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Battle for the Sun

von

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I wouldn't know where to begin – I asked the kings of medicine

I wouldn't know where to begin

I asked the kings of medicine“

 

Placebo, „Kings of medicine“

 

Der große, strahlend weiße Fisch drehte einsam seine Runden im Aquarium.

Je länger man ihn beobachtete, desto mehr konnte man meinen, dass er die zahlreichen anderen Fische im Aquarium mied. Die meisten anderen waren in Gruppen oder wenigstens in Paaren unterwegs, lediglich dieser eine strahlend weiße Fisch drehte ganz allein Runde um Runde durch das Wasser. Nur hin und wieder näherte er sich einem kleineren, orange-gefleckten Fisch, der wohl zu seiner Art gehören musste, denn sie sahen sich – von ihrer Größe und Farbe abgesehen – durchaus sehr ähnlich. Allerdings näherte er sich dem kleineren Fisch auf keine besonders freundlich wirkende Weise. Urplötzlich schien er immer mal wieder Anlauf zu nehmen und den Kleinen zu rammen, als wollte er ihn ärgern. Dann verzog er sich von neuem in eine andere Ecke des Aquariums und blieb wieder für sich.

Ein Skalar?

Nannte man diese Fische Skalare? Atsushi war der Meinung, dies mal in einer Zeitschrift gelesen zu haben, aber er konnte sich nicht daran erinnern, was für eine Zeitschrift das gewesen sein sollte und ob er sich vollkommen richtig an den Artikel erinnerte. Dieser Junge damals, den Kunikida als seinen Informanten vorgestellt hatte, er hatte sich Fische gehalten, er hätte wahrscheinlich gewusst, was genau da alles vor ihm herumschwamm.

Rokuzo. Rokuzo war sein Name gewesen. Aber dieser Junge war tot. Er konnte ihm seine Fragen nicht mehr beantworten.

Atsushi erstarrte bei diesem Gedanken und für einen Augenblick spürte er wieder das Zittern seiner Arme und Beine, das Beben seines ganzen Körpers. Bevor die in ihm aufsteigende Panik ihm die Luft zum Atmen nehmen konnte, zwang er sich, seinen nur dürftig fokussierten Blick weiter auf das Aquarium vor sich zu richten.

Ein kleiner, dunkler, fast schwarzer Fisch, der entfernt Ähnlichkeit hatte mit einem Miniatur-Piranha, wagte einen neuen Versuch, in die Nähe des strahlend weißen Skalars zu schwimmen. Er hatte dies schon mehrmals versucht, aber jedes Mal, wenn er dem Objekt seiner Begierde näher kam, hielt er inne. Dann drehte der Skalar sich in seine Richtung um und der Mini-Piranha erschrak und suchte hastig das Weite. Dieses Mal war es nicht anders. Obwohl Atsushi ein wenig über das Verhalten des kleinen, dunklen Fisches den Kopf schüttelte, empfand er auch Mitleid und Achtung für das winzige Geschöpf. Sein Ziel schien in ungreifbarer Ferne zu sein, doch immerhin weigerte er sich, aufzugeben.

Einzig ein kleiner, schwarz-weiß gestreifter Skalar schaffte es, am längsten neben dem strahlend weißen Fisch herzuschwimmen. Es wirkte beinahe, als würde der Größere dies dem Kleineren erlauben – für einen kurzen Moment zumindest. Dann beschleunigte der weiße Skalar so stark, dass das gestreifte Tier nicht mehr hinterherkam und der große Skalar wieder allein war. Der gestreifte Fisch blieb immer verdattert zurück, als hätte er wahrhaftig keine Ahnung, was gerade geschehen war. Doch ähnlich wie der dunkle Mini-Piranha versuchte er es immer und immer wieder.

Atsushis Mitleid für die Tiere wuchs. Sie suchten so sehr die Nähe von jemandem, der unerreichbar war. Würde er dies für immer bleiben? Warum begriff der große, strahlend weiße Skalar nicht, dass er seine Runden nicht einsam drehen musste? Der Junge musste sich zurückhalten, um nicht gegen das Glas der Scheibe zu schlagen und den einsamen Fisch darin anzuschreien.

Das Zittern. Das Beben. Das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.

„Atsushi“, drang es dumpf, wie aus weiter Ferne, zu ihm hindurch. „Atsushi, setz dich.“

Der Angesprochene drehte sich langsam zu der Stimme um, die ihn nachdrücklich, aber behutsam aufgefordert hatte, Platz zu nehmen. Kunikida sah ihn von seinem Sitzplatz auf den ungemütlich aussehenden Plastikstühlen aus an. Sein Blick war bemüht streng, die Erschöpfung und der Schock über das Geschehene machten es ihm sichtlich schwer, seine ruhige, aufrechte Haltung zu bewahren. Es war ein seltsames Bild, wie er dort ganz alleine saß, obwohl dort so viele Sitzgelegenheiten waren. Aber niemand saß um ihn herum. Die vielen anderen Leute, die hier warteten, zogen es vor, Abstand zu ihnen zu halten.

Wer konnte es ihnen verdenken?

So wie sie aussahen.

Kunikida war von oben bis unten blutverschmiert und Atsushi konnte nicht einmal sagen, ob irgendetwas davon das Blut des Blonden war oder nicht. Es war in seinen Haaren, auf seiner Kleidung, auf seinen Händen, in seinem Gesicht. Es widersprach den Gesetzen der Schwerkraft, dass seine in zwei Teile gebrochene Brille noch auf seiner Nase blieb. Atsushi konnte nur erahnen, dass

er selbst ähnlich aussehen musste. Das Blut hatte den Großteil seines einst weißen Hemdes tiefrot gefärbt und der Gestank ließ in ihm enorme Übelkeit aufsteigen. Ob es für andere auch so schlimm roch? Oder ob dies seiner feinen Tigernase geschuldet war? Vielleicht lag der Grund für seine Übelkeit auch darin, dass er über eine Sache grausame Gewissheit hatte:

Nur sehr wenig davon war sein eigenes Blut.

Seine Wunden waren zum Großteil bereits verheilt, hier und da zwickte und pochte es noch, aber nichts davon war eine gravierende Verletzung. Langsam, sehr langsam setzte sich Atsushi auf den Stuhl neben Kunikida. Schweigend starrte der junge Detektiv den Boden zu seinen Füßen an. Es war seltsam, sich so einsam zu fühlen, wenn man gar nicht alleine war. Und doch riss ihm der bekannte Schmerz der Einsamkeit gerade mit voller Wucht den Brustkorb auf und zerrte an seinem Herzen, als wäre dieses nur noch ein untauglich gewordener Gegenstand, für den er keine Verwendung mehr hatte.

Nein. Nein, das war nicht der ihm bekannte Schmerz. Dieser hier war eintausend Mal schlimmer.

„Du musst langsamer atmen. So hastig wie du nach Luft schnappst, kann die Luft überhaupt nicht bis in deine Lunge kommen“, ermahnte Kunikida ihn, während er ihn von der Seite besorgt-prüfend betrachtete.

Angestrengt versuchte Atsushi, dem Rat zu folgen und begann, langsamere, tiefere Atemzüge zu nehmen.

„Kunikida“, sagte er nach einer Weile, in der sie weiter geschwiegen hatten und der Junge seine Panik ein wenig unter Kontrolle bekommen hatte, „es wird doch alles wieder gut werden, nicht wahr? Es wird alles gut werden … nicht wahr?“ Ängstlich wandte er sich dem Kollegen neben sich zu.

Kunikida stockte, sichtlich überfordert mit der Frage des Jüngeren und dem traurigen, verängstigten Ausdruck in seinen großen Augen. Eine halbe Ewigkeit verging, bevor er ihm etwas antwortete. „Atme weiter, Atsushi.“

Als hätte der Blondschopf ihm gerade das Ende der Welt verkündet, wurde Atsushis Miene für einen Moment lang von völliger Verzweiflung übermannt, ehe er abwesend nickte und seinen Kopf zurück in die Richtung des Aquariums drehte. Der strahlend weiße Skalar haute gerade wieder einmal mit lächerlich hoher Geschwindigkeit vor dem gestreiften Skalar ab.

Atsushi schaffte es endgültig nicht mehr, den Lärm um sich herum auszublenden. Leute schrien durcheinander, Leute schrien vor Schmerzen, Leute schrien anderen Anordnungen zu. Die Sirenen von draußen, das eilige Rennen durch die Flure. Irgendwo weinte jemand. Eine Durchsage wies irgendeinen Arzt an, sofort in Behandlungsraum drei zu kommen, die nächste beorderte eine Ärztin umgehend in OP vier. Es klang wie ein heilloses Durcheinander, aber vermutlich waren dies alles nur Geräusche eines ganz gewöhnlichen Tages in einem Krankenhaus – an einem für viele Menschen ganz gewöhnlichen Freitag. Atsushi wollte auch losrennen, wollte auch losschreien, aber weil ihm bewusst war, dass nichts davon helfen würde, tat er nichts dergleichen. Alles, was er tun konnte, war, in diesem Wartebereich zu warten. Ein Gefühl von bleischwerer Hilflosigkeit riss ihm den Boden unter den Füßen weg. Wie hatte es dazu kommen können? Wie hatte all dies nur geschehen können? Es war gerade erst einmal zwei Tage her, dass dieses Drama in der Detektei – seinem Zuhause, seiner vertrauten und liebgewonnenen Umgebung – seinen Anfang genommen hatte. Atsushi stockte der Atem, als er an die Detektei dachte. Würde es dort je wieder so sein wie früher?

Ein unaufhörlicher Strom aus bitteren, heißen Tränen erschwerte ihm mit einem Mal die Sicht auf das Aquarium.

I'd tear the sun in three to light up your eyes

I'd tear the sun in three

To light up your eyes“

 

Placebo, „For what it's worth“

 

Allein verließ Atsushi Nakajima an diesem Mittwochmorgen den Aufzug, nachdem dieser ihn in die Etage der Detektei gebracht hatte. Es war acht Uhr in der Früh und erst so langsam lugte die Sonne zaghaft hinter der dicken Wolkendecke hervor, was den Weg vom Wohnheim der Detektei bis hierhin erheblich kühler gemacht hatte. Der Wetterbericht für heute hatte recht unentschlossen geklungen: „Es könnten weitere Wolken aufziehen.“ Für den Moment war dies dem jungen Detektiv egal, denn ihn beschäftigte etwas anderes.

Kyoka verhielt sich auffallend merkwürdig.

Nicht, dass er das Verhalten seiner Mitbewohnerin ansonsten immer als merkwürdig beschreiben würde, aber das Mädchen hatte eben so ihre Eigenarten. Manchmal wirkte sie äußert verschlossen und ernst und redete nicht mehr als unbedingt nötig. Andere Male konnte sie voller Begeisterung stundenlang über ihre Lieblingstofugerichte dozieren. Wieder andere Male wechselte sie, ohne den Tonfall zu ändern, das Thema binnen eines Augenaufschlages von einer niedlichen Häschenhaarspange, die sie irgendwo gesehen hatte, hin zu einer Methode, wie man jemanden mit einer einfachen Haarnadel ermorden konnte (Letzteres war während eines gemeinsamen Abendessens plötzlich Thema geworden und da Kyoka keine anatomischen und äußerst, äußerst blutigen Details in ihrer Erzählung ausgelassen hatte, hatte Atsushi – merklich grün im Gesicht - das Abendessen fast unangetastet von sich schieben müssen).

Und das war das, was Atsushi als Kyokas „normales“ Verhalten bezeichnete. Daher beunruhigte es ihn doch sehr, dass Kyoka gestern aus dem Blauen heraus verkündet hatte, sich heute frei zu nehmen zu wollen und, nachdem der Chef ihr dies genehmigt hatte, es tatsächlich auch tat. Sie hatte verdächtig nachdenklich gewirkt, als sie am Tag zuvor aus der Mittagspause unten im Café gekommen war und dann, plötzlich, hatte sie einen freien Tag haben wollen. Sogleich hatte Atsushi sie gefragt, ob sie irgendwohin wollte, denn dann würde er auch um einen Tag Urlaub bitten und sie selbstverständlich begleiten, doch das hatte Kyoka vehement abgelehnt. Sie wollte einen Tag allein zu Hause verbringen. Und er sollte aufhören, nachzufragen.

Das war nicht nur Atsushi seltsam vorgekommen. Der Großteil der restlichen bewaffneten Detektive hatte ebenso verwirrt und erstaunt dreingeblickt.

„Ein Mädchen braucht auch mal einen Tag nur für sich“, hatte Yosano gemutmaßt, als Kyoka nicht in der Nähe gewesen war.

„Vielleicht ist sie überarbeitet?“, hatte Tanizaki besorgt geäußert und Naomi hatte direkt angefügt, dass sie das lieber beobachten sollten und im Zweifelsfall dem Chef Bescheid geben sollten (nicht ganz direkt, denn Naomi war ihrem Bruder erst einmal mit einem Lob für seinen fürsorglichen Charakter um den Hals gefallen. Einem sehr physischem Lob ...).

„Dann sollte ich sie mit zu den Feldern nehmen“, hatte Kenji eingeworfen. „Nichts entspannt mehr als ein Tag voller harter Feldarbeit!“

„Kenji, wir hatten schon einmal darüber gesprochen, dass du nicht immer von dir auf andere schließen darfst“, hatte Kunikida wohlwollend gemahnt. „Außerdem sehe ich da nichts Beunruhigendes in Kyokas Verhalten. Wenn sie sich überarbeitet fühlt, dann ist es ein sehr vernünftiger Schritt von ihr, rechtzeitig Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Zudem meldet sie sich ordnungsgemäß beim Chef ab. Nicht wie andere Individuen ….“ Sein missbilligender Blick hatte seinem Gegenüber gegolten – seinem breit grinsendem Gegenüber.

„Kunikida, woher weißt du, dass ich mir morgen freinehme?“, hatte Dazai gespielt beeindruckt gefragt.

„Was soll das heißen, du nimmst dir morgen frei?? Hast du beim Chef einen Antrag auf Urlaub eingereicht?“

„Natürlich nicht.“

„Hrrrrrrrgghhhhh!! Was redest du dann von Freinehmen?!“

„Was soll der Krach??“, hatte Ranpo letztlich dazwischen gemault. „Habt ihr nichts zu tun? Wie soll ich bei diesem Lärm schlafen??“

So war das Thema fallen gelassen worden.

 

Vielleicht machte er sich wirklich zu viele Sorgen, dachte Atsushi, als er die Tür zum Büroraum öffnete. Kyoka und er hingen in der Tat fast immer aufeinander, wenn sie nicht bei der Arbeit waren. Vermutlich brauchte sie wirklich nur etwas Zeit für sich. Warum sie deswegen so ernst wirkte und es nicht hatte erwarten können, bis er heute Morgen endlich aus dem Haus gewesen war, blieb allerdings ein Rätsel.

„Guten Morgen“, begrüßte Atsushi seine Kollegen im Büro. Tanizaki grüßte sofort freundlich zurück. Er und Kunikida waren meistens die ersten, die morgens schon bei der Arbeit waren. Naomi war in der Schule und Kenji hatte die Erlaubnis sich um seine Felder zu kümmern, wenn sonst nichts anlag. Yosano war besonders morgens häufig im Arztzimmer zu finden, doch heute lehnte sie über Ranpos Schulter, der – vollkommen ungewohnt – nicht nur physisch anwesend war. Der Meisterdetektiv hatte die Morgenausgabe der Zeitung aufgeschlagen und echauffierte sich lautstark über etwas, das er dort gelesen hatte.

„Ein Mord an mehreren Personen und diese Idioten von der Polizei haben mich immer noch nicht angerufen?? Was glauben die denn? Dass sie einen Fall alleine lösen können? Für wen halten die sich?“

Für die Polizei?, wollte Atsushi einwerfen, aber wenn Ranpo so in Fahrt war, war mit ihm nicht gut Kirschen essen.

„Oooh“, machte Yosano enttäuscht, „das Foto ist ja nur schwarzweiß und wurde aufgenommen, nachdem die Leichen abtransportiert worden sind. Wie langweilig. Dabei verraten einem die vielen Blutspritzer an den Wänden, dass sie bestimmt interessant ausgesehen haben.“

Wahrscheinlich ist genau deswegen das Foto so in der Zeitung, wie es ist. Damit Lesern ohne Vorliebe für blutige Gemetzel nicht das Frühstück hochkommt.

„Es hat einen Mord gegeben?“, hakte Atsushi so wertneutral wie möglich nach.

„Einen Mehrfachmord“, antwortete Tanizaki. „Mehrere Würdenträger einer Kirche sind vorletzte Nacht umgebracht worden.“

„Würdenträger einer Kirche? Wieso sollte jemand die ermorden?“

„Weil gegen sie wegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern aus dem angeschlossen Waisenhaus ermittelt wurde“, erklärte Yosano. „Alle Indizien sprachen gegen sie, aber komischerweise wurde die Klage vor Gericht trotzdem abgewiesen.“

Während sie sprach, wurde es Atsushi schrecklich heiß und sämtliche Farbe wich aus seinem Gesicht. Ein Waisenhaus. Vernachlässigte und misshandelte Kinder. Ihm war dies alles schmerzlich bekannt. Zu schmerzlich. Zu bekannt.

„Geht es dir nicht gut, Atsushi?“

Tanizakis Frage riss den Jungen aus seiner aufkommenden Schwermut.

Das war die Vergangenheit. Jetzt gab es Leute, die sich um ihn kümmerten und ihn gern hatten. Darauf musste er sich konzentrieren.

„D-doch, ich musste nur … nicht so wichtig.“ Seine zittrige Stimme zeugte von dem Schmerz, den er zu vergessen versuchte. Atsushi atmete tief ein und wieder aus. „Also ist da wahrscheinlich Schmiergeld geflossen? Vielleicht hat dann jemand, um Selbstjustiz zu üben, einen Auftragski-“

„Nein.“ Ranpos trockener Kommentar schnitt seine Vermutung mittendrin ab. Ein spitzbübisches Grinsen schlich über Ranpos Gesicht. Der Mordfall machte ihm offensichtlich Freude. „Das sieht nicht aus wie ein geplantes Attentat. Das war ein spontanes Massaker. Der Täter muss ein Befähigter sein.“

Überrascht blinzelte Atsushi den älteren Kollegen an. Egal wie oft er Ranpos Fähigkeit, die „Ultra Deduktion“, live erlebte, es war immer ein faszinierendes Schauspiel. Auch wenn es gar keine übernatürliche Fähigkeit war. Ranpo hatte all diese Informationen von einem kleinen, unscharfen Schwarzweißfoto, auf dem sogar die Mordopfer fehlten. Genau deswegen war der Meisterdetektiv der Stützpfeiler der gesamten Detektei.

„Und trotzdem rufen diese Idioten mich nicht an??“, plärrte besagtes Genie im nächsten Moment. „Wollen die mich beleidigen?? Ja! Das muss es sein! Sie leiden an einem plötzlichen Anfall von Hochmut und denken, sie könnten es mit mir aufnehmen! Was für lächerliches Ungeziefer! Wo bleibt Kunikida? Er soll bei den Ermittlern anrufen und ihnen sagen, dass sie Ungeziefer sind.“

Stimmt, fiel es Atsushi da auf. Wo steckt eigentlich Kunikida?

Es war sehr untypisch für den stets überkorrekten Idealisten, nicht bei der Arbeit zu sein. Aber im Büroraum war er nirgends zu entdecken.

„Ist der immer noch in der Teeküche?“ Yosano hob kritisch eine Augenbraue. „Er wollte sich doch nur seinen üblichen Morgenkaffee holen. Ist er in die Kaffeekanne gefallen?“

„Ich werde mal nachsehen“, bot Atsushi an und machte sich gleich auf den Weg in die kleine Teeküche … aus der äußerst merkwürdige Geräusche herausdrangen.

„Hrrrnnnnngggghhhh!! Dieser elende … hrrrnnnggghh! Wenn ich ihn in die Finger kriege, werde ich ihn … hrrrnnnnggghhh! Eines schönen Tages werde ich ihm das alles … hrrrnnnngggghh!“

Mit einem mulmigen Gefühl öffnete Atsushi langsam die Tür. Das war ohne Zweifel Kunikidas Stimme und sie klang schrecklich angestrengt und gereizt. Sowieso, es stand bereits völlig außer Frage, über wen der Blonde da wohl schimpfte.

„Kunikida?“ Atsushi stand im Türrahmen und … wusste nicht so recht, was er sich da besah. Der Ältere hatte beide Hände um eine Tasse gegriffen, die im oberen Teil des Küchenschranks stand. Seine Füße hatte er fest gegen den unteren Teil des Schranks gedrückt und mit zusammengepressten Zähnen zog und zog er an der Tasse, die sich keinen Millimeter vom Fleck rührte.

Von dem plötzlichen Besuch überrascht, schreckte er kurz zusammen, ehe er – keuchend – die Tasse losließ und sich räusperte. „Was gibt es, Atsushi?“

„Die anderen sagten, du wärst schon so lange weg und da wollte ich mal sehen, ob alles in Ordnung ist.“

„Natürlich ist es das. Was soll mir in der Teeküche schon Gravierendes passieren?“ Schwer darum bemüht, Indifferenz auszustrahlen, schob Kunikida sich die Brille hoch.

Atsushi zwang sich zu einem freundlichen Lächeln. Er wusste, dass Kunikidas Stimmung immer schnell kippen konnte. „Stimmt etwas mit der Tasse nicht?“

„Nein. Mit der Tasse ist alles in Ordnung. Mit einem Mitglied der Detektei stimmt nur etwas ganz gewaltig nicht.“

Die Schultern des silberhaarigen Jungen sackten ein wenig in sich zusammen. „Was hat Dazai getan?“

Ah. Da war er. Der Trigger, der den ruhigen Kunikida zum Berserker werden lassen konnte. Zwei Silben. Ein Name. Dazai.

Mit einem Mal schoss das Blut in den Kopf des Brillenträgers und er stürzte sich wieder auf die Tasse.

„DAZAI! DIESER TUNICHTGUT! DIESER TAUGENICHTS!! ER WIRD NICHT EHER RUHEN, BIS ER MICH UM DEN VERSTAND ODER INS GRAB GEBRACHT HAT!!“ Er zerrte nun so stark an der Tasse, dass der Schrank bereits zu ächzen anfing.

„Kunikida!“ Hastig versuchte Atsushi, beschwichtigend auf ihn einzureden. „Der Schrank wird kaputt gehen, wenn du damit weitermachst.“

Mit einem lauten Stöhnen ließ der Angesprochene die Tasse erneut los und atmete durch. „Dieser Mistkerl hat meine Tasse am Regalboden festgeklebt.“

„Wieso?“ Atsushi bereute die Frage sogleich. Sie redeten von Dazai. „Wieso?“ war da eine unnütze Frage.

Kunikida funkelte die Tasse an, als wäre sie nun sein Erzfeind. „Gestern kurz vor Feierabend sagte dieser Nichtsnutz noch, dass er länger bleiben würde. Und ich war so glücklich. Ich hatte gedacht, endlich zu ihm durchgedrungen zu sein. Wenn er schon einen Tag einfach von der Arbeit wegblieb, dann war er wenigstens so pflichtbewusst, vorher seine Arbeit fertig zu machen. Das hatte ich gedacht. Was bin ich für ein armer Idiot. Und verabschiedet hatte er sich von mir noch mit den Worten: 'Ich will nur sicher gehen, dass du an mich denkst, auch wenn ich nicht da bin.'“ Kunikida seufzte einen entsetzlich langen Seufzer. „Atsushi, bin ich ein Idiot?“

Verdattert zuckte der Junge zusammen. „Ähhh … nein.“

Ein missmutiger Blick traf ihn daraufhin. „Das war nicht sehr überzeugend.“

„Entschuldigung.“ Atsushi lachte verlegen. „A-aber du kannst doch eine der anderen Tassen nehmen.“ Es war ein verzweifelter Versuch seinen Fauxpas auszubügeln.

„Unmöglich“, entgegnete der Ältere zurechtweisend. „Dann würde ich jemand anderem die Tasse wegnehmen. Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder einfach irgendeine Tasse nehmen würde?“

„U-und was ist mit den Tassen für Besucher?“

„Hörst du nicht zu? Was, wenn wir Besucher bekommen?“

„Zwölf auf einmal?“

„Ich müsste den Chef bitten, mir den Kopf abzuschlagen, wenn wir uns die Blamage erlaubten, einem Gast keinen Tee anbieten zu können.“

Atsushi seufzte innerlich. „Bitte nimm meine Tasse. Ich brauche sie heute nicht.“

„Das ist sehr rücksichtsvoll von dir. Ich würde ja Dazais nehmen … aber kurioserweise ist die nirgends zu finden.“

Nach ein paar Schlücken Kaffee aus einer Tasse, die am oberen Rand Tigeröhrchen und am Griff ein Tigerschwanz zierten und auf der in einer runden, hellblauen Schrift geschrieben stand „Ich hab dich tiiiierisch gern!“ (es war Kyokas erster Versuch eines Geschenks gewesen), war Kunikidas Laune wieder ein wenig angehoben. Zusammen mit Atsushi kehrte er in den Büroraum zurück, wo er die Tasse auf seinem Schreibtisch abstellte. Dort hielt er plötzlich inne und beäugte seinen Schreibtischstuhl mit einer so gewaltigen Portion Misstrauen, dass man sich fragen musste, was das arme Möbelstück wohl verbrochen haben mochte. Die anderen Detektive beobachteten ihn mit einer Mischung aus Neugier und der sofortigen Bereitschaft, in der nächsten freien Gummizelle einen Platz für den Kollegen zu reservieren.

„Moment“, sagte Kunikida, rollte seinen Stuhl beiseite und dafür Dazais an seinen Platz. „Ich kenne diesen Wirrkopf schon lange genug. Seine kindischen Streiche würden bestimmt nicht vor einem auseinanderfallenden Stuhl Halt machen.“ Zufrieden über sein Mitdenken setzte er sich auf den Stuhl des abwesenden Kollegen und … landete einen Sekundenbruchteil später mit Karacho auf dem Boden. Der Stuhl war auseinander gefallen.

Tanizaki eilte herbei, um dem übertölpelten Blondschopf wieder aufzuhelfen, während Yosano losprustete und Ranpo breit grinste.

„Nun, mein lieber Kunikida“, richtete Letzterer das Wort an den Kameraden, „mir scheint, Dazai kennt dich noch viel besser als du ihn.“

Ein tiefes Grollen donnerte durch die Detektei.

„Eines schönen Tages werde ich ihm das alles heimzahlen! Eines schönen Tages …!“

 

Einige Stunden und eine Glitzerbombe in Kunikidas Schreibtischschublade später, betrat Atsushi zur Mittagszeit das Café Uzumaki im Erdgeschoss des Gebäudes. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu Kyoka zurück. Was sie gerade wohl machte? Ob es ihr gut ging? Er hatte bereits mehrmals den Drang unterdrückt, sie anzurufen. Engte er sie vielleicht ein? Hingen sie tatsächlich zu viel aufeinander? Es würde zu Kyoka passen, sich nicht lautstark zu beschweren, wenn dem so war. Und vielleicht hatte er subtilere Hinweise übersehen.

Ein Gespräch zwischen der Kellnerin Lucy, der früheren-Todfeindin-nun- Freundin, und einer Dame mittleren Alters, die an einem Tisch im Café saß, lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Atsushi rutschte auf eine der Bänke und spitzte seine Ohren. Er wollte nicht lauschen, aber das Gespräch schien sehr intensiv zu sein und Lucy sah mitgenommen aus. Sie schniefte, so als wären ihr Tränen gekommen und in der Tat wischte sie sich mit dem Handrücken über die Wangen. Die Frau hatte er hier noch nie gesehen. Sie hatte dunkelbraune Haare, die oben am Kopf zu einem Haarkranz geflochten waren und sie trug ein langes, schwer aussehendes Kleid in Schwarz und Dunkelrot. Um ihren Hals hing ein Kreuz. Die unbekannte Dame sah ganz mitleidig zu Lucy, nickte verständnisvoll zu dem, was sie sagte und legte ihr in einer behutsamen Geste eine Hand auf ihren Arm.

„Armes Kind“, hörte Atsushi die Frau sagen und dabei einen Akzent heraus, den er nicht zuordnen konnte. „Du hattest es bislang wirklich sehr schwer im Leben. Kein Wunder, dass du traurig bist.“

Lucy wischte sich die restlichen Tränen weg und schüttelte den Kopf. „Es geht schon. Bitte, machen Sie sich keine Sorgen.“ Da bemerkte sie Atsushi und entschuldigte sich bei der Frau, weil Kundschaft da war.

„Ganz alleine heute, Tigerkätzchen?“, versuchte sie ihn nonchalant zu necken, als sie zu seinem Tisch ging, doch seine Miene blieb ernst.

„Ist alles in Ordnung?“

„Häh?“

„Weil … weil du offensichtlich geweint ha-“

Wumms!

Sie zog ihm das runde Tablett, das sie trug, über den Kopf.

„Aua!

„Natürlich ist alles in Ordnung.“ Lucy gab sich spürbar Mühe so wie immer zu wirken und vor allem keine Schwäche zu zeigen. „Ich bin schließlich nicht aus Pappe.“

„Das wollte ich auch nicht andeuten“, verteidigte sich Atsushi, während er sich den Kopf rieb. „Wer ist denn die Frau, mit der du geredet hast?“

„Eine Reisende aus Europa. Eine sehr nette Dame.“

Der junge Detektiv warf einen verstohlenen Blick zu der Unbekannten, bevor er sich wieder der Rothaarigen zuwandte. „Und worüber habt ihr geredet?“

Wumms!

„Aua!“

„Hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du schrecklich neugierig bist?“

„Ich bin ein Detektiv!“

„Wie auch immer.“ Lucy winkte mit ihrer freien Hand ab. „Wir sind einfach so ins Gespräch gekommen und als ich ihr von meiner Kindheit im Waisenhaus erzählte, war sie total geschockt und wollte mich trösten. Das kriegst du ja nicht hin!“

Wum-

Atsushi stoppte das Tablett auf halbem Weg zu seinem Kopf. Wie typisch das mal wieder lief! Da wollte er sich nach ihr erkundigen und Lucy stellte auf stur. Und aggressiv. „Tut mir leid, aber hör doch bitte auf, nach mir zu schlagen, wenn ich mich um dich sorge.“

Erstaunt hielt Lucy inne. „Du sorgst dich um …. Ist ja auch egal.“ Ihr kurzer Moment der Weichheit wich rasch wieder ihrem trotzigen Gehabe. „Wo ist denn dein Anhang?“

„Mein Anhang? Meinst du Kyoka?“

„Wen denn sonst? … Was sollen die hängenden Schultern, Tigerkätzchen?“

„Nichts nur … Kyoka verhält sich ein wenig merkwürdig.“

„Das merkst du jetzt erst?“

Angesichts ihrer kratzbürstigen Art fragte Atsushi sich, wer hier das Kätzchen war. Er seufzte. „Sie hat sich heute frei genommen und konnte mich heute morgen nicht schnell genug aus dem Haus haben.“

Als wäre dieser Tag noch nicht wunderlich genug verlaufen, stutzte der junge Detektiv heftigst, als er die Reaktion seines Gegenübers bemerkte.

Lucy nickte verstehend und murmelte „Ah, dann will sie es wohl sofort in die Tat umsetzen ...“

„Was? Was will Kyoka in die Tat umsetzen?“ Atsushi war fast von seinem Sitz aufgesprungen.

„Beruhige dich.“ Lucy winkte abermals ab. „Mach dir keinen Kopf um sie.“

Moment. Atsushi ging ein Licht auf. Kyokas hatte ihren Beschluss, heute Urlaub zu nehmen, gefällt, nachdem sie aus der Mittagspause gekommen war – aus dem Café. Er selbst hatte zwischendurch einmal kurz ins Büro zurück gemusst; für nur wenige Minuten zwar, aber trotzdem …. Konnte es sein?

„Lucy, hast du gestern mit Kyoka gesprochen?“

Ertappt zuckte die Kellnerin zusammen. „Natürlich. Ich rede oft mit ihr.“

„Nein, ich meine, über irgendetwas, das sie beschäftigt?“

Ihre Augen schnellten verdächtig hin und her. „Se-selbst wenn, geht dich das nichts an.“

„Lucy, ich bitte dich.“ Atsushi war nun aufgestanden und sah der jungen Frau aus nächster Nähe eindringlich in ihre Augen.

Die Rothaarige bekam weiche Knie und errötete. „Na-na schön!“, fauchte sie und drückte Atsushi zurück auf die Bank. „Die Kleine fragte mich, ob mir etwas einfiele, wie man jemandem eine Freude machen könnte. Es war ziemlich offensichtlich, dass die Rede von dir war. Und in meiner schier endlosen Güte habe ich ihr gesagt, sie soll irgendetwas Nettes für dich machen.“

Überrascht blinzelte der Detektiv sie an. „Warum will Kyoka denn-“

„Sie fragt sich wohl, ob sie dir ihre Dankbarkeit genügend zeigt, da du ständig so viel für sie machst.“ Lucys Miene und Tonfall wurden dezent schmollend. „Und sie hat ein schlechtes Gewissen wegen irgendeines Vorfalls mit einer Haarnadel und einem fast ausgespuckten Essen. Das habe ich nicht so ganz verstanden.“

Oh.

Oh!

Atsushis Gesicht hellte sich auf. Das war es? Eine Stein in der Größe eines Mini-Vans fiel von seinem Herzen. Seine Sorge um Kyoka war unbegründet. Endlich atmete er erleichtert aus.

„Lucy?“

„Was denn noch?“

„Ich danke dir!“

Mit hochrotem Kopf nahm sie seine Bestellung entgegen.

 

Mit federleichten Schritten und einem vorfreudigen Lächeln auf den Lippen hopste Atsushi am frühen Abend die Treppenstufen zu seiner Wohnung hinauf. Seltsam, dachte er, irgendwo riecht hier etwas verbrannt. Irgendwo in der Nähe. In der sehr nahen Nähe – ah!

Eilig riss er die Tür zu seiner Wohnung auf und wurde von einem Nebel aus schwarzen Rauchschwaden begrüßt. Der Rauch trieb ihm die Tränen in den Augen und bevor er irgendetwas Anderes tun konnte, musste er husten.

„Du bist schon wieder da?“

Er war erleichtert, Kyokas Stimme zu hören und noch erleichterter, als er sie durch den Rauch hindurch sehen konnte. Ein Hauch von Enttäuschung und Bitterkeit schwang in ihrer Stimme mit. Atsushi blinzelte die Tränen weg.

„Was ist passiert?“

Die Schultern des Mädchens sanken noch mehr hinab. Wortlos ging sie von dem schmalen Eingangsbereich zurück in den Wohnraum. Die Fenster waren aufgerissen und als Atsushi einen Blick in die kleine Küche warf, dämmerte ihm, was passiert war. Unmengen an aufgeschlagenen Eiern und leeren Packungen Butter lagen dort herum, die großen Mehl- und Zuckertüten waren völlig in sich zusammengeschrumpft … hatte Kyoka versucht, ihm etwas zu backen?

„Ich hatte dich mit etwas Besonderem überraschen wollen“, erklärte sie geknickt, „aber ich habe noch nie zuvor einen Kuchen gebacken.“

Sein Blick wanderte zu mehreren unappetitlich wirkenden Klumpen, die auf der Anrichte standen. Einer war in sich zusammengefallenen und sah seltsam klebrig aus, ein anderer war in unzählige hart aussehende Bröckchen zerfallen, ein dritter war pechschwarz und somit höchstwahrscheinlich der Urheber der Rauchschwaden.

„Du hast den ganzen Tag damit verbracht?“ Atsushi Staunen spiegelte sich in seinem Tonfall wider.

Schweigend starrte Kyoka gen Boden, ehe plötzlich eine neue Welle Determiniertheit über sie kam. Pfeilschnell schoss ihr Kopf nach oben und mit fester Stimme verkündete sie: „Einen Versuch mache ich noch! Ich brauche neue Zutaten! Ich bin gleich zurück!“

Bevor Atsushi auch nur irgendwie darauf reagieren konnte, rauschte sie zur Tür hinaus. Trotz des suspekt riechenden Chaos um ihn herum bildete sich ein seliges Lächeln auf den Lippen des Zurückgelassenen.

 

Bis zum nächstgelegenen Supermarkt war es zu weit. Er hätte geschlossen, bis Kyoka ihn auch nur erreicht hätte. So lief sie schnurstracks in den großen Konbini, der sich lediglich ein paar Straßen weiter befand. Unter den surrenden Neonröhren suchten ihre Augen die Regale nach allem ab, was ihr zum gewünschten Backerfolg verhelfen sollte.

„Was …?“, ertönte eine Frauenstimme verärgert im Nachbargang. „Wo ist Eleanor hin? Das ist doch nicht wahr! Ich drehe ihr nur kurz den Rücken zu und sie verschwindet? Du solltest doch auf sie aufpassen!“

„Wie du schon sagtest: Es ist leichter einen Sack Flöhe zu hüten.“ Die Antwort kam von einem Mann.

„Du hast doch bestimmt schon wieder irgendeinem Rock hinterhergeguckt und sie so aus den Augen verloren“, konterte die Frau vorwurfsvoll.

„Erstens, wird das jawohl nicht verboten sein. Zweitens, obliegt dir gleichermaßen die Aufsicht über sie.“

„Argh! Am Ende bleibt immer alles an mir hängen! Du suchst vorne im Laden, ich gehe hierherum.“

In ihrer Konzentration auf ihr Projekt hatte Kyoka das aufgebrachte Gespräch nur am Rand mitbekommen. Sie hatte die nötigen Zutaten gerade gepackt und drehte sich zum Weitergehen um, als die Frau aus dem Nachbargang überstürzt um die Ecke bog und in sie hineindonnerte.

„Verzeihung“, sagte Kyoka umgehend und stockte, als sie zu der Frau emporsah.

Die Unbekannte, die ihre lockigen, hellblonden Haare hochgesteckt hatte, starrte sie mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen an. Sie trug eine weiße, teuer aussehende Rüschenbluse und eine ebenso hochwertige, weite, rosafarbene Hose. Eine weiße Perlenkette zierte ihren Hals. Endlose Sekunden verstrichen, ehe die Frau von Kyoka wegrückte.

„Nein“, entgegnete sie verstört, „nein, mir tut es leid.“

„Hab sie!“, schallte es durch den Laden. „Sie ist im Gang mit den Süßigkeiten!“ Es war der Mann, mit dem sie sich unterhalten hatte. Die Frau atmete hörbar aus und schüttelte ihre Schockstarre ab. Sie nickte Kyoka zu und lief aus dem Gang heraus.

„Wenn du sie noch einmal verlierst, setz ich dich im Wald aus! Darauf kannst du dich verlassen!“

Verwundert blinzelte Kyoka ihr einen Moment lang hinterher, bevor sie sich auf zur Kasse machte.

 

Wie einen Schatz hielt Kyoka die Tüte mit ihren Einkäufen in beiden Armen, als sie den Konbini verließ und sich auf den Heimweg machte. Der Kuchen würde – sollte er endlich gelingen – erst mitten in der Nacht fertig werden, aber dann würden sie ihn eben zum Frühstück essen. Sie hatte sich ein festes Ziel gesetzt und nichts, absolut nichts in der Welt konnte sie davon abbringen.

- Außer einem süßen Kuschelhasen vielleicht.

Kyoka stoppte abrupt, als sie das flauschige, weiße Häschen in einer dunklen Seitengasse erblickte. Was machte ein lebendiger, echter Hase mitten in Yokohama? Es konnte kaum ein Wildtier sein. War er irgendwo ausgebüxt? Das Mädchen blieb genau vor dem Tier stehen, das sie mit seinen großen, leuchtenden Augen fixierte.

Leuchtend??

Sämtliche Alarmglocken in Kyokas Innerem schrillten und im Nu hatte sie die Tüte fallengelassen und blitzschnell ihr Schwert gezogen.

Jedoch -

Das Schwert rutschte umgehend aus ihrer Hand und auch Kyokas alarmierter Blick war schlagartig einer ausdruckslosen Mimik gewichen. Sie konnte sich nicht mehr bewegen, aber dieser Fakt beunruhigte sie nur einen kurzen Moment lang, denn - als hätte sie eine plötzliche Ohnmacht übermannt - fiel sie bewusstlos zu Boden. Bevor sie auf dem Bürgersteig aufschlagen konnte, fing ein Mann sie auf. Er hatte kurze, schwarze Haare und einen Schnauzbart. Im faden Licht der weiter entfernt stehenden Straßenlaterne waren seine dunkelgrüne Jacke und seine dunkelbraune Hose kaum zu erkennen.

„Nimm du das Ding da. Das fass ich nicht an.“ Angewidert deutete er mit dem Kopf zu dem auf der Erde liegenden Schwert. Ein Seufzer erklang neben ihm. Die Frau aus dem Geschäft gesellte sich zu ihm und hob die Waffe auf.

„Alles muss man selber machen.“

„Bringen wir sie zur Tante?“ Eine weitere Frau, jünger als die beiden anderen, die etwa Ende zwanzig sein mussten, sprang aufgeregt auf der Straße auf und ab. Ihre zwei strohblonden Zöpfe und ihr rot-weiß kariertes Kleid hüpften bei ihren fröhlichen Bewegungen mit. Ihre strahlend blauen Augen trotzten der Dunkelheit der angebrochenen Nacht und die Straßenlaterne, unter der sie herumtänzelte, ließ auf ihrem freudig lächelnden Gesicht einige Sommersprossen erkennen.

Die hellblonde Frau erwiderte das Lächeln – der Ausdruck in ihren braunen Augen deutlich betrübt. „Ja. Wir nehmen sie mit.“

 

Mit zunehmender Nervosität blickte Atsushi zum wiederholten Mal auf die Uhr, die auf dem Esstisch stand. Kyoka hätte längst zurück sein müssen. Er war sich sicher, dass sie zum nächsten Konbini gegangen sein musste und selbst wenn sie dort aus irgendeinem Grund aufgehalten worden wäre, hätte sie längst wieder daheim sein müssen. Das angsterfüllte Gefühl in seinem Innern nicht länger aushalten könnend, machte er sich schnellen Schrittes auf den Weg nach draußen. Kyoka war alles andere als hilf-und wehrlos, so viel war ihm klar. Doch seit er dem Büro der bewaffneten Detektive beigetreten war, war Atsushi einer unheimlichen Gestalt nach der anderen begegnet. Und unter diesen waren so mächtige Befähigte, dass es selbst einem Jungen, der sich in einen Tiger verwandeln konnte, angst und bange wurde, wenn er an sie dachte. Kyoka war um einiges furchtloser als er, aber wenn die Hafen-Mafia beschlossen hatte, sie doch wieder haben zu wollen, dann war selbst sie in Gefahr.

Im Laufschritt rannte Atsushi zu dem Konbini, suchte dort alle Gänge ab und fragte schließlich mit bebender Stimme den Kassierer, ob er ein Mädchen in einem roten Kimono gesehen hatte.

„Ja. Da war so ein Mädchen. Aber das ist schon 'ne Weile her.“

Diese Antwort kam einem Stich in sein Herz gleich.

Panisch stürmte er aus dem Geschäft hinaus, blickte in alle Seitenstraßen, in jedes kleine Gässchen und brüllte immer lauter werdend ihren Namen.

Nichts.

Atsushi hatte das Gefühl an der frischen, klaren Nachtluft zu ersticken. Seine Gedanken wurden mit jeder verstreichenden Sekunde düsterer. Ihr muss etwas Schlimmes zugestoßen sein. Sie wurde entführt. Sie wurde verschleppt. Ich kann sie nicht finden. Ich kann ihr nicht helfen.

Nein. Nein, wenn er nichts tun konnte, wer dann? Wer konnte ihm jetzt helfen?

Bevor die nackte Angst ihn weiter lähmte, rannte Atsushi in einem höllischen Tempo zum Wohnheim zurück. Hastig (und zu dieser späten Stunde viel zu laut) schlug er gegen eine der Wohnungstüren.

„Dazai! Dazai! Bitte mach auf, wenn du da bist! Bitte! Bitte mach auf!“

Ein tatsächlich kurzer, aber für den aufgebrachten Jungen endlos langer Augenblick verging, ehe die Tür endlich aufging. Ein unangenehmer Geruch, der seine feine Nase sofort übelst irritierte, schlug ihm entgegen. Was in aller Welt war das? Eine eklige Mischung aus Alkohol, Curry und … Zigaretten? Seit wann rauchte Dazai denn?

„Atsushi“, sagte der brünette Mann gequält und sich mit einer Hand die Schläfen reibend, als er in der Tür erschien. „Was soll der Krach? Hast du deine Manieren heute nicht dabei?“

„Entschuldige“, erwiderte er atemlos. Dazai sah so aus, wie es in der Wohnung roch. Er war offensichtlich heftigst verkatert und lehnte mit seinem Körper schlaff gegen die Tür. Hatte er etwa den ganzen Tag mit Trinken verbracht?

