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Never let me go

von

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It's a race, a race for rats – A race for rats to die

It's a race, a race for rats

A race for rats to die“

 

Placebo, „Slave to the wage“

 

„Ich verstehe das nicht so wirklich, Dazai.“ Atsushi blinzelte den Rücken seines Mentors planlos an, während er mit Joyce hinter ihm her trabte. „Was genau suchen wir? Sollen wir nach irgendetwas Ausschau halten?“

Ohne jegliche Eile blickte Dazai, die Hände gemütlich hinter seinem Kopf verschränkt, über seine Schulter zu seinem Schützling zurück. „Wieso fragst du mich das?“ Er klang amüsiert, ließ seine Augen kurz zu Joyce wandern und richtete seinen Blick wieder nach vorn.

Ihre Dreiergruppe hatte kurz nach Ranpo, Tanizaki und Kunikida die Detektei verlassen, doch im Gegensatz zu den anderen, die zielgerichtet zum Bahnhof Tobe aufgebrochen waren, liefen sie seit einer halben Ewigkeit scheinbar ziellos durch die Stadt. Dazai schritt voran, ging mal ganze Straßenzüge strikt geradeaus, bog mal abrupt in andere Straßen ab – ohne auch nur einen Blick auf den Stadtplan zu werfen, auf dem Joyce die Punkte markiert hatte, an denen er damals mit Wilde gewesen war. Er konnte auch nicht auf besagten Stadtplan gucken; diesen hatte er nämlich – zu Atsushis schierem Entsetzen - noch im Büro zusammengeknüllt und weggeworfen. Welchen Sinn hatte die ganze Markiererei dann gehabt? Benötigte Ranpo den Plan ebenso nicht? Und wer außer Dazai sollte denn bitte wissen, wohin sie unterwegs waren?

Atsushi schwirrte der Kopf – als er plötzlich eine Eingebung hatte. Aus dem Augenwinkel sah er zu Joyce, der (wenn er nicht gerade Dazais Rücken mit bösen Blicken bombardierte) ihren gesamten Fußmarsch über schon mit wachen Augen die Umgebung betrachtet hatte.

„Herr Joyce“, fragte er schließlich, „wissen Sie, wohin wir unterwegs sind?“

„Ich glaube nicht, dass wir tatsächlich irgendwohin unterwegs sind“, antwortete der Ire gleichermaßen kryptisch und räusperte sich, als er Atsushis endgültig verwirrte Miene bemerkte. „Wir steuern kein Ziel an, Junge. Wir laufen Wege ab, an denen Wilde und ich damals vorbei gekommen sind. Ist doch so, oder, Herr Dazai?“

Mit einem süffisanten Lächeln im Gesicht wandte sich der Angesprochene im Gehen zu ihnen herum und löste mit einer ausladenden Geste die Verschränkung seiner Arme auf. „Ranpo sagte mir: 'Der Weg ist das Ziel und jegliche Abgründe, die sich unterwegs auftun, sind dein Fachgebiet, Dazai.' Ich weiß nicht, ob mir diese Art der Arbeitsteilung gefällt, aber Ranpo hat immer Recht, also widerspreche ich ihm in dieser Sache nicht.“

„Moment.“ Atsushi klappte beinahe der Unterkiefer herunter, als er begriff, was das hieß. „Du hast dir sämtliche Markierungen auf dem Stadtplan gemerkt?“

Dazais lächelte noch eine Spur genüsslicher. „Das ist nichts Besonderes. Kyoka könnte das auch.“

Atsushi hörte Joyce neben sich angestrengt seufzen. „Das ist nicht alles, Junge. Wir laufen die exakt gleichen Wege wie damals ab. Das heißt, er hat aus den Markierungen geschlossen, wie genau wir uns durch die Stadt bewegt haben. Also, wo wir abgebogen sind, wie lange wir auf einer Straße unterwegs gewesen sind, an welchen Stellen wir stehen geblieben sind, um uns umzusehen. Das ist unheimlich. In höchstem Grade unheimlich. Wer zum Teufel ist der Kerl?“ Obwohl Joyce ihn bei diesen Worten bitterernst fixierte, hielt Dazai seinem strengen Blick ohne Probleme und ohne dass es ihn groß zu kümmern schien stand. Nur sein Lächeln war wieder etwas ominöser geworden.

„Und?“, fragte Dazai. „Ist Ihnen schon etwas aufgefallen?“

„Noch nicht“, brummte der Ire zurück.

