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Samhain - Der Feind meines Feindes

Magister Magicae 10
von

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Die schonungslose Abrechnung

In Vladislavs Gesicht zeigte sich eine selbstgefällige Genugtuung. Victor hatte die Motus verraten und danach jahrelang die versprengten Mitglieder dieser Organisation gejagt und getötet. Jahrelang hatte Vladislav ihn trotz aller Bemühungen nicht zu fassen bekommen. Und jetzt hatte er ihn endlich hier vor sich, gut weggesperrt in einer Kerkerzelle und gehörig einen Kopf kürzer gemacht. Er hatte längst aufgehört, zu zählen, die wievielte Tracht Prügel das jetzt war. Was zählte, war, dass er immer noch Spaß daran fand. Und der mit Blut hingeschmierte Runenkreis, den Vladislav natürlich längst in der Zelle entdeckt hatte, war da nur ein Vorwand von vielen. Victor hatte ihm nicht verraten, was es mit dem auf sich hatte, sondern hatte sogar behauptet, der Runenkreis habe nicht funktioniert. Vladislav glaubte ihm kein Wort. Es war noch NIE vorgekommen, dass Victor irgendwas tat und es nicht funktionierte. Nun, er würde Victor umbringen, ja. Aber es sollte kein schneller, schmerzloser Tod sein. Das hatte er in Vladislavs Augen nicht verdient. Vladislav wollte Rache, und zwar richtig. "Und? Du wolltest doch reden. Hast du noch ein paar berühmte letzte Worte für mich?", wollte er wissen.

Victor schüttelte am Boden liegend mühsam den Kopf. "Nein", hauchte er schwach. Er wirkte kaum noch ganz bei Bewusstsein. Und zu sagen hatte er inzwischen auch wirklich nichts mehr. Das Thema, sich mit dem ehemaligen Motus-Boss aussprechen zu wollen, war durch. "Aber eine Frage hätte ich", meinte er. "An Waleri."

"Ich ahne Schlimmes", brummte der und trank unwillig einen Schluck.

"Ich habe es bis heute nie verstanden", fuhr Victor leise aber unbeirrt fort. "Warum hast du mich damals am Leben gelassen?"

Sowohl Waleri als auch Vladislav wussten sofort, welches 'damals' gemeint war. Als Victor die Motus an die Polizei verraten hatte, hatte Vladislav seinem Schutzgeist den relativ unmissverständlichen Befehl gegeben, Victor 'aus dem Weg zu räumen'. Waleri hatte den Befehl allerdings wohlwollend ausgelegt und den Querulanten nicht getötet, sondern ihn den Sklavenhändlern überlassen. Heute, im Nachhinein betrachtet, wäre vieles anders gelaufen, wenn er das nicht getan hätte. Waleri knirschte unmerklich mit den Zähnen, angesichts dieser Frage. "Lass uns alleine, Vladislav", trug er seinem Schützling grummelig auf.

Vladislav warf ihm einen strafenden Blick von der Seite zu, kam der Aufforderung nach einem Moment aber doch nach. Zwar sichtlich griesgrämig, aber ohne Widerworte. Sein Gesichtsausdruck zeigte jedoch, dass dieses Thema noch nicht geklärt war. Die Antwort darauf wollte er ebenfalls hören, zur Not halt später.

Waleri setzte sich in der Nähe der Zelle auf den blanken Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Dann hob er erneut die Vodkaflasche, die er sich mitgebracht hatte, und nahm einen kräftigen Hieb daraus. Victor hatte inzwischen die Augen geöffnet und beobachtete ihn verstohlen, ansonsten regte sich an ihm aber weiterhin nichts.

