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Never let me go

von

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And with friends like you, who needs enemies?

And with friends like you

Who needs enemies?“

 

Placebo, „Forever chemicals“

 

„D-dazai?“ Atsushi starrte verstört in den Lauf der Waffe, die Dazai auf sie gerichtet hatte. „Was … was hat das zu bedeuten?“

„Aw, Atsushi, mach nicht so ein Gesicht“, erwiderte der Angesprochene erheitert, „du darfst das nicht gleich persönlich nehmen. Ich habe nichts gegen euch. Ich habe nur etwas Interessanteres gefunden.“

„Etwas Interessanteres?“, wiederholte der Silberhaarige perplex. „Was soll das denn heißen?“

„Das heißt das, was es heißt … tsk, tsk, tsk, Kunikida.“ Dazais Augen wanderten zu seinem Kollegen. „Lass deine Hände schön da, wo ich sie sehen kann. Deine Fähigkeit ist hier sowieso nutzlos. All eure Fähigkeiten sind hier nutzlos.“

„Es ist tatsächlich ein erheblicher Vorteil, ihn dabei zu haben“, raunte Shaw im Hintergrund Wilde zu. „Die Fähigkeiten dieser vier können ihm keinen Schaden zufügen.“

„Ich weiß“, bestätigte Wilde ihm, „er ist das beste Pferd, auf das man setzen kann.“

Kunikida hob seine Hände langsam hoch und warf seinem eigentlichen Partner böse Blicke zu. „Du arbeitest jetzt also für den Feind? Was versprichst du dir davon?“

„Ich bekomme diesen spannenden Apparat zu Gesicht und darf ihn sogar benutzen.“

„Würde der bei dir überhaupt wirken?“, entgegnete Kunikida.

„Aber ja doch!“, frohlockte Dazai. „Er ist schließlich keine Fähigkeit, sondern nur eine Art Fähigkeiten-Waffe. Die kann ich nicht neutralisieren.“

„Er hat leider Recht“, äußerte Kyoka verstimmt, „wir können ihn nicht mit unseren Fähigkeiten angreifen. Und ich kann nicht einschätzen, wie erfolgreich der Versuch eines Nahkampfes gegen ihn wäre.“

„Moment, Stopp!“ Atsushi schüttelte vehement den Kopf. „Wir kämpfen doch nicht gegen Dazai!“ Das war verrückt, einfach nur verrückt. Hatten alle den Verstand verloren?

„Er gehört jetzt zum Feind“, widersprach Kyoka ihm schonungslos. „Es tut mir leid, aber du musst dich nun entscheiden, ob du uns oder ihm hilfst.“

Atsushis Atem ging immer schneller, während ihm schwummrig im Kopf wurde. Das konnte nicht ihr Ernst sein. Er sollte sich zwischen ihnen entscheiden? Er sollte gegen Dazai kämpfen? Dazai gehörte zum Feind? Atsushi hatte das Gefühl, dass ihm der Boden unter den Füßen weggerissen worden war.

„Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst, Junge.“ Joyce bebte am ganzen Körper und versuchte dennoch, so ruhig wie irgend möglich zu klingen. „Ein solcher Verrat ist unerträglich. So schlecht ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht gewesen.“ Er blickte zu seinem Kompagnon. „Und du? Gehörst du auch zu dieser Verschwörung?“

Sichtlich von diesen Worten getroffen, zwang Wilde sich zu einem Lächeln. „Ich würde es nicht eine Verschwörung nennen. Wir erledigen, was zu erledigen ist, und dann kann jeder seines Weges gehen. Vertrau mir, Jimmy. Alles wird gut werden.“

„Dir vertrauen?“ Joyce schluckte. „Nach alldem, was ich jetzt weiß, ist das leichter gesagt als getan.“

Wilde biss sich auf seine zitternden, gequält lächelnden Lippen. Er sah aus, als würde er jede Sekunde anfangen zu weinen. Und doch tat er es nicht.

„Dann wäre das ja geklärt“, sagte er stattdessen bitter.