„Kyoka ist verschwunden. Ich kann … ich kann sie nirgends finden. Sie wollte nur etwas besorgen und ist nicht nach Hause gekommen. Ich habe sie überall gesucht und an ihr Handy geht sie auch nicht. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, wo ich noch suchen soll. War das die Hafen-Mafia? Oder hat jemand anderes sie angegriffen? Ich hätte sie nicht alleine-“

„Atsushi.“

„Wenn ich mitgekommen wäre, dann wäre das nicht passiert. Das ist alles meine Schuld. Kyoka war nur meinetwegen unterwegs. Und jetzt kann ich ihr nicht einmal helf-“

„Atsushi!“ Dazai griff hinter die Tür und holte ein dort abgestelltes Glas Wasser hervor, dass er dem Jüngeren ohne Umschweife ins Gesicht kippte. Erschrocken, aber abgekühlt blinzelte der Silberhaarige ihn nun wie aus einem Albtraum erwacht an.

„Gut, ich habe deine Aufmerksamkeit“, fuhr Dazai gelassen fort. „Kyoka ist also verschwunden?“

Atsushi nickte verunsichert.

„Du weißt doch, dass es in so einem Fall nur einen gibt, der dir schnell weiterhelfen kann. Auch wenn es riskant ist, ihn zu wecken.“ Dazai schnappte sich seinen neben der Tür abgelegten Mantel, zog ihn beim Verlassen seiner Wohnung an und schloss die Tür. Dann schritt er - obwohl er eben noch wie ein Schluck Wasser in der Kurve gewirkt hatte – erstaunlich aufrecht ein paar Türen weiter. Atsushi folgte ihm auf dem Fuße.

„Klopf an.“

Verwundert sah Atsushi ihn nach dieser Aufforderung an (Dazai hatte die Tür schließlich zuerst erreicht), aber nichtsdestotrotz tat er, was ihm gesagt worden war. Er klopfte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Nichts.

Atsushis Hirn hatte sich inzwischen wieder so weit sortiert, dass er wusste, an wessen Tür er da gerade mitten in der Nacht klopfte.

„Ranpo?“, richtete er zaghaft an die geschlossene Türe. „Wir brauchen deine Hilfe. Es ist dringend. Ein Notfall! Bitte mach auf.“

Nichts.

„Hat Ranpo einen so festen Schlaf?“ Überfordert blickte er zu Dazai. „Soll ich lauter klopfen? So wie eben, als ich dich geweckt habe?“ Dich, der gerade aussieht wie ein lebendiger Toter, schwang in seiner Frage mit.

Der Ältere gähnte ausgiebig. „Ich habe noch gar nicht geschlafen.“

So zerknittert wie Dazai aussah, wunderte es Atsushi nicht. Der Mann hatte keinen sonderlich gesunden Lebensstil. Ob das Teil der Selbstmordfanatik war? Oder war sein Mentor einfach schlecht darin, auf sich Acht zu geben?

„Ist Ranpo vielleicht nicht da?“ Die Panik in dem Jungen wuchs wieder. Er wollte bereits sein Handy zücken, um den Meisterdetektiv anzurufen, als Dazai das Wort ergriff.

„Bevor du Ranpo anrufst, was mit großer Wahrscheinlichkeit vergebliche Liebesmüh sein wird, SAG ICH LIEBER DEM CHEF BESCHEID, dass er nicht aufmacht, obwohl du gesagt hast, es handele sich um einen Notfall.“

Die Tür flog mit Schallgeschwindigkeit auf.

„Erpressung ist eine Mafia-Methode.“ Mit miesepetriger Miene stand Ranpo maulend vor ihnen.

Der Vorwurf ließ Dazai nur süffisant grinsen. „Spaß beiseite. Kyoka wird vermisst.“

 

Als Atsushi zum zweiten Mal in dieser Nacht den Weg zum Konbini ablief, erklärte er Dazai und Ranpo alles, was sich vor Kyokas Verschwinden zugetragen hatte. Sie gingen in einem gemächlichen Tempo und Ranpo hatte bereits seine Brille auf der Nase. Vor einer Seitengasse, wenige Meter von dem Laden entfernt, stoppte er abrupt.

„Hier ist sie verschwunden.“

Aufgeschreckt warf Atsushi ihm einen fragenden Blick zu.

„Sie hat ihre Einkäufe erledigt, aber dann fallengelassen.“ Ranpos Fuß tippelte gegen eine winzig kleine, leicht verfärbte Stelle auf dem Bürgersteig. Es sah aus, als wäre dort eine Flüssigkeit ausgelaufen. Er machte einen Schritt in die Gasse hinein.

„Atsushi, Licht.“

Der Junge aktivierte unverzüglich die Taschenlampe an seinem Handy und leuchtete in die dunkle, schmale Gasse hinein.

Der Meisterdetektiv beugte sich zum Boden hinunter. „Weiße Fellhärchen?“, stutzte er, als er dort auf die Erde sah. „Eine Falle, verstehe. Die Entführer wussten also um Kyokas Vorliebe für Hasen. Atsushi, ruf ihr Handy an.“

Mit einem beklommenen Gefühl in der Brust tat der Junge auch dies. Er hielt den Atem an, als aus dem Nichts ein Klingeln aus einem der an der Wand stehenden Müllcontainer erklang. Als wäre ein Gespenst oder der Tod persönlich vor ihm erschienen, starrte Atsushi leichenblass zu dem Container, unfähig sich in dessen Richtung zu bewegen. War Kyoka etwa …?

Augenblicklich trat Dazai heran und öffnete ohne zu zögern den Müllcontainer. Er langte hinein und holte etwas heraus, was er den beiden anderen umgehend präsentierte.

„Ihr Handy.“ Es war ihr Arbeitshandy, das im Gegensatz zu dem, mit dem sie Weißer Dämonenschnee rief, funktionierte.

Atsushi atmete lautstark aus. Seine Erleichterung war nur von kurzer Dauer. „Ich verstehe das nicht. Jemand hat Kyoka eine Falle gestellt? Warum? War das-“

„Das war sicher nicht die Hafen-Mafia“, fiel ihm Dazai ins Wort. „Kannst du dir vorstellen, dass Akutagawa mit einem weißes Kaninchen herumhantiert? So amüsant die Vorstellung auch ist, nein, das ist nicht, was geschehen ist. Auch Koyo würde sich nicht die Finger schmutzig machen. Und mit der haben wir ja außerdem noch einen Deal. Es war also nicht die Hafen-Mafia.“ Nachdenklich legte er eine Hand an sein Kinn und blickte auf die Straße zurück. „Aber … wer war es dann?“

You can run but you can't hide – Because no one here gets out alive

You can run but you can't hide

Because no one here gets out alive“

 

Placebo, „Julien“

 

Das schwache Licht einer Halbmondsichel schien in dieser Nacht in ein dunkles Büro im dritten Stock eines Gerichtsgebäudes der Stadt Yokohama. Einzig eine winzige Tischleuchte erhellte die zwei Gestalten, die sich zu dieser sehr späten Stunde in diesem Büro aufhielten und nervös miteinander diskutierten.

„Und was wenn dieser irre Mörder auch hinter uns her ist?“, fragte ein vor Angst schwitzender Mann im Anzug, der vor dem Schreibtisch stand. „Wir können keinen Polizeischutz beantragen, denn dann würde es herauskommen, dass wir das Schmiergeld von den Kirchentypen angenommen haben, um die Klage abzuweisen.“ Er schluckte.

„Ganz ruhig, Herr Staatsanwalt.“ Der Mann, der hinter dem Schreibtisch saß, versuchte, gelassen zu wirken, doch unter dem Tisch zappelte er nervös mit seinen Füßen. „In meiner langen Karriere als Richter habe ich genügend Kontakte gesammelt, um selbst für solche Fälle vorbereitet zu sein.“ Ein selbstgefälliges Grienen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Ich habe gestern Herrn Mori von der Hafen-Mafia persönlich um Hilfe gebeten und heute hat er endlich eingewilligt, uns ein paar seiner Leute als Personenschützer zur Verfügung zu stellen. Sie rufen mich an, sobald sie am Gebäude eintreffen. Solange warten wir hier, wo niemand am Wachposten am Eingang vorbei kommt. Sie sehen, wir werden bald in Sicherheit sein.“

Der Staatsanwalt lockerte seine Krawatte und atmete etwas ruhiger. „Ich frage mich nur, wer diesen Killer angeheuert hat. Wir haben so gründlich gearbeitet, um die Klage plausibel abzuweisen. Nur wir und die Kirchenoberen wissen, was wirklich abgelaufen ist. Na ja, jetzt nur noch wir.“

„Sie vergessen die Plagen.“

Der stehende Mann lachte aufgekratzt. „Die mittellosen Bälger werden jawohl kaum zusammengelegt haben, um einen Auftragsmörder zu engagieren. Und wer sollte sich schon freiwillig für sie interessieren?“

„Wie wahr.“ Der Richter stieg in das Lachen mit ein. „So unsympathisch mir unsere geistlichen Geschäftspartner auch waren, sie hatten nicht Unrecht damit, dass dieses Waisengesindel undankbar ist. Es hat sie doch niemand gezwungen, im Waisenhaus zu bleiben. Suribachi ist schließlich auch ein schönes Plätzchen, nicht wahr?“

Die beiden Männer lachten gemeinsam, als plötzlich das Geräusch von klirrendem, zerspringenden Glas sie erschrocken innehalten ließ. Ihre Köpfe schnellten zum Fenster herum, durch das eine dunkel gekleidete Gestalt von der Feuertreppe hineingesprungen war. Durch die Dunkelheit der Nacht war ihr Gesicht nicht zu erkennen. Die Gestalt war nicht besonders hochgewachsen und wirkte nicht sonderlich kräftig. Für einen Erwachsenen war sie zu klein und für ein Kind zu groß. Alles, was man ausmachen konnte, war das Blitzen zweier metallener Klingen in den Händen der Gestalt.

„Wer … wer bist du?!“ Der Richter war vor Schreck aufgesprungen. „Was auch immer man dir gezahlt hat, wir zahlen dir das Doppel-“

Eine Fontäne aus Blut spritzte aus dem Hals des Mannes, bevor er auch nur begreifen konnte, was mit ihm geschah. Eine weitere Fontäne schoss aus seinem Brustkorb und eine dritte aus seinem Bauch, ehe er mit weit aufgerissenen Augen zu Boden fiel.

Zu Tode verängstigt stolperte der Staatsanwalt einen Schritt zurück. Sein wie Espenlaub zitternder Körper war vor Panik gelähmt. Die Gestalt war plötzlich von der Stelle am Fenster verschwunden gewesen und nur eine Millisekunde später war der Mann hinter dem Schreibtisch bereits getroffen gewesen. War das … einer dieser Befähigten?

Der Mann hielt den Atem an, als er den Angreifer vor sich auf dem Tisch stehen sah. Der Unbekannte betrachtete eines der kurzen Schwerter in seinen Händen und warf es weg. Dann stieß er sich vom Tisch ab und sprang, die andere Klinge in der Hand haltend, auf ihn zu. Der Überlebensinstinkt des Staatsanwaltes ließ ihn zur Seite ausweichen, um dem Angriff zu entgehen. Es war dem Mann unmöglich zu sehen, wie die Gestalt kurz mit einem Fuß auf dem Boden aufkam, ihren Körper geschwind drehte und erneut auf ihn zukam. Das Schwert schlitzte dem Mann den Brustkorb auf. Der Eindringling bremste sich selbst in seiner Bewegung ab, drehte sich erneut in einem irrwitzigen Tempo um und versetzte ihm zwei weitere Hiebe. Mit einer vor Angst erstarrten Miene fiel der Staatsanwalt leblos zu Boden.

Sein Blut sickerte wie Wasser nach einem Rohrbruch unaufhaltsam in den hellen Teppichboden und färbte ihn rot.

Ungerührt von diesem grausamen Bild blieb die Gestalt dort stehen und besah sich auch die übrige Klinge, bevor sie diese gleichermaßen fallen ließ. Allem Anschein nach unbesorgt darüber, die Tatwaffen am Tatort liegen zu lassen, entfernte die Gestalt sich und verließ das Büro durch das zertrümmerte Fenster.

Auf dem Schreibtisch klingelte ein Handy.

 

Die Sonne war noch nicht lange aufgegangen (was sich nur erahnen ließ, da sie sich hinter einer dichten Wolkendecke versteckte), als alle Mitglieder des Büros der bewaffneten Detektive bereits im Hauptraum der Detektei versammelt waren.

„Aber … wer sollte Kyoka entführen? Und warum?“ Tanizaki blickte irritiert in die Runde.

„Will vielleicht jemand Lösegeld für sie?“, dachte Naomi laut.

„Bei uns sind aber bisher keine Forderungen eingegangen“, entgegnete Haruno.

„Ich glaube nicht, dass das der Fall ist.“ Mit nachdenklich gerunzelter Stirn lehnte Kunikida sich auf seinem Stuhl nach vorne.

„Was denkst du?“, fragte Fukuzawa ihn, sofort erkennend, dass der Brillenträger zögerte, seine Gedanken auszusprechen.

„Kyoka hat als Assassine viele Menschen auf dem Gewissen“, antwortete Kunikida ernst, „wir können nicht ausschließen, dass jemand sich für einen der Getöteten rächen will.“

Atsushi, der auf Kyokas Platz saß, wurde bei diesen Worten weiß wie eine Wand. Übelkeit stieg in ihm hoch. Würde jemand an einem so jungen Mädchen Rache üben wollen? Auch wenn sie eine Assassine gewesen war, konnte jemand so herzlos sein, einem Kind etwas anzutun?

„Ja, Atsushi, die Menschen sind so grausam“, warf Dazai beiläufig und seine Gedanken erratend ein. „Wenn jemand über genug Hass und Grausamkeit – oder Gleichgültigkeit - verfügt, dann stört ihn das nicht weiter, wenn sein Opfer ein Kind ist.“

Der silberhaarige Junge begann zu würgen.

„Allerdings“, fügte Dazai schnell hinzu, als er dies sah, „habe ich meine Zweifel an Kunikidas Theorie.“ Er rutschte von seinem Platz auf einer Kante von Ranpos Schreibtisch, wo er sich mangels eines eigenen Stuhls niedergelassen hatte, und schubste mit einem Fuß einen Plastikeimer in Atsushis Richtung. „Spuck bitte nicht ins Büro. Der Gestank wäre unerträglich.“

„Sagt der Richtige.“ Yosano wedelte mit einer Hand vor ihrer Nase.

„Jedenfalls“, fuhr Dazai unbeirrt fort, „würde Kyoka sich nicht einfach ergeben, selbst wenn jemand sie mit dem Vorwurf des Mordes an einem geliebten Menschen konfrontierte und sie deswegen von einem schlechten Gewissen gequält würde. Das würde sie Atsushi nicht antun. Sie weiß, dass ihr Tod ihn treffen würde. Wenn jemand sie also angriff, würde sie folglich was tun?“

Atsushis Blick raste von dem Plastikeimer hinauf zu Dazai. „Sie würde … sie würde sich wehren!“

„Ranpo, gab es dort irgendwo Anzeichen von einem Kampf?“, hakte Fukuzawa unverzüglich nach und der Angesprochene, der an seinem Schreibtisch saß und ein lächerlich großes Anpan-Brötchen in sich hineinstopfte, schüttelte den Kopf.

„Abfolut keine Fpuren einef Kampfef“, schmatzte er mit vollem Mund und ließ den Chef damit ungesehen zusammenzucken. Diese Manieren.

Dazai machte eine ausladende Bewegung mit seinen Armen, als wollte er damit unterstreichen, dass Ranpos Aussage seine Argumentation bewies.

„Was mich beunruhigt“, wandte Yosano ein, „ist die Sache mit dem Hasen. Der Entführer kannte Kyoka demnach. Oder wusste zumindest das über sie.“

„Der Entführer muss aus den Bergen kommen.“ Kenjis Kommentar ließ alle verwundert zu ihm blicken.

„Wieso glaubst du das?“, fragte Kunikida nach.

„Weil Ranpo weiße Fellhaare gefunden hat“, erläuterte Kenji mit ungebrochenem Enthusiasmus. „Es sind eindeutig die Haare eines Wildhasen und nicht die eines Hauskaninchens. Und so ein reines Weiß sieht man nur bei Schneehasen. Da es in Yokohama aber nicht Winter ist und auch kein typisches Revier von Wildhasen muss der Hase von außerhalb hergebracht worden sein.“

„Schneehasen?“ Atsushi blinzelte ihn verdutzt an. Was machten sie denn jetzt mit dieser Information?

Ein plötzliches Klopfen an der Türe, gefolgt vom sofortigen Öffnen eben dieser unterbrach ihre Überlegungen abrupt. Das Ehepaar, welches das Café Uzumaki betrieb, betrat mit sorgenvollen Gesichtern die Detektei.

„Ist etwas vorgefallen?“ Fukuzawa drehte sich zu ihnen um.

Die Frau nickte aufgebracht. „Lucy ist noch nicht zur Arbeit erschienen. Und wir können sie nicht erreichen.“

„Wir sind sogar schon bei ihrer Wohnung vorbeigefahren“, ergänzte der Mann, „aber da war niemand.“

Als hätte ihn ein Schlag in den Magen getroffen, zog Atsushi scharf die Luft ein. Erst Kyoka, jetzt Lucy? War das ein Zufall?

Verunsichert blickte er zu den anderen Detektiven, die offensichtlich das Gleiche dachten wie er.

„Das ist so untypisch für sie.“ Die Stimme der Frau bebte, während sie nervös ihre Hände faltete. „Gestern Abend hat sie sich wie gewohnt auf den Heimweg gemacht und nun ist sie wie vom Erdboden verschluckt. Mein Gefühl sagt mir, da stimmt etwas nicht. Bitte, Herr Fukuzawa, wenn es möglich wäre, könnten dann einer oder zwei Ihrer Leute sich auf die Suche nach ihr machen? Wir vertrauen Ihnen doch mehr als der Polizei.“

„Sorgen Sie sich nicht“, antwortete der Chef, ohne zu überlegen und gleichermaßen ruhig wie beschwichtigend. „Wir werden der Sache nachgehen.“

Das Ehepaar bedankte sich und kehrte, mit der Bitte, sich sofort bei ihnen zu melden, wenn sie etwas in Erfahrung brächten, in das Café zurück. Atsushi sah ihnen mit einem warmen Gesichtsausdruck nach. Sie sorgten sich um Lucy, als wäre sie ihre Tochter. Wie schön dies war.

„Gibt es da einen Zusammenhang?“, äußerte Tanizaki besorgt, nachdem sie wieder unter sich waren. „Kyoka und Lucy haben beide mit der Detektei zu tun. Meint ihr …?“

„Sie haben vor allem beide mit Atsushi zu tun“, erwiderte Yosano.

„Was??“, japste dieser erschrocken. „Meint ihr etwa, das … das hat mit mir zu tun??“ Die Übelkeit kehrte zurück und der Junge fühlte mit einem Mal sein Herz gegen seine Brust hämmern. Wollte ihm mal wieder jemand ans Leder und versuchte daher, über Kyoka und Lucy an ihn heranzukommen? Der schreckliche Gedanke ließ Atsushi in kalten Schweiß ausbrechen.

Dazai schubste nonchalant den Plastikeimer genau vor ihn.

„Es hilft nicht, zu voreiligen Schlussfolgerungen zu springen“, widersprach Fukuzawa eindringlich. „Ranpo, sieh dich in Lucys Wohnung und deren Umgebung um. Vielleicht -“

Das Telefon klingelte.

Kunikida schickte ein „Verzeihung“ in die Richtung des Chefs und hob den Hörer ab. Er stutzte auf das Heftigste, als ein Redeschwall am anderen Ende der Leitung auf ihn einprasselte. Dann nickte er ernst. „Verstanden. Wir werden ihn sofort zu Ihnen bringen.“ Er legte wieder auf und stieß ein tiefes Stöhnen aus. „Das war die Polizei. Es hat zwei weitere Morde gegeben. Sie wollen Ranpo dabei haben.“

Die Miene des Meisterdetektivs hellte sich auf. „Na endlich! Die haben aber lange gebraucht, um einzusehen, dass sie ohne mich aufgeschmissen sind! … Oh.“ Mit wieder lustloser Mimik sah er zu Fukuzawa, der ihn streng anblickte. „Kunikida hat doch schon zugesagt. Und unsere einzige Spur zu Kyoka ist im Moment Lucy. Ich weiß, ihr seid ohne mich ebenso aufgeschmissen, aber Dazai ist halbwegs brauchbar und dürfte das hinkriegen.“

„Du bist zu gütig, Ranpo“, warf der zuletzt Erwähnte feixend ein.

„Dann darf ich doch, oder?“

Der Chef atmete hörbar aus. Ranpo war kein schlechter Mensch. Dass er mitten in der Nacht bereits nach Kyoka gesucht hatte, sprach dafür, dass ihm die Angelegenheit nicht egal war, auch wenn es so wirkte. Außerdem …

„Wir können es nicht verantworten, dass ein Serienkiller in der Stadt frei herumläuft. Daher löse die Mordserie bitte schnell, Ranpo. Und dann hilfst du weiter bei der Suche nach den vermissten Mädchen.“

Das Strahlen kehrte auf das Gesicht des Schwarzhaarigen zurück und er setzte sich schwungvoll seine Mütze auf. Er war gerade aufgestanden, als sie Schritte und Gemurmel im Flur vernahmen.

Verwunderte blickten die Detektive in Richtung der Tür, als Fukuzawa Haruno ein Zeichen gab, diese zu öffnen. Behutsam tat die Sekretärin, was ihr aufgetragen worden war und staunte nicht schlecht, als sie direkt hinter der Tür vier Kinder vorfand. Es waren zwei Jungen und zwei Mädchen, die Jüngsten vielleicht gerade einmal sechs oder sieben Jahre alt, die Ältesten maximal zwölf oder dreizehn. Ihre zerlumpte, dreckige Kleidung und ihr allgemein ungepflegtes und nicht gesund aussehendes Äußeres verriet schnell, dass es sich hier um Straßenkinder handeln musste. Atsushi schluckte schwer bei ihrem Anblick.

Die Kinder schreckten zusammen, als der Blick des Chefs auf ihnen landete. Die Kleineren huschten sogar mit einem lauten Winseln hinter die Größeren. Mit bedächtigen, langsamen Bewegungen stand Atsushi auf und machte einen Schritt auf sie zu.

„Können wir euch irgendwie helfen?“, fragte er freundlich und so heiter, wie es ihm momentan trotz seiner überwältigenden Sorgen möglich war.

„S-sind, sind Sie das Büro der bewaffneten Detektive?“, trug das größere der beiden Mädchen scheu vor.

„Das sind wir“, antwortete Fukuzawa und die Kinder schreckten von neuem zusammen.

Oje, ging es Atsushi durch den Kopf. Das mussten sie behutsamer angehen. Er lächelte die kleinen Besucher an.

„Mein Name ist Atsushi. Wie heißt ihr?“

Die Kinder blinzelten ihn an.

„Fusa“, sagte das ältere Mädchen. „Und das ist Mitsu.“ Sie deutete auf das kleinere Mädchen, das sich hinter ihr versteckte.

„S-s-s-utejiro“, brachte der größere Junge eingeschüchtert heraus, während der Jüngere sich trotz der Tränen in seinen Augen ganz tapfer als „Daishiro“ vorstellte.

„Wir möchten Sie engagieren“, platzte es plötzlich aus Fusa heraus.

„Wir können Sie auch bezahlen!“, legte Sutejiro nach, holte ein fleckiges Stofftaschentuch hervor, wickelte es auseinander und hielt dem Chef dessen Inhalt entgegen.

853 Yen.

Fukuzawa warf einen flüchtigen Blick darauf und sah wieder zu den Kindern.

„Wir wissen, dass es nicht viel ist“, sagte der Junge lautstark, „aber wir können arbeiten! Wenn Sie uns helfen, werden wir alle Kosten abarbeiten!“

Wie determiniert sie sind, wunderte sich Atsushi und ein ungutes Gefühl meldete sich in seinem Inneren. Es muss um etwas gehen, das ihnen sehr wichtig ist.

„Weswegen wollt ihr uns denn engagieren?“, fragte er sanft.

„Drei unserer Freunde sind verschwunden!“, erwiderte Fusa und versuchte, die entstehenden Tränen weg zu blinzeln.

Während Atsushi nach dieser Nachricht erschrocken zurücktaumelte, ging ein Raunen durch die Detektei.

Aufgeschreckt tauschten alle Detektive alarmierte Blicke aus.

„Verschwunden?“, hakte Yosano nach. „Wie meint ihr das?“

Die Kinder sahen sich verblüfft an, als würde es sie erstaunen, dass überhaupt nachgefragt wurde.

„Wir hatten uns in der Nacht auf unseren üblichen Schlafplatz gelegt und am nächsten Morgen waren drei von uns … einfach weg.“ Sutejiro biss sich auf die Unterlippe. „Wir haben sie überall in Suribachi gesucht, aber …“ Dicke Tränen rollten über seine Wangen. „... aber sie sind wie vom Erdboden verschluckt!“ Die anderen Kinder begannen ebenso zu weinen.

„Und das war letzte Nacht?“, fragte Tanizaki voller Mitleid in das Schniefen und Japsen hinein, worauf Fusa den Kopf schüttelte.

„Vorletzte Nacht. Wir sind zuerst zur Polizei gegangen, aber die haben sich nicht für uns interessiert.“

Atsushi nahm tief Luft, ehe er eine Frage an die Kinder richtete. „Ihr lebt in Suribachi?“

Sie nickten unisono.

„Habt ihr keine Eltern mehr?“

Sie schüttelten unisono ihre Köpfe.

„Wenn sich hier mal nicht eine Menge seltsamer Zufälle aneinander reihen.“ Dazai schnappte sich die unbenutzten Servietten, die Ranpos Riesenanpan-Brötchen beilagen und hielt sie den Kindern hin, die sie zögerlich entgegen nahmen.

„Ist euch irgendetwas aufgefallen, bevor eure Freunde verschwunden sind? Irgendwelche Leute, die ihr noch nie vorher gesehen habt? Oder Tiere vielleicht?“

Mitsu schnäuzte sich trompetend ihre Nase. Dann nickte sie. „Ich hab gesehen, dass Leute in ganz feinen Kleidern mit den anderen geredet haben. Aber die Leute sind wieder weggegangen.“

„Leute in ganz feinen Kleidern?“ Dazai schaute zu den größeren Kindern, die jedoch mit den Schultern zuckten.

„Da waren wir nicht dabei. Die haben wir nicht gesehen“, entgegnete Sutejiro betrübt.

„Ich glaube, es waren zwei Frauen“, ergänzte Mitsu mit gerunzelter Stirn, „aber ich hab nicht so genau hingesehen.“

„Was machen wir denn jetzt?“, wandte sich Atsushi hilflos an Fukuzawa, der wiederum nacheinander zu Dazai und Ranpo blickte.

„Seht ihr da einen Zusammenhang?“

„Natürlich“, antwortete Letzterer. „Ist ziemlich offensichtlich.“

„Vom Erdboden verschluckte Waisenkinder. Ich verstehe noch nicht, wie genau Kyoka und Lucy in dieses Muster passen, aber dies haben sie alle gemeinsam.“ Dazai schnitt Atsushi das Wort ab, ehe dieser überhaupt den Mund aufmachen konnte. „Bevor du fragst: Nein. Ich habe noch keine Idee, warum jemand Waisen entführen sollte.“

Eine unbehagliche Stille legte sich für einige Augenblicke über das Büro. Mit nassen, großen Augen sahen die Kinder zu den Detektiven.

„Ranpo“, sagte Fukuzawa schließlich, „du untersuchst die Morde. Haruno, nimm den Firmenwagen und fahr ihn bitte zum Tatort. Kunikida und Yosano, ihr werdet euch bei Lucy umsehen. Dazai, Atsushi, Kenji und Tanizaki: Ihr kehrt mit diesen Kindern zurück nach Suribachi und versucht, dort etwas in Erfahrung zu bringen.“

„Ja!“, schallte es einhellig durch den Raum.

As a sound of silence grows

As a sound of silence grows“

 

Placebo, „The never-ending why“

 

Atsushi hasste es, in Suribachi sein zu müssen. Mit Bitterkeit in den Augen blickte er auf die zahllosen Reihen von ärmlichen Baracken, die man hier Häuser nannte. Ein strenger Geruch waberte durch die Straßen. Teilweise floss Abwasser in offenen Gräben an den Häusern vorbei, an anderen Stellen hatten sich pestilenzartig stinkende Pfützen gebildet. Der winzigen Hütte, vor der sie nun standen, fehlten Teile der Vorderwand und des Daches. Ein Blick ins Innere offenbarte, dass es sich nur um einen einzelnen Raum handelte, in dem zerlumpte, dreckige Decken auf dem zerschlissenen, durchlöcherten Tatami-Boden lagen. Dies war das „Zuhause“ der Kinder, ihr Schlafplatz.

An jedem anderen Tag hasste Atsushi diesen Ort, der ihn an das Waisenhaus und seine tragische Vergangenheit erinnerte einfach nur, doch heute verabscheute er diesen Slum regelrecht. Kyoka und Lucy waren verschwunden und auch wenn es Hoffnung gab, dass dies nicht, wie befürchtet, mit ihm zusammenhing, so ging es ihm trotzdem so elend wie lange nicht mehr. Sein Herz hörte nicht auf vor Angst gegen seine Brust zu hämmern und die Sorge um die beiden schnürte ihm den Hals zu und drehte ihm den Magen um.

Kurzum, er sah schlimmer aus als der verkaterte Dazai.

„Ist dir warm?“ Kenjis Frage riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. „Du schwitzt so doll.“

Bevor Atsushi antworten konnte, hatte Tanizaki eine Hand auf seine Stirn gelegt. „Nicht dass du Fieber hast. Yosanos Fieberwickel sind die Hölle … ah, nein, du bist eher kalt. Glück gehabt.“

Mit einem Mal wurde es dem silberhaarigen Jungen ein wenig leichter ums Herz. Hier war er und jammerte, in den Slum zu müssen, während seine Kameraden, seine Freunde, um ihn herum waren und sich sorgten und ihm somit eigentlich deutlich machten, dass er die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen sollte. Er sollte vielmehr dankbar sein für das, was er jetzt hatte. Dank ihnen und nur dank ihnen konnte er sich wahrlich glücklich schätzen.

Sie würden Kyoka und Lucy wiederfinden. Sie waren die bewaffneten Detektive. Es gab nichts, was sie nicht hinbekamen. Und solange Dazai bei ihm war, würde alles gut werden. So war es bisher immer gewesen. Auch wenn der brünette Wirrkopf nicht so wirkte, auf ihn war Verlass. Und sobald Ranpo die Morde aufgeklärt hatte (was wahrscheinlich im Handumdrehen passieren würde), würde auch er wieder nach Kyoka und Lucy suchen. Alles würde gut werden. Dessen war Atsushi sich sicher.

Energisch klatschte er sich mit seinen eigenen Händen ins Gesicht und wachte damit endlich aus seiner ihn lähmenden Angst auf.

Tanizaki und Kenji tauschten verwunderte Blicke aus, während Dazai wissend lächelte.

„Bist du so weit, Atsushi?“, fragte er und klatschte selbst in die Hände, als der Junge entschlossen nickte. „Suribachi ist leider monströs groß, weswegen wir uns aufteilen werden. Du und ich werden die Stelle untersuchen, an der die Kinder verschwunden sind. Tanizaki und Kenji, ihr fragt in der Umgebung nach, ob weitere Kinder vermisst werden und ob irgendwem etwas aufgefallen ist.“

Mit diesem Plan verteilten sich die Detektive im Slum von Suribachi.

Wie es sich zügig herausstellte, war dort niemand begeistert von der Anwesenheit herumschnüffelnder Detektive. Atsushi hatte versucht, die Nachbarn der Kinder zu befragen, aber die Türen wurden ihm entweder erst gar nicht geöffnet oder sofort wieder vor der Nase zugeschlagen. Wieder andere verlangten nach einer Entlohnung für ihre Auskunft (Vorkasse natürlich) und hatten dann gar nichts Brauchbares zu sagen.

Nichts davon überraschte Atsushi. Dieser Ort erinnerte ihn nicht umsonst an das Waisenhaus. Er verstand die Not der Leute dort und doch wurde er gleichzeitig mehr und mehr wütend, dass niemand sich so wirklich um die verschollenen Kinder sorgte. Aber auch das war eigentlich keine Überraschung, wenn er an seine eigenen Erfahrungen dachte.

Seufzend und mit hängenden Schultern trottete er zu Dazai zurück, der grübelnd vor der Behausung der Kinder stand.

„Du siehst nicht so aus, als hättest du Erfolg gehabt“, sagte er, ohne sich zu dem Jungen umzudrehen.

„Nein. Ich konnte rein gar nichts herausfinden. Hattest du mehr Glück?“

„Oh ho, Atsushi“, konterte Dazai gespielt empört, „mein scharfsinniger Verstand hat doch nichts mit Glück zu tun.“

Der Jüngere warf ihm einen wissenden Blick zu. „Du hattest also kein Glück.“

Vorgebend, er hätte dies nicht gehört, musterte Dazai weiter die baufällige Hütte vor ihm.

„Es ist nicht sonderlich schwer, jemanden aus dieser traurigen Bretterbude zu entführen. Es gibt keine Tür und wenn die Kinder fest geschlafen haben, mussten die Täter auch keine Betäubungsmittel oder andere Tricks einsetzen.“

Atsushi stutzte. „Die Täter? Du glaubst, es sind mehrere? Die beiden Frauen, von denen das Mädchen erzählt hat, etwa?“

Dazai zuckte mit den Schultern. „Die entführten Kinder sind, soweit das unsere Klienten erzählt haben, keine Befähigten. Ich hatte erst gedacht, das könnte ein Anhaltspunkt sein, aber das ist es nicht. Es geht den Entführern also nicht um Fähigkeiten. Alles, was wir wissen, ist, dass diese Kinder zuvor mit zwei Frauen gesprochen haben.“

Auf der gegenüberliegenden Seite der Häuserreihe bemerkte Atsushi eine Frau, die ihrer Unterhaltung gelauscht hatte. Sie trug einen in die Jahre gekommenen Kimono, dessen Obi-Gürtel nicht ordentlich zugebunden war. Zudem war er auf dem Bauch gebunden und nicht auf dem Rücken. Ihre blasse Erscheinung schrie geradezu, dass sie eine Bewohnerin dieses Viertels war.

„Entschuldigen Sie, gute Frau“, wandte sich Dazai, der Atsushis Blick gefolgt war, galant an die Dame. „Sie kommen zum dritten Mal durch diese Straße, seit ich hier bin. Und ich denke, es ist nicht, weil Sie Ihrer Profession nachgehen wollen, nicht wahr? Falls doch, muss ich Sie auf ein anderes Mal vertrösten, denn im Moment habe ich leider kein Geld bei mir.“

Atsushi warf ihm einen fragenden, irritierten Blick zu. Was redete Dazai schon wieder? Was für einer Profession ging diese Frau denn nach und woran hatte Dazai dies so schnell erkannt?

„Sie ist eine Prostituierte, Atsushi“, raunte der Brünette dem daraufhin ruckzuck dunkelrot werdenden Jungen zu.

Wie hatte Dazai denn …? Er unterband seine eigenen Gedanken. Nein, er wollte lieber nicht darüber nachdenken, wieso der Andere dies so rasch hatte schlussfolgern können.

„Sie sind nicht von der Polizei, oder?“, entgegnete die Frau und Dazai lachte.

„Ganz sicher nicht.“

„Aber Sie suchen nach den Kindern, die seit gestern vermisst werden?“ Das Misstrauen in ihrer Stimme war mit bloßen Händen greifbar.

„Das sind Detektive, Tsuneko.“ Fusa kam mit Sutejiro aus der Hütte. „Wir haben sie engagiert.“

Verdattert starrte die Angesprochene die Kinder an. „Ihr habt sie …? Wie wollt ihr das denn bezahlen?“ Ihr erboster Blick landete auf den Detektiven. „Was verlangen Sie im Gegenzug von den Kindern??“

Atsushi wedelte beschwichtigend mit den Händen. „Nein, nein, so ist das nicht.“

Der Blick der Dame bohrte sich beinahe durch sie hindurch, als Sutejiro das Wort ergriff: „Wir haben einen Deal mit dem Chef der Detektei gemacht. Wir müssen erst bezahlen, wenn der Auftrag erfolgreich abgeschlossen ist. Und dann sollen wir irgendwo ein paar kleinere Arbeiten erledigen. Die wirken echt okay, mach dir keine Sorgen.“

„Sie haben ein Auge auf die Kinder?“ Unbeirrt charmant befragte Dazai die immer noch argwöhnisch dreinblickende Frau.

Sie nickte. „Mehr schlecht als recht, weil ich … aus beruflichen Gründen viel unterwegs bin.“

„Verständlich. Ist Ihnen hier vielleicht irgendetwas oder irgendjemand Ungewöhnliches in letzter Zeit aufgefallen?“

Tsuneko begann, nachzudenken. „Etwas Ungewöhnliches …?“

„Eventuell jemand, den Sie hier zum ersten Mal gesehen haben und der nicht so wirkt, als würde er normalerweise hier verkehren?“

„Ah!“, machte sie da. „Als ich vor zwei Tagen morgens nach Hause gegangen bin, sind mir vier Fremde begegnet. Die wollten wissen, ob es auf diesem Weg nach Suribachi geht. Die sahen definitiv so aus, als würden sie hier nicht hin gehören. Ich habe mich nämlich noch gewundert, was solche schick gekleidete Menschen hier wollen und sie gefragt. Sie sagten nur, sie suchten jemanden.“

Alarmiert riss Atsushi die Augen auf. Schick gekleidete Menschen? Er blickte zu Dazai, der bedächtig nickte.

„Können Sie diese Personen näher beschreiben? Und wissen Sie auch, wen sie hier gesucht haben?“

Tsuneko dachte intensiv nach. „Es waren … drei Frauen und ein Mann. Eine der Frauen wird wohl so Mitte/Ende 40 gewesen sein, die andere und der Mann vielleicht in ihren Zwanzigern? Und die dritte jünger? Sie war besonders schwer einzuschätzen. Ich bin mir recht sicher, dass sie Ausländer waren. Zwei der Frauen waren blond und die Ältere hatte dunklere Haare und der Mann hatte auch dunklere Haare. Sie suchten ein Kind, aber mehr haben sie dazu nicht gesagt.“

Atsushis Blick wurde wieder verkniffener, als der Strohhalm, an den er sich hatte klammern wollen, sich aufzulösen drohte. „Dazai, könnte es nicht sein, dass sie ebenso jemanden suchen, der wie die anderen entführt wurde?“

„Nein.“

„W-was?“

„Nein. Sie haben zielgerichtet in Suribachi gesucht. Wer auch immer sie sind und wen sie suchen, sie wissen mehr als wir.“

Dazais Handy klingelte.

„Was gibt es, Tanizaki? … … … Verstanden. Wir kommen zu euch.“ Er ließ das Telefon wieder in seiner Manteltasche verschwinden. „Wir müssen los. Vielen Dank für Ihre Hilfe“, richtete er mit einem Lächeln an die Frau. „Wir sehen uns bestimmt irgendwann mal wieder.“

Atsushi verbeugte sich – von neuem rot im Gesicht – vor ihr und sagte den Waisen, dass sie hier auf Nachricht von ihnen warten sollten.

Tsuneko hob zweifelnd eine Augenbraue hoch, als sie den beiden Detektiven hinterher sah. „Kinder, ich frage mich, an was für fragwürdige Gestalten ihr da geraten seid.“

 

„Hat das einen Grund, dass du so intensiv den Boden anstarrst, Atsushi?“, fragte Dazai amüsiert, während sie die Straße entlanggingen.

Schamlos. Der Mann war vollkommen schamlos.

„Wenn du so prüde bist, habe ich ja das Gefühl, mit Kunikida unterwegs zu sein.“ Lachend drehte er sich zu dem Kopf schüttelnden Jungen, als sie um eine Ecke bogen und Dazai mit einem gerade des Weges kommenden Mann zusammenstieß.

„Autsch! … Oh? Du meine Güte.“ Die perplexe Reaktion des Brünetten kam nicht von ungefähr. Der Mann, mit dem er unfreiwillig auf Tuchfühlung gegangen war, war gut und gerne zwei Köpfe größer als er – und um einiges breiter und muskulöser.

Was ist denn das für ein Schrank?, ging es Dazai durch den Kopf, als er zu dem Hünen hinaufblickte. Der Mann hatte mittellange, hellbraune Haare und einen Dreitagebart – und eine Miene, als würde er Dazai gleich bei lebendigem Leib verspeisen wollen. Und die Kinder hatten Angst vorm Chef gehabt! Der war ja ein sanftes Miezekätzchen im Vergleich zu dieser grimmigen Visage!

Atsushi brach in milde Panik aus. So weit waren sie ohne Zwischenfälle durchgekommen, würde sich das jetzt ändern? Er schluckte. Wenn dieser Riese so kräftig war, wie er aussah, dann würde das ohne jeden Zweifel zum Problem werden.

„Entschuldigung“, brummte der Mann mit tiefer Stimme und ein dezenter Geruch von Alkohol war zu riechen. „Ist Ihnen was passiert?“

„Nein“, antwortete Dazai, seine Nonchalance zurückgewinnend. „Ich bitte ebenso um Verzeihung.“

„Schon gut.“ Er setzte seinen Weg fort und Atsushi sprang praktisch zur Seite, als er an ihm vorbei schritt. Die Aura, die dieser Kerl hatte, war beängstigend.

„Dazai?“, hakte der Silberhaarige nach, als er bemerkte, wie der Ältere dem Mann mit gedankenvollem Blick hinterher schaute. „Stimmt etwas nicht?“

Einige Sekunden verstrichen, ehe der Angesprochene den Kopf schüttelte. „Gehen wir. Tanizaki und Kenji warten.“

 

„Zwei weitere Kinder sind vorgestern Nacht verschwunden.“ Tanizaki las von seinem geöffneten Notizblock ab. „Und zuvor sind in der Gegend ein Mann mit schwarzen Haaren, einem Schnauzer und einer grünen Jacke, sowie eine junge Frau, vielleicht auch ein Mädchen, mit blonden Zöpfen gesehen worden. Weiter in diese Richtung wurden außerdem eine blonde Frau mit einer Perlenkette und eine brünette Frau in einem dunklen Kleid gesichtet.“

Verblüfft klappte Atsushi der Unterkiefer herunter. „Wie-wie seid ihr denn an all diese Informationen gekommen?“

„Kenji.“ Tanizaki zeigte auf den neben ihm stehenden, strahlenden Kollegen.

„Man muss die Leute nur höflich fragen!“

„Äh … ja ...“ Atsushis Augen zuckten, als er die in einer Ecke liegenden, zusammengeschlagenen Männer bemerkte. Wenn man in einem Bildlexikon „Bande von Möchtegern-Gangstern“ nachschlug, fand man wahrscheinlich ein Foto von genau diesen Kleinkriminellen.

„Sie wollten die Frau mit der Perlenkette ausrauben und sind dann schon mal von ihr verprügelt worden“, erzählte Kenji stolz.

„Erst eine Frau und jetzt ein Kind! Das war's! Ich such mir eine ehrliche Arbeit!“, jammerte einer der Männer ächzend.

„Moment.“ Eine der Informationen ließ Atsushi plötzlich stutzen. „Eine brünette Frau in einem dunklen Kleid?“ Nein. Das … das konnte nicht sein. Das musste ein Zufall sein. Obwohl die Sonne sich den ganzen Tag noch nicht richtig gezeigt hatte, wurde es ihm schrecklich heiß. „Habt ihr noch mehr zu ihr herausfinden können?“

Tanizaki blätterte in seinem Notizblock. „Da war noch etwas … ah! Hier. Jemand beschrieb ihre Frisur als 'gepflochtener Zopf, aber auf dem Kopf' und sie trug wohl ein Kreuz um den Hals.“

Sämtliche Farbe wich aus Atsushis Gesicht, sodass er mit einem Mal leichenblass war. Besorgt blickten Kenji und Tanizaki zu ihm und bereiteten sich darauf vor, ihn aufzufangen, sollte er das Bewusstsein verlieren.

„Wo hast du diese Frau gesehen, Atsushi?“, fragte Dazai ernst.

Der Junge schnappte nach Luft. „Im … im Café. Sie … sie hat gestern … sie hat mit Lucy geredet!“

„Verstehe“, war alles, was Dazai dazu ruhig sagte.

„Diese Frau war im Café?“ Tanizaki verstand die Welt nicht mehr. „Hat sie dort dann auch Kyoka getroffen?“

„Das kann nicht sein.“ Atsushi schüttelte den Kopf. „Gestern war Kyoka nicht im Büro und am Tag davor war diese Frau nicht da.“

„Aber die freundliche Dame, die ihr getroffen habt, hat doch erzählt, diese Leute suchten ein Kind“, wandte Kenji ein. „Wenn sie nur ein bestimmtes suchen, warum nehmen sie dann so viele andere mit?“

„Dazai.“ Mit flehentlichem Ausdruck in den Augen drehte Atsushi sich seinem Mentor zu. „Ich verstehe das alles nicht. Was ist hier los? Wer sind diese Leute und was wollen sie von Kyoka und Lucy?“

Eine gefühlte Ewigkeit verging, bevor er antwortete. „Wir haben bisher wirklich erst sehr wenige Informationen erhalten können. Hat Ranpo diese Morde noch nicht aufgeklärt?“

Tanizaki verneinte dies kopfschüttelnd. „Ich habe zwischendurch mit Kunikida telefoniert und bislang hat Ranpo sich noch nicht bei ihnen gemeldet.“

„Hm.“ Abermals schwieg Dazai nachdenklich. Er sah zu seinem silberhaarigen Schützling. „Dann bleibt uns nur eins.“ Zu Atsushis Irritation schmunzelte er plötzlich. „Atsushi, verwandele deine Arme und Beine in die Tigerform.“

„... Huh? W-warum?“ Es war doch überhaupt keine akute Gefahr in der Nähe. Oder übersah er etwas?