„Sagen Sie Bescheid, sobald es so ist.“ Dazai grinste von neuem, als er zu Atsushi schaute. „Tür zu, es zieht!“, rief er erheitert aus und der Junge klappte seinen offenstehenden Mund zu.

Unfassbar. Das war einfach nur noch unfassbar.

Wohl wissend, dass er ihn gerade anstarrte, schüttelte Atsushi ungläubig den Kopf.

Dazai wirkte die halbe Zeit, als hätte er nicht alle Zacken in der Krone, doch dann gab es die andere Hälfte der Zeit immer diese Momente, in denen er den jungen Detektiv vollkommen verblüffte. Sein Mentor war nicht einfach nur außerordentlich klug, selbst ihn ein Genie zu nennen, war eine bodenlose Untertreibung. Dazai war übermenschlich.

'Klonk!'

„Aua!“

Und Dazai war gerade beim Rückwärtslaufen volle Kanne gegen eine Straßenlaterne gedonnert. Atsushis Augen zuckten, als der Brünette sich lautstark jammernd den Hinterkopf und den Rücken rieb. Vielleicht sollte er vorsichtiger damit sein, Dazai auf ein Podest zu heben. Mit einem unübersehbaren, schadenfrohen Grinsen im Gesicht schritt Joyce an ihm vorbei und übernahm die Führung.

„Herr Joyce“, fragte Atsushi nach einigen Metern und während Dazai neben ihm weiterhin jaulte, „ich wundere mich das schon die ganze Zeit: Die Wege, die Sie genommen haben, sind nie die kürzesten. Es erinnert mich sehr an die Zeit, nachdem ich neu nach Yokohama gekommen war. Ich habe ständig ungewollt Umwege gemacht und mich in den Straßen verirrt.“

„Tja, weißt du“, erwiderte er hörbar in seinem Stolz gekränkt und die Umgebung aufmerksam im Blick behaltend, „wir haben uns auch in einem Stück verirrt. Wir haben einen ganzen Tag gebraucht, um die Detektei überhaupt zu finden. Als wir dann nach einem Vorwand gesucht haben, um dich anzusprechen, hatten wir immerhin schnell eine Idee.“ Als er dies sagte, klang er mit einem Mal unbeschwerter und auch wenn er sein Gesicht nicht sehen konnte, stellte Atsushi sich vor, dass Joyce vielleicht gerade lächelte. Es freute ihn für den arg gebeutelten Mann. Ihm selbst zauberte es bei der Erinnerung an ihre erste Begegnung ein zartes Lächeln auf die Lippen. Alles, was danach passiert war, war schrecklich gewesen, aber dieses erste Treffen mit dem gleichermaßen chaotischen wie charismatischen Duo war eine schöne Erinnerung. Atsushi hatte keinen Zweifel daran, dass die beiden aneinander hingen. Und genau deswegen war es so wichtig, ihnen zu helfen. Es war rührend, wie Joyce so viel auf sich nahm, um seinem Kameraden zu helfen. Ob Kunikida das Gleiche für-

„Auauauau!“ Dazais kindisches Wehklagen schnitt seinen Gedankengang ab.

Vielleicht müsste man Kunikida erst dazu überreden …

„Kennen Sie und Herr Wilde sich schon lange?“, wollte Atsushi nun wissen und Joyce nickte.

„Wir lernten uns zwar erst einige Zeit nach Kriegsende kennen, aber mir kommt es so vor, als würde ich mit diesem Vogel bereits eine Ewigkeit zusammenarbeiten. Zumindest fühlt es sich so an, als würde ich seitdem dreimal so schnell altern.“

Atsushi konnte das gequälte Grinsen im Gesicht des Iren förmlich spüren. „Ich glaube … ich verstehe, was Sie meinen.“ Er warf einen unverhohlenen Seitenblick auf seinen 'Ich mag doch keine Schmerzen' winselnden Kollegen.

„Wie haben Sie sich kennengelernt?“

Joyce zuckte amüsiert mit den Schultern. „Mein früherer Chef hat ihn mir vor die Nase gesetzt.“

„Ihr früherer Chef?“

„Aldous Huxley.“

„Oh!“ Atsushi zuckte bei diesem Namen zusammen. Er wollte das Gespräch nicht in unliebsame Gefilde lenken. „Entschuldigung.“

Der Ire warf einen kurzen Blick über seine Schulter zurück. „Du hast keinen Grund, dich zu entschuldigen, Junge. Mir wäre es auch lieber, die Dinge wären anders gelaufen, aber … nun sind sie wie sie sind. Wir sind mit schuld daran. Und wir werden mit dieser Schuld leben müssen. Ich habe Wilde versprochen, dass wir nie wieder wie paralysiert einfach nur zusehen werden, wenn jemand in sein Unglück rennt. Wir hätten sie schon viel früher aufhalten müssen. Egal wie. Wir hätten etwas tun müssen.“

„Sie sind nicht der Typ dafür“, warf Dazai, sein Gejammer plötzlich einstellend, ein.

