie wahrscheinlich ohnehin von meinem Gesicht ablesen konnte. Ich lehnte mich in meinem Stuhl nach hinten, wandte den Blick auf meine Fingerspitzen auf dem Tisch, ehe ich sprach. „Was empfindest du wirklich im Bezug auf Karasu?“

„Du meinst, was ich ehrlich für ihn fühle?“

„Ja.“

Er wandte den Blick ab, lehnte sich in seinem Stuhl zurück; nach einer Weile drehte er den Kopf wieder zu mir, strich sich mit einer Hand die Haare hinter das Ohr und warf kurz einen Blick in seine leere Kaffeetasse. Dann wandte er die Augen wieder zu mir und begegnete meinem Blick ruhig und ohne zu blinzeln, die Finger sacht über das Porzellan streichen lassend.

„Nichts.“
 

Jamie: Drawn to you
 

Sometimes the lies you tell are less frightening than the loneliness you might feel if you stopped telling them.
 

Brock Clarke
 

„Junya!“

Ich trat aus der Tür, beugte mich hastig nach unten, um mir den rechten Schuh anzuziehen; ich hatte den Blauhaarigen aus dem Fenster gesehen und war sofort losgestürmt, er stand am Tor, wandte sich jetzt um, Teufel sprang um seine Beine.

„Warte!“

Ich sprang die paar Stufen hinab und rannte zu ihm, strich mir die Haare aus dem Gesicht, es war windig geworden.

„Wo willst du hin?“

Er sah zu mir zurück, wich fast einen Schritt vor mir weg, was mich veranlasste, verwirrt stehenzubleiben, ihn etwas irritiert anzulächeln.

„Was....hab ich was falsch gemacht?“

Er sah kurz auf den Boden, dann wieder zu mir, als seine Augen in meine trafen, lächelte er. „Nein, alles in Ordnung.“ Er legte einen Arm um mich und zog mich an sich, gab mir einen sanften Kuss auf die Wange, und ich wurde rot; sein Körper war warm an meinem unter seiner grauen Militärjacke.

„Ich hab dich gesucht.“

„Hmm.“ Er hielt mich in den Armen, und ich legte den Kopf an seine Schulter. Es war schon Nachmittag, und ich hatte ihn den gesamten Tag über nicht gesehen. Auch jetzt hatte es fast so ausgesehen, als hatte er den Hinterhof wieder verlassen wollen, und ich schob mich etwas dichter an ihn, er spürte es und streichelte mir mit einer Hand über den Rücken, ich fühlte seinen warmen Atem in meinem Haar.

Trotzdem war ich etwas böse mit ihm, er hatte sich schon vor unserer Beziehung immer mal wieder abgesetzt, da ja noch zusammen mit Rose, und jetzt ging er auch jedes Mal ohne mir Bescheid zu geben, erwartete aber meine volle Aufmerksamkeit, wenn er im Haus war; am Vorabend war er sogar beleidigt gewesen, weil ich ihn kurz hatte stehen lassen, um mit meinem Bruder zu reden – meinem eigenen Bruder! - zumindest hatte es den Anschein gehabt, denn er hatte in der halben Stunde darauf nur sehr einsilbig auf mich reagiert.

Er meinte es ja nicht böse, ich wusste immerhin, dass er eine eher stille und zurückgezogene Person war, und das war auch etwas an ihm, das ich liebte. Ich war froh und dankbar, dass er mich überhaupt an sich heran ließ, und ich wollte ihn auch noch viel näher kennenlernen. Ich neigte aber doch zur Sorge, schon mein ganzes Leben lang, und mit seinem Verhalten bekam ich gleich Angst, dass ich etwas falsch gemacht hätte, dass er mich nicht mehr wollte, oder dass ich ihm zu aufdringlich wäre, vielleicht wäre ihm meine Gesellschaft unangenehm; all solche Dinge dachte ich mir.

Dass ich das nicht brauchte, wusste ich eigentlich; ich merkte es an der Art, wie er mich festhielt, minutenlang, ich sah es an seinem Lächeln, ich konnte es hören, wenn er mir sagte, dass er mich liebte. Das kam vielleicht sehr früh, aber es war ehrlich gemeint.