Shaw trat aus dem Hintergrund nach vorn. „Übergeben Sie mir jetzt das fehlende Teil. Dann können wir die Angelegenheit möglichst unblutig beenden.“ Er hielt eine Hand auf und blickte abwartend zu den Detektiven und Joyce.

Panisch schnellte Atsushis Blick zu Kunikida, der in der Luft seine Hände zu Fäusten verkrampft hatte.

Was sollten sie nun tun? Selbst, wenn sie wollten, sie konnten ihnen das Teil nicht geben.

„Was ist? Ich warte.“ Shaws Laune verschlechterte sich drastisch. „Haben Sie noch nicht verstanden, dass eine Kooperation Ihre Leben retten würde?“

„Es gibt da vielleicht ein Problem“, erklärte Kunikida angespannt.

„Ein Problem?“ Verärgert hob Shaw eine Augenbraue. „Was zur Hölle meinen Sie?“

„Wir haben es nicht bei uns“, warf Atsushi nervös ein. „Ranpo hat das fehlende Teil.“

„Was?!“ Mit einem Mal kochte Shaw vor Wut. Erzürnt schaute er zu Dazai. Dieser schüttelte seufzend den Kopf. Dann kam er mit gemächlichen Schritten auf Atsushi zu.

„Was soll denn das, Atsushi?“, tadelte er ihn. „Hältst du das für klug, uns etwas vorzumachen? Du warst noch nie ein sonderlich guter Lügner. Noch nicht einmal ein annehmbarer, wenn ich ehrlich bin.“

Die Atmung des Jungen ging in eine Schnappatmung über. „Das ist die Wahrheit, Dazai! Ich lüge nicht! Ranpo hat das Teil bei sich!“

„So?“ Mit ernster Miene blieb Dazai vor ihm stehen und jegliche Farbe entwich Atsushis Gesicht, als sein Mentor den Lauf der Pistole gegen seine Stirn drückte. „Wie ich schon sagte: Du bist ein grausiger Lügner, Atsushi.“ Er langte mit seiner freien Hand in die rechte Hosentasche des Jüngeren und holte dort etwas hinaus. Entgeistert starrte Atsushi auf den kleinen Computerchip-ähnlichen Gegenstand, den Dazai plötzlich in der Hand hielt.

Was …?

Wie …?

Woher …?

Seine Augen weiteten sich, als ihm dämmerte, was passiert sein musste. Ranpo hatte ihm dieses Ding heimlich zugesteckt. Aber warum?

„Das ist es also?“ Dazai hielt das Teil prüfend in die Sonne, doch diese machte ihm einen Strich durch die Rechnung, indem an diesem heißen Tag schlagartig dunkle Wolken am zuvor blauen Himmel aufzogen. Der Braunschopf zuckte mit den Schultern. „Ich hatte irgendwie mehr erwartet.“ Er übergab es Shaw, der es gierig entgegennahm und mit großen Augen anblickte.

Hastig krempelte der Ire den rechten Ärmel seines Sakkos und seines darunterliegenden Hemdes hoch. An seinem Unterarm kam eine merkwürdige Konstruktion zum Vorschein. Sie sah aus wie eine schwarze Armschiene, die mit mehreren Bändern an seinem Arm befestigt war. An der Stelle, unter der seine Pulsadern waren, klaffte ein Loch. Mit zitternden Fingern setzte Shaw das fehlende Teil in das Loch ein. Es passte wie angegossen. Ein blasses, hellgelbes Licht flackerte kurz auf dem Display des Apparates auf.

„Geschafft“, hauchte er entrückt. „Geschafft!“

„Das ist sie?“ Dazai klang enttäuscht. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass so ein winziges Ding eine Fähigkeiten-Waffe sein soll. Sind Sie sich sicher, dass sie funktioniert?“

Zum ersten Mal überhaupt sahen sie Shaw lächeln. „Sie funktioniert! Glauben Sie mir, sie funktioniert! Basil hatte sie für den Einsatz auf dem Schlachtfeld konzipiert, daher ist sie so kompakt. Ja, er war ein wahrer Meister seines Fachs. Nach all den Jahren, nach all den schrecklichen Dingen, die passiert sind, halte ich sein größtes Meisterwerk in Händen. Es hat lange gedauert, aber wir sind endlich am Ziel angekommen!“

Nervös beobachteten die Detektive und Joyce das Geschehen. Sie wussten nicht, wie diese Erfindung arbeitete und was Shaw mit ihr vor hatte.