„Na los, mach schon.“

„O-okay?“ Er befolgte die Order des Älteren und während sich seine Gliedmaße in die eines Tigers transformierten, zerrissen sie seine Hemdsärmel und Hosenbeine. Was Dazai anscheinend freute.

„Sehr schön. Du kannst sie wieder zurückverwandeln.“

Stark stutzend tat der Junge auch dies.

„Kenji“, forderte Dazai nun den Jüngsten der Gruppe auf, „nimm etwas von dem Matsch da am Straßenrand und schmier es über Atsushis Hemd und sein Gesicht.“

„Okay!“

„Warte, wa-pppfffff??“ Atsushi schloss schnell seinen Mund, als Kenji fröhlich seinem Auftrag nachkam. „Dazai! Was soll denn das??“

Wie ein Künstler, der ein gerade fertiggestelltes Werk betrachtete, musterte Dazai den nun verdreckten Jüngeren in seinen zerschlissenen Klamotten. Er ging auf ihn zu, nahm ihm seine Krawatte ab, die er sich in eine Manteltasche steckte und machte wieder einen Schritt zurück. Dann lächelte er zufrieden. „Ja. Das sieht gut aus.“

„HÄÄÄÄHHH??“ Atsushi war zu der Überzeugung gekommen, dass Dazai endgültig den Verstand verloren hatte.

„So, und nun laufe eine Weile durch Suribachi.“

„Ich soll was??“

„Oh.“ Tanizaki dämmerte, was los war. Und er war nicht begeistert von der Idee. „Dazai, du willst Atsushi als Köder benutzen?“ Sollten wir das nicht lieber mit dem Chef absprechen? Oder mit Kunikida? Oder mit irgendjemandem, der nicht du ist?, wollte Tanizaki anfügen, ließ es aber unausgesprochen.

„WAAAAS?!“, schrie der Junge entsetzt dazwischen.

Der Älteste der vier zuckte vergnügt mit den Schultern. „Kenji ist zu heiter, Tanizaki sieht nicht mitleiderregend genug aus und ich komme jawohl gar nicht in Frage. Das ist ein Job, den nur du erledigen kannst, Atsushi.“

Dem jungen Detektiv klappte der mit Matsch beschmierte Unterkiefer nach unten. „A-aber … was soll ich denn … und wenn ich auf die Entführer treffe??“

„Ganz ruhig“, entgegnete Dazai süffisant lächelnd. „Wir bleiben ja in der Nähe.“

 

Mit einer unzufriedenen und verunsicherten Miene schlappte Atsushi an diesem späten Nachmittag durch den Slum von Suribachi. Die Temperaturen sanken weiter, je später es wurde und seine zerrissene Kleidung hatte einiges an Kälteschutz eingebüßt. Er schauderte. Kurioserweise bedachten die Leute, die ihm jetzt dort begegneten, ihn nicht mehr mit Argwohn. Viele ignorierten ihn einfach, aber eine erstaunlich große Anzahl von Bewohnern des Viertels grüßte ihn sogar. Nahmen sie ihn nun als einen von ihnen war? Das Einzige, was ihn momentan beruhigte, war, dass Tanizaki und Kenji in den Seitenstraßen neben ihm herliefen und somit rasch herbeieilen konnten, falls etwas vorfallen sollte. Derweil hatte Dazai sich von den anderen entfernt, um das große Ganze ins Auge zu nehmen. Mit wachsamen Blick schritt er eine zu einer höheren Ebene führenden Treppe des in einen Krater gebauten Viertels hinauf.

Nach dem, was Atsushi erzählt hatte über das, was er von dem Gespräch zwischen der unbekannten dunkelhaarigen Frau und Lucy mitbekommen hatte, dann würden sie kommen, da war Dazai sich sicher. Und wenn sie jemanden wie Atsushi trafen, in kaputter Kleidung, mit mitleiderregender Visage und buchstäblich krank vor Sorge um Kyoka, dann würden sie ihn nicht ignorieren. Zu seinem eigenen Missfallen endete hier jedoch Dazais Verständnis von der Situation. Was genau diese Gruppe von Fremden vorhatte, entzog sich noch seiner Vorstellung. Es war denkbar, dass sie die Kinder irgendwie betäubten und dann verkauften, umbrachten oder sonst etwas mit ihnen anstellten. Sowohl Kyoka als auch Lucy würden nicht freiwillig mit irgendjemandem mitgehen und wenn sie bei Bewusstsein waren, würden sie versuchen zu kämpfen. Sie hingen an ihrem Leben.

Ein kaltes, leeres Schmunzeln glitt über sein Gesicht.

Noch so eine Sache, die sich seinem Verständnis entzog.

Mit einem hüpfenden Schritt erreichte er ein Plateau auf halber Strecke des Kraters und wandte sich dem Slum unter ihm zu.

Vermisste Waisenkinder …. Ist es nicht komisch, dass ich mich darum kümmern muss? Das wäre doch eher ein Fall für dich. Findest du nicht auch, Odasaku?

Eine Windböe kam auf und ließ seinen langen Mantel flattern.

Schlagartig stutzte Dazai. Aus einer Straße liefen plötzlich mehrere Kinder heraus und verteilten sich in die Seitenstraßen. Sie waren von seiner Position hoch oben nur als kleine, wuselnde Punkte erkennbar und er hatte die Stelle, von der sie gekommen waren, nicht einsehen können, da ein Gebäude sie verdeckte, aber dennoch bestand kein Zweifel. Eine aus dem Nichts auftauchende Schar von Kindern? Wahrscheinlich eine Fähigkeit, die Teleportation ermöglichte.

„Jetzt wird die Sache interessant“, sagte er ominös lächelnd zu sich selbst, ehe er abermals stutzte. Da waren Schritte. Schnelle, kleine Schritte, ein Laufen, ein laufendes Kind? Waren sie an mehreren Punkten in Suribachi ausgespuckt worden? Er drehte sich um und beobachtete wie ein kleines Mädchen aus einer Gasse gelaufen kam und bereits Kurs nahm auf die nächste. Dabei sah sie sich immerzu suchend um.

„Hast du etwas verloren?“, fragte Dazai betont freundlich in ihre Richtung.

So versunken war sie in ihre Suche gewesen, dass sie ihn erst jetzt bemerkte. Mit großen Augen starrte sie ihn erschrocken an und japste, bevor sie überstürzt losrannte und in der Gasse verschwand.

„Nanu? Gibt es Kinder, die noch schüchterner sind als Atsushi? ... Unwahrscheinlich.“ Seinem Instinkt folgend, setzte Dazai sich in Bewegung und lief ihr in die dunkle Gasse hinterher.

 

Die Sonne geht bald schon unter, dachte Atsushi gequält, wie lange muss ich denn noch hier herumlaufen? Er blieb stehen und seufzte. Aber wenn es die einzige Chance war, Kyoka und Lucy zu finden, dann würde er sich noch stundenlang durch diesen Slum schleppen. Sein Magen zog sich etwas zusammen.

Wenn es die einzige Chance war …. Es konnte auch sein, dass die Entführer hier gar nicht noch einmal auftauchten und was sollten sie dann machen? Es war auch recht seltsam, dass Ranpo sich noch bei keinem von ihnen gemeldet hatte. Ob es tatsächlich einen Fall gab, den selbst er nicht so einfach lösen konnte? Atsushi seufzte erneut. Wie dem auch war, für den Moment würde er auf Dazais Plan vertrauen. Das wirre Genie hatte schließlich so gut wie immer Recht.

Atsushi wollte gerade weitergehen, als ein Junge – vermutlich ein wenig jünger als er selbst – um die Ecke bog und vor ihm anhielt. Der Junge beäugte ihn kritisch und lächelte dann sanft.

„Brauchst du Hilfe? Du siehst schlimm aus.“

„Ähm … nein … danke, ich komme zurecht.“

„Du siehst krank aus.“ Der Junge grübelte. „Ich glaube, meine Tante sollte dich mal begutachten. Wartest du bitte hier? Ich such sie schnell.“

Von der Hilfsbereitschaft des Fremden überrumpelt wedelte Atsushi abwehrend mit den Händen. „Danke, aber das ist nicht nöti-“

„Doch, doch, besser ist es“, konterte der Junge warmherzig und Atsushi wunderte sich, wann er das letzte Mal jemandem mit so viel Empathie begegnet war.

„Ich bringe sie her“, ergänzte der Junge und rief in die Seitenstraße, aus der er gekommen war, zurück: „Bleibst du mal kurz bei ihm? Ich will ihn der Tante zeigen.“

Atsushi erstarrte zur Salzsäule, als er das Mädchen sah, das aus der Seitenstraße hinauskam und dem fremden Jungen seine Bitte bejahte, bevor er davonrannte.

„Kyo … Kyoka!“

Vor ihm stand seine vermisste Kameradin und warf ihm einen fragenden Blick zu.

„Bist du unverletzt? Wo hast du gesteckt? Was ist passiert? Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!“ Er wollte ihr um den Hals fallen, aber sie wich mit verwirrter Miene zurück.

„Kyoka?“ Ein unheilvolles Gefühl machte sich in Atsushi breit, als sie ihn verstört ansah. Sie sah ihn an wie … wie einen Fremden.

„Wer ist Kyoka?“, fragte sie letztlich und versetzte dem Detektiv damit einen qualvollen Stich ins Herz.

„Was meinst du damit? DU bist Kyoka!“

Sie schüttelte den Kopf und machte noch einen Schritt zurück. Ihr Blick verriet, dass sie ihr Gegenüber für nicht ganz dicht hielt. „Tut mir leid. Du verwechselst mich anscheinend.“

„Nein. Nein, das tue ich nicht.“ Seine Stimme bebte. „Erkennst du mich denn nicht?“

Sie schüttelte abermals den Kopf und Atsushi hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.

„Was redest du denn? Du musst doch wissen, wer ich bin! Ich bin es, Atsushi!“

Sie blinzelte ihn verständnislos an, ehe sich ein Ausdruck von Mitleid über ihr Gesicht legte. Atsushi konnte sich nicht erinnern, dass Kyoka je zuvor so geguckt hatte. Aber … das Mädchen vor ihm sah von den zwei Zöpfen bis hinunter zum Saum ihres roten Kimonos aus wie Kyoka. Sie klang wie Kyoka. Sie roch wie Kyoka.

„Hab keine Angst“, sagte sie ungewohnt sanft, „wir können dir bestimmt helfen.“

„ … Wir?“

„Hey, mit wem redest du?“

Atsushis Herz blieb ein weiteres Mal fast stehen, als er eine zweite ihm wohl bekannte Stimme vernahm. Die rothaarige junge Frau, die in diesem Moment aus der gegenüberliegenden Gasse herauskam, war niemand Geringeres als …

„Lucy?“

„Häh?“, entgegnete sie in ihrem üblichen, pampigen Tonfall.

„Er ist verwirrt“, antwortete das Mädchen, das gleichzeitig Kyoka und nicht Kyoka war.

„Oh, armer Kerl. Er sieht auch echt schlimm aus.“

So zur Schau getragenes Mitgefühl war für Lucy ebenso untypisch. Was war hier nur los?

„Du erkennst mich auch nicht?“

Sie hob kritisch eine Augenbraue und drehte sich zu Kyoka. „Was redet der denn da?“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Lucy! Die Inhaber des Cafés waren heute Morgen in der Detektei, weil sie sich schreckliche Sorgen um dich machen!“ Ein erneuter, verzweifelter Versuch – der in Sekundenschnelle verpuffte.

„Café? Was für ein Café?“

So wie die beiden Mädchen ihn ansahen, wie sie mit ihm redeten – sie hatten wirklich keine Ahnung, wer er war.

„Wartet!“ Ihm kam ein Geistesblitz. „Wir gehen zu Dazai! Der wird bestimmt wissen, was mit euch passiert ist und euch helfen!“

„Da-zai?“ Seine Gegenüber tauschten verwirrte Blicke aus.

„Ihr könnt euch auch nicht an-“ Atsushi stockte. Der Junge von vorhin kam mit einer Frau im Schlepptau zurück. Einer Frau mit dunkelbraunen, geflochtenen Haaren, die ein schwarz-rotes Kleid trug. Es war die Frau, die er gestern im Café gesehen hatte. Und ihr entsetzter Blick verriet, dass sie ihn ebenso wiedererkannte.

„Du bist einer der Detektive“, hauchte sie entgeistert. „Was in aller Welt tust du hier? Wie konntest du uns finden?“ Sie erschrak. „Sind noch mehr von euch hier??“

„Was haben sie mit Kyoka und Lucy gemacht?!“, platzte es wütend aus dem sonst so scheuen Jungen heraus.

„Maud, Kyoko, geht weg von ihm! Wir ziehen uns sofort zurück! Schnell!“

Bevor Atsushi reagieren konnte, hatte Lucys Fähigkeit alle vier wegtransportiert und vor ihm war nichts mehr außer der menschenleeren, mit Baracken gesäumten Straße.

Maud? Kyoko? Was … was ist hier nur los??

Überstürzt lief er in eine der Seitenstraßen, als würde sich dort eine Antwort finden können. Wenn er noch ein weiteres Kind finden könnte, dann könnte dies ihm bestimmt weiterhelfen! Er fand dort lediglich einen seiner Kollegen.

„Atsushi!“ Kenji rannte zu ihm. „Ist alles in Ordnung? Hier sind plötzlich überall Kinder aufgetaucht. Tanizaki verfolgt einige von ihnen mit seiner Fähigkeit. Atsushi?“

Völlig überfordert fixierte Atsushis Blick den Boden zu seinen Füßen. Warum erkannten sie ihn nicht mehr? Warum gingen sie freiwillig mit dieser Frau mit? Das alles ergab keinen Sinn. Was sollte er jetzt nur tu-

Als hätte die Antwort ihn wie einen Schlag auf den Kopf getroffen, zog er hastig sein Handy aus seiner Hosentasche und wählte Dazais Nummer.

Dazai würde wissen, was als nächstes zu tun wäre. Alles würde gut werden. Das Wichtigste war, dass Kyoka und Lucy noch am Leben waren.

Atsushi rutschte beinahe das Handy aus der Hand, als anstelle des erwarteten Klingelns ein automatisches Band ertönte:

Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist zur Zeit leider nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.“

But I'm leaving this weary town

But I'm leaving this weary town“

 

Placebo, „A million little pieces“

 

Es war kurz nach Mittag, als Haruno Ranpo vor dem Gerichtsgebäude absetzte und weiterfuhr, um einen Parkplatz in der dicht bebauten Innenstadt zu suchen. Der Meisterdetektiv schlappte die Stufen zum Gebäude hinauf und tippte seine Mütze aus seinem Gesicht, als er am Eingang angekommen war.

„Wir sind froh, dass Sie so schnell kommen konnten.“ Kommissar Minoura begrüßte ihn ernst.

„Wenn Sie mich nach dem ersten Mord direkt kontaktiert hätten, würde ich jetzt nicht das Mittagessen verpassen.“

„Auch Polizisten haben ihren Stolz“, entgegnete Minoura stoisch und entlockte damit Ranpo ein Stöhnen.

„Stolz! So etwas Dämliches! Von Stolz wird niemand satt. Aber ich will ja nicht so sein. Also, wo ist der Tatort?“

Mit einer Euphorie, die der Kommissar verstörend unpassend fand, folgte Ranpo ihm beschwingt in das Büro im dritten Stock.

Ein geschäftiges Treiben aus Polizisten und Forensikern tummelte sich in dem Raum, machte Fotos, nahm Fingerabdrücke und untersuchte die Leichen.

„Es ist alles so, wie der Sekretär des Richters es heute Morgen vorgefunden hat“, erklärte Minoura. „Der Todeszeitpunkt beider Männer wird zwischen Mitternacht und ein Uhr nachts geschätzt. Beide waren sofort tot.“

„Natürlich waren sie das. Bei den Verletzungen und dem Blutverlust.“ Ranpo besah sich die Blutlache auf dem Schreibtisch, die Blutspritzer an der Wand dahinter und den rot gefärbten Teppich. „Könnte ich davon ein paar Abzüge bekommen?“, fragte er einen Forensiker, der gerade Fotos schoss. „Ich habe eine Kollegin, der das sehr gefallen würde.“

Minoura fasste sich stöhnend an den Kopf. Diese Detektive waren ein Fall für sich. Dabei hatte er gehört, dass ihr Chef ein äußerst vernünftiger Mann sein sollte. Hatte er gar keinen Einfluss auf seine Untergebenen?

„Das sind die Tatwaffen“, erläuterte der Kommissar und griff mit behandschuhten Händen nach den beiden Schwertern, um sie dem Schwarzhaarigen hinzuhalten.

„Hmm? Die Tatwaffen wurden am Tatort zurückgelassen? Das ist ja mal interessant.“ Ranpo zückte seine Brille und setzte sie auf, bevor er einen kurzen Blick auf die Klingen warf.

„Wir haben keine Fingerabdrücke auf den Schwertgriff-“

„Natürlich nicht“, fiel der Meisterdetektiv Minoura unhöflich ins Wort. „Der Täter hat ja schließlich Handschuhe getragen, sonst hätte er sich beim Einschlagen der Fensterscheibe verletzt. Aber die Schwerter hat er zurückgelassen, weil die Klingen stumpf geworden sind. Ich interessiere mich nicht sonderlich für Schwerter, doch weil der Chef einige davon hat, weiß ich wie die normalerweise aussehen. Diese hier sehen ungewöhnlich aus, als hätte sie jemand auf eine spezielle Weise bearbeitet. Außerdem sind das eindeutig keine japanischen Schwerter. Der Täter warf sie weg, nachdem sie durch die vorangegangen Morde stumpf geworden waren. Etwas riskant, oder? Warum bringt er so schnell stumpf werdende Schwerter mit zu einem Attentat? Einfach, weil er nicht wusste, dass sie ihre Schärfe eingebüßt hatten. Das heißt, er ist nicht derjenige, der die Waffen kreiert hat. Ihm ist wahrscheinlich nicht einmal bewusst, dass er der Mörder dieser Menschen ist.“

Minoura starrte Ranpo nach diesem Redeschwall mit tief, tief in Falten gelegter Stirn an. „Was soll das heißen?“

Ranpo grinste spitzbübisch. „Es fehlt noch ein Puzzleteil, aber ich habe schon ein ganz gutes Bild, von dem, was hier los ist. Wenn wir ihn nicht rechtzeitig finden, werden weitere-“ Er stockte.

Von jetzt auf gleich stand der Raum voll mit allerlei Tieren. Rehe, Hirsche, Hasen, Eulen, Eichhörnchen, Elstern; es war wie eine Invasion von Waldbewohnern. Sie waren überall und aus ihren Augen leuchtete ein gleißendes Licht. In einem Augenblick starrte Minoura verdattert in die Augen eines Hirsches, der direkt vor ihm aufgetaucht war, im nächsten klappte er bewusstlos zusammen. Im Handumdrehen fiel ein Mensch nach dem anderen um. Geistesgegenwärtig richtete Ranpo seinen Blick auf den Fußboden, doch selbst da krochen Insekten mit leuchtenden Augen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als seine Augen zu schließen.

Es war mucksmäuschenstill in der Umgebung geworden. Selbst aus dem Flur kam kein Laut mehr. Wahrscheinlich waren auch dort alle ohnmächtig geworden. Schritte kamen auf ihn zu. Zwei Personen, die über die Bewusstlosen drüberstiegen. Ah, als er den Raum betreten hatte, waren alle Anwesenden fleißig bei der Arbeit gewesen, nur zwei Polizisten, die ihre Mützen auffällig tief in ihre Gesichter gezogen hatten, hatten müßig herumgestanden. Eine Frau und ein Mann. Eine Frau mit hellblonden Haaren und ein Mann mit schwarzen Haaren. Der Mann keuchte nun angestrengt.

„Ich weiß, dass Sie jetzt etwas wirklich Dummes tun werden“, äußerte Ranpo gefasst in die unheimliche Stille hinein. „Besteht die Möglichkeit, dass Sie das einfach lassen könnten? Ich bin absolut nicht versessen darauf, verletzt zu werden.“

Die Schritte waren unmittelbar hinter ihm zum Stehen gekommen. Ein kurzer Moment ging vorüber, in dem nichts zu hören war.

„Tut mir leid“, entschuldigte sich die Frau plötzlich, „wir werden auch vorsichtig sein.“

Ranpo kam gerade einmal dazu, innerlich zu seufzen.

Ein Schlag traf ihn auf den Hinterkopf und raubte ihm das Bewusstsein.

 

Auuuuu.

Die Kopfschmerzen verrieten ihm, dass sie nicht vorsichtig genug gewesen waren.

Sehr, sehr gemächlich kam Ranpo wieder zu sich. Seine Augen noch geschlossen haltend, murrte er in Gedanken über den Umstand, an einen Stuhl gefesselt zu sein.

Was für ein Klischee!

Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass er seine Brille noch auf seiner Nase hatte. Wenn sein geliebtes Utensil kaputt gegangen wäre, hätten die was erleben können!

„Zum Glück hatten wir uns über diese bewaffneten Detektive schlau gemacht und die Telefone der Polizei abgehört“, vernahm er eine männliche Stimme nicht weit von ihm. „Sonst wären Frances und ich nicht vor Ort gewesen und dieser Kerl hätte alles sofort aufgedeckt. Nach nur einem Blick auf den Tatort!“

Vorsichtig öffnete Ranpo seine Augen ein wenig und schaute verstohlen zu der Dreiergruppe, die am anderen Ende des Raumes an einem runden Tisch saß und sich mit sorgenvollen Gesichtern unterhielt. Von dem, was er erkennen konnte, war das hier wohl eine alte, verlassene Kaufmannsvilla im europäischen Stil. Der Raum war mit Ausnahme des Tisches und den wenigen Stühlen praktisch unmöbliert, die florale Tapete blätterte von den Wänden ab und der hölzerne Fußboden hatte definitiv schon bessere Zeiten gesehen. Nur wenig Licht fiel in das Zimmer, vermutlich waren die Vorhänge hinter ihm zu einem Teil zugezogen, damit niemand in das Haus hineinsehen konnte. War er in Yamate? In diesem Stadtteil gab es einige leerstehende Villen, die sich so abgelegen befanden, dass man keine neugierigen Nachbarn befürchten musste.

„Und was machen wir jetzt mit ihm?“, sagte Frances; die blonde Frau, die Schuld an seinen Kopfschmerzen hatte. „Wir können ihn nicht laufen lassen.“

Die dunkelhaarige, ältere Dame in der Mitte faltete in sich gekehrt ihre Hände zusammen.

„Die Zeit läuft uns davon. Noah schlich in der Straße herum, die zu dieser Detektei führt. Wäre ich nicht in das Café geflüchtet, hätte er mich entdeckt.“

„Sie würden sich doch nicht an diese Detektei wenden, oder?“, hakte der einzige Mann der drei nach.

„Kann ich mir nicht vorstellen“, widersprach Frances. „Aber wenn wir von den Detektiven erfahren haben, dann sie sicher auch.“

Die ältere Dame in ihrer Mitte seufzte bekümmert. „Wir müssen uns rasch etwas einfallen lassen.“

Als die drei schweigend nachdachten, hüpfte plötzlich ein Mädchen – oder eher eine junge Frau? War auch egal – in Ranpos Blickfeld.

„Du bist ja aufgewacht!“, rief sie fröhlich aus. „Da bin ich froh! Du hast so lange geschlafen, bist du durstig?“

Der Meisterdetektiv blinzelte sie an.

Die passt nicht ins Klischee.

„Ich habe Hunger“, antwortete er trocken.

„Ja?“ Die junge Frau mit den strohblonden Zöpfen schien begeistert von seiner Antwort zu sein und strahlte ihn noch erfreuter an. „Das Essen in diesem Land ist so lecker, findest du nicht? Ich hatte erst Angst, weil wir sooo weit weg von zu Hause sind, aber meine Tante sagte mir, dass hier ganz viele neue, spannende Dinge zu sehen und zu erleben sein werden und jetzt bin ich so unglaublich froh, dass wir hergekommen sind!“

„Aha.“ Ranpo erwiderte ihr Lächeln, als er beobachtete, wie sie aus einer Tasche ein Onigirireisbällchen holte. „Kannst du mich losmachen? Sonst kann ich nichts essen.“

„Oh, das ist wahr!“

„Eleanor, nicht.“

Ranpo wunderte sich ganz und gar nicht über die vertraue Stimme, die erklang. Aus seinem toten Winkel heraus trat Kyoka vor ihn.

„Frances und Felix haben gesagt, wir dürfen ihn auf keinen Fall losmachen.“

Enttäuscht legte Eleanor den Kopf schief. „Hmm … aber er hat doch Hunger … oh! Ich weiß! Ich halte den Reisball für dich, dann musst du dir auch nicht vor dem Essen die Hände waschen. Bist du da nicht froh?“ Sie schälte das Onigiri aus seiner Verpackung und hielt es Ranpo hin, der einen großen Happen davon abbiss. Während er kaute, musterte er Kyoka. Sie war unverletzt und sah ihn an wie einen Fremden. Genau so hatte er es erwartet.

Die drei Erwachsenen waren derweil aufgestanden und hatten sich zu ihnen gesellt.

„Kyoko, geh doch bitte zu deinen Geschwistern nach nebenan“, forderte die dunkelhaarige Dame sie freundlich auf und das Mädchen kam dem umgehend nach.

„Kontrolliert ihr sie mit euren Hypnosehäschen?“, fragte Ranpo, nachdem er den Reis hinuntergeschluckt hatte.

Frances prustete daraufhin los, während Felix einen Schmollmund zog.

„Hypnosehäschen! Das ist doch ein herrlicher Name für deine Fähigkeit!“, feixte sie.

„Ist es nicht!“, gab er beleidigt zurück. „Und außerdem kontrollieren wir überhaupt niemanden.“

„Mmm-hmm“, machte Ranpo unbeeindruckt, „und dass meine Kollegin mich nicht mehr erkennt und auf einen anderen Namen hört, hat bestimmt ganz natürliche Gründe.“

„Deine Kollegin?“ Frances zuckte zusammen und auch die beiden anderen wirkten mit einem Mal durcheinander. „Das Mädchen gehört zum Büro der bewaffneten Detektive?“

„Wie ich es mir dachte: Kyokas Entführung war ein Zufall, habe ich Recht?“

„Deine Recherchen über diese Detektei sind aber arg lückenhaft!“, polterte Frances in Richtung ihres Kameraden, der empört die Arme vor der Brust kreuzte.

„In der kurzen Zeit war eben mehr nicht möglich! Und du hast doch in ihren Erinnerungen gelesen!“

„Ja, aber du weißt, dass das nur begrenzt geht!“

„Streitet euch nicht“, sagte die Dame in ihrer Mitte sanft.

„Entschuldige, Tante“, entgegneten beide betreten.

Die „Tante“ richtete ihren bekümmerten Blick auf Ranpo. „Unser Problem wird dringlicher, mit jeder Sekunde, die verstreicht. Wir müssen Charlie bald finden. Wir gehen noch einmal nach Suribachi. Er muss dort irgendwo sein, es zieht ihn immer zu solchen Orten.“ Weiter Ranpo fixierend, der ihren Blick wachsam erwiderte, umfasste sie mit einer Hand das Kreuz um ihren Hals. „Frances, hast du Trauer in seinem Herzen gesehen?“

Die Angesprochene stutzte. „Ja, schon ... aber ist das eine gute Idee?“

„Wir haben das noch nie bei einem Erwachsenen versucht“, pflichtete Felix ihr skeptisch bei.

„Uns bleibt nichts anderes übrig. Wenn jemand Charlie vor uns findet, ist er verloren. Vielleicht hat der liebe Gott uns diesen Detektiv geschickt, damit er uns hilft. Eleanor, wende bitte deine Fähigkeit an.“

„Ja, gerne!“

„Moooment! Stoppstoppstopp!“, warf Ranpo nicht mehr so gelassen wie zuvor ein, doch es war bereits zu spät.

Eleanor streckte ihre Hände aus und berührte mit ihren Fingerspitzen Ranpos Schläfen. Mit ihren großen, blauen Augen blickte sie direkt in seine und er konnte seinen Blick nicht mehr abwenden.

„Fähigkeit: Einfach froh sein!“

 

Dazai hechtete dem Mädchen durch die wahrscheinlich dunkelste und längste Gasse in ganz Suribachi hinterher. Anscheinend hatte es hier vor nicht allzu langer Zeit gebrannt und die kläglichen Reste der verschmorten Häuserruinen standen allesamt leer. Er schloss zu der Flüchtigen auf, streckte seine rechte Hand nach ihr aus und bekam sie an einem Arm zu fassen. Abrupt kamen sie zum Stehen.

Dazai stutzte, als er die ihm bekannte Sensation in seinen Fingern spürte. Das Gefühl von elektrostatischer Entladung, das von der Stelle der Berührung durch seinen gesamten Körper rauschte.

Das Gefühl, das er jedes Mal hatte, wenn er eine Fähigkeit aufhob.

Er kam nicht einmal dazu, sich weiter darüber zu wundern, denn plötzlich riss das Mädchen die Augen weit auf und begann zu schreien. Ein Schreien, das so von Leid und Pein geprägt war, dass es durch Mark und Bein ging. Sie hörte gar nicht mehr auf. Überfordert ließ er sie los.

Hatte sie Schmerzen? Nein, das klang nach seelischen Qualen. Als ihre Stimme von dem lauten Kreischen brüchig wurde, fasste sie sich an ihren Kopf und fing an zu weinen. Ihr Gesichtsausdruck wechselte zwischen Schmerz, Fassungslosigkeit, Schock und Panik hin und her.

Was in aller Welt hatte er da neutralisiert, dass es zu dieser Reaktion geführt hatte? Er musste sie irgendwie beruhigen, aber wie?

Ich sagte doch, das ist eher ein Fall für dich, Odasaku. Was lässt du mich mit solchen Problemen allein?

„Hab keine Angst“, sagte Dazai schließlich ruhig und wollte ihr behutsam eine Hand auf den Kopf legen, doch als das Mädchen dies realisierte, schrie sie von neuem und rannte wie der Wind los – weiter in die Gasse hinein.

„Na toll“, seufzte der Detektiv und nahm wieder die Verfolgung auf.

Die verlassene Straße endete in einer Sackgasse, in der sich die Trümmer von eingefallenen Häusern türmten. Die Ruinen zeugten von dem Brand, der hier gewütet hatte und dadurch wohl einige höher gebaute Konstruktionen zu Fall gebracht hatte. Es fiel kaum Licht in diese hinterste Ecke des Slums.

Dazai blieb stehen.

Das Mädchen hatte sich zu einem Jungen geflüchtet, der inmitten dieser Berge von Trümmern stand. Er war vielleicht ein bisschen jünger als Atsushi, aber älter als das Mädchen, das sich in seine Arme gerettet hatte. Sie kannte ihn also. Was allerdings viel auffälliger und gravierender an diesem Jungen war, war sein Erscheinungsbild. Seine dunkle Kleidung war über und über mit altem Blut besudelt und in seinen braunen Locken klebte ebenso getrocknetes Blut. Zwei offensichtlich leere Schwertscheiden baumelten an einem Gürtel um seine Mitte.

Wenn ich da mal nicht auf etwas Interessantes gestoßen bin.

„Was ist passiert, Polly?“, fragte der Junge das wie Espenlaub zitternde Mädchen in seinen Armen sanft. Jedoch war sie so außer sich, dass sie nicht antworten konnte.

Der Junge hob den Kopf und obwohl er gerade noch so sanft gesprochen hatte, wurden seine Augen schlagartig eiskalt und finster, als er Dazai erblickte; als wäre bei ihm ein Schalter umgelegt worden.

„Du! Hast du ihr etwas angetan?!“

„Ich kann mir vorstellen, dass das gerade nicht vorteilhaft für meine Wenigkeit aussieht“, erwiderte Dazai ruhig, „aber ich habe dem Mädchen kein Haar gekrümmt.“

„Lügner!“, schrie der Junge ihm entgegen. „Du wolltest ihr wehtun! Dafür ...“ Er atmete auf einmal schneller und schwerer. „Dafür wirst du büßen!“

Alles, was Dazai nach dieser Drohung hatte sehen können, war wie er das Mädchen von sich gestoßen und in eine der kleinen Taschen an seinem Gürtel gegriffen hatte. Dann war er verschwunden. Der Detektiv drehte seinen Kopf nach hinten und fand den Jungen nun plötzlich dort hinter sich stehen. Dessen eiskalter Blick war einer durch und durch verstörten Miene gewichen. Mit nicht begreifenden Augen starrte er auf Dazai, der ihn irritiert musterte.

Was …? Was ist mit ihm?

Ein elektrostatisches Gefühl. Er musste den Jungen berührt haben. Bewegte er sich etwa so schnell, dass nicht einmal er ihn hatte sehen können?

Was ist gerade passier-

Dazais Gedankengang wurde jäh und qualvoll unterbrochen. Scheinbar überall in seinem Körper begann es plötzlich zu schmerzen. Er sah an sich herunter und entdeckte den Griff eines kleinen Cuttermessers in seinem Bauch. Er fühlte, wie Blut aus der Einstichstelle austrat und in seine Verbände, sein Hemd und sogar in seine Weste sickerte. Hatte der Junge ihm diese Klinge in den Körper gerammt?

Das ergibt keinen Sinn. Ein einzelnes, kleines Teppichmesser kann nicht solche ausstrahlenden Schmerzen verursachen.

Aus dem Blauen heraus fühlte er einen stechenden Schmerz in seiner Brust. Dazai versuchte, Luft zu holen, doch kaum ein Atemzug schaffte es bis in seine brennende Lunge.

„Okay …“, röchelte er dennoch gefasst in Richtung des Jungen, „ich bin … ratlos … was geschieht … hier?“

Der Junge starrte ihn lediglich mit zu Tode erschrockener Mimik an.

„Ich hätte … vorher erwähnen … sollen … dass ich … kein Fan … von Schmerzen-aah!“

Als hätte ihm jemand seine Sehnen durchtrennt, fuhr ein stechender Schmerz erst durch sein rechtes Bein, dann durch sein linkes. Plötzlich waren seine Beine nicht mehr in der Lage ihn zu halten und Dazai stürzte zu Boden. Er schaffte es gerade noch, sich mit seinen Händen abzustützen, um nicht mit dem Kopf auf dem harten Grund aufzuschlagen. Blut sammelte sich in seinem Mund und er musste elendig husten.

Wie das Blut aus Dazais Mund auf die Erde tropfte, erwachte der Junge aus seiner Schockstarre und mit Tränen in den Augen lief er verängstigt davon.

Vor seinen Augen verschwamm alles, aber Dazai konnte noch erkennen, wie das Mädchen ebenso weglief.

„Das ist … aber ... wirklich … un … höf … lich ...“

Er lächelte gequält, bevor seine Augen sich schlossen und er regungslos an Ort und Stelle liegen blieb.

Like winter came and put a freeze on my heart

Like winter came and put a freeze on my heart“

 

Placebo, „A million little pieces“

 

Naomi wusste, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, als das Handy des Chefs klingelte. Mit unruhigem Blick beobachtete sie, wie er den Anruf stirnrunzelnd entgegennahm und seine Miene plötzlich einfror.

Etwas sehr Schlimmes musste vorgefallen sein, wenn ihr Chef, der sonst nie eine Miene verzog, der, egal vor welcher Herausforderung sie gerade standen oder ob gar das Schicksal der Welt auf dem Spiel stand, immer wie ein Fels in der Brandung eine stoische Miene behielt, nun so erschrocken dreinblickte.

„Tiere?“, war alles, was er sagte, nachdem Haruno ihren Redeschwall (sie schrie so laut und so aufgebracht durch das Telefon, dass Naomi ihre Stimme hatte erkennen können) beendet hatte.

„Ich schicke sofort Kunikida und Yosano vorbei.“ Noch bevor er aufgelegt hatte, hatte Naomi auf ihrem Telefon die Kurzwahltaste für Kunikidas Handynummer gewählt.

Sie hielt ihm den Hörer hin. „Was ist passiert?“

Fukuzawa starrte den ihm entgegengereckten Gegenstand einen Augenblick lang an (vielmehr sah er durch ihn hindurch und Naomi musste ängstlich schlucken. Was war so schrecklich, dass es jemanden wie den Chef derart fassungslos machte?), ehe er ihn in die Hand nahm und sofort zu sprechen begann, als am anderen Ende der Leitung abgehoben wurde.

„Kunikida, fahr mit Yosano zum Gerichtsgebäude. Ranpo ist verschwunden.“

„WAAAAS?!“

Naomi hörte den Kollegen aus dem Hörer brüllen.

„Als Haruno dort ankam, hat sie alle am Tatort Anwesenden bewusstlos vorgefunden. Kommissar Minoura berichtete von aus dem Nichts aufgetauchten Tieren mit leuchtenden Augen. Außer Ranpo wird niemand vermisst. Nur sein Handy lag noch am Tatort.“

Obwohl sie selbst schockiert über diese Nachricht war, entging der Schülerin nicht das minimal wahrnehmbare Beben in der Stimme ihres Vorgesetzten. Kein Wunder, dass er so durcheinander war. Wenn Ranpo, ausgerechnet Ranpo, vermisst wurde. Ihr Bruder und sie waren noch nicht so lange Teil der Detektei wie beispielsweise Yosano oder Kunikida, aber einer Sache waren sie sich recht zügig bewusst geworden:

Ranpo und der Chef hatten ein besonderes Verhältnis.

(In eine ihrer Unterhaltungen mit ihrem Bruder war auch einmal das Wort „Lieblingskind“ gefallen, aber Tanizaki hatte sie ermahnt, das niemals laut zu sagen. Es wäre dem Chef mit Sicherheit unangenehm.)

„Habt ihr etwas über Lucys Verschwinden herausfinden können?“, fragte Fukuzawa und wirkte noch resignierter, als Kunikida verneinte. „Gebt mir Bescheid, sobald ihr etwas über Ranpos Verschwinden in Erfahrung bringen konntet.“ Er legte auf und hielt den Hörer noch einige Sekunden wie erstarrt in der Hand.

„Soll ich die anderen anrufen?“, schlug Naomi vor, doch der Ältere deutete ein Kopfschütteln an.

„Ich will erst abwarten, ob Dazai mit seinem Plan, Atsushi als Köder zu benutzen, Erfolg hat.“

Naomi nickte. Sie war froh, dass ihr Bruder sie heimlich angerufen hatte, um ihr dies mitzuteilen. Dazais Plan schien doch nicht ganz ungefährlich zu sein. Wenn die Entführer sogar Ranpo verschleppen konnten …

 

„Ich versteh das nicht. Ich versteh das nicht!“ Atsushi keuchte panisch, während er immer wieder Dazais Nummer wählte und immer wieder nur das automatische Band zu hören bekam.

„Vielleicht ist sein Akku leer? Diese Dinger funktionieren ja nicht ohne Strom“, mutmaßte Kenji.

„Ausgerechnet jetzt?“ Dazai war ein Chaot, ja, definitiv, ohne jeglichen Zweifel, aber dass ihm das passieren würde, hielt er für eher unwahrscheinlich. Besonders in einer derart heiklen Situation. Außerdem sagte das beklemmende Gefühl in Atsushis Brust ihm, dass ein anderer Grund wahrscheinlicher war. War Dazai vielleicht auf die Entführer getroffen?

„Ich weiß nicht, wo er hinwollte, aber wir müssen ihn finden!“, sagte er mit plötzlicher Entschlossenheit zu Kenji. Hier herumzustehen und der Panik zu verfallen, brachte sie nicht weiter. Es brachte sie kein Stück näher zu Kyoka und Lucy.

„Atsushi! Kenji!“ Die beiden jungen Detektive horchten auf, als Tanizaki zu ihnen spurtete. Er schloss zu ihnen auf und schnappte erst einmal erschöpft nach Luft. „Habt ihr Dazai gesehen?“

Beide schüttelten den Kopf.

„Kunikida hat mich angerufen und einen Koller bekommen, weil er Dazai nicht erreichen kann. Ich musste daher meine Observierung abbrechen. Jetzt ist auch noch Ranpo verschwunden!“

„Ranpo auch noch?!“, entfuhr es Atsushi entgeistert. Ranpo passte nicht in das Muster. Er war kein Kind, er sah nicht mitleiderregend aus und er …

Moment. Streich den ersten Punkt, korrigierte der Silberhaarige sich selbst.

„Tanizaki, ich konnte Dazai bisher auch nicht erreichen, aber ich … ich habe Kyoka und Lucy getroffen.“

Der Kollege sah ihn entsetzt an.

 

Die Sonne war untergegangen und die Nacht über Yokohama eingebrochen, als Atsushi in dem kleinen, abrissreifen Haus der Waisen saß, die sie engagiert hatten. Die Kinder hockten in einer Ecke des Hauses zusammengedrängt und obwohl Yosano sie schon mehrfach aufgefordert hatte, zu schlafen, lauschten sie gespannt dem, was die anderen zu berichten hatten. Atsushi hatte den anderen Detektiven alles vorgetragen, was sich bei der Begegnung zwischen ihm und den beiden vermissten Freundinnen abgespielt hatte. Auch Tanizaki und Kenji hatten all ihre Informationen gegenüber Kunikida, Yosano und dem Chef noch einmal wiederholt.

Dem Chef.

Atsushis Blick landete immer wieder auf Letzterem. Es war nicht nur ungewöhnlich, dass Fukuzawa persönlich mitgekommen war, er wirkte auch deutlich angespannt. Aber … das war gar nicht so verwunderlich. Ranpo war schließlich verschwunden. Und irgendetwas war da zwischen dem vorlauten Meisterdetektiv und dem stillen, eisernen Chef, das Atsushi nicht genau benennen konnte. Vielleicht war es ein ähnliches Band wie das zwischen ihm und Dazai.

„Durch diese Geschichte mit den Tieren können wir demnach davon ausgehen, dass dieselben Leute, die Kyoka entführt haben, auch Ranpo mitgenommen haben.“ Kunikidas Bericht rückte wieder in den Fokus des Jungen. „Mehr konnten wir allerdings nicht herausfinden.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ranpo auf so einen Trick hereingefallen ist“, widersprach Yosano. „Es ist wahrscheinlicher, dass sie ihn überwältigt haben.“ Sie stöhnte frustriert. „Das kommt davon, dass er nie auch nur eine einzige Kampfkunst erlernen wollte!“

„Dazai würde ihnen doch auch nicht so einfach in die Falle gehen, oder?“, fragte Kenji.

„Bei diesem Vogel ist alles möglich“, schimpfte Kunikida. „Vielleicht kam ihm auch spontan die Idee, freiwillig mit ihnen mitzugehen.“

„Hat Katai sein Mobiltelefon orten können?“, hakte Fukuzawa nach und Kunikida schüttelte den Kopf.

„Nein. Er vermutet, das Handy wurde zerstört.“

„Kyokas, Lucys und Ranpos wurden einfach weggeworfen“, wandte Yosano ein. „Das passt nicht ins Bild.“

„Tanizaki“, forderte der Brillenträger ihn auf, „wiederhole noch einmal genau, was du mitangehört hast.“

Der Angesprochene nickte. „Die Frau, die von allen Kindern 'Tante' genannt wird, sagte zu der Frau mit den hellblonden Haaren, die anscheinend 'Frances' heißt, dass sie heute Nacht weitersuchen müssen, da die Detektive hier aufgetaucht seien. Außerdem sei jemand namens 'Charlie' wohl an mehreren Stellen in Suribachi gesichtet worden und ihr 'Geschenk Gottes' soll sich dort diese Nacht einmal umsehen.“ Er machte eine kurze Pause, in der Hoffnung, dass seine Erzählung beim zweiten Mal Sinn ergeben würde, aber er verstand immer noch nicht völlig, was genau er da mitangehört hatte. „Da wir wissen, dass sie jemanden suchen, muss es sich dabei um diesen 'Charlie' handeln, oder?“

Kunikida knurrte missmutig. „Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, dass sie Ranpo mundtot machen wollten, weil er dabei war, ihnen auf die Schliche zu kommen.“

Atsushi zog scharf die Luft ein. „Du meinst, die Entführer sind auch die Verantwortlichen hinter dieser Mordserie??“

„Es spricht viel dafür.“ Yosano seufzte, als sie sah, dass die Waisen sie ängstlich anblickten. „Ich habe doch gesagt, ihr sollt schlafen.“

„A-aber“, Atsushi traute sich kaum, seinen Gedanken auszusprechen, „wenn sie die Mörder sind und Ranpo zum Schweigen bringen wollten ...“

„Alles, was wir im Moment sicher wissen“, ergriff Fukuzawa plötzlich das Wort, „ist, dass diese Leute heute Nacht wieder in dieses Viertel kommen werden. Wir müssen daher alles daran setzen, sie zu finden. Wir werden uns aufteilen und jeden Winkel von Suribachi durchkämen, bis wir unsere Kameraden und die entführten Kinder wiedergefunden haben. Sie haben einen Befähigten unter sich, der in der Lage ist, mit diesen Tieren jemandem das Bewusstsein zu rauben. Seid daher besonders vorsichtig und unternehmt nichts auf eigene Faust.“

Ernst und einträchtig nickten die Detektive sich zu.