Ich kuschelte mich an ihn, schloss die Hände hinter seinem Rücken. „Wo warst du den ganzen Tag?“

„Nirgendwo.“ Er sprach leise, ich fühlte seine Lippen an meiner Schläfe, schloss die Augen.

„Wo ist nirgendwo?“

„Jamie, es ist nicht so wichtig, ja? Ich bin nur ein bisschen herumgegangen.“

Ich hob den Kopf von seiner Schulter und sah ihn anklagend an. „Vielleicht hätte ich ja mitkommen wollen, oder du hättest mir wenigstens Bescheid sagen können. Ich hab mir fast Sorgen gemacht.“

Sein Blick streifte über mich hinweg. „Das interessiert dich doch gar nicht.“

Ich erstarrte und sah ihn mit offenem Mund an; er erwiderte meinen Blick nicht, sondern ließ die dunklen Augen auf irgendeinem Punkt in der Ferne ruhen, seine Lippen lächelten schwach, aber seine Augen schienen ausdruckslos. „...was? Das stimmt überhaupt nicht! ...Sieh mich doch bitte mal an!“

Junya blinzelte und richtete den Blick auf mich, und ich wich unwillkürlich etwas zurück. „Das...das stimmt nicht! Warum sagst du sowas?“

Sein Blick war sehr kühl geworden, und vielleicht etwas traurig, und ich griff unwillkürlich nach seiner Hand; er erwiderte den Druck, senkte den Kopf. „Ich sage das, weil es stimmt. Wir sind jetzt seit über einer Woche zusammen, und du lässt mich immer wieder links liegen, du gibst dich lieber mit den anderen ab, ich meine, ich merke nicht viel davon, dass wir ein Paar sind.“ Sein Blick ruhte wie versteinert in meinem. „Vielleicht bist du einfach zu jung, und bist gar nicht wirklich verliebt in mich, und ich erwarte zuviel von dir. Du hast mich gern, aber du liebst mich nicht, nichtmal ein bisschen; das stimmt doch, oder? Oder vielleicht bin ich dir auch zuviel, ist es das?“ Ich merkte seine Finger leicht zucken und griff seine Hand fester; ich sah ihn nur mit großen Augen an, während sich ein Ball aus irgendetwas Schwerem irgendwo in meiner Brust zu bilden schien; ich schluckte, konnte das Gefühl aber nicht loswerden.

„Was? Das stimmt nicht!“

„Ach ja?“

„Ja!“ Ich beugte mich zu ihm und küsste ihn auf den Mund; er zögerte erst ein paar Sekunden, erwiderte dann den Kuss, seine Lippen waren trocken und gaben leicht nach unter meinen, seine Arme legten sich wieder um mich. Ich wollte ihm sagen, dass ich ihn wirklich gern hatte, dass er mir etwas bedeutete, dass ich mich schon in der ersten Nacht in ihn verliebt hatte, aber das alles wusste er ja bereits! Ja, ich war erst sechzehn, ich war zum ersten Mal verliebt, da war es doch normal, dass ich in der ersten Woche noch ein bisschen zurückhaltend war, und abgesehen davon, es war eine aufregende Woche gewesen, die anderen machten schwere Zeiten durch, und mein Bruder vor allen anderen hatte mich gebraucht, bildete ich mir ein. Ich wusste ja nicht, was Junya von mir erwartete, doch wir kannten uns ja erst seit Kurzem, und...

„Entschuldige“, unterbrach er meine Gedanken mit einem Flüstern an meinen Lippen. „Jamie, tut mir leid. Ich weiß ja, dass du noch so jung bist. Und du merkst es ja selber gar nicht. Es tut mir wirklich leid, das war unfair von mir, ich kann ja nicht erwarten, dass du dich um nichts anderes mehr kümmerst als mich.“ Er legte seine Stirn an meine und strich mir leicht mit einem Finger über die Wange. „Verzeihst du mir?“

Ich nickte, schluckte trocken, jetzt erst merkte ich, wie sich Tränen in meinen Augenwinkeln sammelten.