„Und jetzt?“, hakte Dazai nach. „Muss man irgendeinen Knopf drücken? Oder ein Gedicht aufsagen?“

„Es ist etwas komplizierter als das“, erläuterte Shaw und schritt zu Wilde zurück. „Der Apparat kann nur von einem Befähigten aktiviert werden, der über eine Heilfähigkeit verfügt.“ Er hielt seinem Landsmann den ausgestreckten Arm, mit der Handinnenfläche nach oben, hin und übergab ihm mit der anderen ein kleines Messer. Wilde nahm es entgegen, holte tief Luft, schnitt sich in die brutal zugerichtete linke Hand und legte die Finger seiner rechten Hand auf das Display.

„Fähigkeit: The Happy Prince“, sagte er vollkommen unenthusiastisch.

Das vorher nur schwache Licht leuchte plötzlich grell auf. Das ehemals schwarze Teil, das die Detektive so mühsam gesucht hatten, wechselte die Farbe und erstrahlte nun in goldenem Glanz.

„Perfekt“, Shaw blickte ehrfürchtig auf die Fähigkeiten-Waffe an seinem Arm. „Es fehlt nur noch eine Kleinigkeit.“ Er drehte sich zu Dazai um. Mit auffällig unsicheren Schritten kam der Ire auf ihn zu.

Gespannt sah der Detektiv flüchtig zu Wilde, der seltsam besorgt wirkte, bevor er den Blickkontakt zu seinem neu gewonnenen Verbündeten suchte. Shaw ballte die Hand, über der die Fähigkeiten-Waffe befestigt war, zu einer Faust und entspannte sie wieder, als er vor Dazai zum Stehen kam. Zögerlich streckte er die Hand nach Dazai aus. Es schien, als wollte er nach ihm greifen. Nur wenige Millimeter trennten seine Fingerspitzen noch von dem Brünetten, bevor er ihn berühren konnte-

„George, bitte, langweile mich nicht.“

Die drei Detektive und Joyce schnellten herum, als hinter ihnen diese Stimme ertönte.

Shaw hatte erschrocken inne gehalten, während Wilde vor Schreck erstarrt war.

Aufmerksam drehte auch Dazai sich in die gleiche Richtung.

Ein Mann mit kurzen Haaren, die schwarz wie Ebenholz waren, und einem säuberlich getrimmten Bart kam hinter dem Gebäudeteil hervor, das in das Treppenhaus führte. Er trug ein elegantes, schwarzes Samtjackett und eine teuer aussehende, dunkelgraue Hose. Zudem hatte er einen edel wirkenden Gehstock bei sich.

„Das wolltest du gerade nicht wirklich tun, oder?“ Der Mann schüttelte empört und gleichzeitig überheblich den Kopf. „Du wolltest mich gerade nicht wirklich verraten, oder?“

Eilig machte Shaw einen Schritt von Dazai zurück und tippte das Display an, sodass der Goldschimmer etwas schwächer wurde. „Unsinn. Wie kommst du darauf, Henry?“

„Henry?“ Kunikida und Joyce tauschten einen ebenso aufgeschreckten Blick aus wie Atsushi und Kyoka.

„Noch ein Wiedersehen?“ Dazai drehte sich zum kreidebleichen Wilde um.

Dieser schüttelte ungläubig den Kopf. „Das … das kann nicht ...“

Henry lachte belustigt. „Das ist ja eine Seltenheit, dass du sprachlos bist. Aber unser japanischer Bruder im Geiste hat Recht, nicht wahr? Wir haben uns in der Tat sehr lange nicht gesehen.“

„Nicht, seit wir dachten, du seist bei diesem Auftrag damals gestorben.“ Wilde errang seine Fassung wieder. „Hast du dem Teufel ein Ohr abgekaut und bist zurückgeschickt worden?“

Der Totgeglaubte lachte abermals. „Ah, ja, du fandest schon damals, ich würde zu viel reden. Dein geliebter Dorian hat mir immer mit Freuden zugehört. Deswegen hatte er es wohl auch einfach nicht kommen sehen, als ich ihm einen deiner alten Dolche in den hübschen Körper gerammt habe.“

„Du hast -?!“ Wilde stürmte nach vorne und wurde von Shaw mit der linken Hand aufgehalten.