Waleri ließ das gegenseitige Schweigen noch eine Weile im Raum hängen, aber schließlich holte er doch Luft. "Gut. Du willst wissen, warum ich dich damals verschont habe. Und ich finde, du hast ein Recht darauf, den Grund zu erfahren", begann er. Und trank wieder nachdenklich einen Schluck Vodka, als müsse er sich erstmal passende Worte zusammensuchen. "Weißt du ... nachdem diese Rotkappe Vladislavs Sohn abgeschlachtet hatte, die Polizei nichts deswegen unternehmen wollte, und seine Frau abgehauen ist, war Vladislav ein gebrochener Mann. Er war in seinem Elend versackt und war drauf und dran, sich mit seiner Dienstwaffe das Gehirn wegzublasen. Ich habe die Motus gegründet, um ihm wieder eine Aufgabe zu geben. Einen neuen Sinn im Leben. Und die Chance, seinen Sohn zu rächen. Aber was Vladislav in diesen paar Jahren aus der Motus gemacht hat, habe ich weder gewollt, noch kommen sehen. Ich hasse, was aus der Motus geworden ist. Vladislavs Ambitionen sind außer Kontrolle geraten. Aber ihm jetzt noch Einhalt zu gebieten ... puh ... dafür ist es zu spät." Augenrollend goss sich Waleri mehr Vodka hinter die Binde. "Die Wahrheit ist, ich habe inzwischen selber Angst vor Vladislav." Er schüttelte leicht den Kopf. "Er ist ein überaus herrschsüchtiger und nachtragender Mensch geworden. Selbst ich bin vor seinen gewalttätigen Racheakten nicht sicher. Ich habe Angst vor meinem eigenen Schützling, ist das nicht der Wahnsinn? - Und dann kamst du. Du hattest tatsächlich den Schneid, ihm die Stirn zu bieten. Du hast es gewagt, dich mit Vladislav anzulegen und die ganze Motus durch den Schornstein zu jagen. Ich habe dich insgeheim dafür bewundert. Das war nichts, was ich bestraft sehen wollte."

Waleri musterte lange und nachdenklich den Gefangenen, der den Blick schweigend aber aufmerksam erwiderte. Victor nickte nur unmerklich. Es blieb der Fantasie überlassen, ob er nur Verstehen oder auch einen Dank damit ausdrücken wollte. Und dann verschwand noch mehr Vodka in seinem Schlund. "Ich hab ja nicht damit gerechnet ...", fuhr Waleri etwas vorwurfsvoll fort, "dass du jemals wieder auf der Bildfläche erscheinst. Als ich dich auf den Sklavenmarkt geschleppt habe, dachte ich, man würde nie wieder von dir hören." Mit einem Ächzen raffte er sich wieder auf. "Es war dumm von dir, den Krieg mit Vladislav fortzuführen. Du hättest dich deines Lebens erfreuen und verschwunden bleiben sollen", meinte er mit einem 'das-hast-du-nun-davon'-Schulterzucken. Dann drehte er sich weg und schlenderte von dannen, seinem schon verschwundenen Schützling hinterher. Ohne zurück zu sehen. Im Gehen setzte er nochmal die Schnapsflasche an.
 

Als Waleri wieder hinauf in den Wohnbereich kam, kehrte Vladislav augenscheinlich gerade von der Toilette zurück. Waleri versuchte kurz über die mentale Verbindung zu seinem Schützling dessen Laune einzuschätzen. Sicher war der dezent angefressen, weggeschickt worden zu sein. Aber er spürte praktisch gar nichts. Weder Wut, noch sonst irgendwas. Erst als Vladislav schweigend nach einem der vollen, schweren Stehordner griff und ausholte, wurde ihm klar, dass es blanke Kaltblütigkeit war, die da herrschte. Vladislav schlug ihm den massiven Ordner so unvermittelt seitlich ins Gesicht, dass er nicht mal mehr ausweichen konnte. Die halbvolle Vodkaflasche fiel ihm aus der Hand und zerschellte auf dem Fußboden, Waleri selbst taumelte vor Schmerz und Benommenheit einen Schritt rückwärts.

Vladislav packte ihn, drehte ihm gewaltsam den Arm auf den Rücken und ergriff ihn - mangels Haaren, die man hätte krallen können - äußerst schmerzhaft am Ohr. So stieß er Waleri über die Kante des großen Esstischs, der ihm als Schreibtisch diente, wodurch Waleri mit dem Gesicht und dem ganzen Oberkörper auf die Tischplatte knallte. Ein Stift segelte klappernd davon. Mit einer Hand immer noch Waleris auf den Rücken gedrehten Arm fixierend, griff er mit der anderen nach Waleris Hosenbund um ihn besser festhalten zu können.