„Hey...nein....wein nicht, es tut mir leid! Ich habs nicht so gemeint!“ Er küsste meine Wange, strich mir mit einer Hand die Tränen fort; ich wischte mir mit dem Handballen die Tränen aus dem anderen Auge und schüttelte den Kopf.

„Warum sagst du sowas....“, murmelte ich leise. „Ich kann halt nicht... Ich bin halt ein bisschen schüchtern, und das ging alles total schnell mit uns....aber ich will doch mit dir zusammensein...“

„Wirklich? Nicht nur, weil ich dich so bedrängt habe?“ Seine Hand sank wieder hinab und ruhte auf meiner Schulter; ich riss den Kopf hoch und sah ihn an, die Stirn leicht gerunzelt.

„Nein! So jemand bin ich nicht; ich meine, wenn ich mit jemandem zusammen sein will, dann...will ich das auch! Das bedeutet ja auch etwas, oder?“

„Ja?“ Er sah zur Seite, presste leicht die Lippen aufeinander.

Ich spürte, wie sein Griff an meiner Schulter etwas fester wurde. „Was ist los?“

Sein Blick flackerte, seine Mandelaugen schienen wie eine schwarze See, wie ein verdunkelter Gewitterhimmel. „Ich hab gesehen, wie du Valentin angesehen hast.“

„Was?“

Er trat einen Schritt vor mir zurück. „Glaubst du, ich merke das nicht? Die ganze Zeit schon, seit wir hier sind; erst war es Rose, und jetzt Valentin, ich bin doch nicht blind! Und wenn Ilja dich anlacht, wirst du jedes Mal ganz rot; nur bei mir bleibst du total kalt!“

Ich sah ihn jetzt wirklich mit offenem Mund an; ich konnte es zwar nicht sehen, aber es fühlte sich so an, als sein all mein Blut aus meinem Kopf gewichen, ich hörte ihn fast als spräche er nicht mit mir, und ich wäre nur Zuschauer dieser bizarren Szene. Ich spürte das absurde Bedürfnis, zu lachen, in mir aufsteigen; das war doch verrückt, das war doch ein schlechter Scherz!

Der Frühlingshimmel war auf einmal so grau und kalt geworden, wie eine dichte Glocke aus Rauchglas über der Stadt. „Bitte??“

„Sieh mich an und sag mir, dass es nicht stimmt!“

„Was...was...natürlich stimmt es nicht!“ Ich ballte jetzt eine Hand zur Faust, weil ich merkte, wie meine Finger angefangen hatten, zu zittern. „Ich bin eben schüchtern und kann nicht so gut mit Leuten umgehen, deswegen werde ich möglicherweise ab und an mal rot, ja!“

Das Bedürfnis zu lachen verschwand und wurde durch leichte Hysterie ersetzt, wie ich merkte, indem meine Stimme ein wenig umschlug. Ich war in diesem Moment fast weniger verletzt, als wütend, ich wollte fast weinen vor Zorn, dass er, der Mann in den ich wirklich, wirklich verliebt war, solche gemeinen Dinge behaupten konnte, und sie vor allem selber glaubte! Was hatte ich getan, dass er so etwas glaubte? Okay, ich hatte ihm wirklich nicht all meine Beachtung geschenkt, aber ich war in ihn verliebt, ich war wirklich in ihn verliebt, das merkte ich alleine schon daran, wie sehr seine Worte mir gerade wehtaten; am liebsten hätte ich mich zusammengekauert und geweint. Und das hätte ich ihm vielleicht gesagt, wenn er nicht wieder zu mir gesehen hätte, mit diesen unglaublich verletzten Augen. „Bei Yukio vorhin warst du ja nicht so schüchtern!“

„W...“ Ich brach ab und mein Mund klappte auf. Ich konnte nichts mehr sagen. Ich konnte ihn nur noch anstarren.