„Tsk, tsk, tsk.“ Henry wackelte mit einem Finger. „'Oh nein! Wie konntest du nur?'“, ätzte er mit affektierter Theatralik. „Bitte, Oscar, langweile mich nicht mit so etwas. Ich habe so viele Mühen auf mich genommen, um Basils Vermächtnis wiederzufinden. Es ist wahr: Ich bin damals nur sehr knapp mit dem Leben davon gekommen und da dachte ich mir: Warum riskierst du so viel für Basils schwachsinnigen Traum von einer friedlichen Welt? Das Leben ist zu kurz für so einen Unfug. Ich zog eine Weile umher und plötzlich überkam mich eine Eingebung. Das Leben ist zu kurz.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „Dann fand ich den guten George in einem wirklich bedauernswerten Zustand vor. Der Arme war wegen eurer schiefgegangenen Pläne durch die Hölle gegangen und floh rastlos von einem Ort zum nächsten. Selbstverständlich musste ich ihm da helfen. Umso bitterer, dass er sich nicht an unsere Absprache hält.“

„Was soll das heißen?“, murrte Kunikida in das selbstverliebte Gefasel des Engländers hinein.

„Von einer Absprache höre ich auch zum ersten Mal“, bemerkte Dazai. „Und von diesem Henry.“

„Na los“, forderte Henry Shaw auf, „erzähl ihnen von der Kleinigkeit, die du vergessen hast zu erwähnen.“

Erzürnt grummelte der Ire und knirschte mit den Zähnen. „Der Apparat benötigt eine weitere Voraussetzung, um ein Leben unsterblich zu machen“, gab er widerwillig zu, „ein Menschenopfer.“

Entsetzt sah Atsushi von Shaw zu Dazai. Hatte er gerade etwa versucht-?

„Oh.“ Dazai blinzelte und zeigte mit seiner freien Hand auf sich. „Ich sollte geopfert werden? Das ist aber nicht nett.“

„Nicht wahr?“ Henry gab ihm gespielt empört Recht. „Nach allem, was ich für dich getan habe, George, fällst du mir so in den Rücken? Ich habe gesagt, ich will den interessanten Japaner behalten und du sollst die Frau dafür benutzen. Wo ist sie überhaupt? Habt ihr sie im Versteck gelassen?“

„Da ich einen Ersatz für Frau Mansfield gefunden hatte, sah ich keine Notwendigkeit, sie mitzunehmen“, erklärte Shaw. „Außerdem traue ich dem Detektiv nicht so sehr wie du.“

„Aber er ist interessant! So viel interessanter als einer von euch es je sein wird“, lamentierte der Engländer. „Was ist daran so schwer zu verstehen?“

„Ich vermute, ich sollte mich geschmeichelt fühlen“, warf Dazai verstörend heiter ein.

„Definitiv!“, antwortete der Schwarzhaarige entzückt. „Es gibt schließlich nur zwei Arten von Menschen auf der Welt, die wahrhaft faszinierend sind: Die, die absolut alles wissen und die, die absolut nichts wissen. Von der letzteren Sorte findet man hier und da einige, aber von der ersteren … oh, viel zu wenige. Viel zu wenige.“

Joyce machte ein verächtliches Geräusch. „Damit ich das richtig verstehe: Sie haben diesen Dorian umgebracht und mich und die Detektive in diese Falle gelockt, nur damit Sie alle länger leben können als andere?“

„Nur?“ Henry wirkte beleidigt. „Nur. Tsk. Verspotten Sie nicht den armen George. Basils Erfindung kann schließlich noch viel mehr. Sie kann Gott spielen und Leben erschaffen, wo vorher keins war!“

„Soll heißen, sie könnte aus einer Lebensform-Fähigkeit einen echten Menschen machen“, übersetzte Dazai. „Ich hatte mir so etwas bereits gedacht.“

„Eliza“, folgerte nun Kyoka. „Mit Dazais oder Mansfields Opfer sollte Eliza zu einem Menschen gemacht werden.“

„Ist so etwas wirklich möglich?“ Atsushi konnte es kaum glauben.