„Wofür?“, hakte Atsushi nach.

„Für Mordkomplotte“, entgegnete sein Mentor beiläufig. „Den beiden kam wohl der Gedanke, dass sie ihre Gefährten hätten retten können, wenn sie mich stattdessen aufgespürt und erledigt hätten, aber wir wissen doch, wie das ausgegangen wäre. Sie haben zwar darüber debattiert, ob ich leben oder sterben sollte, doch selbst wenn sie sich für Letzteres entschieden hätten, hätte zumindest sein Gewissen das nicht zugelassen. Unser irischer Blondschopf hat sicher nicht das Zeug zum Mörder. Da sein gutaussehender Kompagnon irgendwelche düsteren Geheimnisse verbirgt, bin ich mir bei ihm nicht vollkommen sicher. Vertrau mir, Atsushi, bei so etwas kenne ich mich aus.“

„Aha …?“

Wieso klingt er, als wolle er damit angeben??

„Nur zu Ihrer Information“, zischte Joyce merklich gereizt, „Wilde war auch dagegen, Sie umzubringen.“

„Das ist wahr, Dazai. Er wollte ebenso nicht, dass du stirbst.“

„Mag ja sein“, widersprach Dazai unbeeindruckt, „allerdings würde ich ihm deswegen in diesem Fall immer noch kein Unschuldszeugnis ausstellen. Mit mir hatte er ja auch nichts zu tun. Bei dem Mord an Gray allerdings sieht die Sache anders aus. Der scheint einen persönlichen Hintergrund zu haben.“

„Und welchen?“, fragte Atsushi mit einem flauen Gefühl im Magen nach. Dazai betrat schon wieder ganz dünnes Eis.

„Wenn ich das wüsste, müssten wir uns nicht die Füße wund laufen.“

Abrupt blieb Joyce stehen und schaute sich um, als würde er etwas suchen. Die beiden Detektive hielten ebenso an. Mittlerweile hatte die Sonne bereits begonnen, unterzugehen.

„Hier? Warum sind Sie hier stehen geblieben?“ Dazai runzelte die Stirn. Offenkundig passte diese Stelle nicht in das Muster, das er gesehen hatte.

Der Ire nickte, als er scheinbar das gefunden hatte, was er gesucht hatte. Dazai folgte seinem Blick und für einen kurzen Moment war Atsushi fast so etwas wie erleichtert, dass selbst sein Mentor die Situation nicht auf Anhieb verstand.

„Das gibt keinen Sinn. Von hier aus kann man nichts sehen, was einem bei der Orientierung durch die Stadt hilfreich wäre. Wieso also haben Sie damals hier angehalten?“ Mit nachdenklicher Miene sah der Brünette zu den Hochhausfassaden auf die Joyces Blick zeigte. An den Mauern der Gebäude waren Plakatflächen angebracht, auf denen die aktuelle Ausstellung des Kunstmuseums beworben wurde.

„Nicht ich bin damals hier stehen geblieben, sondern Wilde“, erzählte Joyce. „Sein Blick ging da rüber und er lächelte. Als ich ihn fragte warum, sagte er nur, dass er an einen alten Freund hatte denken müssen.“

„Damals zeigten die Plakate auch die Ausstellung des Kunstmuseums?“ Dazai fasste sich mit einer Hand ans Kinn.

„Ja. Aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was darauf zu sehen war. Wir sind auch recht zügig wieder weitergegangen. Halten Sie das für wichtig?“ Der Tonfall des Blonden verriet, dass er diese Information eigentlich für nebensächlich hielt, doch er ahnte bereits, dass Dazai dies sehr wahrscheinlich anders bewertete.