Junya wehte der Wind die blauen Strähnen in die Stirn, sein blasses Gesicht war absolut regungslos, die Augen wie schwarzes Wasser. „Du weißt schon, was ich meine. Denk mal drüber nach.“

„Ich...ich hab....“ Meine Stimme war leise, fast tonlos, Junya sah mich nicht an. „Das war nicht meine Schuld, ich wollte ihn nur trösten, du weißt ja wie er ist...“

Der junge Mann stand leicht von mir abgewandt, seine Haare fielen ihm ins Gesicht, ich konnte seine Augen nicht sehen. Er sagte gar nichts mehr.

Ich wollte mich bei ihm entschuldigen, aber ich wusste nicht wie; was er gesagt hatte, stimmte ja, aber ich war trotzdem schüchtern, das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun....und auch Yuki hatte es ja nicht so gemeint.

Vielleicht sollte ich wirklich darüber nachdenken, wie ich mit meinen Freunden umging? Am Ende hielt ich es wie mein Bruder....und zog meine Grenzen, wo andere sie nie vermuten würden. Vielleicht lag es in meinem Blut, dass ich nicht verstehen konnte, was Nähe bedeuten konnte, und dass ich Menschen unwillentlich verletzte.

Ich sah Junya lange an, er bewegte sich nicht, stand nur still vor mir, die Seite mir zugewandt, die Hände in den Taschen, und irgendwann rührte ich mich, stieß den Atem in einem zittrigen Zug aus. „Okay...dann....“ Ich scharrte mit dem Fuß, senkte den Kopf, wie betäubt, ich spürte meinen Körper gar nicht mehr richtig, alles in meinem Kopf war wie erstarrt, jeder Gedanke, ich konnte nichtmal darüber nachdenken, was er gesagt hatte, ich stand wie vor einer glatten grauen Mauer, vor einer Guillotine aus Schock, die jeden Gedankengang abtrennte. „Ich...ich geh dann rein...“

„Warte!“

Ich hatte mich schon halb umgedreht, Junya umfasste mich von hinten, zog mich an sich, ich war zu erstarrt, um zu reagieren, auch nicht, als ich seine zittrige Stimme an meinem Ohr hörte. „Ist schon okay, ich wollte dir wirklich keinen Vorwurf machen, das war idiotisch von mir grad....es tut mir leid, ja?“

„Mir auch“, murmelte ich, ohne genau zu wissen wie so, doch es tat mir tatsächlich leid, das Schuldgefühl saß wie ein Kloß in meiner Kehle.

„Nein, nein, ist okay. Lass dir soviel Zeit wie du brauchst.“

„Wegen Yuki...“

„Vergiss Yuki. Yuki ist egal. Ich liebe dich. Ich will dich nicht verlieren. Du musst mir das glauben. Glaubst du mir?“

Ich nickte, er atmete heiser aus, legte sanft die Lippen an meinen Hals, ließ sie langsam nach oben wandern, ich hatte den Kopf geneigt, wischte mir wieder mit einer Hand die Tränen aus den Augenwinkeln.

Junya flüsterte an meinem Ohr. „Ich liebe dich.“

Ich sah auf den Boden, drückte mich mit dem Rücken in seine warme Umarmung, und hatte ein unglaublich schlechtes Gewissen, weil ich zugelassen hatte, dass mein Freund sich mit solchen Gedanken plagte.

Was das eigentlich bedeutete, und was es mich noch kosten würde, das ahnte ich damals noch nichtmal im Ansatz.
 

Das seltsame Gefühl, vor mir selber herzutreiben, verließ mich nach diesem Vorfall den ganzen Nachmittag lang nicht; und ich war froh und dankbar, dass es Junya wirklich leid zu tun schien, denn ehrlich, wäre dem nicht so, ich wüsste nicht, was ich getan oder gedacht hätte.

Was er gesagt hatte, hatte mich völlig unerwartet getroffen und mich verletzt, doch seine Entschuldigung schien aufrichtig gemeint, es tat ihm wirklich leid, und er tat alles, um mir das zu zeigen, so dass ich zumindest ehrlich glaubte, dass er es nicht so gemeint hatte, sondern nur mit den Nerven am Ende gewesen war, vermutlich weil er mich mit Yuki gesehen hatte. Das war zugegebenermaßen eine ungünstige Situation gewesen, und ich versuchte mehrfach, es ihm zu erklären, aber er unterbrach mich jedesmal, beteuerte, dass es egal sei, und erst, als er meinen Protest mit einem Kuss erstickte, schwieg ich dann auch zum Thema.