Waleri gab ein panisches "Nein!" von sich, wand sich auf der Tischplatte, kam aus Vladislavs Hebelgriff aber nicht heraus.

"Sieh an. Du hast es also doch noch nicht vergessen", kommentierte Vladislav finster.

"Nein-nein, ich hab´s nicht vergessen", beeilte sich der Schutzgeist zu versichern, immer noch schockiert mit seiner Schnappatmung kämpfend. Und immer noch fassungslos darüber, wie wenig Emotionen er über die mentale Verbindung auffing. Diese Kaltblütigkeit ...

Vladislav ließ Waleris Hosenbund wieder los und lehnte sich stattdessen mit seinem gesamten Gewicht auf dessen Rücken.

Der Hühne verzog schmerzlich das Gesicht, weil die harte Tischkante, die in seine Weichen drückte, regelrecht wehtat, aber einen Protest wagte er nicht.

"Ich hoffe doch, du kapierst, welche Botschaft ich dir hier gerade übermitteln will!?", hakte Vladislav drohend nach.

"Sicher ..."

"Gut. Du wirst mich nie wieder vor Zeugen so demütigen, mich einfach vor die Tür zu schicken, merk dir das! Sei froh, dass Victor eh bald tot ist, und keinem mehr davon erzählen kann."

Waleri nickte nur.

"Und jetzt sag mir gefälligst, warum du Victor damals verschont hast! Diese Frage habe ich dir nämlich auch schon ein paar Mal gestellt, und nie eine Antwort drauf bekommen."

"Ich hab´s dir doch gesagt: es gibt keinen bestimmten Grund dafür", versuchte Waleri sich herauszureden. Wie immer, als das Thema in der Vergangenheit zur Sprache gekommen war. "Ich hab damals nicht nachgedacht. Es war einfach Dummheit von mir."

"Und das hättest du Victor gerade eben nicht sagen können, wenn ich daneben stehe!?" Vladislav packte Waleri abermals am Ohr und zerrte ihn daran schmerzhaft von der Tischplatte hoch, wieder in eine stehende Haltung. Dann stieß er ihn grob Richtung der Flaschenscherben. "Mach das sauber", befahl er verächtlich. Spuckte den Befehl mehr als dass er ihn aussprach. Er machte keinen Hehl daraus, dass er Waleri die Ausrede nicht abkaufte, konnte ihm aber wohl gerade nichts Gegenteiliges nachweisen, oder hatte einfach keine Lust dazu. "Das Thema werden wir demnächst auf andere Art und Weise klären", drohte er lediglich, und setzte sich an seinen Tisch, um weiter an seinen Unterlagen zu arbeiten, als sei nichts gewesen.

Waleri legte sich kurz stöhnend eine Hand auf den Unterbauch. Die Tischkante, die er sich in den Leib gerammt hatte, tat echt höllisch weh. Dann riss er sich aber doch zusammen und begann das Glas vom Boden aufzusammeln.
 

Ein paar Minuten später, als die Glasscherben beseitigt und der bedauernswerte Vodka aufgewischt waren, setzte sich Waleri mit an den Esstisch, gegenüber von seinem Schützling und verschränkte die Arme auf der Tischplatte.

Vladislav schrieb noch in Ruhe seine Zeile zu Ende, bevor er hochsah. Er bemerkte, dass Waleri ihn direkt anstarrte, als würde er auf etwas warten. "Was ist!?", wollte Vladislav schnippisch wissen.

"Ich will mit dir reden."

Vladislav rollte mit den Augen. "Jetzt fängst du auch noch an! Schon schlimm genug, dass Victor mir seit Tagen damit in den Ohren liegt."

"Willst du nun wissen, warum ich Victor damals am Leben gelassen habe, oder nicht?", gab der Glatzkopf nur mürrisch zurück.

"Ach, plötzlich?" Vladislav klopfte mit seinem Kugelschreiber auf die Tischplatte, als würde ihm das beim Denken helfen, und wirkte dabei ein wenig enttäuscht. Er hatte sich bereits darauf gefreut, die Wahrheit gewaltsam aus Waleri herausholen zu können. "Auf diese Wahrheit bin ich wirklich gespannt. Das muss ja echt ne platzende Bombe sein, wenn du SO viel auf dich nimmst, um sie mir nicht preisgeben zu müssen."