„Es ist auf jeden Fall interessant“, erwiderte dieser. „Ich nehme schwer an, dass Sie überhaupt gar nichts über diesen scheinbar Kunst liebenden Freund wissen?“

„Absolut gar nichts.“

„Wie ich es mir gedacht habe.“ Dazais ominöses Lächeln kehrte zurück. „Wir haben ihn. Den Abgrund, der sich unterwegs auftut.“

„Äh ...“, Atsushi hasste es, sich mal wieder gänzlich planlos in ein Gespräch einschalten zu müssen. „Und wie hilft uns das jetzt? Was genau daran ist interessant?“

„Atsushi“, sein älterer Kollege schüttelte gespielt tadelnd den Kopf, „überleg doch mal: Wenn du in so einer heiklen und dramatischen Angelegenheit wie die beiden damals unterwegs wärst, würdest du plötzlich wegen eines schnöden Plakats anhalten und an einen einfachen Bekannten denken?“

„Uhm … nein?“ Direkt nachdem er geantwortet hatte, kam eine Erkenntnis über den silberhaarigen Jungen. „Außer es hätte mit dem Plakat und dem Freund noch viel mehr auf sich! Irgendetwas muss auf diesem Plakat gewesen sein, was für Wilde von besonderer Bedeutung war!“

Dazai applaudierte halbernst. „Jetzt denkst du wie ein Detektiv, Atsushi.“

„Aber wie sollen wir-“

Mitten in Joyces begonnene Frage platzte das Klingeln von Atsushis Handy.

„Oh? Es ist Kunikida. Vielleicht haben sie auch eine Spur gefunden.“ Der junge Detektiv ging ran.

 

„Leer.“

„Hm?“ Auf dem Weg zur früheren Unterkunft der beiden Iren blickte Kunikida mit mildem Entsetzen zu dem auf der Rückbank seines Wagens lümmelnden Ranpo. Der Meisterdetektiv hielt die vor wenigen Minuten noch fast voll gewesene Tüte mit den Erdbeer-Schokoriegeln kopfüber zu ihm hin. Überall auf der Rückbank und dem Fußboden waren die leeren Verpackungen verstreut.

„Du hast in der kurzen Zeit die ganze Tüte aufgefre-ah! Aufgegessen, Ranpo?“ Auch Tanizaki schien recht entsetzt zu sein, was den Appetit des Älteren betraf. Dem Rothaarigen wurde schon bei dem Gedanken, so viel Süßkram auf einmal in sich hineinzustopfen, übel. Zudem roch es nun im Innenraum heftig nach den Schokoriegeln. „Ist dir jetzt nicht schlecht?“

„Schlecht? Wieso soll mir denn schlecht sein? Ich könnte aber etwas Salziges vertragen, wenn du etwas da hast ...“

„N-nein, tut mir leid.“ Tanizaki würgte ein wenig und ließ Kunikida um die Unversehrtheit seines Autos bangen.

„Hmm, dann müssen wir unterwegs noch was besorgen.“

„Vielleicht gönnst du deinem Magen eine kurze Pause“, schlug Kunikida diplomatisch vor.

„Das sagt der Chef auch immer.“ Ranpo zog einen Schmollmund und kreuzte beleidigt die Arme vor der Brust. „Was soll ich bei dieser komischen Stimmung hier denn sonst machen außer etwas Leckeres zu essen?“

„Komische Stimmung?“ Kunikida stutzte. „Welche komische Stimmung?“

„Äh, ja“, begann Tanizaki zögerlich, „ist alles in Ordnung, Kunikida? Du wirkst ein wenig … angespannt.“

„Ich?“ Der Idealist sah aus dem Augenwinkel zu ihm. „Ich verstehe absolut nicht, wovon du redest.“

„Kunikida ...“ Tanizaki zeigte auf die Hände des am Steuer sitzenden Mannes und dieser folgte irritiert und verwundert dem Fingerzeig. Seine Hände verkrampften sich regelrecht um das Lenkrad und die Knöchel traten bereits weiß hervor. „Außerdem knarzt du die ganze Zeit schon mit den Zähnen und machst ein Gesicht, als würdest du dem Nächsten, der dich anspricht, den Kopf abbeißen.“

Als er dies alles hörte, lockerte sich Kunikidas Anspannung umgehend. Er hatte nicht bemerkt, dass er all dies getan und damit für die unbehagliche Atmosphäre im Wagen gesorgt hatte. Seit er die Detektei verlassen hatte, hatte er an nichts anderes denken können, als an das Gespräch mit Joyce. Vertrauen war etwas äußerst Fragiles. Es brauchte nicht viel, um es zu erschüttern oder sogar zu zerstören. Joyce hatte Wilde vertraut und nicht damit gerechnet, dass dieser etwas womöglich Grausames vor ihm verbarg, das beide in Bedrängnis bringen würde. Doch er selbst stand nicht besser da.