Er schien zumindest gemerkt zu haben, dass ich mir Sorgen um ihn gemacht hatte, denn er wich für die nächsten Stunden nicht von meiner Seite, hielt meine Hand, ab und an spürte ich seine Finger leicht meine drücken, oder seinen Daumen über meinen Handrücken streichen, was mich jedesmal ein wenig zum Lächeln brachte.

Ich fragte ihn aber auch gar nicht mehr, wo er gewesen war; es hätte wenig Sinn gehabt, Junya war schon seit ich ihn kennengelernt hatte, nicht erst seit unserer Beziehung, eher zurückhaltend gewesen, und nicht der Typ, jedem alles zu erzählen, das musste ich respektieren, gerade auch weil es bei mir ja nun eher andersherum war, nicht? Schließlich war ich derjenige, der herumlief und mit jedem über Gott und die Welt palaverte, und bereit war jeder Zufallsbekanntschaft sofort sein Herz auszuschütten, samt Lebensgeschichte, und ein, zwei netter Anekdoten, so sie denn gerade zum Thema passten. Aber so ein Verhalten war ja auch nicht normal, das konnte ich schlecht genauso von meinem Freund erwarten.

Die Hauptsache war, dass er wieder hier war, bei mir, und dass zwischen uns alles wieder in Ordnung war, und die Traurigkeit aus seinen Augen verschwunden.

So war ich denn auch gegen Abend langsam wieder gelöster Stimmung, sah mir mit Junya und Ilja eine alte Sitcom auf Dvd an, als Fuchs und Sakuya wieder das Haus betraten, sich lautstark und anscheinend fröhlich auf Russisch unterhielten. Dass es fröhlich war, konnte ich nur vermuten; für mich klingt diese Sprache noch immer grundsätzlich wütend.

„Hey!“ Fuchs lachte uns an, als er uns sah; ich sah dass Saku einen Arm um seinen Rücken gelegt hatte und ihn über seine Schulter streichen ließ, als sich der Rothaarige die Schuhe abstreifte und zu uns herüberkam, sich auf den unbesetzten Sessel warf und ein Bein überschlug, die Arme auf die Lehnen gelegt. Ich hörte meinen Bruder leise murren, als er seine eigenen schweren Stiefel mühsamer aufschnürte und auch Fuchs' ausgetretene Turnschuhe ordentlich mit ihnen an die Seite stellte.

„Hi.“ Ich grinste schief, Junya hatte sein Gesicht an meinem Haar, ich konnte die Wärme seines Atems spüren.

„Was seht ihr euch an? - Saku, doch lieber später.“

„Immer noch Tee?“ Mein Bruder kam zu ihm und ließ sich im Schneidersitz neben ihm auf einer Lehne nieder, Fuchs nahm den Arm zur Seite.

„Schwarzen?“

„Grünen.“

„Dann Kaffee.“

„Mach ich nachher.“

„Was ziehst du an?“

„Weiß ich noch nicht.“

„Leder?“ Fuchs grinste breit, steckte die Zungenspitze zwischen den Zähnen hervor.

„Du kannst mich mal. - Ilja, kann ich mir eventuell ein T-Shirt von dir leihen?“

„Klar, kein Problem.“ Ilja streckte sich und gähnte. „Nimm dir, was du brauchst. Geht ihr aus?“

„Ja, wir wollten ins Eden heut Abend.“ Sakuya nickte.

„Ich war ewig nicht da.“ Fuchs verschränkte die Arme hinter dem Kopf und wandte den Blick vom Fernseher zu Junya und mir. „Wollt ihr zwei mitkommen?“

„Ähm...“ Ich sah kurz zu meinem Freund, der noch immer auf den Bildschirm blickte, und dann etwas unsicher zurück zu Fuchs; Junyas Arme um meine Mitte hielten mich regungslos an ihn gezogen. „Ich weiß nicht... Was ist denn da heute los?“

Fuchs hob die Schultern, Saku antwortete an seiner Stelle. „Ich weiß es nicht, wahrscheinlich nicht so viel, unter der Woche. Vielleicht spielen Utopia; oder?“ Er wandte den Blick zu seinem Freund.

