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Never let me go

von

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I was born out of time, I'm not meant to be here

I was born out of time

I'm not meant to be here“

 

Placebo, „Try better next time“

 

„Hier steckst du also.“

Erleichtert atmete Odasaku aus und schloss die Tür, durch die er auf das Flachdach des Hochhauses gelangt war.

„Habe ich doch gesagt“, entgegnete Dazai unaufgeregt und ohne ihn anzusehen. Er lag auf dem Rücken und blickte zum blauen Himmel hinauf. Keine Wolke war dort oben zu sehen. Es war ein schrecklich heißer und schrecklich schwüler Tag.

„Hast du nicht.“ Odasaku schüttelte sanft den Kopf und setzte sich neben Dazai. „Du sagtest nur immer wieder, wie blau der Himmel hier oben wäre und dass man so weit über der Stadt fast vergessen könnte, dass so viele Menschen um einen herum wären.“

„Würdest du diesen Ort anders beschreiben?“

Der Rothaarige schaute stillschweigend zu seinem daliegenden Freund, der sein sichtbares Auge auf ihn gerichtet hatte. Vor einer knappen Stunde hatte Dazai ihn angerufen und immer und immer wieder nur von dem blauen Himmel gefaselt. Alle Alarmglocken des Älteren hatten bei diesem entrückt klingenden Gerede zu schrillen begonnen und während er innerlich panisch wurde, hatte er mit ruhiger Stimme versucht, Dazai weitere Informationen zu seinem aktuellen Aufenthaltsort zu entlocken. Irgendwie war es ihm gelungen, ihn dazu zu bewegen, zu beschreiben, was er auf dem Weg dorthin wahrgenommen hatte und was er sehen konnte, wenn er nicht nur streng nach oben blickte, sondern seinen Blick schweifen ließ. Nicht nur Dazais Beschreibungen waren allesamt äußerst vage und undeutlich gewesen, der Klang seiner Stimme war es ebenso gewesen. Das, was er am Telefon gesagt hatte, gepaart mit einer ihm mittlerweile nur zu bekannten verwaschenen, unartikulierten Sprechweise; es war diese Mischung, die Odasaku gerade atemlos durch halb Yokohama hatte hetzen lassen. Es war eine Sache, wenn sie am Ende des Tages zusammen im Lupin etwas tranken, aber es war eine völlig andere, wenn es kurz nach Mittag war und Dazai ihn vollkommen dicht vom Dach eines Hochhauses anrief.

Er beugte sich näher zu dem Jüngeren herunter, um dessen Auge besser mustern zu können.

„Hast du nur getrunken oder noch etwas anderes eingeworfen?“

Der Angesprochene lächelte kurz und schloss sein Auge. „Das ist langweilig, Odasaku. Lass uns etwas Lustiges machen.“ Er zuckte erschrocken zusammen und riss sein Auge wieder auf, als er eine Hand erst auf seiner Wange, dann auf seiner Stirn spürte.

„Du glühst vor Hitze.“

„Es ist ja auch furchtbar warm heute, findest du nicht auch?“

„Gehen wir rein?“

„Nein.“

„Du wirst einen Hitzschlag kriegen.“

„Ich will noch ein bisschen hier bleiben, Odasaku. Nur ein bisschen. Hast du gesehen, wie blau der Himmel ist?“

Odasaku hob seinen Blick kurz gen Himmel und ließ ihn dann über das Dach wandern. Er würde Dazai freiwillig nicht so schnell von hier wegbekommen. Es gab diese Phasen, in denen der Brünette eher an ein kleines, hilfloses Kind erinnerte als an einen eiskalten, gnadenlosen Mafioso. Und Odasaku hatte stets Sorge, dass er Dazai verlieren könnte, wenn er in diesen Phasen das Falsche sagte oder tat.

„Da hinten ist ein bisschen Schatten“, schlug er daher vor. „Und zieh besser den Mantel aus. Du bist schweißgebadet.“

Dazai kam beiden Aufforderungen ohne Protest nach, wenn er auch statt aufzustehen und zu gehen, mehr in den Schatten stolperte und kroch.

„Wie lange bist du schon hier?“ Odasaku ließ sich neben ihm nieder, als er sich endlich aus der Sonne herausgesetzt hatte und behielt ihn aufmerksam im Auge. Alkohol, etwaige sonstige Substanzen und starke Hitze waren nichts, was sich gut miteinander vertrug. Er wusste, dass Dazai rücksichtslos mit sich selbst umging; er würde nichts sagen, wenn es ihm plötzlich schlechter ginge. Wenn er umkippte, könnte es vielleicht schon zu spät sein. Odasaku musste sofort reagieren, sobald er auch nur ein Anzeichen für eine Verschlechterung seines Zustandes bemerkte.