Kunikida rechnete damit, dass Dazais Vergangenheit noch weitere Probleme machen würde, aber … dieses Wissen half ihm nicht. Er konnte noch so viele Überlegungen anstellen, ihm fehlte die Gewissheit. Solange niemand von ihnen Dazais ganze Vergangenheit kannte, konnten sie sich nicht darauf vorbereiten, falls noch jemand Rachegedanken gegen den Spinner hegte und sie angriff. Dazai musste dieser Umstand bekannt sein und trotzdem tat er nichts dagegen. Er verlor kein Wort zu viel über sich, hüllte sich in absolutes Schweigen. Warum hüllte sich jemand in so drastisches Schweigen? Weil er etwas zu verbergen hatte – oder in Dazais Fall: Weil er viel zu viel zu verbergen hatte. Konnte man so jemandem überhaupt trauen? War Dazai eine Gefahr für die Detektei?

„Kunikida ...“ Tanizakis dezent beunruhigte Stimme holte ihn aus seinen schwermütigen Gedanken. „Wir sind da. Da vorne ist es.“

Mit fahrigen Bewegungen lenkte Kunikida das Auto auf den Parkplatz vor dem kleinen Hotel, das in einer abgelegenen Straße hinter dem Bahnhof Tobe gelegen war. Hier waren Wilde und Joyce damals abgestiegen und hier wollte Ranpo als allererstes nach Hinweisen suchen. Er stellte den Motor ab und wunderte sich, dass Tanizaki ihn so besorgt musterte.

„Du hast wieder dieses Gesicht gemacht“, erklärte der Rothaarige, „aber dieses Mal bist du dabei ganz blass geworden.“

Der Idealist räusperte sich. „Mir geht es gut. Mach dir keine Sorgen.“

„Vielleicht gönnst du deinem Kopf mal eine kurze Pause“, ertönte es ungewöhnlich ernst und mahnend von der Rückbank, „das bringt doch jetzt nichts.“ Ranpo stieg aus und streckte sich.

Er hat Recht. Meine Überlegungen drehen sich nur im Kreis.

Kunikida zuckte seufzend mit den Achseln und verließ mit Tanizaki den Wagen. Er sah sich um.

„Wo willst du anfangen, Ranpo? Brauchst du den Stadtplan?“

„Ah!“ Tanizaki schreckte zusammen. „Der ist noch im Büro! Ich wusste nicht-“

„Natürlich nicht.“ Ranpo winkte augenrollend ab. „Ich weiß längst, wo wir suchen müssen.“

Die beiden anderen warteten gespannt ab, ob er ihnen diese Information auch noch zuteil werden ließe, aber der Meisterdetektiv gähnte ausgiebig und blinzelte gut gelaunt und zufrieden in die Sonne.

„Ein schöner Tag! Zum Glück habe ich die Schokoriegel aufgegessen, sonst wären sie mir ruckzuck geschmolzen.“

Vor Kunikidas innerem Auge bedeckte eine eklige, rosafarbene Schicht seine schöne Rückbank und ließ ihn erneut seufzen. Immerhin war ein halbwegs satter Ranpo ein halbwegs pflegeleichter Ranpo.

„Das Hotel liegt sehr abgelegen, findet ihr nicht?“, fragte Tanizaki, während er sich umschaute. Außer dem Hotel gab es hier nur wenige Geschäfte und umso mehr Wohnhäuser. Ein typisches altes Wohngebiet.

„Sie mussten damals für eine unbestimmte Zeit in Yokohama bleiben“, entgegnete Kunikida. „Abseits des Zentrums sind die Unterkünfte erheblich günstiger.“

„Es ist trotzdem ziemlich umständlich, von hier zum Hafen oder zur Detektei zu fahren.“ Ranpo machte nach wie vor keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. „Die beiden hatten keinen Plan von Yokohama.“

Kunikidas Stirn legte sich in Falten. „Also meinst du, dass Wilde doch die Wahrheit gesagt hat und noch nie zuvor hier gewesen war?“

„Das halte ich für wahrscheinlich. Aber Dazai hat das auch nicht einfach so dahergesagt. Es gibt eine Verbindung zwischen Wilde und dieser Stadt. Sonst würde dieser Brief ja keinen Sinn machen.“

„Dann kennt er hier jemanden?“, mutmaßte Kunikida nun.