 

Yosano musste schmunzeln, als ein Kerl, der ihnen auf der Straße entgegenkam und offensichtlich darauf gehofft hatte, sie auszurauben, sofort die Beine in die Hände nahm und davon preschte, als der Chef ihn nur anblickte. Der Kerl hatte aber auch einen wahrlich schlechten Moment erwischt, denn Fukuzawa blickte noch grimmiger als gewöhnlich drein. War das die Sorge um Ranpo? Die Ärztin sah den Mann neben sich aus dem Augenwinkel an und fühlte sich bestätigt. So angespannt hatte sie ihn noch nie erlebt.

In Zweiergruppen zogen sie in dieser Nacht durch das düstere Suribachi. Aus dem, was Tanizaki belauscht hatte, war nicht zu folgern, wo genau sie nach den Entführern suchen sollten und dieses Viertel war groß, gigantisch groß – und ihnen fehlten drei ihrer Leute. Ohne Ranpos Ultra Deduktion stocherten sie quasi im Dunkeln. Kunikida hatte immerhin auf die Schnelle einen Plan erarbeitet, wie sie ihre Suche möglichst strategisch angehen konnten. In ihren drei Gruppen suchten sie innerhalb eines Radius, dann gingen sie zum nächsten Abschnitt über (Kunikidas Erklärung war durchzogen gewesen von wüsten Beschimpfungen an Dazais Person, weil dieser doch sonst für alle taktischen Fragen zuständig war und nun, da es drauf ankam, nirgends zu finden war!). Die Höhenunterschiede und versteckten Winkel des Viertels machten alles nur noch schwieriger. Wirklich, es wunderte Yosano kein Stück, dass sich gesuchte Verbrecher und andere so gerne hier vor ihren Verfolgern verbargen. Da war ja die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen eine machbarere Angelegenheit.

Plötzlich hielt Fukuzawa inne. Er gab Yosano ein Zeichen, stehen zu bleiben und richtete seinen Blick in eine besonders dunkle Gasse. Mit einem weiteren Zeichen signalisierte er ihr, ihm zu folgen und hinter ihm zu bleiben. In einer weniger nervenaufreibenden Situation hätte sie sicher mehr darüber nachgedacht, wie interessant es war, dass sie in der Lage war, ihren Vorgesetzten ohne ein einziges Wort zu verstehen. Er, Ranpo und sie waren schon verdammt lange ein eingespieltes Team. Und Fukuzawa würde alles für ihre Sicherheit geben, auch sein eigenes Leben. So weit würde sie es aber niemals kommen lassen, das hatte Yosano sich geschworen. Dicht hinter ihm huschte sie in die finstere Gasse.

„Aha“, hörte die Ärztin nach wenigen Metern ein ihr erschreckend vertrautes Gemurmel, „er war hier, aber wohin ist er dann?“

Fukuzawa blieb so plötzlich stehen, dass Yosano beinahe in ihn hineinkrachte. Geschwind machte sie einen Schritt zur Seite und erstarrte wie ihr Chef, als sie sah, wer da nur wenige Meter entfernt mit dem Rücken zu ihnen stand.

„Ranpo?“, raunte sie verwirrt und schreckte damit den kindischen Kollegen aus seinem Grübeln.

Verdattert wirbelte dieser herum. Seine Brille auf der Nase, blinzelte er sie zuerst fragend, dann entsetzt an.

„Wo hast du gesteckt? Wir haben uns Sorgen gemacht!“, sagte Yosano ihm vorwurfsvoll und zu ihrem eigenen Unverständnis wurde Ranpos Blick dadurch zu einem voller Argwohn. Er machte einen hastigen Schritt zurück.

„Ihr gehört zu diesen bewaffneten Detektiven, nicht wahr?“

Ein Satz wie ein Schlag ins Gesicht.

Wie betäubt starrte die Ärztin erst zu ihrem dunkelhaarigen Kollegen, dann zu ihrem Chef, der genauso perplex wirkte.

„Was soll diese Frage, Ranpo?“, äußerte Fukuzawa bemüht besonnen.

„Ran-po?“ Der Schwarzhaarige legte den Kopf schief. „Häh? Ich weiß nicht, wer das sein soll, aber wenn ihr zu den bewaffneten Detektiven gehört, dann solltet ihr sofort verschwinden!“

Wenn die Aussage von eben ein Schlag ins Gesicht war, so war dies ein Schwertstich durchs Herz. Für den Hauch eines Augenblicks hatte Yosano sehen können, wie getroffen der Chef von diesem Satz war, von dieser ganzen Situation. Ranpo erkannte sie nicht mehr. Er hatte keine Ahnung, wer sie waren. Was auch immer Kyoka und Lucy widerfahren war, hatte auch ihn befallen.

„Du erkennst uns nicht mehr?“, fragte Yosano mit einer aufsteigenden Wut auf sich selbst. Wenn sie doch nur mit ihm zum Tatort gefahren wäre, dann …

Der Blick des eigentlichen Kollegen wurde verkniffener. „Ich wurde vor euren billigen Tricks gewarnt und bin sowieso viel zu schlau, um auf irgendwen reinzufallen. Also lasst es besser und geht.“

Immerhin war sein Ego noch das Alte.

„Wenn du nicht Ranpo bist“, fragte Fukuzawa, sämtliche Emotion wieder aus seiner Mimik verbannend, „wer bist du dann?“

„Was interessiert dich das, alter Mann?“

„Nennen wir es Neugierde.“

Sichtlich langsam die Geduld verlierend, schüttelte Ranpo trotzig seinen Kopf. „Ich soll nicht mit euch reden und ich WERDE nicht mit euch reden!“

„Verrätst du uns, wer dir verboten hat, mit uns zu sprechen?“

„Argh! NEIN! Wie schwer von Begriff kann man denn sein?? Und jetzt husch, husch! Macht, dass ihr wegkommt! Ich habe zu tun!“ Er wedelte mit den Händen und wurde zunehmend missmutiger, als dies die beiden Detektive herzlich wenig beeindruckte.

„So kommen wir nicht weiter.“ Fukuzawa schloss kurz die Augen und sah zu Yosano, nachdem er sie wieder geöffnet hatte. „Wir nehmen ihn mit.“

Als er dies hörte, zuckte Ranpo zusammen. „Was?! Nein! Das geht nicht! Ich muss doch … argh! Was mache ich jetzt … ah!“ Er griff mit einer Hand hinter seinen Rücken und zog unter seinem Cape eine Pistole hervor. „Moment, wie hat Frances gesagt, wie das funktioniert …? Ah, so!“ Er entsicherte die Waffe und richtete sie zu deren Entsetzen auf Fukuzawa und Yosano.

Ranpo mit einer Waffe? Alles daran war falsch, einfach nur falsch. Yosano konnte sich nicht erinnern, ihren Chef je schon einmal so erschüttert gesehen zu haben.

„Du willst uns erschießen?“ Fukuzawas Tonfall rang mehr und mehr um Fassung und ließ dennoch nicht kampflos Emotionen zu.

„Ich WILL natürlich nicht“, entgegnete Ranpo. „Aber wenn ihr mich entführen wollt, werde ich mich wehren müssen!“

Fukuzawa hatte noch nie eine Schusswaffe abgefeuert, aber es war ihm ein Leichtes zu erkennen, ob jemand mit einer Pistole umgehen konnte oder nicht. Ranpo hatte immense Schwierigkeiten, den Revolver gerade zu halten und er wusste augenscheinlich selber nicht, wohin er eigentlich zielen sollte.

„Du bist nicht im Kampf ausgebildet“, sagte der Gründer der Detektei seinem langjährigsten Schützling. „Daher ist es ein verständlicher Fehler, dass du nicht auf das achtest, was hinter dir geschieht.“

„Huh?“ Verdutzt blickte Ranpo hinter sich und bevor er sich versah, war Fukuzawa nach vorne gestürmt und hatte ihm einen Schlag in den Bauch versetzt, der den Schwarzhaarigen umgehend bewusstlos zusammenklappen ließ.

Behutsam fing Fukuzawa ihn auf und nahm ihm den Revolver ab. Für einen langen Moment verharrten sie in dieser Pose.

Der Anblick brach Yosanos Herz.

 

„Lass mich runter! Lass mich runter! Hörst du schlecht, alter Mann?! LASS. MICH. RUNTER!!“

Auf halbem Weg zur Detektei war Ranpo, der von Fukuzawa über der Schulter getragen wurde, wieder aufgewacht. Obwohl er ihn seit seinem Erwachen mit Fußtritten und Faustschlägen malträtierte, setzte der Chef ungerührt seinen Weg fort.

„Kann das eine Gehirnwäsche sein?“ Atsushi, der mit Tanizaki und Kenji hinter ihnen hertrottete, wunderte sich, wie der Chef das aushielt. Der Morgen brach an, aber nach wie vor war der Himmel so wolkenverhangen, dass man nicht vom ersten Licht des Tages sprechen konnte. Das Grau um sie herum passte zu ihren niedergeschlagenen, entmutigten Gesichtern.

„Das ist unwahrscheinlich“, antwortete Fukuzawa. „Alle mir bekannten Methoden zur Gehirnwäsche sind physisch stark anspruchsvoll. Jemand wie Ranpo würde so eine Prozedur nicht überleben.“

„Das heißt ...“ Kunikida, der vorausging, drehte den Kopf zu ihnen um und offenbarte ihnen so seine Sorgenfalten. „Eine Fähigkeit kontrolliert Ranpo und Kyoka. Allerdings berichtete keiner der Betroffenen vom Tatort über einen Kontrollverlust. Sie wurden einfach nur ohnmächtig.“

„Wenn es eine andere Fähigkeit ist, dann macht das schon zwei Befähigte auf Seiten unserer Feinde“, schlussfolgerte Yosano und öffnete die Tür zu dem Gebäude, in dem sich die Detektei befand.

„Aber ...“ Tanizaki musterte besorgt den zeternden und strampelnden Ranpo, „wenn sie unter dem Einfluss einer Fähigkeit stehen, brauchen wir dann nicht Dazai?“

Kunikida kniff sich angestrengt zwischen die Augen, während sie auf den Fahrstuhl warteten. Dann trat er an Ranpo heran. „Ranpo, ich weiß, du willst nicht mit uns reden. Aber kannst du dich vielleicht daran erinnern, in den letzten paar Stunden einem undurchsichtigen Wirrkopf namens Dazai begegnet zu sein?“

Abrupt stellte der Angesprochene seine Schläge und Fußtritte ein. Mit angehaltenem Atem warteten die Detektive auf seine Antwort.

„WAS SOLL DIESER UNSINN??“, plärrte Ranpo plötzlich drauf los und kickte und hämmerte noch stärker gegen Fukuzawa. „WIESO NENNT IHR MICH ANDAUERND RANPO?? WER SOLL DAS SEIN?? UND EINEN DAZAI KENNE ICH AUCH NICHT!“

Bitter enttäuscht sanken alle – mit Ausnahme des Chefs - ein gutes Stück in sich zusammen.

Sie kamen im Büro an, wo Naomi und Haruno übernachtet hatten und von Atsushi per Telefon auf den neusten Stand gebracht worden waren. Erschüttert beobachteten sie, wie Ranpo weiter auf Fukuzawa eindrosch und forderte, heruntergelassen zu werden.

„Wie sollen wir dich nennen?“, sprach Fukuzawa vollkommen ruhig, als würde er nicht gerade als Sandsack missbraucht. „Verrate uns, wie dein Name ist, dann nennen wir dich nicht mehr Ranpo.“

Die Tritte und Schläge ebbten erneut ab. „Hmm ...“, machte der Angesprochene nachdenklich. „Ich denke, meinen Namen kann ich euch wohl verraten. Ich bin der großartigste Meisterdetektiv der Welt, das Geschenk des Himmels, der klügste Mensch, der je auf dieser Erde wandelte! Aber ihr dürft mich Taro nennen.“

Atsushi musste gequält schmunzeln. Ranpo blieb eben Ranpo … oder?

„Taro?“, hakte Fukuzawa nach. „Wer hat dir diesen Namen gegeben?“

„Wer mir diesen Namen gegeben hat?“ Der Schwarzhaarige zog eine missmutige und trotzige Miene. „Was für eine dumme Frage ist denn das? Den habe ich schon mein ganzes Leben lang.“

„So war es bei Kyoka und Lucy auch“, warf Atsushi ein, „sie hörten wie selbstverständlich auf andere Namen.“

„In Ordnung … Taro“, fuhr Fukuzawa fort, „wenn du versprichst, dich ruhig zu verhalten und zu kooperieren, werde ich dich herunterlassen.“

Taro schmollte einen Augenblick lang schweigend, ehe er zustimmte. „Okay, so machen wir es.“

Der Chef atmete ungewöhnlich laut aus, bevor er den Meisterdetektiv auf dem Boden absetzte. Sein schwerer Seufzer überraschte jedoch niemanden der Anwesenden. Keiner von ihnen glaubte, dass diese Angelegenheit spurlos an ihm vorbeiging.

Kaum stand Taro jedoch mit beiden Füßen auf der Erde, da preschte er nach vorne und biss Fukuzawa in die Hand. Von dieser Attacke kalt erwischt, schubste der Silberhaarige seinen Angreifer instinktiv und kraftvoll mit seiner anderen Hand von sich, sodass der Jüngere zurückgeschleudert wurde und mit dem Kopf hart gegen seinen eigenen Schreibtisch knallte. Durch die Wucht des Aufpralls flog seine Brille von seiner Nase und landete mit einem klirrenden Geräusch auf dem Fußboden.

Wie paralysiert starrten die Detektive hilflos auf die Szene, die sich vor ihnen abgespielt hatte. Fukuzawa starrte nun mit offenem Mund und entgeistertem Gesichtsausdruck auf den am Boden sitzenden jungen Mann, der am ganzen Körper zitterte und sich eine Hand gegen den Hinterkopf hielt.

„Verzeih mir, das wollte ich nicht.“ Fukuzawa machte einen ungewohnt unsicheren Schritt auf ihn zu, was Taro jedoch ängstlich und eingeschüchtert japsen ließ. Mit geweiteten, tränennassen Augen blickte der Schwarzhaarige zu ihm hinauf. Es war schwer zu leugnen, was nun in ihm vorging. Aus Taros Trotz gegen Fukuzawa war nackte Angst vor ihm geworden. Verunsichert blieb der Chef wieder stehen. Das Bild vor ihren Augen ließ Yosano ihren Gedanken aus der vergangenen Nacht korrigieren:

So erschüttert hatte sie ihren Vorgesetzten noch nie erlebt. Erschüttert traf es nicht einmal annähernd. Dass Ranpo dermaßen Angst vor ihm hatte, musste selbst sein Herz brechen.

Den Schock bestmöglich abschüttelnd, schritt die Ärztin zu Fukuzawa. Bevor sie auch nur den Mund aufmachen konnte, richtete er, ohne die Augen von Ranpo zu nehmen, das Wort an sie: „Sieh nach ihm.“

„Taro“, wandte sie sich ihm mit der festesten Stimme zu, die sie in diesem Moment aufbringen konnte, „ich bin Ärztin. Lässt du mich mal sehen, ob du verletzt bist?“

Der Angesprochene erweckte den Eindruck, sich am liebsten vor Furcht in den Schreibtisch verkriechen zu wollen. Plötzlich weiteten sich seine Augen noch mehr und er fasste sich panisch ins Gesicht. Alarmiert musterte Fukuzawa ihn. Was hatte er? Was regte ihn noch weiter au-

Ihre Blicke gingen geradezu gleichzeitig zu der auf dem Boden liegenden Brille. Hastig wollte Taro nach dem Gestell greifen, doch Fukuzawa war schneller. In Windeseile hatte er es vom Boden aufgehoben.

„Nein! Bitte! Bitte gib mir meine Brille wieder! Ich brauche sie! Bitte!“

Das panische Flehen des Jüngeren ließ ihn stutzen. Diese Brille diente nicht als Sehhilfe, wieso also brauchte er sie?

„Bitte! Bitte gib sie mir wieder!“, flehte er von neuem, während der Silberhaarige sich den Gegenstand in seiner Hand betrachtete.

Fukuzawa zog scharf die Luft ein, als eine Welle der Klarheit über ihn hereinbrach. Mit einem Mal war seine Miene wieder gewohnt stoisch. „Du hängst an dieser Brille?“ Seine Stimme war ebenso wieder gefestigter.

Das jammervolle Gesicht des Anderen war ihm Antwort genug.

„Dann lass uns ein Abkommen schließen. Du bekommst sie wieder, wenn du mit uns zusammenarbeitest.“

Taro wimmerte und blickte gepeinigt zu ihm hoch. „Ich kann meine Tante und meine Geschwister nicht in Gefahr bringen“, antwortete er geknickt.

„Das musst du auch nicht“, entgegnete Fukuzawa. „Wir werden ihnen nichts zuleide tun.“

„Ich … ich ...“ Spürbar hin- und hergerissen fixierte der Schwarzhaarige die Brille in der Hand des Älteren. „Ich muss weiter nach Charlie suchen, bevor sie ihn finden. Ich kann das Tantchen und die anderen nicht im Stich lassen. Sonst geraten sie alle in Gefahr.“

„Hör mal, Taro“, mischte sich Kunikida ein, „was auch immer dir erzählt wurde, das Büro der bewaffneten Detektive ist da, um Menschen in Not zu beschützen. Wenn deine … Familie in Gefahr ist, dann können wir dir vielleicht helfen.“

„Ja!“, meldete sich Kenji aus dem Blauen heraus euphorisch zu Wort. „Wir sind sehr gut darin zu helfen! Wenn wir dir irgendwie helfen können, dann lass uns dir bitte helfen! Außerdem sind wir auch wie eine Familie und kümmern uns um einander. Ich verstehe also absolut, wie du dich fühlst!“

Erstaunt blinzelten alle nach Kenjis Ansprache ihn an. Selbst Taro, dem plötzlich ein Grinsen übers Gesicht huschte.

„Hmm …. Du erinnerst mich sehr an eine meiner Schwestern- auu! Auu! Auu!“ Er fasste sich jaulend an den Hinterkopf.

„Yosano“, befahl Fukuzawa lediglich und die Ärztin kniete sich umgehend zu dem Verletzten hinunter, der nun nicht mehr von ihr weg wich. Protestlos ließ er sich von Yosano und Kenji in das Arztzimmer bringen.

„Ob er uns jetzt unterstützen wird?“ Atsushi sah ihm ratlos und sorgenvoll hinterher. „Und wo steckt Dazai? Wenn diese 'Tante' die anderen mit einer Fähigkeit manipuliert, ist es dann überhaupt möglich, dass sie Dazai kontrollieren kann? Aber wenn er nicht dort ist, wo ist er dann? Und wer sind die Leute, vor denen Ranpo seine 'Familie' schützen will?“

Kunikida war dazu übergegangen, sich seine Schläfen zu massieren. „Uns fehlen eindeutig ein paar wichtige Informationen und so langsam bekomme ich ein ungutes Gefühl. Wir brauchen Dazai. Dringend.“

Fallen angels in the night – And everyone is barred from Heaven

Fallen angels in the night

And everyone is barred from Heaven“

 

Placebo, „Julien“

 

Dazai sah erstaunt auf die Treppenstufen unter seinen Fußen.

Nanu?

Irgendetwas stimmte hier nicht.

Wo war er? War er nicht eben noch ganz woanders gewesen?

Aber … wo? Und was hatte er dort gemacht? Wo war er jetzt? Wohin führte diese Treppe? Sie kam ihm merkwürdig bekannt vo-

Schlagartig wurde ihm klar, woher er diese Treppe kannte. Diese von einem schummrigen Licht gerade so erhellten Stufen, die er schon so viele unzählige Male heruntergestiegen war. Es bestand kein Zweifel.

Aber wie konnte das sein? Wie kam er ausgerechnet hierher? Er konnte sich nicht daran erinnern, zu diesem Ort gegangen zu sein. Seine Erinnerung, an alles, was gewesen war, bevor er plötzlich die Treppenstufen unter sich sah, war eigenartig verschwommen. Als wäre sein Gehirn nicht voll einsatzfähig.

Seltsam. Ich bin doch nicht betrunken … oder? Nein. Ich würde nicht herkommen, wenn ich schon derart einen im Tee hätte, dass ich Erinnerungslücken hätte.

Hinter ihm befand sich auch keine Tür, so wie es eigentlich sein sollte. Da war nur eine Wand.

Dazai zuckte mit den Schultern. „Da hilft nur noch eins“, sagte er zu sich selbst, steckte seine Hände in seine Manteltaschen und stieg gemächlich die Stufen hinab.

Der ihm wohlbekannte Weg in die Bar Lupin sah aus wie immer. Schummriges Licht, leicht verqualmte Luft, die Treppenstufen schon in die Jahre gekommen, aber noch wacker ihren Dienst erfüllend. Es war ungewöhnlich ruhig, dachte Dazai, als er um die Ecke bog und wie vom Donner gerührt stehen blieb.

„Oh? Du bist es. Willst du dich nicht setzen?“

Vollkommen verdattert starrte Dazai auf den Rothaarigen, der auf seinem üblichen Barhocker saß und seinen üblichen Drink im Glas schwenkte.

Nur dass nichts daran als „üblich“ oder „normal“ bezeichnet werden konnte, denn der einzige Anwesende in diesem Etablissement war eigentlich schon seit Jahren tot.

„Odasaku?“, hauchte Dazai ungläubig.

„Ist alles in Ordnung bei dir? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

Das tue ich gerade auch, wollte er antworten, ging aber stattdessen dazu über, den anderen Mann zu mustern.

Der monotone, beruhigende Tonfall, der nur scheinbar desinteressierte Gesichtsausdruck … das war leibhaftig Odasaku dort vor ihm auf dem Hocker. Aber … wie konnte das Odasaku sein?

Mit einem Mal kehrte die Erinnerung, an das, was zuvor geschehen war, zu Dazai zurück: der blutverschmierte Junge, das Messer, die Schmerzen, sein eigenes Blut.

Die Miene des Brünetten hellte sich auf. Ein beinahe ekstatisches Grinsen erstrahlte auf seinem Gesicht. Schwungvoll sprang er die letzten Stufen hinab, tänzelte zu dem Hocker neben Odasaku und ließ sich voller Elan darauf nieder.

„Ich habe es geschafft!“, rief er euphorisch aus. „Ist das nicht wundervoll, Odasaku? Ich habe es endlich tatsächlich geschafft!“

Der Rothaarige zuckte leicht mit den Achseln. „Wenn du meinst.“

„Das müssen wir feiern! Nanu? Gibt es hier keinen Barkeeper? Ist hier Selbstbedienung?“ Dazai lachte. „Umso besser! Was für ein fantastischer Ort!“

Dezent amüsiert beobachtete Odasaku, wie Dazai über den Tresen langte und sich von dort eine Flasche Hochprozentiges und ein Glas angelte.

„Das Jenseits ist also eine Bar?“ Der Brünette füllte sein Glas. „Das ist ja, als wäre ich im Himmel gelandet!“ Gierig trank er den Alkohol aus und seufzte wohlig. Freudig lächelnd drehte er sich zu dem Mann neben sich. „Wobei ich ja wohl kaum im Himmel landen würde, denkst du nicht auch, Odasaku?“

„Ich weiß nicht. Was sind die Kriterien, um dort aufgenommen zu werden?“

„Ich vermute, es ist von Vorteil, wenn man kein schändliches Leben gelebt hat.“ Dazai schnippte mit zwei Fingern gegen das Glas und ein klirrender 'Pling'-Ton füllte den Raum. „Du allerdings müsstest doch dort sein, Odasaku. Du bist ein guter Mensch.“

Der Ältere stutzte und nippte an seinem Glas. „Du findest, ich bin ein guter Mensch?“

„Aber ja! Darüber müssen wir erst gar nicht diskutieren. Das steht fest.“

„So? Tut es das?“ Odasaku schaute skeptisch drein und kratzte sich gleichzeitig verlegen am Hinterkopf. „Das ist komisch, so etwas von dir zu hören, Dazai.“

„Überhaupt nicht!“, wehrte dieser ab. „Denn egal, bei was ich schon allem gelogen habe, in dieser Hinsicht bin ich völlig ehrlich! Und ich weiß, wovon ich rede, denn ohne dich wüsste ich ja gar nicht, was einen guten Menschen ausmacht.“

„Das soll ich dir beigebracht haben?“

„Ja, ja! Damals, als du so dumm gewesen warst zu sterben. Ich war erst ziemlich wütend auf dich, Odasaku, aber jetzt bin ich bereit, dir zu vergeben.“

Der Rothaarige lachte leise. „Danke … denke ich.“

„Nein, nein! Ich muss mich bei dir bedanken!“ Mit nicht abebbender Euphorie kippte Dazai das nächste Glas herunter. „Ohne dich wäre ich ja nicht bei den bewaffneten Detektiven gelandet und ich sage dir, die würden dir gefallen!“

Odasaku stutzte abermals. „Und das soll ich vollbracht haben?“

Dazai nickte enthusiastisch. „Wenn du dachtest Ango wäre ein Pedant, dann musst du einmal Kunikida kennen lernen! Er trägt immer, immer ein Notizbuch mit sich herum, mit dem er jede Sekunde, jede Sekunde seines Lebens durchplant! Und dann Yosano! Weißt du noch, wie Leute Angst vor mir hatten? Die kannten die gute Yosano mit Sicherheit nicht, sonst hätten sie gewusst, was wahre Angst ist! Und kannst du dir eine Fähigkeit vorstellen, die immer sofort die Wahrheit aufdeckt? Ich mir auch nicht, denn die gibt es gar nicht! Aber Ranpo kann genau das tun! Und dann gibt es in der Detektei noch die Fraktion mit den unschuldigen Gesichtern: Kenji, Tanizaki, Kyoka, Atsushi; du würdest sie alle lieben! Oh, du würdest einen Narren an Atsushi fressen!“

Erstaunt hörte Odasaku diesem ekstatischen Redeschwall zu, dann schmunzelte er. „Klingt, als würden diese Leute dir viel bedeuten.“

„Na ja, jetzt müssen sie ohne mich klar kommen. Wir stecken eigentlich gerade noch mitten in einem schwierigen Fall und ah …!“

Er spürte ein plötzliches Stechen in seiner Seite. „Was ist denn das? Ich kann doch unmöglich Schmerzen haben, wenn ich tot bin.“

„Ein schwieriger Fall?“, hakte Odasaku, das Gemurmel des Anderen augenscheinlich ignorierend, nach. „Kriegen deine Kollegen das denn ohne dich hin?“

„J-ja ...“, erwiderte Dazai, mit zunehmenden Schmerzen schwerer atmend. „Solange Ranpo … bei ihnen ist ….“ Er hielt inne. „Ranpo hat sich nicht gemeldet. Warum hat Ranpo sich nicht gemeldet? Ist er …?“ Eine ganze Armada an Erkenntnissen brach aus dem Nichts über Dazai herein. „Der Mörder … der Mörder weiß nicht, dass er der Mörder ist. Und diejenigen, die ihn suchen, sind nicht diejenigen, vor denen er wegläuf- ah!“ Dazai krümmte sich vor Schmerzen und presste eine Hand gegen die qualvoll stechende Seite. Er fühlte, wie Blut gegen seine Handfläche lief. Ungläubig blickte er auf seine rot gefärbte Hand, ehe ihn Verzweiflung überkam. Er sah aus wie ein hilfloses Kind, das nicht verstand, was los war.

„Odasaku … nein! Das hier …. Nein! Ich … bitte! Bitte, ich möchte hier bleiben! Das ist nicht fair! Das ist nicht fair!!“ Er streckte seine andere Hand nach seinem so sehr vermissten Freund aus und krallte sie in dessen Jacke.

„Und deine Kollegen?“, sagte Odasaku lediglich. „Was wird aus ihnen?“

„Die sind doch jetzt egal! Odasaku, ich will bei dir bleiben!“

„Sind sie das? Sind sie dir wirklich egal? Wenn sie ohne deine Hilfe sterben würden, wäre dir das völlig egal?“ Obwohl die Frage in Odasakus typischen gleichgültigen Tonfall vorgetragen war, hörte Dazai den Vorwurf heraus.

Ein zweites Stechen, dieses Mal in seinem Oberschenkel, ließ ihn fast vom Hocker kippen. Für einen Moment lang war nichts außer Dazais schwerem Atmen zu hören. Kraftlos ließ er seinen Kopf hängen. Dann zog er seine Hand von Odasakus Jacke zurück und blickte wieder auf.

„Es wäre mir … nicht egal.“ Sein Gesicht wurde zu einer gepeinigt grinsenden Grimasse. „Wie soll ich die Zeit mit dir genießen ... wenn ich diese Bande von gutherzigen Irren in ihr Verderben rennen lasse?“

Der Hauch eines Lächelns huschte über Odasakus Gesicht.

„Warte hier auf mich … Odasaku. Ich … bin … bald … zurück …“

Von einem Augenblick zum nächsten wurde alles schwarz; als hätte jemand das Licht im Lupin ausgeknipst.

 

Dazais Erwachen war kalt und dunkel und qualvoll. Er konnte kaum atmen vor Schmerzen und das leere Gefühl in seinem Inneren verschlimmerte seine elende Situation um ein Vielfaches. Er hatte sich am Ziel gewähnt, besser noch, er hatte Odasaku gesehen und jetzt war er wieder -

Eins nach dem anderen, unterbrach er sich selbst. Ich habe es bald geschafft. Das hier ist zwar das absolute Gegenteil von dem, wie ich es mir gewünscht habe, aber gut, ich bin flexibel.

Angestrengt rollte er auf seinen Rücken. Die Bewegung ließ den Anblick des Nachthimmels über ihm kurz vor seinen Augen verschwimmen. Es war nicht mehr lang, bis der Morgen anbrach. Wo waren die anderen? Waren sie noch in Suribachi? In dieser Ecke des Viertels, in der er in den blutverschmierten Jungen gerannt war, lebte niemand mehr und hinter all diesen Trümmern würde ihn so schnell niemand finden. Seine rechte Hand wanderte zu dem Messergriff, der nach wie vor in seinem Bauch steckte. Als würde er lediglich ein Pflaster abreißen, zog Dazai sich das Messer heraus und führte es in sein Sichtfeld.

Was zum …?

Am Griff war nur noch eine winzige, abgebrochene Spitze aus Metall. Wo war der Rest der Klinge? War sie in der Tat abgebrochen und steckte noch in seinem Körper? Er verwarf den Gedanken schnell wieder. Wenn der Rest der Klinge am Stück in der Wunde steckte, würde sich das anders anfühlen. Er warf den Griff beiseite und wollte mit seiner Hand in die Manteltasche fahren, in der er sein Handy aufbewahrte.

„Oh, das ist jetzt nicht wahr ...“

In seinem Handy steckte ein weiteres Messer, das sich durch das Gerät in seinen Oberschenkel gebohrt hatte. Dazai zog auch dieses heraus. Im Gegensatz zu dem ersten war noch mehr von der Klinge erhalten, aber auch hier sah es aus, als wären Teile der Klinge abgebrochen.

Und sein Handy war nur noch ein Haufen Schrott.

Wie seine Beine, die, außer schrecklich weh zu tun, sonst gar nichts mehr taten. So konnte er nicht aufstehen, er konnte nicht einmal auf allen Vieren krabbeln. Um Hilfe zu rufen machte von seinem momentanen Standort (Haha, wenn ich wenigstens stehen könnte, kalauerte er in Gedanken) ebenso keinen Sinn, es würde ihn niemand hören – oder es würden ihn die falschen Leute hören. Er hatte noch kein klares Bild davon, wer sie waren, aber in Anbetracht der Tatsache, dass seine Kollegen schon in den Fall verwickelt waren, würden sie in das Schussfeld dieser Leute geraten.

Dazai nahm tief Luft und rollte wieder auf den Bauch zurück. Er biss die Zähne zusammen, als eine heftige Welle an Schmerzen über ihn rollte.

„Das ist … also aus mir … geworden … - ein … Masochist ...“, keuchte er angestrengt und trotzdem ominös lächelnd. Die Ironie an der ganzen Sache war, dass seine Fähigkeit aller Wahrscheinlichkeit nach den Angriff des Jungen gestoppt hatte. Hätte er weiter attackieren können, wäre es wirklich aus mit ihm gewesen.

Dazai streckte einen seiner auf der Erde liegenden Arme nach vorne aus und zog mit diesem seinen gesamten Körper nach. Dann tat er das Gleiche mit dem anderen und rutschte wieder wenige Zentimeter weiter. Seinen geschundenen Körper über den Boden zu schleifen, tat seinen Verletzungen alles andere als gut, aber es war die einzige Möglichkeit für ihn, sich fortzubewegen. Er musste es wenigstens bis zu dem Plateau zurückschaffen. Lebend, im besten Fall, denn er musste die Detektive vor der Gefahr warnen, die bereits dabei war, auf sie zuzukommen.

How sinister and how correct

How sinister and how correct“

 

Placebo, „Ashtray heart“

 

Die schweren Stiefel stapften laut auf dem Gehweg auf.

Die Träger dieses klobigen Schuhwerks waren eine Gruppe von Engländern, alle in dunkler Kleidung gekleidet. Manche trugen Marineblau, andere Schwarz, das war Absicht, damit es nicht zu offensichtlich wie eine Uniform aussah, aber doch so gleichartig, dass man erahnen konnte, dass diese Leute zusammengehörten. Zwei von ihnen trugen Capes, welche die darunter steckenden Schwerter verdecken sollten. Insgesamt waren es sechs Leute: ein kleinerer junger Mann mit schwarzen Locken, einem übergroßen Mantel, bei dem die Ärmel hochgekrempelt waren, und einem großspurigen Grinsen im Gesicht; ein weiterer junger Mann, vermutlich ein wenig älter als der Erste, mit blonden Haaren und einem albernen Grinsen im Gesicht; ein etwa gleichaltriger Junge mit kastanienbraunen Haaren in einem Topfhaarschnitt, der mit offenem Mund die Hochhäuser, auf die sie zugingen, anstarrte und daher ständig stolperte; eine junge, rothaarige Frau, die verunsichert zwischen diesen Häusern und dem großen, stämmigen Mann neben sich hin und her blickte. Dieser Mann, der mit grimmiger Visage in der Mitte ging, hatte mittellange, hellbraune Haare und einen Dreitagebart – es war der „Schrank“, in den Dazai in zwei Tagen hineinlaufen würde.

Es war Dienstagnachmittag.

„Wir sind da“, sagte der Sechste im Bunde, ein älterer Herr mit lichten gräulichen Haaren, der einen mit Flicken übersäten Mantel trug. „Das ist das Hauptquartier der Hafen-Mafia.“

„Scheiße, das?“, entfuhr es dem Mann in der Mitte unflätig. „Diese monströsen Türme? Ich hoffe für dich, dass das so richtig ist, Fagin.“

„Ja, ja, mein Lieber“, entgegnete der Angesprochene. „Der gute Noah hier hat sich schlau gemacht und tatsächlich haust die Hafen-Mafia in diesen Prachtbauten.“

Der Junge mit den kastanienbraunen Haaren grinste selbstzufrieden bei der Erwähnung seines Namens. „Niemand ist so talentiert im Informationen beschaffen als wie ich.“

Sein blonder, albern grinsender Gefährte prustete los. „Whahaha! Als wie! Du bist unvergleichlich, Noah!“ Er stupste den neben ihm stehenden Jungen in dem übergroßen Mantel schallend lachend in die Rippen. „Ist er nicht unvergleichlich? Whahahaha!“

„Du lachst auch über jeden Scheiß.“ Der Angestupste rollte mit den Augen.

„Mein lieber Bates, sei so gut und stell dein Lachen ein“, rüffelte ihn Fagin. „Mein lieber Dawkins, überlass das Reden gleich vielleicht besser mir.“ Sein scharfer, unterkühlter Blick landete auf der einzigen Dame der Runde. „Nancy, meine Liebe, du siehst so blass aus. Fehlt dir etwas?“

Die junge Frau zuckte zusammen. „Nein. Ist nichts. Aber müssen wir uns wirklich mit der Mafia einlassen? Das klingt immer noch nach einer saublöden Idee.“

„Tsk, tsk.“ Fagin schüttelte den Kopf. „Diese Stadt ist zu groß, wir werden unseren entlaufenen Freund so niemals wiederfinden. Und an wen sollte man sich in derartiger Not sonst wenden, wenn nicht an ein paar Brüder im Geiste? Bill, willst du es ihr nicht mal erklären? Ihr fehlt es einfach an Verständnis.“

„Wir sollten die dämliche Diskutiererei sein lassen und voranmachen“, warf Bill, der „Schrank“, mürrisch ein. „Wenn die Schweizerin und ihre harmoniesüchtigen Lakaien ihn vor uns finden, war alles für den Arsch.“

Die Gruppe stapfte auf den Platz vor dem Hauptquartier der Hafen-Mafia. Unverzüglich versammelte sich dort ein Dutzend Anzugträger.

„Dies ist Privatgelände“, rief ihnen einer der Mafiosi entgegen. „Verlassen Sie umgehend das Grundstück.“

„Wir wollen mit eurem Boss reden“, erwiderte Bill bärbeißig.

„Das ist nicht möglich. Wenn Sie nicht auf der Stelle gehen, sind wir gezwungen, Sie gewaltsam zu entfernen.“

Ein düsteres Grinsen bildete sich auf dem Gesicht des hochgewachsenen Engländers. „Ja? Das will ich sehen.“ Sein dunkelblaues Cape flatterte im Wind.

Während Fagin und Noah sich hinter die anderen zurückzogen, grinsten Bates und Dawkins verschmitzt und machten ein paar Dehnübungen. Nur Nancy wirkte sehr bitter, als die Mafiosi ihre Maschinengewehre zückten und begannen, auf sie zu feuern.

 

„Boss! BOSS!“ Tachihara hechtete in Moris Arbeitszimmer, in dem der Boss der Hafen-Mafia gerade mit dem Führungsmitglied Chuuya Nakahara über eine unerfreuliche Angelegenheit diskutierte.

„Ist Anklopfen etwa aus der Mode gekommen?“, fragte Mori, milde stutzend.

„Verzeihung! Aber draußen sind- au!“ Verdutzt blickte Tachihara hinunter, wo Elise mit voller Wucht auf seinen Fuß gestampft war. Beim Hereinstürmen war er auf eines ihrer auf dem Boden liegenden Bilder getreten. Schmollend zog sich das übernatürliche Mädchen mit ihren Wachsmalstiften in eine andere Ecke des Raumes zurück.

„Draußen sind was, Tachihara?“, erkundigte sich Mori halb interessiert, halb irritiert, weil sein Untergebener so in sein Büro polterte. „Ich hoffe, es ist wichtig.“

„Du störst gerade ein wichtiges Gespräch“, wies Chuuya ihn zurecht.

„Draußen sind eine Hand voll Ausländer, die Sie sprechen wollen!“, brachte Tachihara endlich atemlos hervor. „Befähigte! Starke Befähigte! Sie haben schon drei Dutzend unserer Leute platt gemacht! Der alte Hirotsu und Gin halten gerade die Stellung!“

„Starke Befähigte, die mich sprechen wollen?“ Moris Stutzen intensivierte sich minimal. „Haben sie gesagt, was sie mit mir zu besprechen haben?“

Tachihara schüttelte den Kopf.

Der Boss faltete seine Hände und legte sein Kinn darauf ab. „Sag, Tachihara, haben sie unsere Männer getötet?“

Der Rothaarige verneinte erneut.

„Dann wäre es doch eine gute Idee, sie einmal danach zu fragen, warum sie so viel Aufwand betreiben, nur um mich zu treffen.“ Mori lächelte. „Bring sie her.“

„Ist das eine kluge Idee, Boss?“, wandte Chuuya skeptisch ein. „Vielleicht wollen sie Sie töten.“

Erstaunt blinzelte der Schwarzhaarige ihn an. „Oh, ja, in der Tat, das wäre schlecht. Aber mehr für sie als für mich.“ Sein Lächeln wurde eisig. „Akutagawa soll sie begleiten.“

 

„Kraaass~“ Bates bestaunte Rashomon den ganzen Weg nach oben. Eingeschüchtert von dem dämonenartigen Wesen war keiner von ihnen so wirklich – mit Ausnahme Noahs, der sich hinter Nancy versteckte und beim ersten Anblick von Rashomon „Friss sie, nicht mich!!“ gekreischt hatte.

Akutagawa wollte sie am liebsten alle auf der Stelle köpfen.

Aber er durfte ja nicht.

Er knurrte innerlich.

Die Engländer betraten das Arbeitszimmer Moris, der gespannt hinter seinem Schreibtisch auf sie wartete. Vor dem Tisch stand nach wie vor Chuuya und zog eine Miene, die dem Spruch von „sieben Tagen Regenwetter“ nicht gerecht wurde. Seine Laune war noch weit, weit darunter anzusiedeln. Mehr wie „sieben Tage Dazai.“ Ja, das traf es eher. Sie hatten andere Sachen zu besprechen, wichtige Sachen, und jetzt kamen irgendwelche dahergelaufenen Clowns und hielten sie von ihrer Arbeit ab. Wenn diese Clowns allerdings weiter draußen Terz machten, führte das nur zu noch mehr Problemen. Immerhin hatten sie keinen ihrer Leute getötet (dann hätten sie was erleben können!!), aber es war beunruhigend, dass sie, ohne selbst einen Kratzer davon zu tragen, sämtliche Männer, die sich ihnen entgegen gestellt hatten, außer Gefecht gesetzt hatten.

„Guten Tag, meine Herren, oh, und meine Dame“, begrüßte Mori die Engländer, die wenige Meter vor ihm stehen blieben. „Sie wünschen, mich zu sprechen? Mit wem habe ich denn das Vergnügen?“

Fagin trat aus der Reihe seiner Mitstreiter hervor und räusperte sich. „Sie sind also Herr Mori, ja? Vielen Dank, dass Sie uns so kurzfristig empfangen konnten. Gestatten Sie mir, mich vorstellen zu dürfen: Mein Name ist Fagin. Im Vereinigten Königreich bin ich ein sehr angesehener Wissenschaftler und-“

„Mach voran“, brummte Bill ihm dazwischen. „Ich will keine Sekunde länger als nötig in diesem Land bleiben. Ist schon schlimm genug, dass ich hierher zurückkehren musste.“

„Ja doch, mein Lieber, Geduld, Geduld.“

Chuuya hob kritisch eine Augenbraue.

Clowns. Hatte er doch von Anfang an gesagt.

„Nun, um es kurz zu machen“, fuhr Fagin fort, „uns wurde gesagt, dass die mächtigste Organisation in dieser Stadt Ihre verehrte Hafen-Mafia ist und wir benötigen in einer Sache dringend Hilfe.“

Ein ominöses Schmunzeln zierte Moris Gesicht, während Fagin sich um Kopf und Kragen redete. „So? Sie benötigen Hilfe? Ihre Worte schmeicheln mir zwar, aber ich hoffe, Ihre Quellen haben Sie nicht zu dem Trugschluss geleitet, dass wir eine Wohltätigkeitsorganisation sind.“

„Oh nein, nein, gewiss nicht!“, erwiderte der Engländer. „Wir würden Sie für Ihre Dienste natürlich mit einem angemessenen Gegenwert entlohnen.“

Die Truppe vor sich skeptisch musternd, wurde Chuuyas Blick noch kritischer.

Eine Hand voll Halbstarker, ein alter Mann und ein Schrank, dessen Alkoholfahne ich bis hierhin rieche. Nach dem großen Geld sehen die nicht aus.

„Ich gehe recht in der Annahme, dass Ihre Bitte an uns einen nicht ganz legalen Hintergrund hat?“, erkundigte Mori sich.

Fagin schluckte und tippelte nervös seine Finger gegeneinander. „Ihre Verschwiegenheit wäre uns sehr wichtig.“

„Bitte“, forderte der Boss ihn auf, „Sie haben mein Interesse geweckt.“

Erleichtert atmete Fagin auf und grinste fratzenhaft. „Sehen Sie, ein Junge aus unserer Gruppe ist uns in dieser Stadt verloren gegangen und es ist äußerst wichtig, dass wir ihn wiederfinden.“

„Lebendig? Oder tot?“ Dem gleichmütigen Tonfall nach hätte das Oberhaupt der Mafia genauso gut fragen können, ob die Gäste Tee oder Kaffee wollten.

„Lebendig wäre uns lieber, aber wenn es nicht anders geht, wäre auch tot akzeptabel.“

Wie sind diese Clowns denn drauf??, dachte Chuuya verdattert und schaute zum Boss, der ihn per Blickkontakt beschwichtigte. „Ich habe das unter Kontrolle“, sollte dieser Blick heißen.