„Ich habe keine Ahnung.“ Mit ratlosem und doch todernstem Blick verfolgte Kunikida die Diskussion.

„Davon weiß ich auch nichts“, sagte Wilde, wieder etwas ruhiger. „Basil hat nie etwas in dieser Richtung erwähnt. Aber George glaubt fest daran. Hast du ihm das eingetrichtert?“

„Warum so feindselig?“, entgegnete Henry pikiert. „Ich bin der einzige, der ihm helfen wollte, nachdem ihr ihm diese schrecklichen Dinge angetan habt. Wieso sollte ich ihn anlügen? Was hätte ich davon? Er hängt an seiner Eliza und wir haben so viel durchgemacht, um den beiden den Traum zu erfüllen, dass sie ein Mensch werden kann. Basil wollte das auch nicht verstehen. Er war so unkooperativ. Und dann wundert er sich, wenn ich ihn töte. Aber er war schon immer ein wenig wunderlich gewesen.“

„Du hast auch Basil auf dem Gewissen?“ Erschüttert und gleichzeitig angewidert trat Wilde von Shaw zurück und fuhr sich mit seiner gesunden Hand verzweifelnd durch die Haare. „Ich konnte dich nie leiden, aber ich dachte, du hättest wenigstens Basil gegenüber so etwas wie Freundschaft oder Verbundenheit verspürt. Lag ich da so falsch? Konntest du ihn einfach kaltblütig ermorden?“

Henry seufzte und rollte mit den Augen. „Kaltblütig. Habe ich etwas von kaltblütig gesagt? Wir hatten uns sehr warmherzig unterhalten, bevor ich ihn abgestochen habe, also … würde ich das nicht als kaltblütig bezeichnen. Außerdem hätte er es mir wirklich nicht so schwermachen sollen. Ich hatte zwar die Liste mit den Orten, an die die Teile geschickt worden waren, schon vor einiger Zeit gestohlen und abgearbeitet, aber er weigerte sich, mir das Geheimnis hinter Yokohama preiszugeben. Wen zur Hölle kannte er denn in Yokohama? Und weißt du, was dann seine letzten Worten waren? 'Du wirst sie nie finden, die Person, die auch von jeglichem Glück verlassen worden ist.' Oh bitte!“ Er schnalzte verächtlich mit der Zunge. „Zuviel Kitsch für meinen Geschmack. Herr Dazai, da geben Sie mir doch Recht, oder?“

„Ich bin auch kein Freund von Gefühlsduseleien“, antwortete Dazai achselzuckend.

Fassungslos blickte Atsushi zwischen seinem Mentor und Henry Wotton hin und her. Ihm wurde schlecht, als er hörte, wie der Engländer beiläufig und ungerührt von der Ermordung eines Menschen sprach. Wie konnte jemand so unmenschlich sein? Es tat weh, es tat ihm körperlich weh. Dazai konnte unmöglich dessen Meinung teilen. So war er nicht … oder? Atsushi wollte vor Kummer und Verzweiflung schreien und tat es dennoch nicht. Stille Tränen formten sich in seinen Augen und fielen genauso geräuschlos seine Wangen herab.

All das hier war ein Albtraum. Und er fand keinen Weg, um daraus zu erwachen.

Unter den achtsamen Augen von Kunikida, Kyoka und Joyce stolzierte Henry an ihnen vorbei und schloss zu Shaw auf.

„George, es tut mir sehr leid, das jetzt tun zu müssen, aber ...“ Er hielt seine rechte Hand auf, während die linke seinen Stock weiterhin umfasste, „... gib mir bitte Basils Erfindung.“

„Was? Warum?“ Irritiert riss Shaw die Augen auf.