„Das werden wir bald erfahren.“ Zum Unverständnis der beiden anderen grinste Ranpo. „Sehen wir uns mal das Hotel an!“

Die drei betraten das Gebäude und wie so oft machte Kunikida die Vorarbeit und erklärte erst dem Rezeptionisten und dann der Besitzerin, dass sie wegen einer Ermittlung hier waren. Die überschaubare Belegschaft des kleinen Hotels zeigte sich sehr kooperativ, zeigte ihnen alles und erzählte, so gut sie sich erinnern konnte, von den irischen Gästen. Besonders den Damen war Wilde so stark in Erinnerung geblieben, dass sie allesamt rot wurden und ins Schwärmen gerieten, wenn sie von ihm sprachen. Tanizaki ließ dies verlegen lächeln, doch Kunikida rollte mit den Augen. Aus irgendeinem Grund konnte er sich denken, was für einen Honig dieser Kerl den Frauen um den Mund geschmiert haben musste. Selbst die Besitzerin hatte sich so weit einlullen lassen, dass sie mit dem Preis für das Zimmer noch heruntergegangen war. An wen erinnerte ihn das nur?

Unglücklicherweise brachten sie aber nichts Brauchbares in Erfahrung. Die Iren waren stets nett und zuvorkommend gewesen, hatten ihr Zimmer in tadellosem Zustand verlassen und waren immer zu zweit unterwegs gewesen. Keine dieser Informationen brachte sie irgendwie weiter.

Am Ende aller Befragungen fiel Tanizaki eine Kleinigkeit auf.

„Ranpo … du hast nicht einmal deine Brille aufgesetzt.“

„Hm? Nö, warum auch?“ Er knabberte eine Tüte Brezeln, die er aus dem Snackautomat in der Lobby gezogen hatte.

„Also ...“ Tanizaki sah leicht hilflos zu Kunikida, der genauso überfragt war wie er, bevor er das Wort wieder an Ranpo richtete. „Das heißt, wir finden hier keinen Hinweis?“

Der Meisterdetektiv blickte gelangweilt schmatzend zu ihm hoch. „Nö.“

„Ääh, und das heißt … wir machen jetzt was?“

Nachdem er den letzten Brezel in den Mund geworfen und die Tüte entsorgt hatte, legte Ranpo den Kopf schief. „Ist doch offensichtlich. Wir gehen wieder nach draußen“ sprach er und marschierte an seinen verdatterten Kollegen vorbei.

Ist das offensichtlich?“, fragte der Blick des Rothaarigen und Kunikida ächzte laut.

„Anscheinend ist es offensichtlich.“

Sie folgten dem dienstältesten Detektiv nach draußen, wo dieser auf dem Bürgersteig vor dem Hotel stehen geblieben war.

„Ranpo?“, fragte jetzt Kunikida vorsichtig. Er hatte ebenso immense Schwierigkeiten Ranpos Verhalten und Denkweisen nachzuvollziehen, aber im Gegensatz zu den Ungewissheiten, die Dazai betrafen, fürchtete Kunikida bei ihm nicht, dass dies für irgendeinen von ihnen gefährlich werden würde. Bei dem dezent kindischen Meisterdetektiv musste er nur beachten, stets sehr behutsam vorzugehen, da dessen Launen sonst unberechenbar wurden.

„AAALSOO!“, rief Ranpo plötzlich lautstark aus, sodass er damit den Puls der beiden anderen schlagartig in die Höhe trieb. „Im Hotel finden wir keine Spur! Vielleicht sollten wir lieber aufgeben und den Fall abhaken! Sowieso, was interessiert mich dieser Wilde überhaupt! Das ist ein langweiliger Fall! Lasst uns nach Hause gehen!“

Baff und ratlos starrten Tanizaki und Kunikida zu ihrem Kameraden. Was war denn jetzt in ihn gefahren?

„Aber, Ranpo ...“, begann Ersterer entsetzt und brach seinen Einspruch jäh ab, als der Schwarzhaarige sich zu ihnen umdrehte und … über das ganze Gesicht spitzbübisch grinste.

Was soll diese Schmierenkomödie?, ging es Kunikida durch den Kopf. Ranpo verfolgte damit wohl irgendeine Absicht, aber welche?