„Darf ich fragen, warum dieser Junge für Sie so von Bedeutung ist?“

Von neuem nervös werdend, zupfte Fagin am Kragen seines Mantels. „Dieser Junge, er … er ist uns eben sehr wichtig. Und er darf nicht in die falschen Hände … ich meine, in schlechte Gesellschaft geraten. Er gehört ja schließlich zu uns und es wäre sehr traurig für uns, wenn er sich gegen uns stellen würde, verstehen Sie?“

Während der ältere Herr so stammelte, beobachtete Mori Nancy. Ihre Miene war voll von Bitterkeit und sie warf dem Alten Blicke zu, die Akutagawa im Vergleich freundlich wirken ließen.

„Das verstehe ich in der Tat“, antwortete der Boss. „Mir ist auch einmal einer meiner Leute abhanden gekommen. Wir vermissen ihn hier jeden Tag.“ (Chuuya grummelte an dieser Stelle und folterte in Gedanken einen gewissen brünetten Wirrkopf). „Bevor wir zu einer Vereinbarung kommen, habe ich noch ein paar Fragen, wenn Sie gestatten.“

„Gewiss, gewiss!“

„Der Herr neben Ihnen, verzeihen Sie, Ihr Name war …?“

„Sikes“, brummte der 'Schrank', „William Sikes.“

„Ah, Herr Sikes, haben Sie zufällig in der britischen Armee gedient?“

Sikes horchte auf. „Wie kommen Sie darauf?“

Mori lächelte. „Sie erwähnten, bereits einmal in diesem Land gewesen zu sein und es war wohl kein angenehmer Aufenthalt. Meine Erfahrung sagt mir daher, dass Sie wahrscheinlich zu Kriegszeiten hier waren.“

Die Aura des großen Mannes bekam etwas Bedrohliches. „Das geht Sie einen Scheißdreck an.“

„Bill“, zischte Nancy tadelnd und zog damit seinen Unmut auf sich.

„Halt du die Klappe!“

„Wir sind es doch, die etwas von ihnen wollen“, erwiderte Nancy unnachgiebig. „Wenn du so mit dem Boss der Hafen-Mafia sprichst, werden sie uns-“

Der Klang eines Schlages mit der flachen Hand schallte durch den Raum. Die junge Frau blieb wie erstarrt stehen und hielt sich ihre getroffene Wange.

„Herr Sikes“, sagte Mori in die aufgekommene Stille bitterernst hinein, als würde er gleich den Befehl geben, die Besucher doch zu exekutieren. „Wir werden nicht zu einer Vereinbarung kommen, wenn Sie Ihre eigenen Leute derart behandeln.“

Der Getadelte knarzte mit den Zähnen. „Es ist nur … auf den Krieg spricht man mich besser nicht an“, erklärte er sehr viel leiser als zuvor. „Meine Einheit hat eine Menge Verluste hinnehmen müssen. Und mir hat man die Schuld dafür gegeben – und eine unehrenhafte Entlassung.“

„Das ist tragisch, doch trotzdem dulde ich es nicht, wenn man keinen Respekt vor seinen Untergebenen hat.“

Chuuya lächelte in sich hinein. Genau deswegen hatte Mori die Hafen-Mafia zu so einer mächtigen Organisation machen können.

„Meine zweite Frage“, fuhr Mori wieder deutlich entspannter fort, „bezieht sich auf die Entlohnung, die Sie für uns vorgesehen haben.“

„Ah, ja!“ Fagin frohlockte. „Bates, mein Lieber, zeig dem netten Herrn, was du für ihn hast.“

Der Angesprochene trat hervor, lüftete sein Cape und machte eine Schwertscheide, in der eine Klinge steckte, von seinem Gürtel ab. „Ich präsentiere ...“ Er ahmte die Geräusche eines Trommelwirbels nach und ließ Chuuya mit den Augen rollen (CLOWNS!!), ehe er das Schwert andächtig auf dem Schreibtisch ablegte. „Ein Kunstwerk!!“

Unbeeindruckt blinzelte Mori das Präsent an. „Ein Schwert?“

„Neeei-eeen!“ Bates schnalzte empört mit der Zunge. „Ein Kunstwerk. Mit dem man verdammt gut Leute aufschlitzen kann.“

Mori zog das Schwert heraus und prüfte es kritisch. „Chuuya, ein Haar, bitte.“

„Häh?“

„Ein Haar. Gib mir eines deiner Haare.“

„Äh, was?“

Mori hielt eine Hand auf, ohne das Schwert aus den Augen zu lassen. Achselzuckend zupfte sich Chuuya ein Haar aus und überreichte es dem Boss. Dieser ließ das Haar umgehend auf die Klinge fallen. Das einzelne rote Haar wurde geschmeidig zerteilt.

„Ich verstehe.“ Mori lächelte zufrieden. „Diese Klinge wurde besonders bearbeitet, um bereits bei geringstem Kontakt etwas zu zerschneiden. Du stellst sie her?“

Bates klopfte sich selber auf die Schulter. „Dauert etwas, so eine Schönheit herzustellen, aber ich habe mich darauf spezialisiert, weil ich keine Fähigkeit besitze und ja auch irgendwie meinen Beitrag leisten muss.“

„Ich würde dieses Schwert als Anzahlung akzeptieren“, bot Mori schließlich an. „Wenn wir den Jungen finden, sollte Ihnen das noch etwas mehr wert sein.“

„Boss“, warf Chuuya ein, „haben wir im Moment nicht andere Probleme?“

Der Schwarzhaarige winkte ab. „So ärgerlich der Mord an unseren treuen Kreditnehmern von der Kirche auch ist, wir können dennoch eine kleine Nebentätigkeit ausführen, während wir nach dem Mörder suchen, der sich scheinbar unwissentlich mit der Hafen-Mafia angelegt hat.“ Moris scharfem Blick entging nicht das erneute nervöse Kragenzupfen seitens Fagin.

„Dawkins, das Bild unseres so arg vermissten Charles, bitte.“

Der junge Mann kramte ein zerknittertes Foto eines Jugendlichen mit braunen Locken und sanften Gesichtszügen aus seiner Manteltasche und legte es auf den Schreibtisch.

„Es zieht den armen Tropf immer in unwirtliche Gegenden“, erläuterte Fagin, um Rührseligkeit bemüht, dazu.

„Unwirtliche Gegenden?“, hakte Chuuya mit wachsendem Unmut nach. „Davon gibt es hier einige. Und allein Suribachi zu durchsuchen kann Tage dauern.“

„Suribachi?“ Fagin sah ihn fragend an.

„Ein riesiger Slum. Wenn sich hier jemand effektiv verstecken will, tut er das meistens in Suribachi.“

„Hmm, hmm ...“, machte der Engländer grübelnd, während Sikes sofort drängelte, dort zu suchen.

„Ein kleines Wort der Warnung noch“, ermahnte Mori seine neuen Geschäftspartner. „Sie kennen sich hier offensichtlich nicht aus und wenn es schlecht für Sie und Ihre Aktivitäten läuft, dann werden Sie eher früher als später Bekanntschaft mit dem Büro der bewaffneten Detektive machen.“

„Büro der bewaffneten Detektive?“ Sikes murrte. „Was soll das sein?“

Mori lächelte abermals, während sich eine Wolke draußen am Himmel vor die Sonne schob und einen düsteren Schatten in das Zimmer warf. „So wie ich das sehe … Ihr schlimmster Albtraum.“

 

„So weit, so gut.“ Dawkins streckte gähnend seine Arme nach oben, nachdem Akutagawa die Gruppe bis weit vom Hauptquartier weg begleitet und dort stehen gelassen hatte – natürlich nicht ohne noch einmal zu knurren, dass er die „lästigen Straßenköter“ liebend gerne köpfen würde. Noah hatte das wieder hinter Nancy getrieben.

„Nichts ist gut“, sagte die junge Frau erbost, die Noah hinter sich abschüttelte. „Was glaubt ihr, was passiert, wenn diese Hafen-Mafia herausfindet, dass das Schwert, das ihr ihnen angepriesen habt, nach nur kurzer Zeit stumpf wird?“

„Ganz ruhig, meine Liebe.“ Fagin winkte ab. „Bis es so weit ist, haben wir Charles längst und sind auf und davon.“

Sich keiner Schuld bewusst, zuckte Bates mit den Schultern. „Ich hatte die Order, ihnen nicht meine wirklich geniale Erfindung zu geben. Das Messer funktioniert wenigstens einwandfrei.“

„Außerdem“, polterte Nancy weiter, „wissen wir jetzt, dass die Morde, von denen wir über das Anzapfen des Polizeifunks gehört haben, die Hafen-Mafia betreffen. Wir sind uns doch sicher, dass das Charles war-“

„Kannst du das nicht noch lauter herausposaunen?“, schalt Fagin sie. „Es wäre in der Tat ärgerlich, wenn die Hafen-Mafia dahinterkäme und den kostbaren Jungen um die Ecke bringt, aber dies wäre immer noch wünschenswerter als dass er wieder diesen Gutmenschen-Spinnern in die Hände fällt – oder schlimmer noch: diesen bewaffneten Detektiven!“

Sikes grummelte. „Nach dem, was die schwarzhaarige Gruselvisage und sein rotgelockter Kompagnon erzählt haben, könnten diese Detektive wirklich zum Problem für uns werden.“

Erstaunt horchte Nancy auf. „Selbst du fandest diesen Boss der Hafen-Mafia unheimlich?“

Dem großgewachsenen Mann entwich ein dunkles Lachen. „Meine liebe Nance, ich bin schon vielen bösartigen Kreaturen begegnet“, er machte eine gehaltvolle Pause, „aber keine von denen hatte so tote Augen wie dieser Mistkerl in seinem schwarzen Turm da oben.“

„Wie gut, dass wir uns mit denen eingelassen haben.“ Angewidert wandte Nancy ihren Blick von den anderen ab.

Ungeduldig klatschte Fagin in die Hände. „Vor uns liegt eine Menge Arbeit. Noah, du versuchst herauszufinden, ob die Schweizerin und ihre Helferlein sich an dieses Büro gewandt haben. Ich glaube es zwar nicht, aber wer weiß, wozu diese Frau in der Lage ist, wenn sie verzweifelt ist. Bates, Nancy und ich überlegen uns etwas für den Fall, dass wir es wirklich mit den Detektiven und ihren äußerst lästig klingenden Fähigkeiten zu tun bekommen. Bill und Dawkins, ihr könnt euch in diesem Suribachi umsehen.“

Sikes wirkte nicht begeistert von diesem Plan. „Wieso soll Nancy bei dir bleiben und nicht bei mir?“

Als Fagin ein Lächeln lächelte, das dem von Mori alle Ehre machte, überkam Nancy ein kalter Schauer.

„Mein Lieber, eine junge Dame in einer fremden Stadt … da kann sonst etwas passieren. Und das wollen wir doch nicht, oder?“

Nancy fühlte das Blut in ihren Adern gefrieren.

 

Voller Stolz breitete Elise ihre eben fertiggestellten Bilder auf Moris Schreibtisch aus und verdeckte ungeniert alle Dokumente, die dort lagen. Der dunkelhaarige Mann quiekte verzückt.

„Wie wunderschön! Elisechen, du bist ein Naturtalent!“

Chuuya kratzte sich peinlich berührt unter seinem Hut und knirschte mit den Zähnen, als Elise sich zu ihm umdrehte und ihm den arrogantesten Blick zuwarf, der vermutlich je bei einem kleinen Mädchen gesehen worden war.

Manchmal war das hier das reinste Irrenhaus. Und das, obwohl der größte Irre längst fort war und anderen Leuten hauptberuflich auf die Nerven ging.

„Boss“, begann er sichtlich unzufrieden, „dieses Geschäft mit den Engländern …. Ich verstehe nicht ganz, was das sollte.“

„Oh?“ Mori blickte verwundert von Elises Kritzeleien auf. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. „Du musst auf die leisen Zwischentöne achten, Chuuya.“

„Häh? Äh, ich meine, was meinen Sie?“

„Erstens“, Mori hob den Zeigefinger seiner rechten Hand, während die linke ein Bild von Elise hochhielt, das Fagin als wahnsinnigen Forscher zeigte. „Der 'angesehene Wissenschaftler' forscht mit Sicherheit an höchst illegalen Dingen. Das allein reicht noch nicht, um meine Neugier zu wecken, aber dafür gibt es ja zweitens.“ Er stellte seinen Mittelfinger ebenso auf. „Warum ist ihm wohl so viel daran gelegen, diesen Jungen zu finden? Und das tot oder lebendig? Im besten Fall bekommt er etwas wieder, was er noch braucht, im schlimmsten Fall werden nur Beweismittel vernichtet.“

Chuuya stutzte. Dass die Engländer Dreck am Stecken hatten, war offensichtlich, doch das, was der Boss so seelenruhig vortrug, ließ ihn schlucken.

„Drittens“, der Ringfinger ging hoch, „sind sie irgendwie in die Morde an den Kirchenoberen verwickelt und ich bin wirklich verärgert, dass wir unser Geld von unseren langjährigen Klienten nicht wiederbekommen. Das verlangt nach einer Kompensation, findest du nicht?“

„Sie wollen den Jungen also für sich behalten?“

Mori senkte seine Hände ab und fuhr mit ihnen über die anderen Zeichnungen, die die restlichen Engländer darstellten. „Wie ich Fukuzawa und seine Mannschaft kenne, wird es nicht lange dauern, bis sie sich ebenfalls in diese Angelegenheit einmischen. Wir müssen gar nicht viel machen.“ Er tippte mit einem Finger auf die Karikatur von Sikes, die ihn aussehen ließ wie einen Dämon. „Das dürfte noch recht interessant werden.“ Mori blickte von den Bildern auf und die Schatten, die ins Zimmer fielen, hüllten sein Gesicht ein. „Wir müssen nur den Jungen finden. Deine Idee mit Suribachi … du kennst dich dort doch gut aus, nicht wahr?“

Der Rothaarige zog einen missmutigen Schmollmund. „Ja und nein. Dieses Viertel ist immer im Wandel, deswegen ...“ Er hielt inne und seufzte. Die Frage des Bosses war eine andere gewesen. „Sie wollen, dass ich mich dort umsehe?“

„Nimm Akutagawa mit.“

Chuuya nickte anstandslos und verbeugte sich, während er innerlich stöhnte und fluchte. Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, zog Mori ein Bild hervor, das unter den anderen gelegen hatte. Es zeigte eine rothaarige Frau, doch nicht nur ihre Haare waren rot, alles an ihr war rot eingefärbt. Sein Schmunzeln kam dem eines Wahnsinnigen gleich.

„Elise, das hier ist eines deiner Meisterwerke!“

Das Mädchen strahlte selbstbewusst, als Moris Handy klingelte. Ein Blick auf das Display verriet ihm, um was es ging.

„Den Anruf habe ich bereits erwartet. Ist das nicht gemein, Elisechen? So viele Menschen wollen nur mit mir reden, wenn sie etwas von mir wollen. Einerseits ist es für uns ja von Vorteil, wenn wir ein paar 'Freunde' im Gericht haben. Aber andererseits sind wir doch wirklich kein Wohltätigkeitsverein. Was meinst du? Sollen wir ihnen helfen oder nicht? Das werden bestimmt wieder zähe Verhandlungen.“

Elise interessierte sich nicht für seine Klagen und färbte ein ganzes Blatt Papier mit dicken, aggressiven Strichen ihres Wachsmalstiftes tiefrot.

Where the weight of the world and the weight of a tear are exactly the same

Where the weight of the world

And the weight of a tear

Are exactly the same“

 

Placebo, „Try better next time“

 

Eindringlich betrachtete Fukuzawa die Brille in seinen Händen.

Klammerte er sich an eine unsinnige Hoffnung?

Er hatte keine Ahnung, was mit Ranpo geschehen war, doch dass Taro so sehr an diesem Gegenstand hing, hieß vielleicht …

„Chef.“

Derart tief in Gedanken versunken schreckte Fukuzawa leicht zusammen, als er angesprochen wurde. Seine Verärgerung über seine eigene Fahrlässigkeit hinunterschluckend, blickte er von seinem Platz auf dem Sofa im Empfangsbereich der Detektei zu Yosano auf, die ihn mitleidig beäugte.

„Hast du seine Wunde versorgt?“

Die Ärztin senkte zustimmend ihren Kopf. „Es war nicht so schlimm. Ich musste sie nur klammern, nicht einmal nähen.“

Fukuzawa nickte schwermütig. „Verstehe.“

Yosano atmete hörbar aus, als würde sie damit hadern weiterzusprechen. „Er hat sehr wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung, deswegen ruht er sich jetzt im Arztzimmer aus. Kenji passt auf, dass er nicht einschläft … oder abhaut.“

Eine quälend lange Pause entstand, in der der Blick des Älteren wieder zu der Brille in seinen Händen wanderte.

„Gut.“

Yosano seufzte erneut. Diese Rolle, die ihr gerade unfreiwilligerweise zukam, war ungewohnt für sie. Normalerweise war es Ranpo, der für die Motivation aller zuständig war. Und nun sollte ausgerechnet sie ausgerechnet den Chef aufmuntern? Verquerer konnte die Welt kaum werden.

„Chef? Ich denke, Kunikida hat Recht mit seiner Theorie, dass es sich bei Ranpos Zustand um eine Fähigkeit handelt. Ranpo hat mich zwar eben nicht mehr als seine Kopfverletzung behandeln lassen, aber außer einer Beule neben der Verletzung von vorhin habe ich nichts Auffälliges an ihm bemerkt. Das heißt, sobald wir Dazai und den Befähigten, der hierfür verantwortlich ist, gefunden haben, wird Ranpo wieder ganz der Alte werden.“

Ein letztes Mal betrachtete Fukuzawa die Brille, schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder, als er die schwarz umrandeten Gläser in seinen Kimonoärmel steckte. „Habt ihr irgendetwas aus Ranpo herausbekommen können?“

„Ihr ist gut.“ Die Detektivin zuckte mit den Schultern. „Er redet hauptsächlich mit Kenji, weil dieser ihn an eine 'seiner' Schwestern erinnert.“ Der Gedanke, dass Ranpo wildfremde Leute als seine Familie bezeichnete, ließ sie sich auf die Unterlippe beißen. „Wenn wir ihnen noch ein paar Minuten geben, wird Kenji sicher etwas Brauchbares in Erfahrung bringen.“

„Ich bin mir nicht sicher, was unser Versprechen von eben betrifft.“ Mit ernster Miene gesellte sich Kunikida neben die Ärztin. „Wir versprachen ihm, seiner Familie zu helfen, aber diese Leute sind Entführer und haben kein Problem damit, auf uns zu schießen.“

„Meinst du deswegen?“ Fukuzawa holte den Revolver, den er Ranpo abgenommen hatte, aus seinem Ärmel und legte ihn auf den Tisch vor sich. „Deswegen müssen wir uns keine Sorgen machen.“

Irritiert wanderten Kunikidas Augen von der Waffe zu seinem Vorgesetzten. „Wie meinen Sie das?“

„Die Waffe … ist überhaupt nicht geladen.“

Verständnislos und endgültig verwirrt, fasste Kunikida sich an den Kopf. „Ich verstehe überhaupt nichts mehr! Sie haben Ranpo eine ungeladene Waffe mitgegeben??“

„Er hat noch nie einen Revolver in der Hand gehalten“, sagte Fukuzawa, „daher kennt er den Unterschied nicht. Aber ich bezweifle, dass dies ein Versehen seitens der Entführer war.“

Unverkennbar grübelnd kam Atsushi zu ihnen hinzu. „Ich habe über meine Begegnung mit Kyoka und Lucy nachgedacht. Diese Entführer scheinen ihnen nichts zuleide getan zu haben. Nein, vielmehr schienen beide so … ich weiß nicht genau, befreit und gelöst und so auffallend empathisch zu sein. Und dann dieser Umstand, dass sie sich alle als 'Familie' bezeichnen.“ Atsushi fasste sich mit einer Hand ans Kinn, sich selbst unbewusst, dass er sich diese Geste von jemand anderem abgeschaut hatte. „Es … es klingt total verrückt, aber wäre es möglich, dass die Entführer die Waisenkinder mitgenommen haben, um ihnen eine Familie zu geben?“

„Ja. Das klingt verrückt. Vollkommen verrückt“, konterte Yosano skeptisch.

„Wieso“, warf Tanizaki aus der zweiten Reihe ein, „wieso verändern sie dann die Erinnerungen der Kinder?“

„Und nehmen sie gegen ihren Willen mit?“, bekräftigte Naomi den Einwand ihres Bruders.

„K-keine Ahnung.“ Atsushi wedelte überfordert mit den Händen. Woher soll ich das wissen? Ich bin doch nicht Dazai!, wollte er sagen.

Kunikida und Yosano stutzten plötzlich. Da waren doch leise Schritte im Flur zu hören. Sie drehten sich zur Tür um, just als diese vorsichtig geöffnet wurde.

„Hey, hört mal!“ Kenji stand in der Tür und hielt Ranpo an einem seiner Ärmel fest. „Taro will euch etwas sagen.“

Nach dieser Ankündigung stand Fukuzawa geschwind auf und trat aus dem Separee heraus – nur um zu sehen, dass Taro bei seinem Anblick sofort zurückwich. Keinem der restlichen Detektive entging der flüchtige Hauch von Enttäuschung, der über die gesamte Gestalt des Chefs huschte.

„Was möchtest du uns sagen?“, sprang Kunikida in die Bresche, als die angespannte Atmosphäre wieder zuzunehmen drohte.

Taro machte einen Schritt nach vorne. „Ich habe doch in einem Nebensatz erwähnt, dass ich der größte Meisterdetektiv aller Zeiten bin, erinnern sich eure Minigehirne daran?“

Ranpo bleibt eben Ranpo, dachte Atsushi erneut.

„Das haben wir nicht vergessen, nein“, antwortete Kunikida gefasst.

Das ihnen allen so vertraute arrogante Grinsen bildete sich auf dem Gesicht des Schwarzhaarigen. „Tja, für solche geistigen Normalos wie euch wird das schwer zu verstehen sein, aber ich besitze eine Fähigkeit, die mich umgehend die Wahrheit erkennen lässt und nachdem ich mich mit eurem netten und wirklich unglaublich arglosen Kollegen unterhalten habe …“ Kenji lächelte, als hätte er gerade ein großes Kompliment erhalten, „ … habe ich den Eindruck, dass man euch vielleicht ein wenig vertrauen kann.“

Die Detektive spitzten die Ohren.

„Heißt das, du bist bereit, mit uns zu kooperieren?“ Kunikida formulierte seine Frage so vorsichtig wie irgend möglich.

„Bedingt, ja.“ Die Miene des Meisterdetektivs wurde nachdenklich. „Ich verstehe nur nicht, warum meine Tante und meine Geschwister mich vor euch gewarnt haben … das gibt nicht so richtig Sinn ...“

„Weil sie nicht wollen, dass dir etwas zustößt.“ Fukuzawas ruhige Stimme erfüllte den Raum. „Sie machen sich Sorgen um dich und wollten daher, dass du besonders vorsichtig bist.“

Verwundert blickte Taro auf und sah den Chef an.

„Es ist sehr wichtig, dass wir mit deiner Tante reden.“ Fukuzawa erwiderte den Blick des jungen Mannes. „Bitte, Taro, bring uns zu ihr. Es hängt eine Menge davon ab.“

Die Verwirrung war klar und deutlich in den Augen des Meisterdetektivs zu sehen. Unschlüssig schaute er zu Kenji, der ermutigend nickte.

„Na schön. Aber dann bekomme ich endlich meine Brille wieder. Abgemacht?“

„Abgemacht.“

 

Es sah nach Regen aus, als Fukuzawa sich gegen die Mauer drängte, welche das Grundstück der verlassenen, in einem europäischen Stil gebauten Kaufmannsvilla umgab. Die Villa lag abgelegen in einer Senke des höher gelegenen Gebietes von Yamate und hatte ihre Glanzzeit wohl schon einige Zeit hinter sich. Das Dach war nicht mehr ganz gedeckt, die Fensterläden hingen herab oder lagen bereits am Boden und im Vorgarten wucherten hohes Gras und Unkraut. Ein perfektes Versteck.

Fukuzawa konnte sich immer noch kein genaues Bild davon machen, wer ihre Gegner waren. Sie waren sehr wahrscheinlich bewaffnet, aber würden sie das Feuer auf sie eröffnen?

Inzwischen war es Mittag und da von Dazai nach wie vor überhaupt keine Spur zu finden war, hatte er Atsushi, Tanizaki und Yosano noch einmal nach Suribachi geschickt. Er hatte nicht aussprechen müssen, was er dachte, denn dass Yosano mitkommen sollte, sagte mehr als tausend Worte. Dazai verschwand nicht einfach so, wenn es darauf ankam. Fukuzawa war sich der Vielzahl an Problemen, die der Brünette trotz seines jungen Alters mit sich herumschleppte, durchaus bewusst, auch wenn er sie nicht näher kannte. Dennoch war er von der Ehrlichkeit seiner Seele überzeugt. Dazai würde sie nicht im Stich lassen und das wiederum ließ nur einen Schluss zu:

Ihm musste etwas zugestoßen sein.

Dazais Tendenz, auf eigene Faust Dinge anzugehen, war ihm im Angesicht so vieler unbekannter Faktoren möglicherweise zum Verhängnis geworden. Fukuzawa verfluchte sich innerlich selbst, dass er Dazai wegen seines leichtsinnigen Verhaltens nie auch nur einmal gemaßregelt hatte. Und warum hatte er dies nie getan? Weil es bisher immer gut ausgegangen war. Nein, nicht Dazais Leichtsinnigkeit war schuld, sondern seine Nachlässigkeit. Er hatte es versäumt, sich besser um ihn zu kümmern.

Ein Ellbogen des neben ihm zappelnden Taro traf ihn beinahe.

„Ihr habt gesagt, ihr wollt mit ihnen reden!“, quäkte dieser, während er von Kenji festgehalten wurde. „Warum schleicht ihr dann wie Attentäter um das Haus herum?! Sowieso, alter Mann, du bist so einer, stimmt's? Und ein Lügner bist du auch! Du hast mir versprochen, mir meine Brille wiederzugeben, wenn ich euch her-“

„Kunikida“, sagte Fukuzawa unaufgeregt in Taros Schimpftirade hinein und der Blondschopf nahm seufzend ein Tuch aus seiner Hosentasche.

„Ich tue das wirklich nur sehr ungern.“ Er positionierte sich vor dem schmollenden Schwarzhaarigen. „Und ich hoffe, du verzeihst mir das, wenn du wieder Ranpo bist.“

„HMMMMPFFF!!“ Kunikida band ihm das Tuch als Knebel um.

„Was mache ich mir falsche Hoffnungen?“ Der Idealist seufzte abermals. „Ranpo wird mir so etwas niemals verzeihen.“

Auf ein Zeichen des Chefs hin zog Kunikida seine Pistole und beide stürmten pfeilschnell bis zu einer Außenwand des alten Hauses. Neben einem großen, durch einen Vorhang verdeckten Fenster blieben sie stehen.

„Beruhige dich, Tante, beruhige dich!“, hörten sie eine Frauenstimme durch die dünne Verglasung rufen. „Polly muss irgendwo sein, wir werden sie finden!“

„Hätte ich die Kinder doch nur nicht in dieses Viertel geschickt!“, lamentierte eine andere Frau atemlos und außer sich vor Verzweiflung. „Wie konnte ich so nachlässig sein? Wie konnte ich nur? Wie konnte ich nur??“

„Der Detektiv ist auch nicht wieder aufgetaucht“, warf eine Männerstimme ein und entlockte der Frau damit noch mehr lautstarke Tränen.

„Du Idiot“, zischte die erste Frau, „reg sie nicht noch mehr auf!“

„Ich habe doch nur gesagt, dass er auch verschwunden ist.“

„Argh! Halt die Klappe! Manchmal habe ich echt das Gefühl, ich bin die einzige, die hier mitdenkt!“

„Entschuldigt, dass ich störe -“

Fukuzawa und Kunikida tauschten Blicke aus, als sie die neu hinzugekommene Stimme erkannten.

„- aber draußen schleichen ein paar Leute ums Haus“, beendete Kyoka ihren Bericht.

„Ähm, Chef …?“

Fukuzawa drehte sich um, als er Kenjis ungewohnt verunsichert klingende Stimme vernahm.

Der Junge ging vorsichtig, mit Taro im Schlepptau, rückwärts auf sie zu. Vor ihnen schwebte mit gezogener Klinge Weißer Dämonenschnee.

Aus dem Inneren der Villa drang noch mehr Aufregung und Gepolter nach draußen, bis die Haustüre aufgerissen wurde und Frances, ein Gewehr im Anschlag, zu ihnen stürmte.

„Keine Bewegung und Waffen fallen lassen!“, schrie sie ihnen resolut entgegen.

Hinter ihr preschte Felix aus dem Haus heraus und fasste sich theatralisch mit beiden Händen an den Kopf.

„Oh, oh Gott, das sind die Detektive. Der Kerl da ist ihr Anführer, über den habe ich so einiges in Erfahrung gebracht. Na toll, großartig, jetzt stecken wir richtig in der Klemme.“

Unbeirrt richtete Frances weiter das Gewehr in Fukuzawas und Kunikidas Richtung. „Waffen runter oder ich schieße.“

„Oh Gott, bloß nicht“, jammerte ihr Gefährte.

„Du bist gerade keine Hilfe“, zischte sie.

„Was soll ich denn da helfen? Du weißt, ich fasse keine Waffen an.“

„Chef?“ Überfragt sah Kunikida aus dem Augenwinkel zu seinem Vorgesetzten. Er war schon in allerlei seltsame und gefährliche Situationen geraten, aber was in aller Welt ging hier vor sich? „Soll ich schießen oder …?“

Fukuzawa schüttelte den Kopf. „Wir legen unsere Waffen nieder.“ Er zog sein Schwert aus seinem Obi-Gürtel, legte es auf das Gras und hob seine Hände. Kunikida legte seine Pistole auf der Erde ab und tat es ihm gleich.

„Taro!“ In diesem Moment eilte die andere Frau aus der Tür, blieb mit Tränen in den Augen vor dem Meisterdetektiv stehen und nahm ihm dem Knebel ab.

„Tante!“, entgegnete er freudestrahlend, was Fukuzawa aufhorchen ließ.

„Sind Sie die Anführerin dieser Leute?“, fragte er sie.

Bedächtig wandte die Dame sich zu ihm um. Trotz ihrer verheulten Augen hatte sie eine ehrfürchtige, fast erhabene Aura. „So würde ich mich nicht bezeichnen, aber ja, ich bin diejenige, die für diese Kinder sorgt.“

Kunikida entwich ein abfälliges Brummen. „Sorgt? Das sehen wir anders.“

Als hätte sie auf ihr Stichwort gewartet, steckte auch Kyoka den Kopf zur Tür hinaus.

„Kannst du Weißer Dämonenschnee bitten, die Waffen einzusammeln?“, bat Frances sie. „Jemand anderes kriegt das nicht hin.“

„Jemand anderes kriegt das nicht hin“, äffte Felix sie eingeschnappt nach.

Mit großen Augen beobachtete Kenji wie Kyokas Fähigkeit sich von ihm entfernte und das tat, was von ihr verlangt worden war. Dann beäugte er seine Kameradin, der dies stutzend auffiel.

„Kyoka, erkennst du mich denn auch nicht mehr?“

Irritiert runzelte das Mädchen die Stirn und Kenjis Schultern sanken für alle gut ersichtlich herab.

„Ah, ich verstehe. Es ist wie bei Ranpo, oder? Der erkennt mich auch nicht mehr.“ Der Junge gab sich hörbar Mühe, nicht traurig zu klingen. Es war so hörbar, dass es herzzerreißend war.

Vielleicht, so ging es Kunikida durch den Kopf, hatte er bis zu diesem tragischen Moment nicht einmal daran gedacht, dass Kenji überhaupt traurig werden konnte. Was für ein massiver Fehler. Kenji war ein Kind. Hatte er das bei all dem Irrsinn, den sie in der Detektei Alltag nannten, etwa vergessen?

Ein erneuter Blick aus seinem Augenwinkel heraus verriet ihm, dass der Chef wohl gerade etwas Ähnliches denken musste.

„Tante, tut mir leid“, sagte Taro, der sich aus Kenjis locker gewordenem Griff freigestrampelt und zu der Dame mit dem geflochtenen Haarkranz gesellt hatte, „diese Möchtegern-Detektive haben mich überredet, sie herzubringen. Ich glaube allerdings, dass sie gar nicht gefährlich sind. Nur dämlich. Vielleicht könnten sie uns trotzdem helfen. Was meinst du?“

Die Angesprochene legte mütterlich einen Arm um Taros Schultern und spürte umgehend Fukuzawas Augen auf sich. Aufmerksam richtete sie ihren Blick auf den silberhaarigen Mann und musterte ihn. Sichtbar nachdenklich werdend kreuzten sich letztlich ihr Blick und der des Chefs.

Ein Platzregen prasselte plötzlich auf sie nieder – und trotzdem rührte sich keiner der beiden auch nur einen Millimeter.

Als Taro anfing zu jammern, weil er nass wurde, holte dies beide aus ihrer Trance.

„Lassen Sie uns drinnen sprechen“, sagte die Frau und gab Frances ein Zeichen, das Gewehr hinunter zu nehmen.

Die drei Detektive folgten der Frau, Taro und ihren restlichen Schützlingen ins Hausinnere. Im Eingangsfoyer blieben sie erstaunt stehen.

Durch den Flur und die angrenzenden Räume flitzten zwei Dutzend Kinder, aus dem oberen Stockwerk, in das eine große, hölzerne Treppe aus dem Foyer führte, hörten sie noch weitere Kinderstimmen. Fukuzawa stellte sich neben das Treppengeländer und blickte von dort in das, was wohl eine Art Salon war. Er brauchte nicht lange, um anhand der Beschreibung, die sie von ihren jungen Klienten erhalten hatten, eines der vermissten Waisenkinder aus Suribachi zu erkennen.

„Es gibt hier unglücklicherweise kaum Mobiliar“, erklärte die Anführerin, die nicht so genannt werden wollte, entschuldigend. „Verzeihen Sie daher bitte, wenn wir hier reden.“

Stillschweigend gab Fukuzawa sein Einverständnis, während er beobachtete, wie Weißer Dämonenschnee sein Schwert und Kunikidas Pistole hoch oben auf einem hohen Schrank ablegte. So kam keines der Kinder daran.

„Kyoko, Taro, holt euch ein Handtuch zum Abtrocknen, sonst erkältet ihr euch noch“, richtete die Frau mit so viel Sanftheit an die zwei, dass Fukuzawa zweifelsfrei von der Echtheit ihrer Sorge überzeugt war.

Die zwei trotteten los und an ihrer statt kam ein Mädchen mit strohblonden Zöpfen hinzu.

„Haben wir Besuch?“, fragte sie erfreut und strahlte, als sie Kenji erblickte. „Bleibst du jetzt auch bei uns?“

Ohne dies bewusst zu tun, stellte Fukuzawa sich augenblicklich schützend vor den blonden Jungen.

„Sie sind nur zu Besuch, Eleanor“, erläuterte die Dame mit plötzlichem, greifbaren Schwermut und richtete ihren betrübten Blick auf die Detektive. „Wir haben einen schrecklichen Fehler gemacht.“ Den letzten Satz brachte sie mit brüchiger Stimme hervor.

„Wer sind Sie?“, fragte Kunikida harsch. „Was wollen Sie hier? Und was haben Sie mit unseren Kollegen angestellt? Ihre Einsicht ist schön und gut, aber wir brauchen Antworten.“

Obwohl Kunikida sie so grob anfuhr, blieb die Frau ruhig und nickte bedächtig. „Lassen Sie mich bitte alles erklären. Mein Name ist Johanna Spyri. Ich … ich nehme mich schon seit sehr langer Zeit Waisenkindern an. Die ersten, um die ich mich kümmerte, waren diese beiden hier: Frances Burnett und Felix Salten. Gemeinsam nahmen wir weitere Kinder auf, doch die Kinder waren oft von ihren schlimmen Erfahrungen traumatisiert und wir konnten ihnen nicht helfen.“ Bei diesen trübsinnigen Erinnerungen sammelten sich neue Tränen in ihren Augen. „Das änderte sich, als wir das junge Fräulein Porter, unsere liebe Eleanor, fanden. Sie hat auch jeden, der ihr lieb und teuer war, verloren, aber trotzdem ist sie immer fröhlich. Wir vermuten, das hängt mir ihrer Fähigkeit zusammen.“

Die Detektive stutzten.

„Was für eine Fähigkeit ist das?“, hakte Fukuzawa nach.

„Eleanors Fähigkeit überschreibt traurige Erinnerungen mit fröhlichen“, fuhr Spyri fort. „Die Kinder, auf die sie ihre Fähigkeit anwendet, vergessen ihre gesamte Vergangenheit und leben stattdessen in dem Glauben, schon immer bei uns gewesen zu sein.“

„Deswegen also. Deswegen erkennen Kyoka und Ranpo uns nicht mehr und halten Sie für ihre Familie.“ Selten hatte Kunikida so verbittert ausgesehen und geklungen wie in diesem Moment. „Aber wie funktioniert diese konstruierte Lebensgeschichte, wenn ständig neue Kinder hinzukommen?“

Burnett zuckte mit den Schultern. „Die Fähigkeit aktualisiert sich von selbst. Kommt ein neues Kind hinzu, ist es für alle, als wäre es von Anfang an bei uns gewesen.“

„Lässt sich dieser Prozess rückgängig machen?“, warf Fukuzawa ein.

„Nein“, antwortete Salten, „Eleanor kann ihre Fähigkeit nicht zurücknehmen. Sobald sie auf ein Kind – oder anscheinend auch einen kindlichen Erwachsenen – angewendet wurde, geht sie auf dieses über und Eleanor kann nichts mehr daran beeinflussen.“

„Verstehe.“ Es war offensichtlich, dass Fukuzawa sich eine andere Antwort erhofft hatte. Auch Kunikidas Anspannung nahm zu.

„Das heißt doch nur, dass Dazai Ranpo, Kyoka und Lucy berühren muss und nicht die Befähigte selbst, oder?“

Kunikida und der Chef schreckten aus ihrer Resignation hoch, als Kenji ihnen mit seiner Schlussfolgerung unwissentlich neue Hoffnung gab.

Dazai. Sie brauchten Dazai.

„Warum haben Sie überhaupt diese drei und auch die anderen Kinder aus Suribachi mitgenommen?“ Fukuzawa wollte nicht vorwurfsvoll klingen, aber es war nicht zu leugnen, dass er dies trotzdem tat.

„Waisenkinder von der Straße aufzulesen ist unsere normale Herangehensweise“, erklärte Burnett. „Was das Mädchen im Kimono betrifft …“ Sie blickte zerknirscht drein. „... Das war meine Schuld. Meine Fähigkeit, 'Herzlieb', lässt mich bei Berührung die traurigen Erinnerungen im Herzen eines jeden sehen und ich bin zufällig in das Mädchen hineingelaufen und was ich da gesehen habe, hat mich vollkommen erschüttert. Ich wollte ihr nur helfen, wirklich! Ich hatte ja keine Ahnung, dass es doch jemanden gibt, der sich um sie kümmert.“

„Bei dem Mädchen aus dem Restaurant war es ähnlich“, ergänzte Spyri. „Ich hatte mich zufällig mit ihr unterhalten und sie hat mir leid getan.“

„Und der Meisterdetektiv“, begann Salten, „na ja, der ...“

„Ist Ihnen auf die Schliche gekommen“, schloss Kunikida erbost.

Peinlich berührt bejahte Salten seine Schlussfolgerung.

„Was uns zu der Frage bringt, was Sie in Yokohama wollen und mit den Morden der letzten Zeit zu tun haben“, fuhr der bebrillte Detektiv fort. „Wer ist Charlie?“

Die drei Europäer tauschten bestürzte Blicke aus. Selbst Eleanor wirkte ein kleines bisschen weniger fröhlich.

„Unser Bruder“, sagte sie, tapfer lächelnd. „Wir müssen ihn wiederfinden, bevor es die bösen Leute tun.“

„Die bösen Leute?“ Unbewusst verfinsterte sich Fukuzawas Blick und ließ Eleanor einen Schritt hinter Spyri zurückweichen.

Diese tätschelte der Jüngeren beruhigend auf den Arm und richtete sich noch ein Stück gerader auf. „Charlie, das heißt, sein richtiger Name ist Charles Dickens, ist ein Waisenjunge, der von einem inzwischen eingestellten Programm des britischen Militärs offiziell zu einem Kämpfer ausgebildet wurde. Wir erfuhren von ihm, nachdem uns ein Brief ohne Absender erreicht hatte. Dort stand, dass in Wahrheit einer der an diesem Programm beteiligten Wissenschaftler den Jungen für Forschungen zu Fähigkeiten missbrauchte. Mit den Informationen aus diesem Brief gelang es uns, den Jungen zu befreien und Eleanor überschrieb wie gewohnt seine Erinnerungen, jedoch … kam es zu Komplikationen.“

Kunikida ächzte und begann, seine Schläfen zu massieren. „'Komplikationen' ist ein Wort wie 'Dazai'“, raunte er entschuldigend. „Beides löst bei mir sofort Migräne aus.“

„Was für Komplikationen?“, hakte Fukuzawa unbeirrt nach.

„Fagin, der Wissenschaftler“, erzählte Spyri weiter, „hat es sich in den Kopf gesetzt, den perfekten Soldaten zu erschaffen, einer, dessen Physis die Grenzen von dem sprengt, wozu ein gewöhnlicher Mensch in der Lage ist. Bei seinen Experimenten sind, so weit wir das in Erfahrung gebracht haben, nicht wenige umgekommen. Deswegen ist das Programm der Regierung zu heiß geworden und sie haben es eingestellt. Sie wissen nicht, dass ein Erfolg dabei herumgekommen ist.“

„Ein Erfolg?“ Kunikida war dazu übergangen, die Stelle zwischen seinen Augen zu kneifen. „Sie meinen den Jungen, den Sie suchen.“ Er warf dem Chef einen gequälten Blick zu. „Ein perfekter Soldat, ein wahnsinniger Wissenschaftler; wieso geraten immer wir an solche Fälle?“, sollte dieser Blick sagen.

„Charlie ist ein guter Junge“, sagte Spyri mit fester und doch aufgebrachter Stimme, „er würde niemandem etwas zuleide tun. Aber Fagin kann ihn dazu bringen.“

„Wie?“ Fukuzawas Frage kam wie aus der Pistole geschossen. Er befürchtete bereits das Schlimmste und wartete nur auf die Bestätigung.

„Er beherrscht ebenso eine Fähigkeit, die die Gedanken manipuliert.“

Wie hätte es auch anders sein können.

„Als diese Fähigkeit, die den Jungen dazu bringt, als Feinde deklarierte Personen zu töten“, fuhr Spyri fort, „auf Eleanors Fähigkeit traf, entbrannte in Charlies Innern ein Kampf um seine Seele. Ohne dies wirklich steuern zu können, rastet er immer mal wieder aus und tut dann Dinge, an die er sich hinterher nur noch vage oder überhaupt nicht mehr erinnern kann.“

„Moment.“ Kunikida atmete hörbar durch. „Dieser Junge ist für die ganzen Morde verantwortlich? Die Mordfälle hängen zusammen, Sie können uns nicht weismachen, er wüsste nicht, was er tut.“

„Im Gegensatz zu Fagins Programmierung“, übernahm Burnett die Erklärung, „tötet Charlie durch Eleanors Intervention nicht mehr auf seinen Befehl oder wahllos. Er rastet immer aus, wenn Kindern Leid angetan wird. Das ist sein Trigger. Dann übernimmt Fagins Befehl, alle zu töten, die er als Feinde ansieht, die Kontrolle über ihn.“

„Was übrigens viel schwerer wäre, wenn ihr auf mich gehört hättet und wir die Waffen dieser dubiosen Truppe vernichtet hätten. Aber hat jemand auf mich gehört? Nein.“ Salten kreuzte beleidigt die Arme vor der Brust. „So hat er sie sich wieder gegriffen und ist durchgedreht, als er nach unserer Ankunft in Yokohama von dieser Waisenhausaffäre erfahren hat.“

„Wir bräuchten keine Waffen, wenn Fagin und seine Schläger uns nicht verfolgen würden“, gab Burnett gereizt zurück. „Sie sind hinter uns her, seit wir Charlie in England vor ihnen gerettet haben. Wir sind seitdem ständig auf der Flucht und schließlich kamen wir heimlich mit einem Containerschiff nach Yokohama. Aber selbst hier haben sie uns aufgespürt! Das haben wir der kleinen Spion-Ratte Noah zu verdanken!“

„Ich weiß nicht, ob ich das richtig verstanden habe.“ Kenji lugte hinter Fukuzawas breitem Rücken hervor. „Aber wenn dieser Fagin etwas Illegales macht, warum sind Sie nicht zur Polizei gegangen?“

„Das ging nicht“, antwortete der Chef zur Überraschung ihrer ausländischen Gegenüber. „Niemand darf von der Existenz dieses Jungen erfahren. Die Regierung hat das Programm zwar eingestellt, als es zu Todesfällen kam, aber wenn sie erfahren würden, dass einer der Versuche geglückt ist, würden sie dieses Kind erneut in eine Forschungseinrichtung bringen und vielleicht auch an anderen Kindern weiter forschen. Deswegen hatten Sie auch Angst davor, dass wir uns in diese Angelegenheit einmischen. Sie dachten, wir könnten den Jungen unserer Regierung übergeben.“

Sprachlos starrten Spyri, Burnett und Salten abwechselnd sich und Fukuzawa an.