„Hier?“ Dazais unfokussierter Blick landete auf ihm. „Meinst du in dieser Welt? Zu lange.“

„Und ein Hitzschlag ist die Lösung?“

„Huh? Nein.“ Der Jüngere winkte ab. „Definitiv nicht. Meine Verbände sind alle durchgeschwitzt. Kannst du dir vorstellen, wie unangenehm sich das anfühlt, Odasaku? Richtig eklig.“

Obwohl seine Frage nicht beantwortet worden war, ließ er das Gespräch dennoch in die so sonderbar umgelenkte Richtung laufen. Dazais Gedankengänge waren kaum bis gar nicht nachvollziehbar, aber Odasaku wusste um seine privilegierte Position: Dazai redete mit niemandem sonst so offen wie mit ihm.

„Woher weißt du, dass du schon zu lange in dieser Welt bist? Fühlt sich das ähnlich wie ein Hitzschlag an?“

Für einen Augenblick sah Dazai ihn nur erstaunt an, dann lächelte er ganz aufgeregt. „Ja! Ja! Das ist ein sehr guter Vergleich, Odasaku!“

„Und gibt es dann nicht auch irgendetwas, was man zur Abkühlung machen könnte?“

„Danach suche ich doch!“

„Vielleicht etwas weniger Endgültiges?“

„Danach suche ich auch! Ich suche, Odasaku! Ich suche doch!“

„Hmm ...“ Odasaku legte den Kopf in den Nacken. „Wenn ich meine Schlüssel manchmal auf Anhieb nicht finden kann, suche ich immer zuerst an den unmöglichsten Stellen, bevor ich an den offensichtlicheren Stellen nachsehe. Und meistens sind sie dann genau da.“

Er fühlte den Blick des Jüngeren auf sich, wie er ihn sprachlos anstarrte. Abrupt brach Dazai in Gelächter aus.

„Du bist großartig, Odasaku!“, presste er zwischen seinem Lachanfall heraus. „Ich kenne niemanden, der auf dieses Problem in dieser Weise antworten würde!“ Er lachte so heftig, dass Tränen aus seinem unverdeckten Auge liefen und sein noch nicht ausgewachsener Körper sich schüttelte. Dann, beinahe genauso plötzlich, ebbte das Lachen wieder ab.

„Ich habe das Gefühl, schon ewig zu suchen“, fügte Dazai sehr viel leiser und mit gesenktem Kopf an, „schon so lange. So lange. Odasaku?“ Er hob seinen Kopf wieder, sodass der Andere seine angsterfüllte Miene sehen konnte.

Der Anblick ließ ihn den Atem anhalten. „Ja?“, fragte er trotzdem, ohne durchscheinen zu lassen, wie schrecklich verunsichert er war.

„Lass uns etwas spielen.“

„Und was?“

„Wir versuchen, das Gegenteil zu allem zu finden.“

„Das Gegenteil?“

Dazai nickte und seine Stimmung schien sich wieder aufzuhellen. „Ich habe versucht, es allein zu spielen, aber ich habe verloren.“

„Wie verliert man dabei?“

„Alles hat ein Gegenteil.“ Dazai drehte sich wieder dem Horizont zu. „Das ist eine unbestreitbare Tatsache. Die meisten sind einfach: Leben – Tod, Liebe - Hass, Frieden – Krieg, Licht - Dunkelheit und so weiter und so weiter. Nur … nur zu einer Sache habe ich kein Gegenteil gefunden.“ Er wandte sich erneut seinem Freund zu, der gleichermaßen gespannt wie angespannt auf das wartete, was nun kommen mochte.

„Odasaku … was ist das Gegenteil von Zeit?“

Der Gefragte stutzte und geriet sichtlich ins Grübeln. „Das Gegenteil von Zeit …?“ Er musste Dazai nicht ansehen, um zu wissen, dass dieser ihn erwartungsvoll anblickte. „Braucht Zeit ein Gegenteil?“

„Selbstverständlich!“

„Okay ...“ Odasaku dachte angestrengt über dieses Problem nach, aber er konnte es nicht einmal greifen. „Welches Konzept soll das Gegenteil von Zeit denn ausdrücken?“, fragte er nach einer ganzen Weile.

„Zeit vergeht, sie schreitet voran, sie fließt“, antwortete Dazai umgehend. „Das Gegenteil muss die Umkehrung von all diesem ausdrücken.“

„Stillstand?“, bot Odasaku an und erntete unverzüglich ein Kopfschütteln.