"Ich will nicht erst warten, bis du Zwang anwendest. Deine Foltermethoden sind inzwischen nichts mehr für fantasiebegabte Leute. Das, was du mir hinterher als Strafe antun wirst, wenn du die Wahrheit erstmal kennst, reicht mir völlig."

Vladislav verengte vielsagend die Augen, als würde er an der geistigen Verfassung seines Schutzgeistes zweifeln. "Wieviel Vodka hast du intus?"

"Nicht genug für das hier", murrte Waleri humorlos. Er war entschlossen, diese Angelegenheit jetzt zu klären, und würde sich weder von Vladislavs abfälligen Fragen aus der Reserve locken noch sich durch stupide Themenwechsel abwimmeln lassen.

Vladislav lehnte sich seinerseits mit den Ellenbogen auf den Tisch und setzte einen wartenden Gesichtsausdruck auf. "Nagut. Dann lass hören."

Waleri holte Luft, um zu einem längeren Vortrag anzusetzen, und obwohl allein das schon ein Stirnrunzeln bei Vladislav auslöste, gedachte er sich auch nicht mehr davon abhalten zu lassen. "Ich habe damals die Motus gegründet, um Menschen vor gefährlichen Genii zu schützen."

"Ich dachte, du willst über Victor reden", warf Vladislav unterbrechend ein.

"Lass mich ausreden!"

"Und die Motus haben wir beide zusammen gegründet!"

"Nein!?", beharrte Waleri in einem absolut nicht mehr diskussionsbereiten Tonfall. "ICH war das!"

Der Motus-Chef nickte hinnehmend.

"Also!", hob Waleri von Neuem an. "Ich habe die Motus gegründet, um Genii abzuwehren, die für Menschen gefährlich sind. Ich hab damals auch eingesehen, dass du wütend und verbittert warst, als die Rotkappe deinen Volodya erschlagen hat. Ich habe eingesehen, dass du Rache wolltest und diese eine, bestimmte Rotkappe umbringen wolltest. Zur Hölle, ich habe deinen Sohn geliebt! Ich wollte die Rache genauso wie du! Ich habe sogar noch bis zu einem gewissen Punkt verstanden, dass du noch mehr bestimmte Genii aus dem Verkehr ziehen wolltest, die der Polizei egal sind, obwohl sie Menschen töten. Aber du bist im Laufe der Zeit eskaliert. Was du aus meiner Motus gemacht hast, dieses riesige, internationale Kartell, das mit Waffen, Sklaven und Mordaufträgen handelt, und ganze Listen von Genii-Arten komplett ausrotten will, war einfach nur besessen und völlig außer Kontrolle! Das habe ich nie gewollt. Aber du hast dich nicht mehr aufhalten lassen. Egal, was ich gesagt oder getan habe, du warst nicht mehr zur Vernunft zu bringen. Dass du endgültig übergeschnappt bist, habe ich spätestens an diesem verfluchten Tag eingesehen, an dem du mich unter Folter mundtot gemacht und zu einem leibeigenen Ding ohne Rechte erniedrigt hast, das nicht mal mehr den Mund aufmachen darf. Für jedes falsche Wort muss ich seither mit Prügel oder noch demütigenderen Strafen rechnen."

"Gefruchtet hat es ja scheinbar nicht ...", kommentierte Vladislav trocken.

"Schlimmer noch, du strafst mich schon vorbeugend ab, bevor überhaupt irgendwas vorgefallen ist, einfach nur weil du so gern in der Macht schwelgst, die du über mich hast. Und du unterbindest, dass ich Probleme lösen kann, die du in dem Moment gerade mit mir hast! Als du neulich Shaban gesucht hast, und ich dir nicht sofort gesagt habe, wo er steckt, hast du mich dafür gefesselt und geprügelt, und hast mich dabei geknebelt, damit ich es dir nicht doch noch verrate. Denn dann hättest du ja aufhören müssen. Aber statt mich antworten zu lassen, hast du mir nur in die Augen gesehen und gesagt: 'Was ist? Jetzt willst du mir wohl sagen, wo Shabans Hütte steht? Tja, Pech gehabt, Kumpel, jetzt will ich nichts mehr von dir hören. Wir reden weiter wenn ich mit dir fertig bin'. Und dann hast du mich weiter geschlagen, obwohl ich dir deine verfluchte Antwort längst gegeben hätte. ... Seinen eigenen Schutzgeist so zu unterwerfen und zu beherrschen wie du es tust, ist eine absolute Übertretung von allem, was selbst in kriminellen Kreisen noch als recht und billig akzeptiert wird. Du bist einfach völlig wahnsinnig geworden. Ein klar denkender Mensch tut sowas nicht!"