„Sie sind ein kluger Mann, Herr Fukuzawa.“ Spyri lächelte betrübt, während der Chef ein Kopfschütteln andeutete.

„Ich schlussfolgere lediglich aus Beobachtungen, die ich gemacht habe. Leider ist die Menschheit noch weit davon entfernt, sich zivilisiert zu nennen, solange sie so mit denen umgeht, die am meisten unseres Schutzes bedürfen.“

„Es scheint, wir haben schrecklich viele Fehler gemacht.“ Ohne ihre stolze Haltung aufzugeben, fielen einige Tränen Spyris Wangen hinab und ließen Eleanor ganz hibbelig werden.

„Oh, nicht weinen, Tante! Nicht weinen! Gibt es denn nichts, über das du froh sein kannst?“

Salten fuhr sich grübelnd mit den Fingern durch seinen Schnurrbart. „Jetzt, wo wir alle den Schaden haben, kommt das eventuell etwas unverfroren daher, aber …“ Er schaute die Detektive direkt an. „Ich sehe das richtig, dass Sie unseren Charlie nicht irgendeiner Regierung übergeben würden?“

„Das ist richtig“, bestätigte Fukuzawa ihm.

„Würden Sie uns dann helfen?“

Burnett blickte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Als würden die uns jetzt noch helfen! Bei dem, was wir getan haben!“

Salten wackelte widersprechend mit einem Finger. „Versöhnung ist vielversprechender als Hass. Der gute Mann hat eben von zivilisiert gesprochen. Was steht mehr für ein zivilisiertes Miteinander als Versöhnung?“

„Ich hätte noch eine Frage“, äußerte Fukuzawa unvermittelt in die Diskussion hinein. „Verändert die Fähigkeit des Mädchens das Wesen der Kinder?“

Nun blickten die Ausländer verdutzt drein.

„Nein“, gab Burnett zur Antwort. „Nein, sie bleiben, wer sie sind. Nur mit veränderten Erinnerungen.“

„Hat Ihre Frage mit Atsushis Bemerkung zu tun, dass Kyoka und Lucy mitfühlender und gelöster als sonst schienen?“, hakte Kunikida nach.

„Hmm?“ Burnetts Miene hellte sich auf. Zum ersten Mal blickte die Frau nicht wie von ihren Sorgen erdrückt drein. „Ach, das meinen Sie. Wie soll ich das erklären? Durch die glücklichen Erinnerungen werden die Kinder einfach gutherzig und heiter. Wenn einem etwas Gutes widerfahren ist, so vergisst man das doch ein Leben lang nicht, ist es nicht so?“

Unbewusst ging Fukuzawas rechte Hand zu der Stelle, an der er Ranpos Brille aufbewahrte. „Man vergisst es ein Leben lang nicht“, flüsterte er leise, bevor er seine Stimme wieder erhob.

„Sie brauchen unsere Hilfe, um den Jungen zu finden?“

„Sie wollen uns wirklich helfen?“ Spyri sah die Männer vor sich völlig entgeistert an.

„Wir können nicht zulassen, dass er weiter mordet“, entgegnete Fukuzawa, auch in Kunikidas Richtung, der ihn ebenso fragend anblickte. „Außerdem kann einer meiner Mitarbeiter sehr wahrscheinlich die Gedankenmanipulation dieses Fagins aufheben. Ist Ihnen zufällig ein großer Mann mit braunen Haaren begegnet? Sein Name ist Osamu Dazai.“

Die in Gedanken versunkenen Gesichter der anderen waren Kunikida Antwort genug.

„Das heißt dann wohl nein. Sie wüssten es sofort, wenn Sie ihm begegnet wären.“

„Bitte!“, rief Spyri plötzlich aus. „Wir vermissen seit letzter Nacht ein weiteres unserer Kinder. Sie hatte uns helfen wollen, diesen Slum nach Charlie abzusuchen und ist zu keinem der verabredeten Treffpunkte zurückgekehrt. Wenn ihr etwas zugestoßen ist, dann ...“ Ihre zitternden Hände umklammerten das Kreuz um ihren Hals.

„Kunikida, gib Atsushi Bescheid, das ein Mädchen vermisst wird. Was Charlie betrifft, brauchen wir Ran- … Taro.“

Aufgeregt nickte Spyri und schickte Eleanor los, den verlangten Bruder zu holen.

„Haben Sie eine Zeitung von heute da?“, fragte Fukuzawa.

„Öh, ja.“ Salten nahm die auf einer Fensterbank abgelegte Zeitung und gab sie Fukuzawa, gerade als Taro um die Ecke in den Flur schlappte.

„Was soll ich machen? Ich habe Kopfschmerzen.“

Der Chef hielt ihm die Zeitung hin. „Kannst du hier drin nach Hinweisen suchen, wo Charlie als nächstes auftauchen könnte?“

„Huh?“ Taro blinzelte ihn mit großen Augen an. „Die Idee ist gut, alter Mann, aber ...“

„Bitte, Taro“, bat Spyri ihn. „Mach, was er sagt. Die Detektive wollen uns helfen.“

„Natürlich wollen sie das, das habe ich doch gesagt, aber ich brauche meine Brille, um meine Fähigkeit einzusetzen!“ Der junge Mann rollte mit den Augen.

„Stimmt.“ Burnett beäugte ihn. „Als wir ihn fanden, hatte er eine Brille auf. Wo ist die?“

Ein anklagender Finger zeigte auf Fukuzawa.

„Der alte Mann hat sie mir weggenommen!“

Zögerlich zog der Chef die Brille aus seinem Ärmel und betrachtete sie abermals.

„Ranpo denkt wieder, er sei ein Befähigter“, raunte Kunikida ihm zu. „Das ist seltsam.“

Ohne darauf zu reagieren, hielt Fukuzawa dem Schwarzhaarigen den gewünschten Gegenstand hin. Hastig schnappte Taro sich die Brille, seufzte wohlig, als er sie wiederhatte und setzte sie freudestrahlend auf.

„Das ist besser, viel besser!“ Grinsend schlug er die Zeitung auf. „Ah, alles klar. Charlie wird diese Leute da umbringen wollen.“

Kunikida und Burnett eilten so schnell an Taros Seite, um in die Zeitung zu blicken, dass sie fast mit ihren Köpfen aneinander schlugen.

„Den Vorstand dieser Firma?“ Verwirrt runzelte Kunikida die Stirn, als er das Bild zu einem Bericht auf der Wirtschaftsseite erblickte. „Wieso?“

Der Meisterdetektiv schnalzte mit der Zunge. „Ist doch offensichtlich. Sie spekulieren mit Immobilien. Das Waisenhaus der vernachlässigten Kinder steht auf einem profitablen Grundstück. Und auf dem Foto, das nach der Ermordung der Kirchenoberen aufgenommen worden war, war auf einem Schreibtisch im Hintergrund die Visitenkarte dieser Firma zu sehen.“

Ein kleines Detail an diesen Erklärungen erregte Fukuzawas Aufmerksamkeit. „Er hat weiterhin die Erinnerungen an diesen Fall?“

Salten zuckte mit den Schultern. „Fragen Sie mich nicht. Das war das erste Mal, dass wir Eleanors Fähigkeit bei einem Erwachsenen angewendet haben. Und bei Gott, es war das letzte Mal!“

„Diese Firma hat ihren Sitz in der Nähe von Suribachi. Wenn wir davon ausgehen, dass dieser Junge sich hier nicht auskennt, haben wir immerhin ein wenig Zeit, bis er dort eintrifft und wir können ihm zuvorkommen. Ich rufe sofort Atsushi an.“ Kunikida zückte sein Handy, als ein plötzliches Geräusch alle aufschrecken ließ.

Jemand hämmerte wie wild gegen die Eingangstür.

Nein, nicht nur wie wild.

Wie in einer Panik.

Take me by the hand – As we cross through battlefields

Take me by the hand

As we cross through battlefields“

 

Placebo, „Beautiful James“

 

Dickens rannte panisch in der vorangegangenen Nacht durch Suribachi. Er wusste nicht, wo er war, wie er dahin gekommen war und, vor allem, was er dort getan hatte. Sein erster Impuls war es gewesen, nach Hause zu wollen, zu seiner Tante, seinen Geschwistern, zur lieben Eleanor, die sich immer so gut um ihn kümmerte. Doch -

Diese Leute waren nicht seine Tante und seine Geschwister. Sie hatten ihn aus dem Labor befreit und mitgenommen, als Fagin, der unheimliche Sikes und die anderen gerade nicht da gewesen waren. Eigentlich hatte er niemanden auf der Welt. Allein und kurz vor dem Hungertod hatte er auf der Straße gelegen, als Fagin ihn aufgesammelt hatte. Seine Freude, nicht einsam auf der Straße zu sterben, war damals nur von kurzer Dauer gewesen, denn in dem Labor hatte er die schlimmsten Dinge gesehen und am eigenen, zerbrechlichen Körper erlebt. Er hatte nie wirklich verstanden, was dort geschehen war. Fagin hatte stets nur davon geredet, einen perfekten Körper zu erschaffen, einen, der die Regeln der Fähigkeiten sprengte, der mehr einem Engel als einem Menschen glich und ihm den Ruhm und die Ehre bringen sollte, die ihm bisher verweigert worden waren. Viel deutlicher waren für den Jungen die Schmerzen in Erinnerung geblieben, die er dort erlitten hatte. Manchmal hatte es sich so angefühlt, als würde sein Körper in Flammen aufgehen und explodieren, andere Male war es, als würden ihm die Gliedmaße abgerissen. Aber dann eines Tages hatte sich alles besser angefühlt und Fagin und Sikes hatten davon gesprochen, den nächsten Schritt zu wagen.

Da begannen seine Gedächtnislücken. Für eine sehr lange Zeit – er wusste nicht für wie lange – hatte sich sein Bewusstsein so angefühlt, als wäre es unter Wasser gedrückt und alles, was er hatte sehen können, waren die verschwommen, undeutlichen Bilder von abscheulichen Gräueltaten gewesen. Morde. So viele blutrünstig ermordete Menschen. Und er hatte nichts tun können außer zuzusehen. Ab da war es sein Herz gewesen, das entsetzlich weh getan hatte.

Dann hatte er bei der Tante und seinen Geschwistern gelebt und es hatte sich so angefühlt, als wären sie tatsächlich seine Familie gewesen. Er hatte immer noch die Erinnerungen an eine glückliche Kindheit mit ihnen allen zusammen, doch diese Erinnerungen deckten sich nicht mit der Wirklichkeit, die an den Rand seines Bewusstseins gedrängt worden war. Und immer wieder hatte er erneute Gedächtnisaussetzer gehabt, aber wenn er danach zu sich gekommen war, hatte stets die Tante ihm im Arm gehalten und ihm gesagt, dass alles gut werden würde.

Nun wurde ihm schlagartig klar, dass sie seinetwegen immer auf der Flucht gewesen waren und an keinem Ort lange hatten bleiben können. Fagin und Sikes waren hinter ihm her. Warum nur hatten dann diese Leute, mit denen er doch gar nicht verwandt war, alles riskiert, um ihn zu beschützen? Und wo waren sie jetzt? Waren sie in Sicherheit?

Heiße Tränen flossen in dieser kalten Nacht seine Wangen hinab, während er ziellos weiterlief. Undeutliche Bilder flackerten vor seinem inneren Auge auf. Sie zeigten blutüberströmte Männer und allein der Gedanke daran ließ ihn verzweifeln. Wieso wurde gerade er ständig von solch grausamen Bildern gequält? Und wieso konnte er sich plötzlich an all das, was zuvor geschehen war, erinnern? Es war, als wäre aus dem Nichts heraus ein Schleier von seinem Verstand gelüftet worden. Die Erinnerungen waren so drastisch über ihn hereingebrochen, dass sie ihn ganz aus der Bahn geworfen hatten. Als dies passiert war, hatte da dieser Mann am Boden gelegen.

Wer war dieser Mann eben gewesen? Warum hatte er mit ihm geredet? Und warum in aller Welt hatte er da blutend auf der Erde gelegen? War nicht auch eine seiner Schwestern dort gewesen? War Polly wirklich dort gewesen oder hatte er sie sich nur eingebildet?

Vor Angst und Müdigkeit ins Stolpern geratend hielt Dickens an. Der Morgen war längst angebrochen und auch wenn die Sonne es nicht durch die dicke Wolkendecke hindurch schaffte, war es inzwischen hell genug, dass er etwas sehen konnte. Der Junge erschrak zutiefst, als er an sich hinabblickte.

Woher kam das ganze Blut??

Seine gesamte Kleidung war voller getrockneter Blutflecken, aber ihm selbst tat nichts weh …. Er schluckte. Was … was hatte all das zu bedeuten?

„Charles! Mein Lieber!“

Die Stimme, die zu ihm drang, ließ ihn vor Angst die Luft anhalten.

Wie Espenlaub zitternd hob Dickens seinen Kopf und sah Fagin vor sich stehen.

„Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Du kannst doch nicht einfach weglaufen!“

Der Junge machte einen Schritt zurück, weg von seinem Peiniger, nur um gegen jemand anderen zu stoßen.

„Hast du eine Ahnung, was wir deinetwegen für einen Aufwand betreiben mussten?“, knurrte Sikes ihn von oben herab an und hielt ihn sogleich schmerzhaft grob fest. „Jetzt mach schon, bevor der Knirps wieder abhaut.“

„Ja doch, ja doch.“ Fagin trat an ihn heran. Er legte eine seiner Hände auf den Kopf des Jungen und strich dreimal über seine Haare.

„Nein! Nein! Bitte nicht!“, schrie Dickens, als er fühlte, wie sein Bewusstsein erneut unter Wasser gedrückt wurde. Dann verstummte er und gab jeglichen Widerstand gegen Sikes Griff auf.

„Sehr schön.“ Fagin grinste hämisch. „Du bist jetzt wieder mein furchtloser Soldat. Deine Aufgabe ist es zu kämpfen und die zu töten, die uns im Weg stehen. Und jetzt möchte ich, dass du die Schweizerin und ihre nervigen Helferlein umbri-“

Als wäre plötzlich Leben in ihn zurückgekehrt, wand Dickens sich pfeilschnell aus Sikes Umklammerung und schlug den mehr als doppelt so großen Mann mit mehreren Faustschlägen in den Magen. Getroffen ließ der Hüne ihn los und torkelte zurück.

Fagin erschrak, als der Junge ihn mit eiskaltem Blick anschaute. Oder … sah er durch ihn hindurch?

Nur einen Augenaufschlag später war Dickens auf und davon.

„Was soll der Scheiß?!“, fuhr Sikes ihn an. „Wieso wirkt deine Fähigkeit nicht?“

„Sie wirkt! Nur … nicht so richtig.“ Missmutig guckte der Älteste der Engländer in die Richtung, in die sein Forschungsobjekt verschwunden war. „Hat das Zusammenleben mit der Schweizerin etwa seinen Willen gestärkt? Dann gehorcht er meinem Willen nicht so, wie ich das möchte. Wie ärgerlich. Nun, uns bleibt immer noch Plan B. Noah ist auf Position und gibt mir Bescheid, sobald sich etwas tut.“

 

„Wie sollen wir vorgehen?“ Unsicher blickte Tanizaki zu Atsushi und Yosano. Sie waren wieder in Suribachi angekommen. „Letzte Nacht meinte der Chef ja, wir sollten zusammenbleiben ...“

„Hast du Angst, Tanizaki?“ Yosanos Frage wirkte nicht sonderlich fürsorglich. „Keine Sorge, wenn du verletzt wirst, kümmere ich mich sofort um dich.“ Sie grinste wie eine Wahnsinnige und ließ den armen Rothaarigen in Schweiß ausbrechen.

„Whaa! Nein, ich … ich passe auf mich auf!“

„Suribachi ist einfach zu groß, so werden wir Dazai nie finden.“ Das Geplänkel der beiden anderen nicht mitbekommend, ließ Atsushi seinen Blick über die schier endlosen Häuserreihen schweifen. „Wenn wir doch nur wüssten, wo genau er hingegangen ist.“

„Versuch bloß nicht, so zu denken wie er“, ermahnte Yosano ihn. „Erstens ist das unmöglich, zweitens verletzt du dich dabei nur selbst. Und das wäre keine Wunde, die ich wieder hinbekommen würde.“

„Als Dazai uns gestern verlassen hat, sagte er, er wolle das große Ganze im Blick behalten.“ Tanizaki richtete seine Augen auf die höher gelegenen Ebenen des Slums. „Vielleicht meinte er das ganz wörtlich.“

„Dieser Anhaltspunkt ist ein Tropfen auf dem heißen Stein.“ Die Ärztin stemmte eine Hand in ihre Hüfte. „Das grenzt immer noch nicht wirklich etwas ein.“

Atsushis Blick folgte dem Tanizakis. „Aber vielleicht sehen wir von da oben irgendetwas, was wir von hier unten nicht sehen.“

Sein Satz ließ Yosano seufzen. „Meine Intervention kommt bereits zu spät. Du fängst an, wie er zu klingen.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Na schön. Es ist helllichter Tag, also ist es unwahrscheinlicher, dass uns jetzt jemand direkt angreift. Außerdem sind der Chef und die anderen mittlerweile vermutlich bei den Entführern angekommen und wir müssen uns keine Sorgen um die machen. Atsushi, siehst du die Treppe am Ende der Straße da? Du läufst da hoch. Tanizaki, du nimmst die auf dieser Seite und ich die auf der Gegenüberliegenden. In zehn Minuten melde ich mich bei euch und ich rate euch, ihr geht besser ran und seid wohlauf. Wenn nicht, dann … verspreche ich euch eine Sonderbehandlung.“

„Ieeeek!“ Tanizaki und Atsushi quietschten gleichzeitig, bevor sie hoch und heilig versprachen, vorsichtig vorzugehen.

 

Atsushi rannte die Straße entlang, bis er die Treppe erreicht hatte und begann, sie – zwei Stufen auf einmal nehmend – hinaufzulaufen. In Nullkommanichts hatte er das erste Plateau erreicht.

Nein. Von hier aus sieht man noch gar nichts. Ich muss weiter nach oben.

Ohne viel Zeit zu verlieren, sprintete er die Stufen weiter hinauf. Auch auf dem zweiten und dritten Plateau war die Aussicht noch nicht ausreichend. Bis wohin würde Dazai gehen, um einen Überblick bekommen zu wollen? Alles an dem Mann war außergewöhnlich und er hatte ja selbst einmal gesagt, er hätte gute Augen, aber … wie gut eigentlich? Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass er aus meterweiter Entfernung Dinge sah, die andere von nahem und mit einer Lupe nicht wahrnahmen.

Die Leute, die in Suribachi unterwegs waren, beäugten Atsushi wieder kritisch. Es war aber nicht nur, weil er sich in der Detektei umgezogen hatte, sondern vor allem, weil momentan alles an ihm „Schnüffler!“ schrie, so wie er mit wachen Augen die Gegend absuchte. Besonders viele Menschen begegneten ihm hier nach wie vor nicht. Viele Straßenzüge in Suribachi waren schlicht und einfach verlassen.

Ein Platzregen brach aus den Wolken hervor, als Atsushi ein fünftes Plateau erreichte. Trotz des strömenden Regens bekam man von hier oben so langsam einen besseren Überblick über die Straßen, die unter einem lagen, doch sonderlich viel erkennen konnte man nicht. Von so weit oben waren die Menschen fast nur noch als Punkte zu erkennen. Würde Dazai hier etwas sehen können?

Plötzlich überkam ihn ein beklemmendes Gefühl. Dieser Geruch, der in seine Nase drang, obwohl der Regen sich dazwischen schob … das war doch …? Unmöglich. Das konnte nicht sein. Wieso sollte er ausgerechnet hier und jetzt diesen Geruch wahrnehmen? Es war unmöglich. Punkt. Denn wenn er Recht hatte, wäre das eine Katastrophe. Eine Katastrophe, die er im Moment wirklich nicht brauchen konnte. Es durfte also nicht sein.

Seinem Gutzureden zum Trotz blickte Atsushi sich angsterfüllt um. Aus einer der dunklen Gassen kamen Geräusche. Schritte. Sie wurden lauter. Sie kamen auf ihn zu-

„Menschentiger?!“

Verdammt!

Musste das jetzt sein? Konnte er so viel Pech haben?? Konnte ein einzelner Mensch wirklich so viel Pech haben??

„Akutagawa.“

Es lag kein Gewitter in der Luft und doch schienen sich zwischen den beiden jungen Männern, die hier aufeinander trafen und sich wie vom Donner gerührt anstarrten, Blitze zu entladen; so angespannt war die Atmosphäre zwischen ihnen.

Das hieß, bis Atsushi eine Kleinigkeit auffiel.

Seinen eigenen Augen nicht trauend blickte er auf die kleinen Finger, die sich in den schwarzen Mantel seines Gegenübers verkrampften.

„Was … was ist denn das?“ Verdattert zeigte der Detektiv auf die Fingerchen am dunklen Stoff. „Akutagawa … du hast da was.“

Ein lautes, unzufriedenes Murren hallte durch das Viertel.

„Ich weiß.“ Sichtlich peinlich berührt und genervt drehte der Mafioso sich ein wenig zur Seite, sodass die kleine Besitzerin der winzigen Hand zum Vorschein kam.

Endgültig die Welt nicht mehr verstehend, betrachtete Atsushi das kleine Mädchen, das sich an Akutagawas Mantel festgekrallt hatte. Sie wirkte vollkommen verstört und starrte durch alles, was sich vor ihren Augen befand, einfach hindurch.

„Wer ist das Mädchen?“

„Keine Ahnung, sie ist mir sozusagen in die Arme gelaufen“, knurrte der Dunkelhaarige zurück. „Sie sagt kein Wort und fängt nur immer wieder plötzlich an zu flennen. Vielleicht eine Verwandte von dir?“

Die Provokation ignorierend, schrillten in Atsushis Innerem Alarmglocken. Dem Kind musste etwas Furchtbares zugestoßen sein, wenn sie sich so verhielt. Und sie ausgerechnet bei Akutagawa Schutz suchte.

Der Silberhaarige beugte sich zu dem Mädchen hinunter. „Hallo, mein Name ist Atsushi. Möchtest du mir deinen verraten?“

Sie reagierte nicht. Ihre Augen starrten weiterhin ins Leere.

„Nicht? O-okay, dann ...“ Behutsam hielt er ihr eine Hand hin. „Möchtest du nicht zu mir kommen?“

Erneut gab es keine Reaktion.

Von dem verächtlichen Schnauben eines Mafiosos abgesehen. „Kannst du überhaupt etwas, Menschentiger?“

„Ich sehe nicht, dass du ihr eine große Hilfe bist!“, gab Atsushi nun doch beleidigt zurück.

„Ich hatte überlegt, sie von ihrem Leid zu erlösen“, antwortete Akutagawa gefühlskalt und ließ Atsushi damit erschrocken zusammenzucken, „aber ich bin ja vertraglich gebunden.“

Der Detektiv atmete erleichtert aus und ordnete seine Gedanken. Das Mädchen trug saubere Kleidung und wirkte nicht unterernährt. „Sie scheint kein Straßenkind zu sein.“

„Gratuliere, Menschentiger, du bist ein Meister im Erkennen des Offensichtlichen.“

Ein anderer Gedanke durchzuckte Atsushi plötzlich. „Was hast du überhaupt hier verloren?“

„Das Gleiche könnte ich dich fragen.“

„Ich suche nach ...“ Der junge Detektiv stockte. Sollte er ihm dies mitteilen? Es konnte ihm zum Vorteil oder zum Nachteil gereichen. Eine Ahnung, deren genauen Inhalt er noch nicht greifen konnte, überkam ihn. Es konnte kein Zufall sein, dass er ausgerechnet hier und jetzt Akutagawa über den Weg lief. Nein, es musste irgendeinen Zusammenhang geben. Egal, wie die Antwort ausfallen würde, er würde etwas in Erfahrung bringen können; dessen war Atsushi sich nun ganz sicher. Ein Ausdruck von Entschlossenheit formte sich auf seinem Gesicht und ließ Akutagawa interessiert eine Augenbraue heben.

„Ich suche nach Dazai. Er ist seit gestern verschwunden.“

Die Augen des Mafioso weiteten sich mit einem Mal. „Dazai ist … verschwunden? Red keinen Unsinn, Menschentiger. Dazai kann nicht einfach verschwinden, er-“

„Doch“, entgegnete der Jüngere resolut. „Dazai ist mitten in einem Fall verschwunden. Genau wie Kyoka.“

Sprachlos starrte Akutagawa ihn an, während der Regen alle drei durchnässte. „Was für ein Fall?“ Die Tonlage des Schwarzhaarigen verriet die Mühe, die er damit hatte, ruhig zu bleiben.

„Mehrere Kinder sind aus Suribachi entführt worden. Anscheinend von Leuten, die selber einen bestimmten Jungen suchen.“

Da!

Für den Hauch eines Moments hatte Atsushi die wissende Mimik des Anderen erhaschen können. Akutagawa wusste etwas!

„Wie der Boss es gesagt hat“, erwiderte Akutagawa kryptisch. „Das armselige Büro der bewaffneten Detektive mischt sich in alle Angelegenheiten ein.“

„Akutagawa, wenn du etwas weißt, dann teile es mir bitte mit! Es geht schließlich um Dazai-“

Atsushis Handy klingelte und ließ ihn vor Schreck zusammenfahren, was Akutagawa mit einem abschätzigen Geräusch kommentierte.

„Was gibt es, Tanizaki?“

„Hat Yosano sich bei dir gemeldet?“ Die Stimme des Rothaarigen klang beunruhigt und gehetzt.

„Nein, bei mir noch nicht.“ Stimmt ja, Yosano wollte sich bei uns melden, um sicher zu gehen, dass alles in Ordnung ist …

„Bei mir auch nicht. Und sie selbst geht nicht an ihr Handy.“

Atsushis Magen verknotete sich von jetzt auf gleich. „Tanizaki, kannst du nach ihr sehen? Ich komme sofort nach!“

„Ich bin schon auf dem Weg!“

Die Detektive legten auf.

„Noch mehr Probleme, Menschentiger?“

Der Silberhaarige sah von seinem Mobiltelefon auf. „Wir müssen unsere Unterhaltung auf ein anderes Mal verschieben.“ Am liebsten wollte er sofort lossprinten, aber da gab es noch ein Problem …. Er konnte unter keinen Umständen das Mädchen bei Akutagawa lassen.

„Ich weiß nicht, von welcher Unterhaltung du redest.“

„Dazai ist vielleicht in Gefahr!“

Ein finsteres Lachen entwich dem schwarzgekleideten Mann. „Das ist eure Sache. Wenn Dazai der Meinung ist, er müsse Detektiv spielen, dann will ich nicht der Spielverderber sein.“ Bänder von Rashomon erschienen aus dem Mantel und lösten die Finger des Mädchens gewaltsam von dem Stoff, bevor Rashomon das Kind im Ganzen packte und Atsushi entgegen schmiss. Sie fiel mehr in seine Arme, als dass er sie auffing.

Heillos perplex und panisch suchte Atsushi in seinem Kopf nach Worten, die Akutagawa am Gehen hindern konnten.

 

Wenige Minuten, bevor der Platzregen die Straßen von Suribachi in Matschpfützen verwandelte, stapfte Yosano mit nicht gerade guter Laune die Stufen der riesigen Treppe hinauf. Wenn sie Dazai finden würde, würde sie ihn so hart vertrimmen, dass der Idiot nie wieder auch nur einen Mucks machen würde. Sie hatte vollstes Vertrauen in den Chef, aber nun bekamen sie alle die Quittung dafür, dass Dazai solche Narrenfreiheit genoss. Irgendwann mussten seine ständigen Alleingänge ja mal nach hinten losgehen. Und sie durfte das jetzt ausbaden! Wie viel lieber wäre sie bei Ranpo und dem Chef geblieben! Ersterer wusste zwar im Moment mit ihrer Person nicht viel anzufangen, was Yosano heftige Stiche ins Herz versetzte, aber Letzterer litt unter dieser Situation noch viel schlimmer als sie und für ihn wollte sie da sein.

Die Ärztin wusste, warum sie zum Suchtrupp gehörte. Atsushi war hier, weil er nur einen Nervenzusammenbruch bekam, wenn Kyoka ihn weiterhin nicht erkannte, aber sie selbst war wegen einer unausgesprochenen Sache hier:

Der Chef ging davon aus, dass Dazai verwundet sein musste und deswegen nicht zurückgekommen war.

Yosano hätte am liebsten widersprochen, dass Dazai doch schon öfters einfach verschwunden war und sich bisher selbst aus so gut wie jeder misslichen Lage befreit hatte, aber irgendetwas nagte an ihr. Zum einen hatte der Chef ein wahrhaft untrügliches Gefühl für Gefahren, zum anderen waren ihr selbst Zweifel gekommen. Dazai war eigensinnig und unverantwortlich und chaotisch, doch er hatte noch nie einen Kollegen im Stich gelassen. Und warum sollte er ausgerechnet jetzt damit anfangen?

Der Regen entlud sich mit voller Wucht aus den Wolken.

„Großartig!“ Schimpfend blickte Yosano zum Himmel empor, ehe sie zum nächsten Plateau rannte und von dort zu einem Haus mit einem hervorstehenden Dach, wo sie sich unterstellte. „Lässt sich nichts dran machen.“ Sie seufzte, nahm ihr Handy heraus und wollte Tanizakis Nummer anwählen, als ein schwarzhaariger junger Mann mit einem übergroßen Mantel die Stufen hinaufeilte, die sie zuvor erklommen hatte.

„Entschuldigung, hübsche Frau!“, rief er ihr zu und blieb vor ihr stehen. „Puh! Sie sind ganz schön schnell dafür, dass Sie auf diesen hochhackigen Dingern rumlaufen.“

Yosano stutzte. Irgendetwas an dem Jungen war seltsam. War er ihr gefolgt? Sie hatte niemanden bemerkt.

„So?“, sagte sie lediglich und musterte ihn unauffällig.

Er grinste. „Ja! Aber … auch nicht schnell genug.“

Die Detektivin konnte gerade noch sehen, wie der Junge ein Blasrohr aus seiner Tasche holte. Im nächsten Moment steckte der Pfeil bereits in ihrer Halsvene.

„Wie …?“ Sie riss ihn sich wieder heraus. Wann hatte er das Geschoss abgefeuert? Bewegte er sich so schnell, dass sie seinen Bewegungen mit bloßen Augen nicht folgen konnte?

„Wer … bist … du …?“ Der Pfeil hatte ein Betäubungsmittel enthalten. Nervigerweise eins von der sehr starken Sorte. Alles vor ihren Augen verschwamm, ihre Beine wackelten und das Handy glitt aus ihrer Hand.

„Ist schon schade um so ein schöne Frau“, antwortete der Junge mit ungebrochen guter Laune. „Aber unsere Nachforschungen haben ergeben, dass Sie ein Problem für uns sein würden.“

Yosano konnte nichts mehr darauf erwidern. Bewusstlos fiel sie vornüber und wurde von dem Jungen aufgefangen.

„Na dann, lassen wir sie mal von der Bildfläche verschwinden!“

Er schleifte sie fort.

 

Das wilde Hämmern gegen die Eingangstüre ließ die Augen der drei Detektive und der vier Ausländer alarmiert zur Haustür schnellen.

Nur Taro fasste sich gequält an den Kopf. „Stellt das ab! Ich habe Kopfschmerzen!“

Kunikida und Fukuzawa wollten bereits nach vorn schreiten, als Burnett energisch an ihnen vorbeizog.

„Bitte!“, ertönte die atemlose Stimme einer jungen Frau von draußen. „Bitte! Es ist dringend!“

Burnett tauschte einen Blick mit Spyri aus, die sich schützend vor Eleanor gestellt hatte und ihr bekräftigend zunickte. Dann riss die Blondine die Türe auf.

Vom strömenden Regen vollkommen durchnässt und keuchend nach Luft schnappend, stand eine gepeinigt aussehende, rothaarige junge Frau vor der Tür.

„Du!“ Burnett hob ihr Gewehr, das sie nie aus der Hand gelegt hatte, wieder hoch. „Du gehörst zu Fagins Leuten!“

Als er dies hörte, schritt Fukuzawa umgehend an Burnetts Seite. Seine Aura machte deutlich, dass er keine Waffe benötigte, falls es zu einem Kampf kommen sollte.

„Wartet! Bitte, hört mich an!“, flehte Nancy eindringlich. „Bitte!“

„Wenn ich das richtig verstehe, dann gehört sie zu euren Verfolgern, ja?“, wandte sich Kunikida an Spyri, ohne den Eingangsbereich aus den Augen zu lassen.

„Soweit wir wissen, ist ihr Name Nancy“, antwortete die Angesprochene. „Wir haben bisher direkte Konfrontationen mit Fagins Leuten vermeiden können, daher wissen wir nicht, ob sie eine Fähigkeit besitzt.“

„Ich bin eine Befähigte, aber meine Fähigkeit kann euch nichts zuleide tun! Und ich komme unbewaffnet!“

„Können Sie das überprüfen?“ Fukuzawa schaute zu Burnett, die ihre Stirn in Falten legte.

„Ich kann sie nach Waffen durchsuchen, klar … ah!“ Der Frau wurde bewusst, was die Frage des Älteren beinhaltet hatte. „Du da, halt mal.“ Sie warf das gesicherte Gewehr Kunikida zu, der davon zwar überrumpelt wurde, es aber dennoch geschickt auffing. Burnett lächelte achselzuckend. „Immerhin stellen sich Ihre Leute nicht so an.“

Das Grummeln von Salten im Hintergrund ignorierend, machte Burnett einen Schritt auf Nancy zu, die stillschweigend ihre Einwilligung zur Durchsuchung gab. Die Blondine tastete alle Stellen ab, an denen eine Waffe versteckt sein konnte und zog bei jeder Berührung mit der vermeintlichen Feindin scharf die Luft ein.

Für einen langen Moment war nichts außer Burnetts angestrengtem Atmen und dem prasselnden Regen zu hören.

„Sie trägt keine Waffen bei sich.“ Burnett schluckte und räusperte sich.

„Was hast du gesehen?“, fragte Spyri vorsichtig.

„Klingt es zynisch zu sagen, dass es das übliche Leid war?“

Spyris Hand wanderte wieder zu ihrem Kreuz. „Sie soll reinkommen.“

Burnett und Fukuzawa machten einen Schritt zurück, sodass Nancy eintreten und die Haustüre geschlossen werden konnte.

Ratlos und unsicher stand die junge Frau, deren Alter Fukuzawa auf ein wenig jünger als das von Yosano schätzte, nun vor ihnen. Sie hatte offenkundig nicht verstanden, was genau gerade vor sich gegangen war.

„Also“, sagte Burnett wieder gefasster in die aufgekommene Stille hinein, „Fagin hat dich als Waisenkind von der Straße aufgelesen, aber deine Fähigkeit wurde seinen Ansprüchen nicht gerecht und so hat er das Interesse an dir verloren. Allerdings hatte dieses brutale Ekel Sikes Gefallen an dir gefunden und so bist du bei der Truppe geblieben.“

Nancy starrte sie erschrocken an. „Woher …?

„Was ich nicht sehen kann“, fuhr Burnett unbeirrt fort, „ist warum du bei ihnen geblieben bist.“

Die Rothaarige schüttelte ihren Schock ab und richtete sich ein Stück auf. „Weil es keinen anderen Platz auf der Welt für jemanden wie mich gibt. Und weil … weil Bill mich nicht immer schlecht behandelt.“

„Er verprügelt sie, aber sie liebt ihn dennoch“, übersetzte Taro, als er Kunikidas fragende Miene sah. „Vermutlich weil sie von niemandem sonst Liebe erfährt. Tragisch, aber so ist es nun mal.“

„So bitter dies auch alles ist“, warf Salten ein. „Wieso kommst du jetzt zu uns?“

„Charles ist heute in der Früh Fagin in die Arme gelaufen.“

Ein erschrockenes Japsen der Ausländer hallte durch das kleine Foyer.

„Er hat versucht, seine Gedanken zu kontrollieren, um ihn auf Sie anzusetzen, aber irgendwas ist schief gegangen und Charles ist weggelaufen.“

Spyris Hand ging ruckartig zu ihrem Mund. Ihre Augen weiteten sich bei der Erkenntnis, die gerade über sie eingebrochen war.

„Dieser Brief damals … der war von dir, nicht wahr?“

Nancy nickte ernst. „Ich … ich konnte es nicht mehr länger mitansehen.“ Es war schwer zu sagen, ob es Stolz oder Verlegenheit war, was die Tränen in ihren Augen daran hinderte zu fallen.

„Sie werden dich töten, wenn sie herausfinden, dass du uns geholfen hast“, stellte Burnett sachlich fest.

„Das ist mir bewusst.“

„Wenn bei dem Jungen nach wie vor der Trieb zum Töten aktiv ist“, überlegte Fukuzawa laut, „dann wird er dort auftauchen, wo Taro gesagt hat. Kunikida, du fährst dorthin und gibst Atsushi und den anderen Bescheid, dass sie zu dieser Immobilienfirma kommen sollen.“

„Moment mal“, wandte Burnett ein, „das ist immer noch unsere Sache. Ich komme mit.“

„Ich auch!“, meldete sich Eleanor energisch zu Wort. „Wenn ich es noch einmal versuche, wird es dieses Mal bestimmt klappen! Ganz bestimmt!“

„Solange Dazai unauffindbar bleibt, stehen uns nicht viele Optionen zur Verfügung“, gab Kunikida zu bedenken. „Wir haben keine Ahnung, was uns bei dem Jungen erwartet.“

„Er ist eine tödliche Waffe“, erwiderte Nancy. „Seine Kraft und seine Schnelligkeit gehen über jegliche Vorstellungskraft hinaus.“

Nachdenklich besah sich Spyri ihre Schützlinge und nickte schließlich. „Eleanor soll es noch einmal versuchen. Ich will nicht, dass Charlie getötet wird.“

„Das wollen wir ebenso nicht“, entgegnete Fukuzawa und Spyri atmete erleichtert aus.

Kenji hob eine Hand. „Chef, soll ich auch mit Kunikida mitgehen?“

„Nein“, antwortete Fukuzawa rasch, „du und ich bleiben hier. Wir wissen nicht, wie der Feind vorgehen wird, aber wir wissen, dass er es auf diese Leute und vielleicht auch auf diese Kinder abgesehen hat.“ Er drehte sich zu Spyri. „Wir sollten jeden in diesem Haus zu einem sicheren Ort evakuieren.“

Derweil hatte Kunikida Atsushis Nummer gewählt. „Atsushi, hör jetzt gut zu. Zum einen wird ein weiteres Mädchen vermisst-“ Der Brillenträger stutzte, als ihm augenscheinlich ins Wort gefallen wurde. „Wie sie aussieht?“ Fragend wandte er sich an Salten.

„Sie hat rotbraune Haare“, antwortete dieser laut in Richtung des Telefons, sodass Atsushi ihn hören konnte, „in einem Dutt. Und braune Augen. Sie trägt ein-“

Kunikida hob eine Hand, um ihm zu signalisieren, kurz ruhig zu sein. „Ein dunkelrotes Kleid?“

Salten nickte dynamisch. „Hat er sie etwa gefunden??“

Die Miene des Blondschopfs wurde schlagartig von tiefen Stirnfalten durchzogen. „Was soll das heißen, sie ist bei dir und … Akutagawa?!“

Fukuzawa und Kenji wandten sich mit weit aufgerissenen Augen zu dem vor Fassungslosigkeit schreienden Kollegen um.

„Langsam, Bengel, langsam, ich komme nicht mehr mit.“ Kunikidas Hand verkrampfte sich immer mehr um das Handy. „Yosano ist verschwunden?? Tanizaki konnte sie nicht dort finden, wo sie sein sollte?? Ein Betäubungspfeil??“

Fukuzawa bemerkte, wie Nancy zusammenzuckte.

„Dann tun sie es jetzt doch“, wisperte sie kleinlaut, „sie wollen die bewaffneten Detektive daran hindern, ihnen in die Quere zu kommen.“

„Du weißt, wohin man diese Frau gebracht hat, oder?“ Überraschend ernst und dringlich mischte sich Taro in das Gespräch ein.

Nancy nickte. „Fagin hat diesen Plan erarbeitet, um gegen die Detektive gewappnet zu sein. Sie wollen sie im Hafen ertränken.“

„Kunikida“, dröhnte die Stimme des Chefs, „wir fahren wie geplant fort. Atsushi soll das Mädchen bei den Kindern in Suribachi lassen und zu der Firma eilen. Tanizaki fährt so schnell er kann zum Hafen. Taro, welche Ecke des Hafens eignet sich am besten dafür, jemanden zu ertränken?“

„Der hintere Teil der alten Marina, der nicht mehr genutzt wird. Dort ist das Wasser tief und wenig los.“

„Hast du alles verstanden, Atsushi?“, hakte Kunikida mit drastisch zunehmender Ungeduld nach. „Alles klar, dann los!“

Mit offenen Mündern hatten Burnett, Salten und Spyri diese Szene bestaunt. Sie waren natürlich auch in Sorge, da ihretwegen nun ein Mitglied der Detektei in Gefahr schwebte, doch ihre Bewunderung für die Art, wie die Detektive diese Krise angingen, war überwältigend.

„Seid ihr nicht froh, dass sie hergekommen sind?“ Auf dem Weg zur Tür strahlte Eleanor. „Ich bin so froh, dass wir ihnen begegnet sind!“

Sie, Burnett und Kunikida stürmten hinaus.

 

„Hrrrrgh!!“

Ein größerer Stein flog in einem hohen Bogen durch die Luft, nachdem er mit einem zornigen Kick getreten worden war. Der Stein, an dem der rothaarige Mafioso seine unterirdisch schlechte Laune ausließ, krachte durch eine eh schon durchlöcherte Fensterscheibe eines leer stehenden Hauses.

Drei Tage!

Seit drei Tagen schon musste er durch dieses verdammte Viertel stapfen und irgendein Gör suchen! Der Stein reichte nicht einmal annähernd, um seinem Ärger Luft zu machen!

Und jetzt schüttete es auch noch wie aus Eimern!!

„Aaaaargh!!“

Chuuyas frustrierter Schrei schallte durch die Straße und blieb in der näheren Umgebung wahrscheinlich trotzdem ungehört. Es sah nicht so aus, als wäre hier noch irgendeine der Bruchbuden bewohnt.

Ein gezielter Tritt von ihm und ein Großteil Suribachis wäre dem Erdboden gleich gemacht. Chuuya konnte es vor seinem inneren Auge sehen und musste gegen den Drang ankämpfen, seine Vision Wirklichkeit werden zu lassen.

Ging ja nicht.

Der Boss wollte unbedingt dieses Kind in die Finger bekommen und da konnte er schlecht sagen, er hätte es in einem Anfall von Frustration aus Versehen um die Ecke gebracht. Vermutlich wäre es besser für das Balg, hier sein Ende zu finden, als zum Boss eskortiert zu werden, aber … Befehl war eben nun einmal Befehl.

Was Chuuya sich nicht eingestehen wollte, war der wahre Grund für seinen Zorn.

Suribachi war ein Elendsviertel, ja, das allein war schlimm genug, aber hier war ihm das Schlimmste passiert, was man sich vorstellen konnte; etwas, das er nicht einmal seinem größten Feind wünschen würde.

Wobei -

Es war recht schwierig, dies seinem größten Feind zu wünschen, denn dieser und die Plage, die ihn hier befallen hatte, waren ein und dasselbe.

Hier war er Dazai zum ersten Mal begegnet.

An jenem Tag war hier an diesem Ort, ohne dass Chuuya dies damals geahnt hatte, ohne dass er noch darauf hätte Einfluss nehmen können, sein Schicksal besiegelt worden. Von einem durchgeknallten, von Suizidfantasien schwafelndem Halbstarken mit einer pechschwarzen Seele. Bis heute hatte er es nicht geschafft, dafür Rache nehmen zu können; bis heute tanzte Dazai ihm auf der Nase herum und verspottete ihn.

„AAAAARRRGGGGHHHH!!!“

Chuuyas Faust donnerte in eine Wand und brachte sie und letztlich das ganze Häuschen zum Einstürzen.

Er konnte keinen Schritt durch diesen verfluchten Slum machen, ohne an das teuflische Grinsen dieses brünetten Wirrkopfs zu denken!

Irgendwann! Irgendwann würde der Moment kommen, in dem er sich für alles rächen könnte. Und dann würde Dazai winselnd um Verzeihung bitten, aber diese würde ihm nicht gegönnt! Oh nein! Er hatte keine Vergebung, kein Mitleid verdient!

Chuuya gelangte an das Ende der Häuserreihe und erreichte ein Plateau. Das Mehr an Regen, das hier auf ihn niederprasselte (zum Glück hatte er seinen Hut!), kühlte sein kochendes Gemüt ein wenig ab.

Dann stutzte er plötzlich.