„Ja, ich glaube, aber ich weiß es nicht mehr genau; ich meine, Katze hat mir gesagt, ich soll kommen, aber ich hab ihr ehrlich gesagt nicht richtig zugehört. Vielleicht war es auch Amelie.“

„Wer ist denn Amelie?“

„Ach, irgendein Mädchen, die vor ein paar Wochen mal was von mir wollte. Ich bin mir ziemlich sicher, es war eine von den beiden, Katze oder Amelie. Sie war auf jeden Fall hübsch.“

„Hast du deswegen nicht zugehört?“ Sakuya grinste diebisch, sein rothaariger Freund schnaubte.

„Du Vogel; ich hab ihr nicht zugehört, weil ich in Gedanken bei dir war!“

Saku lachte und lehnte sich mit dem Rücken nach hinten, lag jetzt halb auf der Armlehne, ein Bein aufgestemmt, das andere hing neben dem Sessel hinab; Fuchs hatte einen Arm auf Sakuyas Oberschenkel anstelle eines Polsters gelegt, rutschte tiefer in die Sitzfläche und trommelte mit den Fingern auf der anderen Lehne, schenkte mir ein schiefes Lächeln. „Hey, ihr solltet wirklich mitkommen, ich würd mich freuen, ich war so selten mit Freunden aus in letzter Zeit, bisschen Ablenkung wär schön.“

Ich sah wieder zu Junya, der hob leicht die Schultern, lächelte mich dann leicht an. „Wenn du gern möchtest.“

„Ich...“ Ich wandte mich wieder zu Fuchs, lachte ihn an. „Ja, okay, dann gehen wir ins Eden heut Abend!“
 

Ende 13/?



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  JamieLinder
2012-04-17T20:47:54+00:00 17.04.2012 22:47
So. *uff*
Diesmal bezieht sich das Kommentar weniger auf das Kapitel,
denn es ist ja schon alles geklärt, was geklärt werden hätte müssen. (:
>Irgendwas hat Mari zu Yuki gesagt, ich weiß nur nich mehr was.<
Ohja... Es war mir so peinlich.xD

Ich kann mich noch ganz gut an meine ersten Gedanken erinnern,
als ich Stray angefangen hatte zu lesen.
>Ach das wird nur irgendeine Gesicht von einem Jungen und seinem Bruder und dem Typ in den er sich verliebt.<

PUSTE KUCHEN!
Stray ist so komplex, so unglaublich tiefgründig und du hast auf jede Frage eine Antwort, die gut durchdacht ist. Egal was, man kann dich alles fragen, du kannst es einem sagen und man möchte dich immer weiter reden hören. Du bist wie ein Geschichtenerzähler, denen hört man auch gerne zu...o.o ~<3
Saßen wir einfach mal bis tief in die Nacht auf deinem Bettchen und du hast Stundenlang über Stray geredet und mir alle Geschichten erklärt, einfach wunderbar. <3
Ich hatte die letzte Woche einen total Stray-Flash. Ich wollte IMMER MEHR.!
Und ab Donnerstag gings mit Hetalia los... (Anderes Thema.xD)
Das Beste an der Woche (neben dir) war der Mittwoch - Goslar.!
VERDAMMT, ICH HÄTTE JAMIE UND MARI UM DEN HALS SPRINGEN KÖNNEN SO NAH WAR ICH DRAN.!
Ich danke dir so sehr. <3
Ich weiß zwar nicht, ob du dir vorstellen kannst, wie jemand so begeistert von einer Geschichte sein kann, aber ICH BIN ES.!
Saku und Antti unter der Laterne sehen zu können, Bildlich, fast schon an ihnen schnuppern zu können - GOTTGLEICH.!
Und als großer Jamie-Fan *Fähnchen wedel* auf seinem Platz gessesen zu haben - UNBESCHREIBLICH!
Der Macchiato war wirklich lecker, auch wenn es kein Caramel Macchiato war. =3
Natürlich waren die Hintergrundinformationen über Rose, Yuki, Mari, Karasu, Antti und und und auch toootal klasse. Ich habe von allen eine neue Meinung, ein anderes Bild und zwei neue lieblings Pärchen... ~<3
Saku und Antti / Karasu und Fuchs.
Deshalb hoffe ich, dass Fuchs das mit Karasu-Schatz (hööhöö) wieder hingebogen bekommt und dass das Aufeinandertreffen nicht ganz im Massaker enden wird. (:

Noch was, ich hab deinen.. Zeitstrahl bei mir an die Wand gehangen.xD
Also Beweis, dass es KEIN TRAUM war, dass ich neben dir auf dem Bett gesessen habe, an dich gelehnt und dir beim Stray Tippen zuhören konnte. =3
Ich bin verrückt, oder ? XD
Das man sich über soetwas freuen kann....xD

*nach oben schiel*
HaHa Shunya.XD
(Sorry Last_Tear falls du das liest.XD)

Ich sollte aufhören Romane zu schreiben.xD
Also gut, ich danke dir von ganzem Herzen, dass ich eine Woche bei dir verbringen durfte und mir ein noch besseres Bild von Stray, Göttingen und Goslar machen durfte. (:
Ich bin dir total dankbar dafür und hoffe, dass ich es dir gleich tuen kann und darf, falls du mal nach Berlin kommen solltest. Du darfst dich immer an mich wenden. (:
Ansonsten sehen wir uns zur Nichi das nächste Mal wieder, als Iceland und Norway. <3 (Und eventuell sogar mit einem Dänemark.;D)

Ich hab dich lieb. <3
*knuddel*
*Jamie & Junya-Fähnchen schwing*

Von:  Last_Tear
2012-04-10T23:33:34+00:00 11.04.2012 01:33
Miep O__O
Ok, das is das erste Kapitel dass ich auf drei Tage verteilt lesen musste x.x
Hab momentan wohl nicht den Kopf dafür, auch wenn ich jedes Kapitel nach wie vor sehnsüchtig erwarte ;_;
Hach ja, Karasu ^.^
Irgendwie...erinnert er mich an Kyo x.x
Ich weiß nicht mal wieso *drop*
Aber an den Kyo in meinem Kopf auf jeden Fall <.<
Und ich mag ihn. Verdammt. Ich dachte ich würde ihn nie mögen aber irgendwie, hat sich das geändert und ARGH X___X
Ich hab mittlerweile sogar Mitleid mit Antti...x.x
No comment.

Wie gesagt, ich mag mal mit XD
Juuungs, nehmt mich mit ;_;
*Val anbettel*
*fiep*
Ich werd auch lieb sein >3
*hust*
Nya x.x
Mari...und Yuki O__o
Das war so *starr*
*les*
*ratter*
*ratter*
*denk*
*vorstell*
Mich würde verdammt noch mal interessieren was da abgelaufen ist >.<
*nicknick*
*zu Yuki ins Zimmer schleich* >.<
Ich mein...Mari is doch so nett und so eigentlich @…@

Mahahahah x.x Shunya *o* Es lebt auch noch *fiep* *freu* Aber die Vorwürfe..autsch .x. Nya...er hat ja Recht irgendwo...aber er is doch eh nur verletzt und alles und argh. Ich interpretier das Gedankenleben deiner Charas irgendwas stimmt da doch nicht x.x
Es ist nur immer wieder toll XD Du denkst dir zuerst wtf 40 seiten...was soll da schon passieren un dann passieren so viele Dinge auf einmal und irgendwie erinnert mich Antti grad an Shinya von Diru...frag nicht wieso. Ich mag ihn knuddeln auf jeden Fall ;___;

Und die Zwillinge tun mir ja auch voll Leid >.< Ich hoff doch, dass sich das noch legt .x. Nen ANfall an ihrem Bday wäre echt doof...und ich muss grad dran denken wie sie alle ins Haus gekommen sind und Fuchs den Hasen? Kuscheltier whatever für Yuki genäht hat und awwww ;___;

Du siehst, deine FF hat sich eingenistet...in meinem Kopf und in meinem Herzen ;_;


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