Vladislav seufzte leise. "Könntest du jetzt langsam mal den Bogen zu Victor kriegen?"

"Victor", griff Waleri den Stichpunkt sofort bereitwillig auf, "war der, der deinem ganzen Wahn vorläufig ein Ende gemacht hat! Und das fand ich gut! Indem er die Motus hat auffliegen lassen, hat er geschafft, was ich nicht konnte! DARUM habe ich ihn damals am Leben gelassen! Er hatte es nicht verdient, dafür zu sterben. Es war nämlich richtig, dich aufzuhalten!"

"Also war es deine Rache an mir?", fasste Vladislav tonlos zusammen. Er klang dabei nicht ansatzweise so beleidigt oder sauer, wie Waleri erwartet hätte.

"Nein, es war keine Rache! Es war Anerkennung! Die Belohnung für Victors Heldenmut. ... Und nur, um das mal am Rande erwähnt zu haben: Dieses Gespräch, das wir beide hier gerade führen, ist genau das Gespräch, das eigentlich Victor schon seit Tagen mit dir führen wollte. Er wollte dir genau das gleiche ins Gesicht sagen. Nämlich, dass du inzwischen komplett geisteskrank und übergeschnappt bist. Nur hast du dich nicht genötigt gefühlt, ihn reden zu lassen."

"Und du glaubst, aus seinem Mund hätte mich das interessiert?"

"Was ICH glaube ...", hielt Waleri todernst dagegen, "ist, dass Victor nicht grundlos hergekommen ist. Lebensmüde ist er meines Wissens nach noch nicht. Da wird schon ein bisschen mehr dahinterstecken. Vielleicht hätte er die Fehde mit dir ja sogar beigelegt, wenn du nur bereit gewesen wärst, vernünftig zu reden. An deiner Stelle hätte ich mir wenigstens mal angehört, was er zu sagen hat. Schließlich hätte er uns auch einfach mit einer Knarre aus der Ferne abknallen können, statt das Gespräch mit uns zu suchen."

Vladislav sah seinen Schutzgeist lange schweigend an. Bei ihm hatten sichtlich ein paar Zahnrädchen zu arbeiten begonnen, auch wenn er sich das nicht anmerken lassen wollte. Er schwankte zwischen Einsicht und Ablehnung, war aber noch nicht an dem Punkt, sich für eins von beidem zu entscheiden. "Soll ich Victor jetzt vielleicht verschonen, oder was?", wollte er nach einer Weile zynisch wissen.

"Das hab ich nicht gesagt", meinte Waleri und erhob sich vom Tisch. "Du wolltest eine Antwort auf eine schon lange im Raum stehende Frage, und die hab ich dir jetzt gegeben. Was du mit dieser Antwort anfängst, ist deine Sache. ... Und falls du mich für meine vorlaute, große Klappe und meine Ehrlichkeit jetzt wieder abstrafen willst, lass es mich wissen. Ich stehe zur Verfügung." Mit diesen Worten schlenderte er geruhsam aus dem Zimmer hinaus und ging sich wieder seinem liebsten Zeitvertreib widmen: Sandsäcke verhauen. Viel mehr konnte er hier in dieser Villa ja auch nicht tun, wenn er nicht gerade für Vladislav im Keller die Kartons mit Unterlagen auf den Kopf stellte.