Trotz des Regens drang ein ihm von Berufswegen äußerst bekannter Geruch in seine Nase.

Blut.

„Vielleicht wird es jetzt doch noch interessant.“ Er lächelte ein düsteres Lächeln.

Gespannt drehte er sich in die Richtung, aus der er den Geruch wahrnahm und betrat eine schmale, dunkle Gasse. Mit jedem Schritt, den er machte, wurde der Geruch stärker und stärker.

Wie vom Donner gerührt blieb er plötzlich stehen. Ungläubig und übertölpelt starrte er auf das, was er dort vorfand. Er konnte seinen Augen kaum trauen.

„Was …?“, war alles, was bei diesem Anblick über seine Lippen kam. Wie ein wildes Tier, das zum ersten Mal einem Menschen begegnete, näherte er sich mit höchster Wachsamkeit der regungslos am Boden liegenden Gestalt.

Es gab keinen Zweifel.

Und Chuuya verstand die Welt nicht mehr.

I will battle for the sun

I will battle for the sun“

 

Placebo, „Battle for the sun“

 

„Hey! HEY!“

Chuuya schlug mit zunehmender Intensität gegen Dazais Wange. Er hatte den bewusstlosen Spinner bereits erfolglos an der Schulter gerüttelt und dann seinen Puls gefühlt. Der Mistkerl verfügte noch über einen, wenn auch über keinen sonderlich starken, aber sein Gesicht war so weiß, dass es fast durchsichtig wirkte. Seine Atmung war flach. Chuuya hob Dazai ein wenig an und musterte ihn kritisch. Zwei offensichtliche Wunden sprangen ihm ins Auge: eine an seinem Bauch und eine an seinem Oberschenkel. Beide bluteten nur moderat, jedoch …. Der Blick des Mafioso wanderte weiter in die dunkle Gasse hinein. Dem schlechten Licht zum Trotz war dort, wo der Regen nicht hinkam, klar und deutlich eine Blutspur zu erkennen. Hatte Dazai sich von da hinten bis hierher geschleppt? Was war passiert? Es war bei ihm nie auszuschließen, dass er sich diese Wunden selber zugefügt hatte, aber eigentlich war er doch immer sehr darauf bedacht, keine Schmerzen zu erleiden. Vielleicht hatte er aber auch schlicht und ergreifend endgültig den Verstand verloren. Auch das war bei ihm niemals auszuschließen.

Chuuya erstarrte, als eine Hand seine Wange berührte. Seine Augen schnellten zurück zu dem am Boden liegenden Mann, der ihn mit erschöpften Blick auf seine typische Art anlächelte. Der Rothaarige schluckte. Die Hand war eiskalt – und tätschelte ihn plötzlich.

„Guter Junge … du hast … Herrchen gefunden.“

Dazais Stimme war mehr ein furchtbares Krächzen und elendes Röcheln, aber trotzdem in der Lage, Chuuya unverzüglich auf 180 zu bringen.

„Red nur weiter!! Dann hast du es schneller hinter dir als dir lieb ist!!“

„Eigentlich … kann es mir … nicht schnell genug gehen ...“ Dazai versuchte zu lachen, doch aus heiterem Himmel krampfte er und Blut spie aus seinem Mund. Geistesgegenwärtig drehte Chuuya Dazai auf die Seite, damit er nicht an seinem eigenen Blut erstickte. Er erbrach Unmengen der roten Flüssigkeit auf den kalten, dreckigen Boden.

Hier stimmte etwas nicht.

Chuuyas Augen suchten erneut den Körper des würgenden und hustenden Brünetten ab. Diese zwei Verletzungen, die er gesehen hatte, konnten allein nicht der Grund für seinen miserablen Zustand sein. Übersah er etwas?

„Du musst in ein Krankenhaus. Und das schnell.“

Der verrückte Bastard hatte die Nerven, ein Kopfschütteln anzudeuten.

„Dass … du dich … hier herumtreibst …. Will Mori … diesen Jungen … haben?“

„Woher zur Hölle weißt du davon?!“

Dazais blutüberströmte Mundwinkel formten sich zu so etwas wie einem schwachen Lächeln.

„Schon klar, soll heißen, der gnädige Herr weiß immer alles.“ Chuuya knirschte mit den Zähnen. Selbst in so einer Situation konnte Dazai nichts anderes als ein besserwisserischer Arsch sein. Das Handy des Mafioso klingelte und Chuuya fummelte es mit der Hand, die nicht Dazai festhielt, aus seiner Tasche.

„Was?“ Als er das Gespräch annahm, fühlte er Dazais durchdringenden Blick auf sich, obwohl der Andere seine Augen nur mit Mühe offenhalten konnte. „Woher weißt du, wo der Junge auftauchen … du hast den Menschentiger belauscht? Ja, ich habe auch schon gemerkt, dass die Detektive hier herumschnüffeln. Ja, geh.“ Mit einem lauten Knurren steckte er das Handy wieder weg. Dazais erbrochenes Blut mischte sich mit dem Regen und saute seine teuren Lederschuhe ein.

„Chuuya ...“ Die eiskalte Hand fand wieder ihren Weg zu seiner Wange. „Du hast … Akutagawa gerade … in sein … Verderben geschickt.“

„HÄH? Was redest du für einen Mist?“

Dazai wirkte, als würde er jeden Augenblick das Bewusstsein verlieren und doch sah er den Rothaarigen intensiv an. „Ich kann ... meine Beine ... nicht ... bewegen. Sei noch einmal … ein guter Junge … und … hilf Herrchen.“

Chuuya fragte sich, ob da ein akuter Sauerstoffmangel im Gehirn zu ihm sprach. „Du bittest mich um Hilfe? Hah! Wieso glaubst du, dass ich dich nicht einfach hier verrecken lasse?“

Der Detektiv setzte zu einer Antwort an, doch stattdessen spuckte er von neuem anfallsartig Blut. Das qualvolle Röcheln übertönte sogar noch das nicht nachlassen wollende Peitschen des Regens. Mit tiefen Furchen auf seiner Stirn sah Chuuya auf das erbärmliche Bild, das sein ehemaliger Partner nun abgab.

Nicht mehr lange … und es ist aus mit ihm.

 

Atsushi hatte mit wenigen Worten das Mädchen bei ihren Klienten aus Suribachi abgeliefert und war, mit dem Versprechen, sie möglichst schnell wieder abzuholen, aus dem Slum herausgeeilt. Kunikida hatte ihm, während er mit Burnett und Eleanor zu seinem Wagen gerannt war, die Adresse der Firma und eine Kurzfassung der Ereignisse mitgeteilt.

Dem jungen Detektiv schwirrte der Kopf.

Experimente an Waisenkindern, Gedankenmanipulation, fehlgeleitete Nächstenliebe.

Wut und Verzweiflung türmten sich in seinem Innern auf. Warum taten Menschen solche schrecklichen Dinge? Spyri und ihren Leuten machte er dabei den geringeren Vorwurf. Sie hatten in der Überzeugung gehandelt, das Richtige zu tun und dabei den Blick dafür verloren, was richtig und was falsch war. Ihr Wunsch, Kyoka und Lucy zu helfen, hatte dazu geführt, dass die beiden ihm entrissen worden waren. Und Ranpo vergessen hatte, zu wem er gehörte. Das größere Verbrechen war zweifellos das von Fagin und seinen Leuten, die über Leichen gingen und keine Achtung vor dem Leben zu haben schienen.

Der Junge, den er nun aufhalten sollte, war ein Opfer, kein Täter. Und Atsushi konnte, während er wie der Wind rannte, nur hoffen, dass Tanizaki es rechtzeitig zum Hafen schaffen würde.

Wo steckte Dazai nur?

Wieso war er in einer solchen Krise nicht da?

Atsushis Magen verknotete sich mehr und mehr, je öfter er an seinen wie vom Erdboden verschluckten Mentor dachte.

Dazai war der einzige, der Dickens, Kyoka, Lucy und Ranpo helfen konnte.

Bitte, bitte, bitte, Dazai! Wo auch immer du bist, komm so schnell wie du kannst her. Wir brauchen dich!

Der silberhaarige Detektiv stoppte nach Luft schnappend vor dem schmucklosen, zweckdienlichen Bürogebäude der Immobilienfirma. Der Regen hatte sich ein wenig abgeschwächt, aber noch fielen weiter ununterbrochen Tropfen vom Himmel. Vor dem Firmensitz sammelte sich das Wasser in tiefen Pfützen. Schlagloch reihte sich an Schlagloch und in der weiteren Umgebung war nichts außer ein paar alten Fabriken. So nah an Suribachi war wohl keine der besten Adressen in Yokohama. Noch schien hier alles ruhig zu sein, beinahe schon zu ruhig - wenn man von einer Sache absah:

„Warum bist du mir gefolgt?“ Er drehte sich um und blickte auf Akutagawa, der ihn mithilfe von Rashomon im Nu eingeholt hatte.

Der schwarzgekleidete Mafioso zuckte betont indifferent mit den Achseln. „Ich verstehe absolut nicht, wie Dazai es mit einem dermaßen begriffsstutzigen Individuum wie dir aushält. Ist es nicht offensichtlich?“

Atsushi ballte seine Hände zu Fäusten. „Was will die Hafen-Mafia von dem Jungen?“

Akutagawa lachte kurz und überheblich. „Du bist ja doch nicht auf den Kopf gefallen, Menschentiger. Mori hat es 'Kompensation' genannt, stell dir darunter vor, was auch immer du willst.“

„Kompensation?“ Atsushi war verwirrt. „Wofür?“

„Geschäftliche Verluste.“

Man konnte mit ansehen, wie der junge Detektiv langsam zu begreifen begann. Die Menschen, die Dickens ermordet hatte, hatten zur Hafen-Mafia gehört? Das hieß …. Er zog scharf die Luft ein.

„Du bist hier, um ihn zu töten?!“

Der Ältere schnaufte. „Denken ist in der Tat nicht dein Fachgebiet, oder, Menschentiger?“

Stimmt ja, das Versprechen, das ich ihm abgerungen habe! Aber was macht er dann hier?

Atsushis angestrengtes Nachdenken wurde von Schritten unterbrochen. Die beiden jungen Männer wandten sich den näher kommenden Geräuschen zu. Ein Junge, vielleicht im gleichen Alter wie Atsushi, aber definitiv jünger aussehend, stand vor ihnen. Seine dunkle Kleidung war von oben bis unten mit altem Blut befleckt und sein unfokussierter Blick verriet, dass er sich nicht für die zwei, die vor dem Eingang des Bürogebäudes standen, interessierte.

Das muss er sein!

„Du bist Charlie, nicht wahr?“, sprach Atsushi ihn an. „Ich bin Atsushi Nakajima vom Büro der bewaffneten Detektive. Ich bin hier, um dich nach Hause zu bringen.“

Dickens registrierte, dass er angesprochen worden war und neigte den Kopf leicht in die Richtung des Silberhaarigen. Seine Augen sahen durch Atsushi hindurch.

„Kürzen wir das ab“, warf Akutagawa genervt ein und ging mit Rashomon auf den Engländer los, um ihn damit zu fangen.

Als er die Bänder auf sich zurasen sah, regte sich mit einem Mal etwas in dem leeren Blick des Jungen und wie aus dem Nichts … war er verschwunden.

„Was??“, stutzte der Mafioso erzürnt. „Wo ist er hin??“

Atsushi blickte ebenso nervös umher. Was war denn das gewesen? War der Junge etwa so schnell?

„AHHH!“

Ungläubig beobachtete Atsushi, wie Akutagawa durch einen Tritt in den Rücken in die Fassade des Gebäudes geschmettert wurde.

Der Junge war so schnell.

Der junge Detektiv fuhr erschrocken zusammen, als Dickens nun vor ihm stand.

„Ich verstehe“, sagte er mit leiser, kalter Stimme, „ihr gehört zu ihnen. Ihr gehört zum Feind.“

„Huh?“ Atsushi wedelte panisch mit den Händen. „W-was? N-nein! Wie ich schon sagte, ich bin hier, um dich nach Hause zu bringen! Deine Tante schickt mich!“

„Tante?“ Atsushi konnte sehen, wie die Pupillen des Anderen sich weiteten und wieder kleiner wurden. „Tante ...“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht fasste Dickens sich mit einer Hand an den Kopf. „Ich muss … die Kinder beschützen und alle Feinde-“

„Nein, das ist nicht nötig! Du musst nicht mehr kämpfen!“ Der Detektiv machte einen behutsamen Schritt auf ihn zu. „Deine Geschwister warten zu Hause auf dich. Sie wollen, dass du nach Hause kommst.“

Wenn er ehrlich war, dann hatte Atsushi keine Ahnung, was er da tat. Er erinnerte sich alles andere als gern an das Mal, als er unter der Kontrolle einer Fähigkeit gestanden hatte. Hätte Dazais Stimme ihn damals nicht erreicht, er hätte Naomi und Haruno an diesem beschaulichen Bahnhof wahrscheinlich getötet. Nur – er hatte Dazai schon lange gekannt, damals, als er unter Qs Einfluss geraten war. Für Dickens war er selbst ein vollkommener Fremder; wie sollte er da einen Zugang zu ihm finden?

„Meine Geschw- … argh!“ Der junge Engländer griff sich nun mit beiden Händen an den Kopf, es sah gar so aus, als würde er sich gleich seine braunen Locken herausreißen.

Wie soll ich weitermachen? Was soll ich ihm sagen? Denk nach, Atsushi, denk nach! Du schaffst das! Du musst dir etwas einfallen lassen!

„Wir können dir helfen, alles wird gut werden! Ich habe einen Freund, der andere Fähigkeiten neutralisieren kann, er kann dich von dieser Fähigkeit befreien.“ Wir müssen ihn nur wiederfinden. Dazai, verdammt, wo steckst du bloß?!

„Nichts kann gut werden … wie sollte es …?“, murmelte Dickens und atmete immer schwerer. „Ich weiß nicht mehr, was real ist und was nicht … das Wasser! Es zieht mich immer wieder hinunter! Ich ertrinke! Wenn ich unter Wasser gezogen werde, werde ich bestimmt wieder töten!“ Den letzten Teil schrie er voller Verzweiflung hinaus.

Atsushi schluckte angespannt. Das Wasser? Was soll das heißen?

„Du hast Angst, habe ich Recht?“

Dickens wirrer Blick sah genau zu ihm und er nickte.

„Das verstehe ich gut. Ich habe auch oft Angst. Früher war es sogar noch schlimmer, aber seit es Leute gibt, die an mich glauben und die ich beschützen will, kann ich diese Angst viel leichter beiseite drängen. Gibt es solche Leute nicht auch in deinem Leben?“

Der Junge kauerte sich zusammen und wirkte, als würde er gleich weinen. Dann nickte er von neuem.

„Gut.“ Atusushi lächelte und hielt ihm eine Hand hin. „Dann lass uns zu ihnen gehen.“

Zögerlich streckte Dickens eine zitternde Hand nach der ihm Hingehaltenen aus – als plötzlich ein schwarzes Band zwischen sie rauschte und sie gewaltsam auseinander riss.

Ein Husten ertönte.

„Leider muss ich das tragische Gejammer zweier so unglückseliger Gestalten unterbrechen. Er kommt mit mir.“

Mist! Akutagawa! Ihn hatte ich total vergessen!

„Musste das sein??“, knurrte Atsushi erbost dem Mafioso entgegen. „Ich hatte es fast geschafft!!“

„Es fast geschafft zu haben, sind die Worte eines Verlierers, denn nur dem, der es schafft, wird Anerkennung zuteil.“ Akutagawa trat von der hinter ihm auseinander bröckelnden Wand weg und gab Rashomon den Befehl, den am Boden liegenden Dickens einzuwickeln.

Kräftige Tigerarme und -beine ersetzten die schmalen Gliedmaße an Atsushis Körper. „Du kannst ihn NICHT MITNEHMEN!!“

Der Detektiv stürmte nach vorne und zerriss mit seinen Krallen das Band, das den Jungen einwickelte. Unzählige Bänder schossen daraufhin auf ihn los und rammten sich mit ihren spitz zulaufenden Enden in seinen Körper. Atsushi schrie vor Schmerzen auf und machte einen Hechtsprung rückwärts, um Rashomons Speerspitzen wieder loszuwerden. Pechschwarze Lanzen sprossen aus dem Boden und Atsushi drehte seinen Körper in der Luft so, dass bei seiner Landung seine mächtigen Tigerbeine an den glatten Seiten der Lanzen aufkamen und er diese mit purer Kraft zerbersten lassen konnte. Aus dem Augenwinkel bekam er mit, wie Dickens aufstand und sich wieder zum Firmeneingang aufmachte.

War alles umsonst?? Hat die Fähigkeit wieder Kontrolle über ihn??

„Akutagawa! Stopp! Wir müssen erst den Jungen aufhalten!“

„Hm?“, brummte der Mafioso und beendete seine Attacken abrupt, als er das sah, was sein Gegner bemerkt hatte. „Wir?“ Er schnaubte erneut verächtlich, ehe ein Überraschungsangriff von Rashomon Atsushi auf die Erde knallen ließ. Akutagawa wollte gerade auf Dickens losgehen, als ein weiterer junger Mann auf Dickens zulief. Seine blonden Haare flogen beim Rennen wild auf und ab und die ganze Zeit grinste er dabei albern.

„Ich habe ein Geschenk für dich!“, flötete der Neuankömmling, blieb vor dem Jungen stehen, zog ein Schwert aus einer hinter seinem Cape verdeckten Scheide und überreichte es ihm. Dickens nahm es ohne zu zögern, was den blonden jungen Mann ekstatisch verzückte. „Ah! Wer einmal ein Kunsthandwerk des großartigen Meisters Bates genossen hat, will nie wieder mit etwas anderem zustechen, wie?“

Wer war das denn nun schon wieder? Dieser Kerl musste zu Fagins Leuten gehören. Atsushi richtete sich nach dem letzten harten Schlag von Akutagawa ein Stück auf, als er plötzlich eine Präsenz hinter sich wahrnahm.

„Großartig! Großartig!“ Ein älterer Herr in einem geflickten Mantel tauchte breit und unheimlich grinsend neben ihm auf. „Was für unfassbar schöne Fähigkeiten!“

Atsushi hatte nicht lange Gelegenheit sich über diesen Satz zu wundern, denn mit quietschenden Reifen und einer Vollbremsung erschienen just in diesem Moment Kunikida, Burnett und Eleanor auf der Bildfläche. Sie stürmten aus dem Wagen und Burnett erstarrte vor Schreck.

„Junger Detektiv! Vorsicht!!“

Verdattert hörte Atsushi ihre Warnung, bevor er fühlte, wie der ältere Mann neben ihm dreimal über das Fell seines linken Arms strich.

„Töte diese drei da.“

 

Mit nicht gerade mildem Staunen beobachtete Fukuzawa, wie Spyri und Salten diszipliniert alle Kinder in dem an das Foyer angrenzenden Salon versammelten. Sie zählten die Kinder durch (Fukuzawas Schätzung nach mussten es etwa 35 sein), während Kenji und Lucy das Haus durchsuchten, um keines der Kinder zu übersehen. Die tropfnasse Nancy stand, in eine Decke gewickelt, an einer Wand und konnte das Schauspiel vor ihren Augen ebenso kaum glauben. Taro lümmelte mit langem Gesicht auf einem Stuhl herum und beschwerte sich weiter über seine Kopfschmerzen.

„Herr Fukuzawa“, wandte sich Spyri besorgt an ihn, „was ist mit Polly?“

„Ich werde meine Sekretärin später damit beauftragen, sie abzuholen und zu Ihnen zu bringen.“

„Und … das ist wirklich in Ordnung?“ Die Dame strich nervös über ihre Kreuzkette.

Der Chef nickte. „Ein Bekannter von mir betreibt eine Pension in Yamanashi. Dort werden Sie vorerst bleiben, bis wir Ihre Verfolger dingfest gemacht haben.“

Der Plan war einfach. Die Kinder, ihre Aufpasser und die Verräterin Nancy sollten in Lucys künstlichen Raum gebracht werden. Fukuzawa und Kenji mussten dann lediglich Lucy (die nur auf den Namen „Maud“ hörte und sich wunderte, woher die Fremden denn bitte ihre Fähigkeit kannten) nach Yamanashi begleiten.

„Tante!“ Lucy blieb mit Kenji zusammen aufgeregt im Türrahmen stehen. „Wir können Kyoko nirgends finden!“

Spyri und Fukuzawa stutzten gleichermaßen.

„Wir haben das ganze Haus abgesucht und wirklich überall nachgesehen“, erklärte Kenji ratlos, „aber wir haben sie nicht gefunden.“

„Das verstehe ich nicht.“ Der Griff um ihr Kreuz wurde wieder fester. „Wo kann sie denn nur sein?“ Sichtlich beunruhigt wandte sie sich den anderen Kindern zu. „Hat jemand Kyoko gesehen?“

„Sie sagte, sie wollte kurz raus“, antwortete ein kleiner Junge.

„Raus?“, hakte Spyri nach.

„Wir haben auch draußen nachgesehen“, entgegnete Kenji sogleich, „da war niemand.“

„Wann war das?“, fragte nun Fukuzawa nach und versuchte, seine Stimme etwas zu mäßigen, da die Kinder bei ihm umgehend zurückschreckten. „Wann wollte sie kurz nach draußen?“

Der Junge legte beim Überlegen den Kopf schief. „Bevor Frances und Eleanor mit dem ernsten Mann rausgegangen sind.“

„Sie ist ihnen gefolgt.“ Taro richtete sich ein wenig auf. „Das ist interessant. Warum macht sie so etwas?“

Fukuzawa schaute zu Spyri. „Kann sie unser Gespräch belauscht haben?“

Die Dame nickte verdutzt. „Das alte Haus ist sehr hellhörig. Aber warum sollte sie-?“

Die Augen des Chefs wanderten zu Taro, der ihn interessiert anblinzelte. „Vielleicht hat es etwas in ihr ausgelöst, Atsushis Namen zu hören.“

Sichtlich geknickt richtete Spyri ihren Blick nun zu Boden. „Was haben wir nur getan …?“

„Und Sie wollen mich wirklich mitnehmen?“, warf Nancy schwermütig ein. „Obwohl ich doch-“

Die Frau sah wieder auf und schüttelte schwach ihren Kopf. „Du bist in Not. Und wir lassen niemandem im Stich, der in Not ist.“

Wortlos umklammerte die Engländerin die Decke, die sie wärmen sollte. Endlich fielen die Tränen aus ihren Augen und rannten in Strömen über ihre Wangen. „Dass es solche Menschen gibt ….“ Sie schluchzte. „Danke. Ich danke Ihnen so sehr.“

Mit einem Mal fuhr Fukuzawa zusammen, so deutlich, dass die anderen Anwesenden es bemerkten. Sein Blick schnellte in das Foyer zurück. Das war keine Einbildung. Aus dem Nichts spürte er eine unbändige, düstere Aura voller Mordlust. Und sie näherte sich ihnen rasant.

„Schnell! Sie müssen gehen!“, brüllte er Spyri zu, die unverzüglich alle Kinder zusammenwinkte und Lucy herbeirief.

Doch bevor Lucy zu ihnen kommen und ihre Fähigkeit aktivieren konnte, ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen und die Haustür flog mitsamt Teilen der Wand ins Innere der Villa und zerschmetterte die Treppe. Blitzschnell hatte Kenji Lucy zu Boden gerissen und sich schützend über sie geworfen, damit sie vor den herumfliegenden Trümmerteilen geschützt war. Eine durch die Wucht der Zerstörung entstandene Staubwolke breitete sich aus. Verängstigt schrien die Kinder durcheinander und husteten elend.

Plötzlich wie Espenlaub zitternd, ließ Nancy die Decke fallen. „Oh nein, nein! Er! Das ist ER! Wieso ist ER hier?!“

Schnellen Schrittes kehrte Fukuzawa aus dem Salon hinaus zurück in das nun zerstörte Foyer. Er stoppte in wenigen Metern Entfernung zu einem großgewachsenen Mann, der jetzt dort stand. Der Mann war sogar noch einmal einen Kopf größer als er selbst. Und er hatte einen trainierten Körper. Schiere Masse bedeutete zwar nicht unbedingt einen Vorteil in einem Kampf, aber Fukuzawa fragte sich schon, ob der Kräfteunterschied zu einem Problem werden könnte.

Der Riese strich sich seine längeren, hellbraunen Haare aus dem Gesicht und lächelte dünkelhaft.

„Hab wohl zu feste geklopft.“

Der Chef sah kurz hinter sich auf die eingefallene Treppe. Das war nicht das Werk reiner Muskelkraft. Er seufzte innerlich. Ein Befähigter also.

„Sikes.“ Salten war hinzugekommen, um Lucy vom Boden aufzuhelfen, nachdem Kenji sich im Hintergrund aus den Trümmern geschält hatte. „Das ist William Sikes. Er gehört zu Fagin.“

„Bill!“ Nancy eilte aus dem angrenzenden Raum herbei und lief zu Sikes. „Bill!“, rief sie atemlos. „Bitte! Lass die Kinder in Ruhe!“

Sikes wirkte schlagartig verletzt und bitter, als sie vor ihm erschien. „Nance, warum? Warum verrätst du uns? Warum verrätst du mich?“

„Ich verrate dich nicht, Bill“, entgegnete sie mit Tränen erstickter Stimme, „ich wollte nur-“

„SEI STILL! Ich will keine Lügen mehr aus deinem Mund hören!“, fuhr er sie an. „Der Alte hatte damals schon gemeint, du hättest die Schweizerin auf den Plan gerufen, aber ich Idiot habe dich verteidigt. Nicht meine Nance, hab ich dem Alten gesagt, nein, meine Nance würde uns nicht verraten! Und dann kam der Anruf von Noah, dass du hier bist! Hier! Und mir in den Rücken fällst!!“

„Noah?“ Salten japste. „Noah ist hier?“

Sikes Verbitterung wich einem verzweifelten Grinsen. „Dieser Taugenichts von einem Normalo ist für sonst nichts zu gebrauchen, aber im Beschatten macht ihm niemand etwas vor. Er ist den Detektiven bis hierhin gefolgt und hat alles, was er gehört und beobachtet hat, schön brav weitergegeben.“

Fukuzawa konnte nicht glauben, was er da hörte. Er hatte niemanden bemerkt, wie hatte ihm so ein Fehler passieren können?

„Machen Sie sich keinen Vorwurf“, erklärte Salten grimmig. „Noah ist ein unscheinbarer Feigling, der aus seiner Schande eine Tugend macht. Niemand versteckt sich besser als er.“

Wenn dieser Junge über keinerlei Tötungsabsicht verfügte, war es in der Tat schwerer ihn zu bemerken. Trotzdem, hielt Fukuzawa sich selbst vor, trotzdem entschuldigte dies nicht, dass durch das Übersehen dieses Spions jetzt alle in Gefahr waren. Fagin wusste somit, wo er Dickens finden würde und so erklärte es sich auch, wie sie Yosano hatten angreifen können.

„Nance“, sprach Sikes geradezu flehentlich zu seiner eigentlichen Kameradin, seine tiefe Stimme beinahe brechend, „wieso tust du mir so etwas an?“

Die junge Frau wischte sich ihre Tränen aus dem Gesicht. „Kannst du es denn wirklich verantworten, weiter Charles und vielleicht auch andere Kinder zu quälen? Ich weiß, dein Stolz ist verletzt und Fagin hat dir versprochen, er würde dir zu Ruhm und Ehre verhelfen, doch ist es das wert? Ist es das wert, andere dafür leiden zu lassen?“

Plötzlich wurde Sikes Gesichtsausdruck ganz leer, als hätte er aufgegeben. „Nance … aber natürlich ist es das. Und ich kann nicht zulassen, dass du oder jemand anderes dem im Weg steht.“

Im gleichen Atemzug, wie er dies sagte, schmetterte Sikes der Frau seine Faust in den Brustkorb. Man hörte ihre Rippen brechen, bevor sie mit nie zuvor gesehener Wucht durch die nächste Wand in den Salon geschleudert wurde. Das Haus wurde erfüllt von panischen, hysterischen Schreien.

„Kenji“, sagte Fukuzawa nach außen hin ruhig erscheinend in dieses Chaos hinein, „du begleitest Lucy. Bring alle in Sicherheit.“

„Kein Problem! Aber was ist mit Ihnen, Chef?“

Selbst der arglose Kenji, die friedfertige Spyri und der Gewalt ablehnende Salten spürten die veränderte Aura, die den silberhaarigen Mann nun umgab. Sikes entwich sogar ein kaltes, dröhnendes Lachen, als er dies bemerkte.

„Oh ha! Was für eine Bestie hab ich denn da geweckt?“

Die Augen des Chefs verengten sich.

„Geht. Ich kümmere mich darum.“

Lucy rannte, gefolgt von Salten und Kenji in den Salon zurück, wo Spyri die schwer verletzte Nancy vorsichtig hochhob. Die anderen Kinder versammelten sich - vor Angst weinend und brüllend – um ihre Tante.

„Okay, also los!“, rief Lucy aus und bevor Sikes wusste, was sie vorhatten, waren alle Geräusche aus dem Salon verstummt.

Verwirrt blickte der Engländer durch das Loch in der Wand und fand den Raum plötzlich leer vor. Nur das rothaarige Mädchen und der blonde Junge waren noch da und kletterten aus dem Fenster nach draußen.

„Was soll die Scheiße?! Bleibt gefälligst hier!“ Sikes stürmte auf das Loch in der Wand zu und wollte mit einem Faustschlag den Rest der Wand weg hauen, als Fukuzawa sein Handgelenk griff und ihn so davon abhielt.

„Nicht schlecht.“ Sikes wandte sein Gesicht dem Anderen zu. „Zupacken können Sie schon mal. Wie sieht es mit Einstecken aus?“ Seine andere Faust raste auf den Chef zu, der während er auswich, seinen Gegner mit dem Griff ums Handgelenk drehte und zu Boden warf. Sikes hatte den Boden noch nicht berührt, da bemerkte Fukuzawa das wahnsinnige Grinsen im Gesicht seines Kontrahenten. Der brünette Mann schaffte es, im Fall zu einem Tritt anzusetzen. Schnell ließ Fukuzawa ihn los und wich zurück, während Sikes auf beiden Beinen landete.

„Uns wurde zugetragen, dass der Chef der Detektei ein unvergleichlicher Kämpfer sein soll, in allen Kampfkünsten perfekt ausgebildet.“ Sikes zog sein Schwert unter seinem Cape hervor. „Ich vermisse bei Ihnen aber irgendwie eine Waffe. Vergessen?“

Fukuzawa antwortete mit einem stoischen Blick. Sein Schwert lag immer noch oben auf dem Schrank. Er musste einen Weg finden, daran zu kommen, während er seinen Gegner in Schach hielt. Das würde keine leichte Aufgabe werden. Sikes Fähigkeit schien seine übermenschliche Stärke zu sein. Zudem war er trotz seiner Masse flink und wendig und an der Art, wie er sein Schwert gezogen hatte und es hielt, konnte man erkennen, dass er ein geübter Schwertkämpfer war. Außerdem sah die Klinge ungewöhnlich aus. Kommissar Minoura hatte ihnen gestern Ranpos Schlussfolgerungen mitgeteilt. Das waren speziell bearbeitete Schwerter, darauf ausgelegt, besonders scharf und geschmeidig zu sein. Nur, wer auch immer sie hergestellt hatte, hatte dabei im Gegensatz zu den meisten japanischen Schwertern nicht Langlebigkeit, sondern Effektivität im Sinn gehabt. Optimal, um mit nur einem schwachen Hieb zu töten.

„Ich habe heute einen geliebten Menschen verloren“, sagte Sikes tatsächlich kummervoll klingend, während er sein Schwert in einer Hand hielt und sein Gegenüber fixierte. „Irgendjemand wird dafür büßen müssen.“

Er preschte nach vorn und holte mit seiner Klinge aus. Fukuzawa duckte sich gerade rechtzeitig zur Seite weg, doch der Engländer setzte im exakt gleichen Moment zu einem Schlag mit seiner freien Hand an, welchem der Chef nicht mehr entkommen konnte. Sikes Faust traf ihn in die Rippen und ließ ihn mit einem lauten Krachen in die Trümmer der eingestürzten Treppe donnern.

Von diesem kräftigen Schlag schwer getroffen (er hatte ihm wohl mindestens eine Rippe gebrochen), setzte sich Fukuzawa dennoch sofort wieder auf. Der Schmerz der gebrochenen Knochen ließ ihn ächzen, doch was ihn noch viel mehr wurmte, war, dass sein Gegner wieder mehr Abstand zwischen ihn und sein Schwert gebracht hatte. Der Kerl war stärker als Kenji und seine Schwertkunst unterschied sich zwar im Stil von seiner eigenen, aber sie war nicht minder beeindruckend. Er konnte nicht zulassen, dass Sikes ihm entkam und auf die restlichen Detektive, Spyris Leute und die Kinder losging. Es lag an ihm, ihn hier und jetzt aufzuhalten.

Scheinbar ungerührt beobachtete Fukuzawa, wie Sikes siegessicher dreinblickend auf ihn zukam.

 

Der geschützte Raum, den Lucy mit ihrer Fähigkeit erschuf, war voll von markerschütterndem Lärm. Die verstörten und verängstigten Kinder schrien und weinten und Salten stand hilflos daneben, während Spyri auf dem Boden hockte; die Blut spuckende Nancy in den Armen.

„Sie braucht einen Arzt. Ist ihre Lunge perforiert?“ Die Frau sah zu Salten auf, der nervös auf seiner Unterlippe kauend, ihr zustimmte und kurz darauf fast einen Herzinfarkt bekam, als Lucy und Kenji unvermittelt neben ihm auftauchten.

„Junge aus der Detektei“, wandte Spyri sich mit bebender Stimme an Kenji, „kannst du uns zum nächsten Krankenhaus bringen?“

„Das kann ich natürlich machen, aber wir müssen mächtig vorsichtig sein.“

Ohne dass Kenji dies ausführen musste, verstanden die beiden Erwachsenen das Problem.

Saltens Schultern sackten noch ein wenig mehr hinunter. „Noah. Noah läuft hier noch rum und wenn er Verstärkung holt, könnten wir angegriffen werden.“

Ein gurgelndes, röchelndes Geräusch zog mit einem Mal all ihre Aufmerksamkeit auf sich. Nancy versuchte, etwas zu sagen.

„Ich … bitte … dorthin ...“

„Was meinst du, mein Kind?“ Spyri beugte sich zu der jungen Frau hinunter.

„Bringt mich … bitte … zur Marina … die Ärztin der ...“

„Zu Yosano?“ Kenji blinzelte sie an, bevor seine Augen aufleuchteten. „Das ist eine gute Idee! Yosano kann mit ihrer Fähigkeit Verletzungen heilen! Ich weiß nur noch nicht, ob Tanizaki sie schon gefunden hat.“

„Wir müssen aber etwas wegen Noah unternehmen“, dämpfte Salten die Hoffnung und dieses Mal stimmte Spyri ihm zu.

„Taro, fällt dir nichts ein?“ Sie sah sich um. „Taro? Taro?! Wo ist er??“

Panisch wirbelte nun auch Lucy um die eigene Achse. „Er muss hier sein. Ich habe ganz sicher alle, die in der Nähe waren, teleportiert!“

 

Sikes blieb in einem knappen Meter Entfernung vor Fukuzawa stehen.

„Das enttäuscht mich jetzt doch ein wenig. Sollte das etwa schon unser ganzer Kampf gewesen sein? Ich hatte mir wirklich mehr davon erhofft. Tja, geben Sie nicht mir die Schuld für Ihr unrühmliches Ende. Sie hätten sich mehr auf Ihre Kampfkraft konzentrieren sollen als auf Ihre süßen kleinen Detektive.“ Der Engländer holte erneut zum Schlag aus.

„LAAAAAANGWEILIG!!“

Sikes hielt verdattert inne, als eine nörgelnde Stimme durch das Foyer krähte. Er drehte seinen Kopf minimal nach hinten, um zu sehen, wer ihn da so rüde unterbrach.

„Kommen Sie sich etwa toll vor, wenn Sie so einen alten Mann erledigen? Buuhuu, Spitzenleistung. Was machen Sie dann? Babys den Schnuller klauen? Mehr haben Sie wohl nicht drauf, was? Das war übrigens eine rhetorische Frage. Nicht dass ich annehmen würde, dass SIE wüssten, was rhetorisch heißt.“

Fukuzawas Augen weiteten sich voller Unglauben, als er zur Quelle dieser Beleidigungstirade blickte.

Mit den Armen vor der Brust gekreuzt stand Taro großspurig grinsend vor dem hohen Schrank.

Breathe, breathe, believe, believe, believe, believe

Breathe

Breathe

Believe, believe, believe, believe“

 

Placebo, „Loud like love“
 

Genervt hob Sikes eine Augenbraue. „Hast du Todessehnsucht?“

„Nein.“ Taro legte gelangweilt den Kopf schief. „Natürlich nicht. Aber wenn ich welche hätte, würde ich mich nicht an Sie wenden. Jemand mit so einer lächerlichen Fähigkeit wie Ihrer kann einem außerordentlich Befähigten wie mir nichts anhaben.“

„Meine Fähigkeit ist lächerlich, ja?“

„Oh hooo~, da habe ich aber einen wunden Punkt getroffen, was? Das hören Sie nicht zum ersten Mal.“ Der Meisterdetektiv schob seine Brille mit einem Finger hoch. „Ich verstehe. Das britische Militär hat Sie zum Sündenbock für eine gescheiterte Mission während des Krieges gemacht. Und deswegen wollen Sie sich mit Fagins Hilfe an Ihren früheren Vorgesetzten rächen. Geben Sie es auf, das wird nichts. Fagin hat kein Interesse an Ihnen und Ihren Ambitionen. Er brauchte nur Ihre Fähigkeit für seine Zwecke und wenn er Charlie wieder hat, wird er Sie loswerden wollen.“

„Was ...“ Ein tiefes, erzürntes Grollen entwich Sikes Kehle. „Was für einen Mist redest du da?! Woher willst du das alles wissen?!“

Aufmerksam und innerlich voller Unruhe beobachtete Fukuzawa ihren Schlagabtausch. Er bekam immer diese stechenden Magenschmerzen, wenn Ranpo („Taro“, korrigierte er in Gedanken) sich so überheblich einem physisch offensichtlich überlegenem Feind entgegenstellte. Zuletzt diese Nummer, als er Chuuya Nakahara von der Hafen-Mafia herausgefordert hatte? Fukuzawa bekam beim bloßen Gedanken daran ein Magengeschwür. Aber -

Ranpo hatte dies noch nie ohne Grund getan und es gab keinen ersichtlichen Grund, warum Taro nun damit anfangen sollte.

Als hätte Taro seine Gedanken gelesen, setzte der Meisterdetektiv zum großen Finale an. „Ich weiß noch viel mehr! Ich weiß, dass es Sie quält, den einzigen Menschen, der sich je um Sie gekümmert hat, wahrscheinlich getötet zu haben. Und Sie nicht einmal genügend Courage haben, um dafür die Verantwortung zu übernehmen.“

„Halt die Klappe!“

In blinder Wut preschte Sikes nach vorn und zerschmetterte den Schrank, da Taro schnell aus dem Weg gesprungen war.

„Verdammtes, grinsendes Insekt! Ich werde dich zertreten!“, schrie der Engländer, schlug die herabfallenden Holzteile beiseite und wollte dem Schwarzhaarigen hinterher, als er bemerkte, wie jemand neben ihm erschienen war und etwas Herabfallendes aufgefangen hatte.

Sikes stockte der Atem, als er Fukuzawa mit gezogenem Schwert vor sich erblickte.

„Verrätst du mir, was du hier machst?“, fragte der Chef den weiter entfernt stehenden Meisterdetektiv.

Die Entfernung hinderte ihn nicht daran, das noch breitere Grinsen in seinem Gesicht zu sehen. „Ich hatte so ein Gefühl, dass du ohne mich aufgeschmissen wärst, alter Mann.“

Fukuzawa atmete aus und für den flüchtigen Hauch eines Moments schien so etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht zu huschen. „Verstehe. Aber ist es wirklich nötig, dass du mich ständig 'alter Mann' nennst?“

„Ich weiß auch nicht warum … aber ja, das ist definitiv nötig.“

„Habt ihr jetzt genug gequatscht?“, brummte Sikes spürbar wütend dazwischen. „Ich will euch endlich töten.“

Der Blick des Chefs landete auf seinem Gegner. „Tut mir leid. Da habe ich etwas dagegen.“

Die beiden unterschiedlichen Klingen trafen mit einem lauten metallischen Klirren aufeinander. Die Schärfe des fremden Schwertes war, kombiniert mit der übermenschlichen Stärke seines Nutzers, überwältigend. Die präparierte Klinge schnitt in das harte Metall des japanischen Schwertes und auch wenn es nicht in der Lage war, dieses zu zerteilen, so wurde es Fukuzawa sehr schnell bewusst, dass er in diesem Kräftemessen die schlechteren Karten hatte. Seine einzige Chance bestand darin, den Kampf in die Länge zu ziehen, bis sich die Klinge des Engländers abnutzen würde, doch – wie er ein Stöhnen unterdrückend feststellen musste – seine verletzten Rippen machten ihm da einen Strich durch die Rechnung. In diesem Zustand kam ein auf Ausdauer ausgelegtes Duell nicht in Frage.

„Jetzt macht es doch schon mehr Spaß, nicht wahr?“, presste Sikes zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor. Immerhin schien Fukuzawa ihm seine gesamte Kraft abzuverlangen. „Ich werde solche Typen wie Sie nie verstehen“, fuhr der Engländer fort. „Nach allem, was ich über Sie gehört habe, wie kann es Ihnen da genug sein, in so einem Büro zu hocken und den Aufpasser für andere zu spielen? Haben Sie keine Ambitionen mehr? Keinen Wunsch mehr, das schöne Gefühl zu verspüren, wenn man einem Feind die Kehle durchschneidet?“

Fukuzawas Augen verengten sich im Zorn. „Wenn das Ihr ganzer Antrieb ist, sind Sie auf ewig zum Scheitern verurteilt.“

„Sparen Sie sich ihre Scheißmoralpredigten.“ Sikes riss sein Schwert von dem des Chefs los, kehrte dazu zurück, seine Waffe in nur einer Hand zu halten, griff dann blitzschnell einen der mit der Haustüre aus der Wand gerissenen Mauersteine und warf diesen nach seinem Kontrahenten. Fukuzawa wehrte den Ziegel mit einem Schwerthieb ab, als Sikes bereits von neuem zu einem Schlag mit seiner Klinge ansetzte. Durch die Verletzung in seinen Bewegungen und in seiner Geschwindigkeit eingeschränkt, erwischte Sikes ihn am linken Oberarm. Blut spritzte umgehend fontänenartig aus der Wunde und Fukuzawa biss aufgrund des Schmerzes die Zähne zusammen. Die Wunde war tief, aber nicht so tief, wie er befürchtet hatte; sein Arm war noch dran. Das hieß, die Waffe des Anderen war schon dabei, stumpf zu werden.

Die kaputten Knochen erschwerten ihm das Atmen und der nicht zu unterschätzende Blutverlust würde in nur wenigen Minuten zu einem akuten Problem werden. Er musste Sikes mit einem Angriff außer Gefecht setzen. Die Attacke seines Gegners spiegelnd, kickte Fukuzawa eines der auf dem Boden liegenden Holzbretter des einstigen Schrankes hoch und schleuderte es so Sikes entgegen. Dieser zerschlug es mit der bloßen Faust, was für den Chef aber ein kurzes Zeitfenster öffnete, in dem er einen fürs menschliche Auge kaum zu erhaschenden Hieb ausführte, mit dem er den Engländer tatsächlich am Handgelenk treffen konnte. Sikes schrie auf und musste sein Schwert aus seiner nun blutüberströmten Hand fallen lassen. Keine Sekunde verlierend, setzte Fukuzawa zum nächsten Angriff an und erstarrte.

Sikes blockte seine Klinge mit seiner gesunden Hand ab. Das Schwert schnitt in sein Fleisch und doch war hinter den langen Haarsträhnen des Engländers abermals ein irres Grinsen zu erkennen.

„Wenn Sie ohne die Intention mich töten zu wollen angreifen, werden Sie niemals gegen mich gewinnen.“ Das Schwert des Silberhaarigen als Haltegriff benutzend zog sich Sikes mit Schwung daran hoch und trat mit einem Bein gegen den Brustkorb des Chefs. Geistesgegenwärtig hielt Fukuzawa seinen sowieso schon verletzten Arm als Schutzschild dazwischen, doch nichtsdestotrotz flog er durch die Wucht des Tritts in die hinter ihm liegende Wand. Bevor er sich aufrichten konnte, stand Sikes über ihm und setzte einen Fuß hart auf die gebrochenen Rippen des Anderen auf.

„Den Starken gehört die Welt. Verabschieden Sie sich also von ihr.“

Er wollte gerade zutreten, als ein lauter Schrei ihn innehalten ließ.

„NEEEEEEIN!! LASS IHN IN RUHE, DU MISTKERL!!“

In einem Akt der Verzweiflung sprang Taro dem Engländer auf den Rücken und klammerte sich an diesem fest.