„Du kriegst sie ja wieder. Allerdings finde ich es mehr als gerechtfertigt, wenn wir nach deinem Fauxpas die Reihenfolge ändern. Ich darf zuerst und dann darfst du, aus Gründen, die ich niemals verstehen werde, dein geliebtes Weib zu einem Menschen machen. Du hast mein Vertrauen auf eine harte Probe gestellt. Ich will mir nicht weiter Sorgen machen, dass du mich verraten könntest.“

Hadernd wanderte Shaws Blick von seinem Kameraden zu dem Apparat um seinen Unterarm. „Ich wollte dich niemals verraten, Henry.“ Er schaute auf und sah ihn direkt an, während er die Halterungen des Geräts löste. „Aber mein Gewissen lässt nicht zu, dass wir Frau Mansfield opfern. Sie war mit meiner Lösung, ihn zu opfern, einverstanden. Damit wäre uns doch allen geholfen.“

„Oh, George.“ Henry seufzte abermals und zog ihm das Gerät vom Arm. Seinen Gehstock unter einer Achsel einklemmend, schob er einen Ärmel seiner Jacke hoch und band sich die Fähigkeiten-Waffe selbst um. „Und das nachdem ich dir auch noch verraten habe, wo du deinen alten Peiniger finden kannst. Ich hätte ahnen sollen, wie du tickst, als du sagtest, du wolltest kein unnötiges Blutvergießen. Herrje, selbst zu human, um dich an diesem Mori, den du so sehr hasst, zu rächen. Schrecklich.“ Seine Worte trieften vor Verachtung und Spott.

„Ich überlasse ihn gerne dir.“ Sichtlich in seinem Stolz gekränkt, unterdrückte Shaw mit zweifelhaftem Erfolg seinen Zorn.

„Tsk, tsk, tsk“, machte Dazai da von neuem, „Kunikida! Also wirklich, du legst aber heute ein außergewöhnlich schlechtes Verhalten an den Tag. Lass die Hände oben.“ Dazai hielt die Pistole zwar lediglich ziemlich lasch in der Hand, doch er richtete sie im Nu wieder auf und sorgte damit für erneuerte Wachsamkeit bei den Detektiven. „Dein Verhalten färbt schon auf euren Gast ab. Herr Joyce, wenn ich bitten dürfte: Nehmen Sie Ihre Händen von Ihren Taschen weg.“

Mehrere nicht verständliche Flüche murmelnd, hob auch der bebrillte Ire die Hände hoch. „Sind Sie so herzlos, dass Sie nicht verstanden haben, was die zwei gerade besprochen haben?“

„Hmm?“ Der brünette Detektiv legte den Kopf ein wenig schief – was Kunikida stöhnen ließ.

„Doch, er weiß, was die zwei besprochen haben und was das bedeutet. Jede Benutzung des Apparates erfordert ein Opfer. Selbst wenn nur Wotton, Shaw und Dazai ihn verwenden wollen, müssen allein dafür drei Menschen sterben.“

Atsushi japste an dieser Stelle laut und zog so für einen Augenblick die Aufmerksamkeit aller auf sich. Entgegen seines sonst üblichen Verhaltens, richtete der Junge seinen Blick nicht gen Boden, sondern sah mit seinen verheulten Augen seinen Mentor direkt an. „Dazai, komm zu dir!“, wollte er am liebsten schreien oder „Das bist doch nicht du!“, aber außer seines schnell gehenden Atems kam kein Laut über seine Lippen. Das war nicht Dazai, der da vor ihm stand. Er sah aus wie er, doch er war es nicht. Seine Aura war kalt und dunkel. Nichts erinnerte ihn mehr an den Mann, der ihm das Leben gerettet hatte, indem er ihn bei den bewaffneten Detektiven untergebracht hatte. Das war nicht mehr der gleiche Chaot, der ihm Ratschläge gegeben hatte, ihn ermutigt hatte und ihm zur Seite gestanden hatte, als er ihn gebraucht hatte.

Es tat so weh.

„Halte durch“, sagte Kyoka und nahm seine Hand. Sogar durch seine Handschuhe konnte Atsushi spüren, wie kalt ihre eigene Hand war. Hatte selbst Kyoka in diesem Moment Angst?