Vladislav verschränkte mit einem tiefen Durchatmen die Arme, ließ sich gegen die Rückenlehne fallen und zog die Unterlippe zwischen die Zähne, um nachdenklich darauf herumzunagen. Er würde das niemals laut sagen, aber Waleris Strafpredigt hatte ihn nicht gänzlich kalt gelassen. Er wusste nicht, was Waleri alleine dort unten im Keller mit Victor besprochen hatte. Vladislav versuchte sich einzureden, dass Victor es bei diesem Gespräch offenbar geschafft hatte, gründlich Zwietracht zwischen ihm und seinem Schutzgeist zu säen. Wäre da nur nicht dieser hässliche Verdacht in seinem Hinterkopf gewesen, Victor habe diese Zwietracht gar nicht verschuldet, sondern habe Waleri lediglich dazu gebracht, sie nach langer Zeit des Schweigens endlich in Worte zu fassen und laut auszusprechen.
 

Victor lag nach wie vor in seiner Zelle. Er hatte seine Liegeposition nur geringfügig verändert, aber es war undenkbar, dass er inzwischen mal gesessen oder gar gestanden haben könnte. Er machte nicht den Eindruck, sich jemals wieder auf den Beinen halten zu können. Er war viel zu schwach dazu. Der Motus-Boss hatte ihm diesmal zu arg zugesetzt. Oder vielleicht hatte er in all den Tagen auch endlich genug auf die Fresse bekommen, um sich so langsam nicht mehr ständig davon zu erholen.

"So, towarisch", brummte Vladislav hämisch und schloss die Zelle auf. "Ich habe mich entschieden, wie ich dich umbringen werde. Deine letzten Momente auf Erden sind gezählt."

Da die Zellentür dazu neigte, immer wieder von selber zuzufallen, hielt Waleri sie dienstbeflissen auf, während Vladislav eintrat, Victor am Kragen packte und ihn einfach über den Boden herausschleifte wie einen Sandsack. Victor ließ es auch wehrlos mit sich geschehen.

Was dann passierte, kam viel zu überraschend, als dass Waleri es hätte erfassen können. Obwohl er es wie in Zeitlupe mitverfolgte, verhinderte seine Fassungslosigkeit jede Reaktion darauf. Der Motus-Boss schleifte Victor direkt an ihm vorbei. Da wurde Victor mit ungeahnter Plötzlichkeit wieder hellwach, schnellte aus Vladislavs nachlässigem Griff hoch, riss die Pistole aus Waleris Beinholster und legte Vladislav mit einem präzisen Kopfschuss um. Die Aktion war derart maßgeschneidert und perfekt ausgeführt, dass Victor sie regelrecht geübt haben musste.

Victor fuhr übergangslos herum und richtete das Schießeisen am ausgestreckten Arm auf Waleris Stirn. Seine Gesichtszüge waren versteinert, in seinen Augen lag die blanke Mordlust. Es war weniger die Pistolenmündung, sondern dieser eiskalte Blick, der Waleri rücklings zu Boden straucheln ließ. Als er der Länge nach hinschlug, folgte die Pistolenmündung seiner Bewegung nach unten. Waleri konnte gerade noch ergeben eine Hand heben, und die Erkenntnis, dass er sein Leben hier und jetzt verspielt hatte, radierte alle anderen Gedanken und Optionen gnadenlos aus. Aber stattdessen vergingen zwei, drei Sekunden atemloser Stille, in denen wider Erwarten nichts geschah und die Zeit einfach nur stillzustehen schien. Victor zögerte - warum auch immer - und hielt lediglich Waleris schockiertem Blick stand, obgleich die Pistolenmündung um keinen Millimeter verzitterte.

In Victors Augen erlosch etwas. Die Mordgier verflog und ein Funken klaren Verstandes brach sich Bahn. Sein Mundwinkel zuckte kurz. "Für heute sind wir quitt", stellte er klar und ließ die Waffe sinken. "Aber wage es nicht, nach mir zu suchen. Wenn du mir jemals wieder über den Weg laufen solltest, bist du tot, merk dir das." Dann wandte er sich geruhsam um und verließ aufrecht und ohne Eile den Kerker. Die Pistole nahm er mit. Von seiner zur Schau gestellten Kraftlosigkeit war nichts geblieben. Zurück blieb ein entsetzter, auf dem Boden sitzender Waleri mit Schnappatmung, der zu begreifen versuchte, was gerade passiert war. Beinahe erschossen mit seiner eigenen Waffe. Das wäre auf paradoxe Art gerecht gewesen, fand er, als sein Gehirn langsam wieder einsetzte und die ersten Fragen zu stellen begann.



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