„Stillstand macht einfach nichts. Das Gegenteil von Zeit muss ausdrücken, dass die Zeit bleibt, zurückschreitet und rückwärts fließt.“

Nun war es Odasaku, der ein Kopfschütteln andeutete. „Nichts davon ist tatsächlich möglich. Du hast das Spiel nicht verloren, wenn es allein schon das Konzept überhaupt nicht geben kann. Zeit vergeht; das ist ein unumkehrbarer Vorgang. Man kann sie weder zurückdrehen, noch anhalten. Und das ist für alles und jeden gleich.“

Die Schultern des Jüngeren sackten enttäuscht hinab. „Und wenn es das nicht ist?“, hauchte er niedergeschlagen. „Was, wenn die Zeit nicht für jeden vergeht?“

Odasaku stutzte von neuem. „Hast du das Gefühl, die Zeit vergeht nicht?“

„Nein, für mich hat sie etwas anderes im Sinn.“ Dazai atmete plötzlich schwerer. „Sie ist … zu sehr damit beschäftigt … grausam zu sein.“ Man konnte mitansehen, wie seine Verzweiflung mit jeder verstreichenden Sekunde wuchs. Eine panische Angst schien ihn zu überkommen und Odasaku konnte sich nicht erklären, woher sie kam und warum dem so war.

„Was, wenn sie für mich nicht vergeht??“, rief Dazai auf einmal aus. „Was, wenn sie dies niemals tut?? Etwa, weil ich nicht hierher gehöre?? Ist es das?? Ist es, weil ich nicht hier sein sollte?!“ Er machte Anstalten aufspringen zu wollen, doch stattdessen kippte er vornüber und fiel bewusstlos zu Boden. Gerade so schaffte Odasaku es, ihn rechtzeitig aufzufangen.

In Windeseile hob er den Jüngeren hoch und stürmte mit ihm durch die Türe, die langen, mit einem Mal viel zu langen Treppen hinunter und weg von diesem verfluchten Dach, auf dem Dazai in seinem bedenklichen Zustand viel zu lange den blauen Himmel angestarrt hatte. Erneut hetzte er nun atemlos durch Yokohama, den erschreckend jungen und ebenso erschreckend kaputten Körper seines Freundes auf den Armen tragend, um Hilfe für ihn zu finden. Zumindest für den Körper.

Odasaku fühlte sich, als hätte er versagt, als hätte er abermals versagt. Er konnte es selbst nicht finden, das, was Dazai von seinen Qualen erlösen würde. Er versuchte, ihm die bestmöglichen Antworten zu geben, doch tief in seinem Innern wusste er, dass sie nicht gut genug waren. Immer und immer wieder führten sie diese Gespräche, die sich um Leben und Tod drehten, ohne dass auch nur einer von beiden sich Ersterem gänzlich zu- und Letzterem gänzlich abwenden konnte.

Leben und Tod.

Sie rannten gerade genauso durch seine Finger wie die Zeit. Er hielt sie alle in seinen Armen, konnte sie alle sehen in dem Gesicht, das mehr sah als alle anderen. Er konnte lächerliche fünf Sekunden in die Zukunft sehen und das half ihm in diesem Fall überhaupt nichts. Er konnte nichts am Fluss der Zeit ändern, ihn weder rückwärts laufen lassen, um herauszufinden, woher Dazais Qualen kamen, noch vorwärts, um zu sehen, ob Dazai irgendwann eine weniger qualvolle Zukunft erwartete.

Leben und Tod.

Dazai hatte selbst einmal gesagt, dass sie nicht wirklich der genaue Gegensatz zueinander waren, sondern zueinander gehörten. Alles gehörte zueinander und vielleicht gehörte die Zeit zu allem. Denn wenn es keine Zeit gab, gab es nichts. Gab es keine Zeit, gab es keine Bewegung, keine Entwicklung, kein Leben, nur Stillstand, ewige Paralyse. Die Welt konnte nur existieren, wenn es Leben darauf gab; ohne dieses wäre sie nur ein riesiger, toter Fels.

Die Zeit und die Welt waren unterm Strich voneinander abhängig.

Während er seinen Griff um den ohnmächtigen Jungen (und nichts anderes war er) in seinen Armen verstärkte, klammerte Odasaku sich an den Gedanken, dass die Zeit verging und niemals stehenblieb.

Solange die Zeit für jemanden verging, war derjenige am Leben.

Er musste einen Weg finden, die Zeit für Dazai vergehen zu lassen. Er musste einen Weg finden, Dazai zu dieser Welt gehören zu lassen.

Er musste einen Weg finden.


Nachwort zu diesem Kapitel:
In Osamu Dazais Roman „No Longer Human“ gibt es eine Szene auf einem Dach, in der der Protagonist mit seinem besten Freund spricht. Ich kann nicht behaupten, das Spiel aus dem Roman, das die beiden dort spielen, verstanden zu haben, aber mein Kapitel ist an diese Szene angelehnt. Im nächsten Kapitel kehren wir zurück zur fortlaufenden Handlung. Komplett anzeigen

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