„Wir nehmen keins von den Kindern, in Ordnung?“ Dazai richtete seine Frage an Henry. „So etwas würden nur die Bösen tun und ich fände es schrecklich langweilig, als einer der Bösen betrachtet zu werden.“

Der Engländer lachte. „Ein interessanter Gedanke! Und du wolltest diesen Prachtkerl opfern, George! Nein, wir haben ja mehr als genug Auswahl. Wir können die Kleinen ignorieren.“

„Und was ist mit meiner Bedingung?“, fragte Wilde, noch blasser als zuvor, aus dem Hintergrund und Joyce stutzte, als Henrys Blick danach auf ihm landete.

Der Schwarzhaarige rollte zum wiederholten Mal mit den Augen. „Himmel, du hängst dich viel zu sehr an andere Leute, Oscar. Aber ja, natürlich, ich kenne deine Bedingung und respektiere sie.“ Er nahm seinen Gehstock in die linke Hand und strich mit der anderen über dessen Griff. „Trotzdem will ich keinen Ärger haben. Es ist immer besser, Ärger zu vermeiden. Darauf können wir uns doch alle einigen?“

Ein finsteres Lächeln umspielte die Lippen des gefühllosen Mannes und Kunikidas Instinkte schlugen Alarm.

Wenn man nach einem Ausschlussverfahren ging, dann war nur er übrig, um als Opfer in Frage zu kommen. Aber das war es nicht, was ihn so sehr beunruhigte. Er war nicht im Stande die Situation völlig zu überblicken und er wusste nicht, was als nächstes passieren würde. Doch er hatte das Gefühl, dass noch irgendetwas Unerwartetes geschehen würde.

Er hatte diesen Gedanken gerade erst zu Ende gedacht, als eine Kappe auf der Spitze des Gehstocks aufsprang und etwas zweimal rasend schnell daraus abgefeuert wurde. Was auch immer es war, flog an Kunikida vorbei und traf nacheinander die neben ihm stehenden Atsushi und Kyoka.

Beide zogen erschrocken die Luft ein und fassten hastig an die Eintrittswunden an ihren Hälsen.

„Was …?“ Atsushi blickte auf seine Hand, doch entgegen seiner Erwartung war dort kein Blut zu sehen, sondern nur ein lilafarbener Hauch. Voller Entsetzen starrte Kunikida zu den Jüngeren, deren Pupillen sich plötzlich nach hinten rollten, bevor sie beide kraftlos zu Boden fielen.

„Äh, ich meinte natürlich, die Kinder sollten überhaupt nicht sterben“, warf Dazai flapsig ein und Henry winkte ab.

„Werden sie auch nicht so schnell. Das ist eine verdünnte Version des Giftes, das ich Eliza ins Krankenhaus mitgegeben hatte. Wenn sie innerhalb der nächsten zwei Stunden Hilfe bekommen, werden sie nicht sterben. Bis dahin dürften wir hier ja fertig sein, will ich hoffen.“ Er ließ den unbrauchbar gewordenen Stock aus der Hand gleiten, sodass dieser ebenso auf die Erde fiel. Dann tippte er von neuem das Display des Apparats an, was daraufhin wieder hell leuchtete.

„So, dann wollen wir mal.“

Blitzschnell streckte er die Hand mit der Fähigkeiten-Waffe nach einem der bei ihm stehenden Männer aus und berührte diesen.

Entgeistert starrte Shaw Henry an, als dieser ihn gegriffen hatte.

„Ach ja“, äußerte der Engländer beiläufig, „da war noch eine Kleinigkeit.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Als ich in „The Picture of Dorian Gray“ Henrys Sätze las, dass es nur zwei Arten von Menschen auf der Welt gäbe, die wahrhaft faszinierend seien, wusste ich, dass ich meinen nächsten BSD-Bösewicht hatte. Ernsthaft, so etwas sagen nur Bösewichte!
Das nächste Mal folgt eine Rückblende – und sie dreht sich einmal nicht um Dazai. Komplett anzeigen

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