„Entschuldigung“, erklang da plötzlich die Stimme einer jungen Frau, die von dem Weg, der hinter das Hotel führte, heraneilte. Sie hatte glänzende, dunkelbraune Haare und trug ein edel aussehendes Outfit, das nicht in diese einfache Wohngegend passte. „Ich kam nicht umher, mitanzuhören, was Sie gerade gesagt haben. Sie erwähnten jemanden namens 'Wilde', nicht wahr?“

Mit seiner üblichen trägen Miene drehte Ranpo sich der Frau zu. „Schon, aber ...“, er gähnte mit offenem Mund, „das Thema ist vom Tisch.“

Kunikida hob skeptisch eine Augenbraue, als er die Frau musterte. Wieso wirkte sie so nervös?

„Sie sprachen von einem Fall, oder?“, beeilte sie sich zu sagen. „Ermitteln Sie in einer Sache, die mit diesem Herrn zusammenhängt?“

„Kennen Sie Herrn Wilde?“, hakte Tanizaki nach und die junge Dame nickte aufgeregt.

„Wir sind uns hier ein paar Mal zufällig begegnet, als er auf dem Weg irgendwohin war und haben uns kurz unterhalten. Ein faszinierender, doch recht undurchsichtiger Mann war das.“

„So?“ Ranpo zückte seine Brille und setzte sie auf. „Vielleicht können Sie diesen schrecklich langweiligen Fall doch noch interessant machen.“ Seine grünen Augen nahmen sie geradezu ins Visier, sodass sie noch nervöser wurde und anfing, an ihrem Kleid herumzunesteln.

„Können Sie eventuell etwas mehr ins Detail gehen, was Ihre Aussage von eben angeht?“, forderte Kunikida sie bedachtsam auf. „Inwiefern machte Herr Wilde auf Sie einen undurchsichtigen Eindruck?“

„Uhm ...“ Sie bemerkte ihre fahrigen Handbewegungen und stellte sie ein. „Ich weiß nicht genau, wie ich das erklären soll. Immer, wenn ich mit ihm sprach, hatte ich ein ungutes Gefühl, so als … als wäre er … unehrlich. Zutiefst unehrlich. Und dann, dass er nur im Schutz der Nacht herauskroch … wie eine Ratte.“

Die ganze Zeit, während sie sprach, hörte Kunikida nicht auf, sie zu beäugen.„Darf ich fragen, ob noch jemand bei ihm war, als Sie ihm hier begegnet sind?“

„Nein, er war allein.“

„Huh? Das ist seltsam“, warf Tanizaki ein. „Die Hotelangestellten haben alle ausgesagt, dass Wilde und Joyce immer zusammen das Gebäude verlassen hätten.“

„Oh, wie gesagt, das war nachts. Vermutlich hatte sich Herr Wilde herausgeschlichen, während sein Begleiter schlief und die Rezeption nicht besetzt war“, antwortete die Unbekannte.

Mit kritischem Blick rückte Kunikida seine Brille zurecht. „Sie wissen nicht, wohin er mitten in der Nacht wohl wollte, oder?“

Sie schüttelte den Kopf. „Darüber hat er sich ausgeschwiegen.“

„Kunikida“, sagte Ranpo da plötzlich, „ruf doch mal Atsushi an und frag ihn nach seiner Meinung zu dieser Sache.“

„Atsushi?“, hakte der Idealist verwundert nach.

„Ja, Atsushi. Ich habe in der Detektei blöderweise vergessen, nach seiner Nummer zu fragen.“

Kaum wahrnehmbar hatte sich Kunikidas fragende Miene für einen Augenblick geklärt. „Atsushi, alles klar.“ Er holte sein Handy heraus und wählte die Nummer des Jungen.

 

„Kunikida?“, meldete Atsushi sich, nachdem er den Anruf angenommen hatte. „Was gibt es?“

„Können du und die anderen mich gut hören?“

„Hm? Moment ...“ Er winkte Dazai und Joyce zu sich heran und stellte auf Lautsprecher. „Jetzt.“

„Es ist wichtig, dass ihr jetzt gut aufpasst. Am besten erklärt Ranpo euch alles.“

„Verstanden!“ Gespannt wartete Atsushi, doch niemand am anderen Ende sagte etwas. Fragend blickte er zu Dazai, der ihm signalisierte, still abzuwarten.

„Dann bleiben Sie jetzt doch an diesem Fall dran?“ Im Hintergrund hörten sie die Stimme einer Frau.

„Natürlich.“ Das war Ranpos Stimme. „Nun wo der Fall mit einem Mal so spannend ist. Ich frage mich nur noch, was eine Frau in so schicker Garderobe in dieser Gegend macht und das auch noch nachts? Und warum sie mehrmals mit einem Fremden spricht, bei dem sie ein ungutes Gefühl hat und den sie dann sogar mit einer Ratte vergleicht? Außerdem warum sie weiß, dass Wilde und Joyce sich hier ein Zimmer geteilt haben? Und warum sie wie aus dem Nichts von einem Weg kommt, an dessen Ende nichts außer einer Sackgasse liegt? Die kann man aus den oberen Fenstern des Hotels übrigens ganz wunderbar sehen. … Sie waren doch ehrlich zu uns, oder?“

„Yay! I-ich meine, j-a, natürlich war ich das!“

Atsushi bemerkte, wie Joyce scharf die Luft einzog und ganz bleich wurde.

„Herr Kunikida!!“, schrie er ins Telefon. „Das ist sie! Die mysteriöse Klientin, der wir in Dublin begegnet sind!!“

Am anderen Ende der Leitung hörten sie Kunikida ausatmen. „Ich verstehe.“

 

Kunikida senkte das Telefon herab, ohne aufzulegen. Sein strenger Blick ließ die Frau nicht aus den Augen. Ihre nervösen Finger krallten sich in den Stoff ihres Kleides. Sie wusste, dass sie aufgeflogen war.

„Wer auch immer diesen Brief an Joyce geschickt hat“, erklärte Ranpo, „wusste, dass dieser sich an die Detektei wenden würde und hat uns deswegen beobachten lassen. Sie hatten regelrecht Panik, dass wir den Fall tatsächlich nicht weiter verfolgen würden. Daher diese verzweifelte Aktion gerade.“

„Das verstehe ich nicht ganz“, wandte Tanizaki, die Frau ebenso nicht mehr aus den Augen lassend, ein. „Wenn sie zu den Leuten gehört, die den Brief geschickt haben, wofür braucht sie dann uns? Warum ist es so wichtig, dass wir das Rätsel aus dem Brief lösen?“

„Weil sie selbst nicht wissen, wer die Person in Yokohama ist, die auch von jeglichem Glück verlassen wurde“, erwiderte Ranpo zügig. „Das sollen wir für sie herausfinden.“

Die Frau senkte geschlagen ihren Kopf und ließ ihr Kleid los.

„Folgen Sie uns bitte widerstandslos zur Detektei“, legte Kunikida ihr ruhig und doch alarmiert nahe, „und beantworten Sie uns dort alles, was wir wissen wollen.“

Sie hob ihren Kopf wieder – und allen drei Detektiven lief es mit einem Mal eiskalt den Rücken hinunter. Ihre Aura hatte sich völlig verändert.

„Ihr lästigen Ratten“, fauchte sie mit einem unheimlichen, verzerrten Gesichtsausdruck, der sie kaum noch wie einen Menschen aussehen ließ. „Wir werden in diesem Rennen um jeden Preis als Sieger hervorgehen. Seht dies als eine Warnung.“ In ihrer rechten Hand materialisierte sich eine Schusswaffe, sodass Tanizaki und Kunikida sich beeilten, ihre eigenen Pistolen zu ziehen und auf sie zu richten. Nur Ranpo stand ihr komplett schutzlos gegenüber.

 

„Kunikida?“, fragte Atsushi ängstlich nach, als er die unheilvolle Stimme der Frau hörte. „Was ist bei euch los?“

„Herr Joyce“, antwortete der Idealist angespannt, „Ihre Klientin ist eine Befähigte.“

„Lassen Sie sie nicht entkommen!“, flehte der Ire. „Sie ist vermutlich die Einzige, die uns weiterhelfen kann!“

„Wir brauchen nur einen von euch.“ Die Stimme der Frau erklang ein weiteres Mal, ehe ein Schuss ertönte.

Hilflos hielten die drei Männer, die ihn durch das Telefon gehört hatten und in diesem Moment nichts tun konnten, den Atem an.

„Kunikida??“, brüllte Atsushi in die beklemmende, nach dem Schuss aufgekommene Stille hinein. „KUNIKIDA!! ANTWORTE! KUNIKIDA!!“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Und genau deswegen gab ich Eliza eine kleine Sprachauffälligkeit. Im nächsten Kapitel gibt es wieder eine Rückblende.
Darf ich euch daran erinnern, mir zu helfen, Crunchyroll zu einer Weiterveröffentlichung der deutschen Fassung des BSD-Animes zu bewegen? Es wäre eine Schande, wenn der Anime bei uns nicht weiter veröffentlicht würde und vielleicht können wir zusammen Crunchyroll überzeugen. Komplett anzeigen

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