„Was zur Hölle-?!“ Sikes ließ von Fukuzawa ab und stolperte rückwärts, während er versuchte, den trotz seiner viel, viel kleineren Größe hartnäckig an ihm klebenden Mann abzuschütteln. „Verzieh dich, du Schmeißfliege!!“

Sikes rammte Taro mit Gewalt einen Ellbogen in die Seite und schmetterte ihn so von sich und in den letzten, kläglichen Rest der Wand zum Salon hinein. Entnervt stöhnend blickte der Engländer zu dem Meisterdetektiv, der bewusstlos mit dem Gesicht zuerst zu Boden fiel. Ein großer, hässlicher Blutfleck blieb an der Stelle der Wand zurück, in die Taro gekracht war.

Die Stille, die sich für einen sehr kurzen Moment über die alte Villa gelegt hatte, wurde unsanft von Sikes wahnsinnigem Lachen gestört.

„Außerordentlich Befähigter, ja? Meine Fähigkeit soll lächerlich sein, ja?“ Sein Lachen wurde lauter und lauter. „Du bist auf einmal so still, hat deine große Klappe nichts mehr zu sagen? Nie wieder vielleicht?“ Das irrwitzige Lachen hallte unverhohlen durch die alten Gemäuer, bis es seiner Quelle wortwörtlich im Halse stecken blieb. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde gewesen, in der Sikes die blutrünstigste Aura, die er je auf dieser Welt wahrgenommen hatte, hinter sich gespürt hatte. Er hatte gar keine Gelegenheit mehr zu begreifen, was so plötzlich passiert war, denn von einem Augenblick auf den nächsten hatte er sein Leben ausgehaucht. Ein Katana hatte sich von hinten durch seinen Hals gebohrt und ließ ihn für immer verstummen. Einem gefällten Baum gleich stürzte der große, leblose Körper des Engländers mit einem lauten Poltern zu Boden.

In jeder erdenklichen Weise entkräftet, ließ Fukuzawa den Griff seines Schwertes los und fiel, den Kopf gesenkt und um Luft ringend, hinter ihm auf die Knie.

 

Eine aus dem Nichts kommende, für diese Jahreszeit viel zu kalte Windböe ließ Tanizaki bibbern. Dass er hinter seinem Pulverschnee versteckt war, änderte nichts daran, dass der unaufhörliche Regen ihn voll und ganz durchnässte. Vielleicht war es deswegen, dass ihm der Wind so eisig vorkam, vielleicht lag es daran, dass er am Hafen entlang rannte, aber für den jungen Detektiv fühlte es sich in diesem Moment mehr an wie ein schlimmes Vorzeichen. Er rannte so schnell er konnte, aber was war, wenn er trotzdem zu spät kam? Was war, wenn sie Yosano bereits getötet hatten? Was, wenn er allein gegen die Feinde gar keine Chance hatte? Dass ausgerechnet er allein zu dieser Rettungsmission hatte aufbrechen müssen! Wie viel zuversichtlicher würde er sich fühlen, wenn Kunikida hier wäre, oder Kenji, oder Atsushi, oder Kyoka, seinetwegen auch Dazai, Hauptsache irgendjemand! Er wusste ja nicht einmal, wo genau er suchen sollte. Wäre Ranpo doch nur hier!

Von oben bis unten triefnass, erreichte Tanizaki den hinteren Teil der alten Marina. Bei einem derart schlechten Wetter war hier eh niemand unterwegs, aber dieser abgelegenere Bereich des Yachthafens war durch Mauern, Zäune und angrenzende Lagerhäuser nicht nur unschöner, sondern auch weitaus schlechter einsehbar. Der Detektiv konnte sich gut vorstellen, dass nicht nur ihre aktuellen Widersacher diesen Platz gut geeignet fanden, um sich ihrer Feinde zu entledigen.

Tanizaki kletterte über einen Zaun, um zu den abgesperrten, aufgegebenen Anlegeplätzen zu gelangen. Im Wasser hinter der Kaimauer dümpelten nur noch ein paar schrottreife, kleine Schiffe, die von der Welt vergessen waren. Plötzlich klingelte ein Handy – und es war nicht seins.

„Häh, was ist los??“ Hinter einer Mauer sprang ein schwarzhaariger junger Mann, etwa im gleichen Alter wie er selbst und mit einem übergroßen Mantel bekleidet, auf und schimpfte in sein Mobiltelefon. „Noah, du Pfeife, warum sagst du mir denn nicht früher Bescheid? Du konntest ja nicht ahnen, dass sie herkommen würden? Du weißt auch nicht, was da passiert ist? Eine Fähigkeit?“ Er rollte mit den Augen. „Auch egal. Ich hab eben die Frau mit der Seilwinde runtergleiten lassen, wenn sie wirklich hier auftauchen, dann schubs ich sie zu ihr runter.“

Hätte man Tanizaki später danach gefragt, was ihm in diesem Moment durch den Kopf gegangen war, so hätte er wahrscheinlich geantwortet: „Ich weiß es nicht. Ich glaube, nichts.“

Etwas daran, wie der unbekannte Junge über Yosanos momentanen Aufenthaltsort gesprochen hatte, legte in Tanizaki einen Schalter um. Ohne weiter darüber nachzudenken, ohne sich Sorgen darüber zu machen, ob er dies hinkriegen würde, sprintete er los und sprang von einem der Anlegeplätze ins Meer. Sein Kopf war nicht völlig leer in diesem Augenblick; ganz im Gegenteil: Er war voll von einem einzigen Gedanken: Yosano ist da unten.

Der Pulverschnee sorgte dafür, dass die Umgebung in seiner direkten Nähe unauffällig erschien. Niemand hörte das Platschen, als er ins Wasser eintauchte, niemand sah die Wogen, die das Meer dabei schlug. Mit großen, hastigen Armschlägen tauchte Tanizaki tiefer und tiefer hinab in die Unweiten des Meeres. Sein Herz machte einen Sprung, als er am Grund eine Gestalt ausmachen konnte.

Yosano! Da war Yosano! Und sein Herz blieb beinahe stehen, als er bei ihr ankam und das Problem sah, das sich vor ihm ausbreitete und für das er niemals eine Lösung finden würde.

Mehrere schwere Ankerketten waren um die Hand- und Fußgelenke der Ärztin geknotet. Tanizaki hatte Kenji schon viel Unfassbares tun sehen, aber solche klobigen Metallketten zu knoten, als wären sie nichts anderes als ein Strickseil; wer in aller Welt verfügte über so viel Kraft? Mit aufsteigender Panik rüttelte der Rothaarige an den Ketten, doch sie gaben seinen Bemühungen nicht nach. Seine Luft wurde knapp, aber er konnte Yosano doch hier nicht zurücklassen!

Als hätte sie seine Anwesenheit gespürt, flackerten die Augenlider der bis dahin bewusstlosen Frau kurz auf. Ihre Blicke trafen sich und Tanizaki war, als hätte er ein schwaches Kopfschütteln bei seiner Kollegin gesehen.

Wollte sie etwa, dass er ging?

Mit allem, was er aufbringen konnte, rüttelte er erneut an den Ketten, die seine Kameradin in diesem nassen Grab festhielten.

Sie schüttelte abermals den Kopf.

Da ihm die Luft ausging, musste Tanizaki wieder auftauchen. Die Anstrengung hatte ihn gezwungen, seine Fähigkeit aufzulösen.

Japsend und hustend reckte er seinen Kopf über die Wasseroberfläche und hielt sich an der Kaimauer fest – dann riss er erschrocken die Augen auf.

Auf der Mauer vor ihm stand der dunkelhaarige Junge und schnalzte mit der Zunge.

„Wo kommst du denn her? Ich habe mich gewundert, woher plötzlich die ganzen Wellen im Wasser kommen. Willst du deine Freundin retten? Sorry, das wird nix. Sikes hat sie verschnürt und ich hab sie auf Kommando mit diesem Ankerketteneinholding da runter gelassen.“ Beiläufig zeigte er auf die Vorrichtung am Ufer.

Tanizakis Blick schnellte zu seinem Fingerzeig. Konnte er damit Yosano wieder an die Oberfläche bringen?

„Höh?“ Der dunkelhaarige Junge blinzelte auf das plötzlich wieder menschenleere Meer vor sich und den merkwürdigen grünen Schnee, der sich in den Regen mischte. „Ah~, schon klar.“ Er kicherte und wartete etwas, bis er von jetzt auf gleich neben der Vorrichtung stand und mit voller Wucht auf den Hebel, der sie in Gang setzte, schlug. Nur dass er nicht den Hebel traf, sondern Tanizakis Hand.

„Kannst du mich etwa sehen?“ Irritiert erschien der Detektiv vor ihm.

Der Junge kicherte wieder. „Nö, aber war ja klar, wo du auftauchen wirst.“

Wie konnte er so schnell hier sein? Ich war viel näher dran als er. Außerdem habe ich nicht einmal gesehen, dass er sich bewegt hat. Ist er etwa ein-

„Du denkst gerade: 'Oh nein! Er ist ein Befähigter', richtig?“, unterbrach der Engländer grinsend seine Gedanken. „Ich bin übrigens Dawkins und meine Kunstfertigkeit liegt darin, schneller als der Wind – oder irgendwas anderes – zu sein. Ohne meine Fähigkeit wäre Charles auch nur so ein Kraftprotz wie Sikes, aber durch die Kombination mit meiner tollen Fähigkeit wurde er erst zu etwas Besonderem.“ Der Anblick des immer zorniger werdenden Tanizakis amüsierte ihn augenscheinlich. „Deine Fähigkeit ist ganz cool, zugegeben, aber sie kann eben nicht so was hier.“ Dawkins zauberte einen Schraubenschlüssel aus einer seiner Manteltaschen und bevor Tanizaki begreifen konnte, was er vorhatte, fiel die Apparatur zum Ankereinholen auseinander.

Entgeistert starrte er auf die klirrend zur Erde fallenden Teile. Das war seine einzige Hoffnung gewesen, Yosano zu retten.

Alles … war … verloren.

Dawkins Handy klingelte erneut. „Sie sind da?“ Er guckte sich suchend um. „Wie? Sie waren gerade eben noch da gewesen? Drück dich klarer aus! … Das ist jetzt schon häufiger passiert?“ Er stöhnte. „Treff ich heute nur Leute mit so Verschwinde-Fähigkeiten?“

Verschwinde-Fähigkeiten?

Tanizaki horchte auf.

Wer …? Das konnte nur eine sein. Und wenn sie von da kam, wo sie sie vermutet hatten, dann-

Aus dem Nichts erschienen Lucy, Kenji und Salten, der die schwer verletzte Nancy auf den Armen trug, auf einer Mauer. Unbeeindruckt kratzte sich Dawkins am Kopf. Durch seine Schnelligkeit hielt er sich für so gut wie unbesiegbar, da machte ihm eine größere Anzahl an Gegnern auch nichts aus.

„Kenji!!“, schrie Tanizaki zu dem Kollegen hinauf. „Yosano ist unter Wasser angekettet! Sie ertrinkt!“

„Alles klar!“, antwortete der blonde Junge. „Tanizaki, sieh dir jetzt bitte ganz genau den Boden an!“

Den Boden?

Verdutzt, aber seinem Kameraden vertrauend, richtete der Rotschopf seinen Blick auf die Erde.

„Fähigkeit!“, rief Salten aus. „Eine Lebensgeschichte aus dem Walde!“

Was Tanizaki nun nicht sah, dafür aber Dawkins und der versteckte Noah, waren die unzähligen Tiere, die überall um sie herum auftauchten. Salten beschwor alles, was seine Fähigkeit hergab und füllte die gesamte Umgebung mit jedem Waldbewohner, den man sich vorstellen konnte. Es war eine Elster, die Noah zum Verhängnis wurde und ihn ohnmächtig aus seinem Versteck kippen ließ und es war ein Igel der das Blickfeld des übertölpelten Dawkins kreuzte und ihn besinnungslos auf die Matte schickte. Dann verschwanden die Tiere rasch wieder.

„Gut, das wäre erledigt!“ Kenji sprang von der Mauer und lief zu dem wieder hochblickenden Tanizaki. „Wo ist Yosano?“

„Da unten!“ Er zeigte auf die Stelle im Wasser. „Jemand hat Ankerketten um sie geknotet!“

„Ich kümmere mich darum!“ Der blonde Junge rannte an seinem Kollegen vorbei und ins Meer. Ob Kenji es rechtzeitig schaffen würde? Yosano war schon viel zu lange da unten.

Der durch das völlige Ausreizen seiner kurzlebigen Fähigkeit ausgelaugte Salten zuckte plötzlich zusammen, als er ein schwaches Ziehen an seiner Jacke bemerkte. Sein Blick schnellte zu der röchelnden jungen Frau in seinen Armen.

„Bitte ...“, hauchte sie fast unhörbar leise, „bringen ... Sie ... mich … da runter ...“

Salten blinzelte verwirrt. „Da runter?“ Er schaute zum Meer und wie er schlagartig begriff, was sie meinte, wieder zu ihr zurück.

„Sonst … ist … es … vielleicht … zu spät ...“

Mit großen, ungläubigen Augen musterte er Nancys leichenblasses Gesicht.

Deswegen hatte sie darum gebeten, sie herzubringen. Sie hatte nie im Sinn gehabt, sich von der Ärztin der Detektive helfen zu lassen. Nein. Sie wollte -

„Bist du dir sicher?“

Ein nicht enden wollendes Rinnsal aus Blut lief aus ihrem Mund. „Bitte.“

Salten nahm tief Luft, verstärkte seinen Griff um die sterbende Frau und sprang mit ihr von der Mauer. Tanizaki, der sich mit bangem Blick dem Meer zugewandt hatte, bemerkte die beiden erst, als sie an ihm vorbei sprinteten und ohne anzuhalten ins Wasser sprangen.

Kenji kämpfte damit, die Ketten abzubekommen. Sie ließen sich nicht einfach zerschlagen und die Knoten waren so dick, dass selbst er Probleme damit hatte, sie aufzubekommen. Zusätzlich ging ihm langsam die Luft aus. Die bewusstlose Yosano bekam nichts davon mit. Als wäre sie nur eine leblose Puppe, riss die Strömung ihren Kopf unsanft hin und her. Die Momente, in denen Kenji Angst bekam, waren rar, doch während er diesen Kampf kämpfte, wuchs in ihm die Furcht davor, die Kameradin nicht rechtzeitig retten zu können.

Es war wirklich sehr selten, dass Kenji das stechende Gefühl von sich formenden Tränen in seinen Augen verspürte.

Er stutzte zutiefst verwundert, als er bemerkte, wie Salten und Nancy neben ihm erschienen. Die junge Frau streckte eine schwache Hand nach einer der schweren Ketten aus und berührte mit einem Finger ein einziges Glied der verschlungenen, metallenen Fesseln. Binnen einer Sekunde verrostete jede der Ketten. Während Salten noch erschrocken dachte „Das ist also ihre Fähigkeit!“, verlor Kenji keine Zeit und riss die brüchigen, nun durchlöcherten Ketten ohne Probleme vom Körper seiner Kollegin. Kaum hatte er sie befreit, schnappte er sich Yosano und zog sie mit sich nach oben. Salten folgte ihm unverzüglich.

In diesem Moment, während sie so schnell sie konnten zur Meeresoberfläche schwammen, öffnete Yosano für einen winzigen, kaum messbaren Augenblick ihre Augen und sah in das Gesicht einer ihr unbekannten jungen Frau, die sanft lächelte. Yosano konnte sich gerade einmal fragen, wer das war und woher all das Blut um die Unbekannte herum kam, ehe erneut alles schwarz wurde.

Lautstark nach Luft schnappend, reckte Kenji den Kopf aus dem Wasser. Die ganze Aktion war selbst für ihn zu anstrengend gewesen und er empfand nichts als Dankbarkeit, als Tanizaki ihm half, Yosano an Land zu bringen. Lucy eilte zu Salten, um ihm und Nancy aus dem Wasser zu helfen.

Fahrig hielt Tanizaki eine Hand unter die Nase der Kameradin, während Kenji keuchend daneben hockte. Dann erstarrte der Rotschopf.

„Sie atmet nicht! Was sollen wir tun? Sie atmet nicht! Ich spüre auch keinen Herzschlag!“ Panisch blickte Tanizaki sich um, doch hier war niemand, der ihnen helfen konnte. Yosano war doch ihre Ärztin, sie war es, die sich um sie kümmerte, wenn etwas war!

„Weißt du, wie eine Reanimation geht?“, fragte Salten aus dem Hintergrund mit seltsam betrübter Stimme. Tanizaki drehte sich zu ihm um, gerade als Lucy mit verstörter Miene von der wie Yosano auf dem Boden liegenden Nancy zu Salten hochschaute. Mit einer Hand strich der Dunkelhaarige über Nancys leblose Augen und schloss sie. Ihre Kleidung, ihre Haare, alles an ihr war voller Blut. Der Wasserdruck hatte ihre Verletzung drastisch verschlimmert. Sie hatte gewusst, dass dies passieren würde und dennoch hatte sie der Detektivin zur Hilfe kommen wollen. Ein tragisches Leben hatte ein tragisches Ende gefunden. Stille Tränen rannten Saltens Gesicht hinab.

Tanizaki zitterte mittlerweile am ganzen Körper, doch plötzlich riss er seinen Blick von diesem traurigen Anblick los und drückte seine Hände mehrmals fest auf Yosanos Brustkorb. Dann beugte er ihren Kopf nach hinten, atmete tief ein und blies ihr die Atemluft in ihren Mund. Er wiederholte dies zwei weitere Male – ohne Ergebnis – und drückte dann wieder seine Hände auf ihren Brustkorb.

„Tanizaki ...“, sagte Kenji, halb staunend, halb anbietend, ob er nicht auch etwas tun konnte.

Der ältere Detektiv hörte ihn, aber die Stimme des Jüngeren war weit an den Rand seiner Wahrnehmung gedrängt. Ihm war für einen kurzen Moment der Gedanke gekommen, die Herzdruckmassage von Kenji machen zu lassen, doch er verwarf dies schnell wieder. Kenji könnte ungewollt zu viel Kraft ausüben und Yosano verletzen. Tanizaki reagierte auch nicht darauf, dass er angesprochen wurde. Alles, was für ihn in diesen Minuten noch existierte, war die bewusstlose Yosano unter ihm. Wie eine Maschine wechselte er zwischen Herzdruckmassage und Beatmen hin und her, während ein einziges Mantra sich immer und immer wieder in seinem Kopf wiederholte:

Atme! Atme! Atme!“

And I don't enjoy to watch you crumble – I don't enjoy to watch you cry

And I don't enjoy to watch you crumble

I don't enjoy to watch you cry“

 

Placebo, „Begin the end“

 

„Töte diese drei da.“

Atsushi verstand nicht mehr, was los war. Plötzlich fühlte sich alles so an, als würde er unter Wasser gedrückt. Er hörte nur noch ein Rauschen, sah nur noch verschwommene Bilder, als würde er vom Grund aus auf die Wellen in einem Teich gucken, in den ein Stein geworfen worden war. Sollte er nicht irgendwo sein? Sollte er nicht irgendetwas tun? Sein Kopf fühlte sich vollkommen leer an. Doch kalt war ihm, schrecklich, schrecklich kalt und ohne dass er es sich erklären konnte, war ihm nach Weinen zumute. Mit einem Mal fühlte er sich furchtbar einsam.

 

„Atsushi?“, fragte Kunikida vorsichtig in seine Richtung, nachdem der Blick des Jungen ungewöhnlich leer geworden war. Wie er sich vom Boden erhob und einfach ins Nichts starrte, wirkte er mehr wie eine mechanische Aufziehpuppe als wie ein Mensch aus Fleisch und Blut.

„Oh nein, nein, verdammt!“ Burnett fluchte. „Er kontrolliert ihn. Fagin kontrolliert den Jungen jetzt.“

„Was?“ Kunikida hatte gerade einmal die Gelegenheit zu stutzen, als Atsushi sich plötzlich in den Tiger verwandelte. Nicht teilweise, wie er es sonst tat; vor ihnen stand nun ein meterhohes Raubtier – das auf sie zustürmte. Kunikida stieß Burnett und Eleanor weg und schrieb mit Windeseile in sein Notizbuch.

„Fähigkeit: Der elegante Poet Doppo! Elektroschocker!“

Er feuerte die Waffe umgehend auf das heranpreschende Ungetüm ab, aber dieses schüttelte den Angriff lediglich ab und setzte zu einem Sprung an. Der Detektiv wich dem Tiger aus, der mit voller Wucht auf dem Auto landete und es in Nullkommanichts in einen kleinen, metallischen Schrotthaufen verwandelte. Der Tiger brüllte lautstark, sprang vom kläglichen Rest des Autos hinunter und schlug mit einer Pranke nach seinem eigentlichen Kameraden. Kunikida flog meterweit durch die Luft und donnerte in die Außenwand des Firmengebäudes. Er schrie vor Schmerz auf und biss dann sogleich die Zähne zusammen. Der Tiger hatte ihn nicht mit den Krallen, sondern mit der Außenseite seiner Pfote erwischt; wäre es anders gewesen, wäre es aus mit ihm gewesen. So tat ihm zwar alles weh (und seine Brille war durch die Wucht des Aufpralls zerbrochen), aber er lebte noch. Solange seine Arme funktionierten und er sein Notizbuch hatte, konnte er noch etwas tun. Die Frage war nur: Was?

Atsushi zu töten war keine Option (davon abgesehen, dass der Tiger so leicht auch nicht zu töten war); er musste ihn hinhalten, bis ihnen eine bessere Idee kam. Zum Glück hatten Kunikida und Burnett auf der Fahrt hierher per Anruf das Gebäude räumen lassen. Die Methode, mit der die Frau die Mitarbeiter der Immobilienfirma zur fluchtartigen Evakuierung gebracht hatte, war zwar mehr als fragwürdig gewesen („Hier spricht Special Agent Errol von der CIA! Uns liegt eine Bombendrohung für Ihre Firma vor!“), doch immerhin hatte sie damit zügig das gewünschte Ergebnis erreicht. Es war zwar ebenso unschön, das Gebäude zu demolieren, aber so wie er die Sache sah, hatten wenigstens nicht sie damit angefangen. Sowieso … was machte ausgerechnet Akutagawa hier?!

Der Mafioso besah sich mit wenig beeindruckter Miene aus der Distanz das Schauspiel. „Bist du so erbärmlich, Menschentiger? Du lässt dich von jemand anderem kontrollieren?“

Der Tiger reagierte nicht auf die Provokation des jungen Mannes, was Kunikida neue Sorgenfalten ins Gesicht trieb. Atsushi war doch noch da drin, oder? Mit langsameren, aber wuchtigen Schritten kam das gigantische Tier auf den Detektiv zu.

„Atsushi! Atsushi, hörst du mich nicht?!“ Er tat es offensichtlich nicht. „Bengel! Verdammt, Bengel, komm zu dir!!“ Der Tiger brüllte lediglich ein weiteres Mal und setzte zu einem erneuten Sprung an.

„Der elegante Poet Doppo!“, versuchte Kunikida es von neuem und mit zunehmender Ratlosigkeit. „Fangnetz!“ Ein pistolenförmiger Gegenstand materialisierte sich in seiner Hand und aus diesem schoss er ein Netz ab. Es war nicht einmal groß genug, um den riesigen Körper des Tigers abzudecken. Wutentbrannt schlug die Raubkatze das Netz weg und zerteilte es mit ihren Krallen. Der Blutdurst, der jetzt von dem Ungetüm ausging, ließ Kunikida den Atem anhalten. Fagins Befehl schloss auch Burnett und Eleanor mit ein. Und wenn sie Atsushi nicht aus seinen Fängen befreien konnten, dann würde er noch viel mehr Unheil bringen. Jedoch - selbst wenn er auf ihn schoss, Kugeln hatten keine Wirkung auf ihn. Eine Handgranate? Aber er konnte doch nicht …. Kunikida schluckte. Was blieb ihm noch übrig?

„Atsushi“, sagte er mit gebrochener Stimme, „verzeih mir bitte.“ Eine bebende Hand schrieb „Handgranate“ auf eine leere Seite.

„Warte!“ Eleanor rannte zu ihnen, bevor Burnett auch nur reagieren konnte. Als wäre jegliche Form von Angst ihr ein völlig fremdes Konzept, stellte sie sich zwischen Kunikida und den Tiger, dem sie in seine großen Augen sah. „Er ist doch dein Freund, oder? Du hast ihn bestimmt sehr gerne. Du willst ihm nicht wehtun.“ Zum Erstaunen aller hielt der Tiger inne und Eleanor lächelte ihn an. „Ah! Ich wusste es, du bist gar nicht böse! Warte, ich helfe dir!“ Die junge Frau streckte ihre Hände nach dem Kopf des Tieres aus, während Kunikida und Burnett den Atem anhielten. Selbst Akutagawa war plötzlich ein wenig angespannter als zuvor. Dickens, der sich seit der Ankunft Eleanors nicht mehr von der Stelle gerührt hatte, starrte ebenso zu ihr hin.

„Nichts da!“, plärrte Fagin. „Du sollst sie töten!! Töte die drei und alle, die sich dir in den Weg stellen! Na los, ich befehle es dir!!“

Der Tiger zuckte zusammen und ihm entfuhr ein tiefes, ohrenbetäubendes Grollen.

„Weg da!“, schrie Kunikida noch, als er die Gefahr erkannte, doch es war bereits zu spät. Mit einer unmenschlichen Geschwindigkeit raste eine Pranke auf Eleanor zu und schlitzte sie mit ihren Krallen auf. Ein schriller, schmerzerfüllter Schrei der jungen Frau hallte durch die Umgebung, bevor sie stark blutend zu Boden fiel. Der Tiger erkannte, dass sein Opfer noch lebte und wollte sich auf es stürzen. Aus purer Verzweiflung schmiss sich Burnett über die lebensgefährlich verletzte Kameradin und mit entsetztem Blick und Tränen in den Augen stand Kunikida von dem Platz auf, an den das Raubtier ihn geschleudert hatte.

Es war aussichtslos.

Die Handgranate materialisierte sich in seiner zitternden Hand.

Im nächsten Augenblick ertönte ein markerschütternder Kampfschrei und Dickens stürzte sich in blinder Wut auf den Tiger. Das Untier, dem sonst auch Schwerthiebe nichts anhatten, wich zurück, nachdem Dickens mit seiner Klinge einen Treffer gelandet hatte. Die Schärfe des präparierten Schwertes schien sogar dem mächtigen weißen Tiger Probleme zu bereiten. Ohne Unterlass drosch der junge Engländer mit einer gewaltigen Kraft auf den verwandelten Atsushi ein, der immer weiter zurückgedrängt wurde und keine Gelegenheit zum Gegenangriff bekam.

„Ist ja irre“, kommentierte Bates, der sich zu Fagin gesellt hatte, das Geschehen.

Der ältere Mann lachte finster. „Stell dir vor, ich könnte diese Tiger-Fähigkeit mit einer anderen kombinieren, was das für eine Sensation gäbe! Allein schon diesen Tiger zur Verfügung zu haben, ist ein Geschenk! Mit ihm kann ich endlich diese Lachnummer von Sikes loswerden!“

„Da hätte Nancy aber was dagegen.“

Fagin stutzte, ehe er erneut unheimlich lachte. „Nancy wird nie wieder ihr freches Maul aufreißen und uns Probleme machen.“

Jetzt war es an Bates verwundert zu stutzen. Aufs Äußerste irritiert, guckte er seinen Meister fragend an. „Was … was soll das denn heißen?“

„Nancy hat uns verraten, mein Lieber. Und der gute Bill hat sich darum gekümmert.“

„Nancy ...“ Die Schultern des sonst so fidelen Jüngeren fielen kraftlos in sich zusammen. „Nancy ist doch nicht … tot, oder?“

„Natürlich ist sie das“, antwortete Fagin ungerührt und beiläufig. Er begriff die Schwere seiner Antwort erst, als er den aus dem Nichts kommenden Zorn neben sich spürte. „Was ist denn?“

„Nancy ist … TOT!“ Bates brüllte ihm ins Gesicht. „Sie war eine von uns, wir gehörten zusammen! Wir … wir waren doch eine Familie! Und du Mistkerl lässt sie einfach umbringen, als wäre sie nur irgendein Müll, den man wegwirft?!“

„Pass auf, was du sagst. Du bist auch nicht unersetzlich“, entgegnete Fagin eiskalt. „Nur weil du zu willensstark bist, um von mir kontrolliert zu werden, heißt das nicht, dass du Narrenfreiheit besitzt.“

Bates zog eine Art Teppichmesser aus einer Tasche an seinem Gürtel und fuhr die Klinge heraus – was seinem Gegenüber nur ein überhebliches Grinsen entlockte.

„Glaubst du wirklich, du könntest mich damit treffen? Im Gegensatz zu euch Amateuren habe ich in jungen Jahren eine richtige Militärausbildung genossen. Jemand wie du kann mir nichts anhaben.“

Der blonde Engländer biss sich auf die Unterlippe. Fagin sprach wahre Worte. Das, was sie an Kampftechniken beherrschten, hatten sie von ihm und Sikes gelernt.

„Deine Fähigkeit wirkt nur bei willensschwachen Menschen? Der Menschentiger enttäuscht mich immer wieder aufs Neue.“ Seufzend hatte Akutagawa sich zu ihnen umgedreht. „Trotzdem wäre ich gerne derjenige, der ihn irgendwann tötet und dann sollte er bei dem bisschen Verstand sein, das er hat.“

„Was willst du, Mafioso?“, fragte Fagin gereizt. „Misch dich nicht weiter in unsere Angelegenheiten ein. Ich entbinde euch von unserem Vertrag.“

Akutagawa hustete und lachte im Anschluss. „Ach, so ist das. Du Wurm denkst immer noch, wir würden für euch arbeiten. Ich würde auch sehr gerne mal ein Experiment durchführen.“

Fagin hob fragend eine Augenbraue, als plötzlich rasend schnell schwarze Bänder auf ihn zuschossen und ihn im Handumdrehen einwickelten. Lediglich ein kleines Loch auf der Brust ließ Rashomon unbedeckt.

„Ich würde sehr gerne wissen, was aus deiner Fähigkeit wird, wenn du stirbst.“ Akutagawa blickte abwartend zu Bates, der den Wink sofort verstand.

Er rammte dem entgeisterten Fagin die vollständig ausgefahrene Klinge des Teppichmessers mitten ins Herz. Der ältere Herr riss erschrocken die Augen weit auf und spuckte Blut. Dann sackte er leblos zusammen und fiel zur Erde, als Rashomon ihn losließ. Das Messer fiel heraus – oder vielmehr der Griff; die Klinge schien sich von ihm gelöst zu haben. Interessiert beobachtete Akutagawa, wie kleine Teile der Klinge (als hätte jemand die einzelnen Fragmente des Teppichmessers abgebrochen) wieder aus dem Brustkorb des Toten heraustraten, jedoch nicht an der Stelle, wo Bates zugestochen hatte. Die scharfkantigen Blättchen bohrten sich aus beiden Lungenflügeln hinaus.

„Kontakt mit Blut führt dazu, dass das Messer sich in seine Einzelteile aufspaltet“, erklärte Bates mit emotionsloser Stimme, ohne gefragt worden zu sein und ohne seinen starr gewordenen Blick von Fagin zu nehmen. „Wenn man an keiner lebenswichtigen Stelle zusticht, dann verteilen sich die kleinen Klingen im Körper und töten einen langsam und qualvoll. Er hat mich für diese Erfindung sehr gelobt. Dabei ist sie, wenn man darüber nachdenkt, sehr grausam, nicht wahr?“

Akutagawa antwortete nicht und löste seinen Blick von dem sichtlich verstörten jungen Mann. So seltsam diese präparierte Waffe auch war, im Moment interessierte er sich mehr für das Ergebnis seines Versuchs. Er wandte sich wieder Dickens und dem Menschentiger zu.

Mit einem lauten 'Klirr!' zerbrach das Schwert, mit dem der Engländer auf den Tiger eingedroschen hatte. Ein paar Treffer hatte er tatsächlich landen können, wodurch die Klinge sich rasch abgenutzt hatte. Die Wunden der Raubkatze begannen schon wieder, sich zu schließen und mit einem beängstigenden Gebrüll setzte sie endlich zum Gegenangriff an.

„Der Versuch ist wohl fehlgeschlagen“, murrte Akutagawa und blitzschnell flogen Bänder auf das Ungetüm los und zurrten sich um die Beine des Tigers fest.

Burnett hatte in der Zwischenzeit Eleanor weggetragen und presste ihre Hände auf ihre Wunden. Das Blut sickerte in einem unaufhörlichen Strom hindurch. Auf wackligen, schmerzenden Beinen hatte sich auch Kunikida vom Kampfschauplatz entfernt und blickte abwechselnd zwischen der Granate in seiner Hand und dem weißen Tiger hin und her. Er hatte mitbekommen, dass Akutagawa und der jüngere Engländer Fagin getötet hatten – und dass das an ihrer Situation nichts geändert hatte.

Mit einem Ruck riss der Tiger sich von Rashomon los und stieß mit der Wucht seines Befreiungsschlags Akutagawa gleich mit um. Nur einen Wimpernschlag später warf die Bestie den vom Kampf erschöpften Dickens zu Boden. Der Junge schlug hart mit dem Kopf auf dem Asphalt auf und blieb regungslos liegen.

Atsushi würde ihn töten. Er würde ihn töten, genau wie er auch Eleanor lebensgefährlich verletzt hatte. Der entfesselte weiße Tiger würde durch Fagins Befehl jeden vernichten, der seinen Weg kreuzte. Das alles war ein Albtraum, der nicht enden wollte.

Kunikida erschrak, als eine weiße Gestalt plötzlich an ihm vorbei durch die Luft sauste und mit ihrem Schwert den Tiger davon abhielt, seine Krallen in den Jungen unter sich zu schlagen.

„Weißer Dämonenschnee …? Aber … wie ist das möglich?“ Die ungläubige Frage des blonden Detektivs wurde durch eine ihm mehr als vertraute Stimme beantwortet.

„Hör auf! Bitte hör auf!“

Kyoka lief an ihm vorbei auf das Raubtier zu und blieb vor diesem stehen. Mit bangem Blick sah sie zu dem Tiger, der sie bemerkte und mit einem Mal von Weißer Dämonenschnee zurückwich.

„Geh weg von ihm!“, schrie Kunikida voller Verzweiflung. Vor seinem inneren Auge sah er auch Kyoka bereits blutend auf der Erde liegen.

„Nein! Das geht nicht! Er leidet! Wir müssen ihm helfen!“, gab sie entschlossen zur Antwort und ließ den Idealisten stutzen. Erinnerte sie sich etwa an Atsu-

„Ich bin diesem Jungen nur einmal begegnet“, fuhr Kyoka fort und beantwortete so unbewusst seine Frage, „aber aus irgendeinem Grund will ich nicht, dass er leidet!“

Der Tiger knurrte und schüttelte sein mächtiges Haupt, als würde dort etwas sitzen, das er abzuschütteln versuchte. Plötzlich traute Kunikida seinen Augen nicht mehr.

Atsushi stand vor ihnen.

Wie er es schon so oft gesehen hatte, sahen seine Gliedmaße und sein Gesicht noch animalisch aus, doch das Untier von eben hatte sich zurückgezogen.

„Atsushi“, hauchte Kunikida fassungslos.

Der Blick des Silberhaarigen war nach wie vor leer, als könnte er nicht sehen, was direkt vor ihm war. „Kyoka?“, fragte Atsushi und es klang tatsächlich so, als würde ihn etwas quälen, als hätte er geweint. „Kyoka? Bist du hier irgendwo? Kyoka??“

„Sie ist hier, Atsushi“, antwortete Kunikida an ihrer Stelle. „Sie ist hier und wartet auf dich!“ Es dämmerte ihm, was hier geschah. So wie die eigentlich erinnerungslose Kyoka in dem Tiger Atsushi hatte erkennen können, so hatte Atsushi, wo auch immer sein Bewusstsein gerade eingesperrt war, Kyokas Stimme hören können.

„Kunikida?! Wo bist du?? Ich ... das Wasser! Es ist überall! Ich kann nicht atmen!“

„Ganz ruhig. Alles wird gut, Atsushi“, sagte der Blondschopf in dem ruhigsten Tonfall, der ihm in dieser Krise möglich war. Auch wenn er selbst noch nicht wusste, wie; wichtig war nur, dem Bengel jetzt irgendwie beizustehen.

Atsushi krallte seine prankenartigen Hände in seine silbernen Haare. „Nein!“, schrie er panisch und ließ damit Kunikida das Blut in den Adern gefrieren. „Lasst mich nicht alleine! Geht nicht weg!! Ich kann nicht atmen! Ich ertrinke!!“ In sein Schreien mischte sich das Brüllen des Tigers.

So schnell wie Atsushi eben aufgetaucht war, war auch der Tiger wieder erschienen. Seine gigantische Pranke schlitzte Weißer Dämonenschnee auf und ließ die Fähigkeit verschwinden. Kyoka erstarrte vor Schreck, als das riesige Raubtier auf sie zusprang.

Schwärze Bänder rissen sie nach hinten und bewahrten sie davor, zerfleischt zu werden.

„Es hilft nichts“, schnaubte Akutagawa, „wir müssen ihn töten.“ Im Nu prasselte ein schwarzes Trommelfeuer von Angriffen Rashomons auf den weißen Tiger ein.

„Kyo … ko“, richtete Kunikida mit einem Tonfall, der bar jeglicher Emotionen war, an das Mädchen. „Benutze bitte Weißer Dämonenschnee, um diese beiden in Sicherheit zu bringen.“ Burnett blickte entgeistert auf, als der Detektiv zu ihr sah. „Und du da“, sprach er weiter, dieses Mal an Bates gerichtet, „kann ich davon ausgehen, dass du die Seiten gewechselt hast?“

Bates, der an die Seite des ohnmächtigen Dickens geeilt war, nickte bedächtig. So erschüttert wie der Engländer nun dreinblickte, fiel die Vorstellung schwer, dass jemals ein vergnügtes Grinsen sein Gesicht geziert hatte.

„Dann bring du den Jungen hier weg.“

Unsicher sah Kyoka zwischen Kunikida und dem Tiger hin und her. „Ihm darf nichts passieren.“

„Geh jetzt. Beeil dich. Sonst stirbt Eleanor.“

Weißer Dämonenschnee erschien von neuem, schnappte sich die verletzte junge Frau und deren große Schwester und flog mit ihnen davon. Kyoka hastete ihnen hinterher. Bates lud sich Dickens über eine Schulter und folgte ihnen. Er kannte sich in dieser Stadt kaum aus; um Hilfe für den Verwundeten zu erhalten, musste er sich auf Kyokas Führung verlassen.

„Willst du nur zusehen, Detektiv?!“, kritisierte der bereits ausgelaugte Akutagawa ihn. Sein Gegner zerriss die Bänder Rashomons, als wären sie nur Papiergirlanden. „Oder willst du das Spielzeug in deiner Hand auch einsetzen?“

Dem Mafioso gelang es, die Raubkatze für einen Moment mit seiner Fähigkeit bewegungsunfähig zu machen.

Ein verzweifelter Schrei schallte durch die fast menschenleere Umgebung, bevor die von Kunikida geworfene Granate direkt neben dem Kopf des Tigers explodierte.

Getroffen taumelte das Ungetüm zurück. Rotes Blut sickerte aus einer Stirnwunde über sein weißes Fell. Doch tot war es nicht.

„Wir brauchen mehr davon!“, bellte Akutagawa und wusste, dass seine Order auf taube Ohren stieß, als er sich den Idealisten besah. Am ganzen Körper zitternd, war er nach dem Wurf der Granate auf die Knie gefallen.

„Ich kann nicht! Ich kann ihn nicht töten! Ich kann Atsushi nicht töten!!“

Der Tiger schüttelte seinen Kopf und stand wieder auf festeren Beinen. Seine Wunde begann bereits zu heilen und er begab sich abermals in Angriffsstellung. Wohl verstehend, wie sein Gegner angriff, schnappte er sich das auf die Erde gefallene Notizbuch und zerfetzte es mit einem einzigen Hieb seiner Krallen.

Akutagawa knarzte mit den Zähnen. Sollte es das etwa gewesen sein? Konnte er den ungezügelten Kraft des Menschentigers wirklich nichts entgegensetzen? Sollte er sich lieber zurückziehen und Mori warnen? Diese Bestie würde ein Massaker in Yokohama anrichten, so viel war sicher.

In den ohne Erbarmen auf sie niedergehenden Regen mengte sich mit einem Mal das immer näher kommende Geräusch eines Kampfschreis. Akutagawa riss die Augen auf, als er dieses cholerische Dröhnen erkannte. Ein lautes Knallen, als wäre ein tonnenschwerer Fels auf das Dach des Gebäudes vor ihnen gedonnert, ließ ihn und Kunikida nach oben blicken. Die Gestalt eines Hut tragenden Mannes näherte sich nun mit rasanter Geschwindigkeit von dort oben – und er trug einen anderen Mann auf den Armen.

Chuuya landete genau vor dem weißen Tiger, der den Neuankömmling sofort aus dem Weg räumen wollte, doch ein ausgestreckter, blasser Finger des Mannes, den er bei sich hatte, berührte das Tier beinahe sanft an der Stirn.

Der Regen stoppte. Als hätte jemand die dunkle Wolkendecke aufgerissen, um auf einen Schlag das trübe Wetter der vergangenen Tage vergessen zu machen, bahnte sich die untergehende Sonne strahlend ihren Weg durch den grauen Himmel und tauchte umgehend alles und jeden in ein leuchtendes Rot.

Mit nicht begreifenden, weit aufgerissenen Augen starrte Atsushi auf seinen blutüberströmten Mentor, der in den Armen Chuuyas lag.

„Was … machst du denn … für ein Gesicht … Atsushi?“ Dazai lächelte schwach, während Kunikida und Akutagawa nicht minder entsetzt auf die Szene vor ihnen starrten.

Unvermittelt sank die ausgestreckte Hand leblos hinab.

„Dazai?!“, fragte Atsushi zu Tode verängstigt und Chuuya rüttelte augenblicklich an dem Brünetten, der plötzlich seine Augen geschlossen hatte.

Dazai reagierte nicht.

Don't leave me here to pass through time without a map or roadsign – Don't leave me here, my guiding light

Don't leave me here to pass through time without a map or roadsign

Don't leave me here, my guiding light“

 

Placebo, „Kings of medicine“

 

Dazai trug ein friedliches Lächeln im Gesicht. Als wäre er ruhig eingeschlafen und hätte nun einen schönen Traum. Atsushi verstand bei diesem Anblick die Welt nicht mehr. Überall auf seinem Mentor war Blut, so schrecklich viel Blut; wo kam es her und wo kam Dazai so plötzlich her? Und Chuuya? Was war passiert? Wo war Dickens? Wieso sah Kunikida so mitgenommen aus? Hatte hier ein Kampf stattgefunden?

Sein Kopf tat weh und er spürte ein schmales Rinnsal seines eigenen Blutes über sein Gesicht laufen.

„Hey! HEY! HEY!!!“ Chuuya schrie den bewusstlosen Mann in seinen Armen an und schüttelte ihn abermals – vergeblich. „Ich habe doch gesagt, er muss in ein Krankenhaus, aber er bestand darauf, dass ich ihn hierher bringe. Jetzt wage es nicht zu sterben, nachdem ich mir die Mühe gemacht habe, du undankbarer Mistkerl!!“

„Was … was ist mit ihm?“ Kunikida gelang es endlich, sich aus seiner Schockstarre zu befreien und eilte hinkend zu dem gerade aufgetauchten Duo.

Der rothaarige Mafioso legte Dazai auf dem Boden ab und Kunikida griff sich sofort ein Handgelenk des Kollegen. Entsetzt blickte er zu Chuuya.

„Er hat kaum noch Puls!“

„Seine Atmung wird auch immer flacher. Ich versteh das nicht.“ Chuuya lenkte Kunikidas Augen zu den zwei Einstichstellen, die er gefunden hatte. „Das müssen die ursprünglichen Verletzungen gewesen sein. Aber aus immer mehr Stellen scheint Blut auszutreten.“

Der blonde Detektiv öffnete Dazais Weste und riss das darunter liegende Hemd auf. Tatsächlich. An mehreren Stellen auf den Verbänden waren Blutflecke zu sehen. Er schob ein paar der Bandagen beiseite, um sich die Haut darunter anzusehen. Die vom Regen durchnässten Verbände taugten nichts, um die Blutungen zu stoppen, außerdem blutete der Mann fast aus allen Poren. Panisch und doch behutsam drehte er Dazai um.

„Der Mantel muss weg.“

Angesichts des Befehlstons verzog Chuuya das Gesicht, half aber dennoch den braunen Trenchcoat und die Weste abzustreifen. Der Idealist musste das Hemd nicht einmal anheben, um zu sehen, dass Dazai selbst am Rücken überall blutete. Kunikida fuhr mit einer Hand über einen der rot gefärbten Punkte und zog mit einem Mal die Hand zurück. Irgendetwas Scharfes war da.

„Eine Klinge …?“, hauchte er entgeistert und nicht begreifend.

„Weg da!“ Akutagawa schubste den angeschlagenen Detektiv grob zur Seite, sodass dieser in die stetig wachsende Blutlache Dazais fiel und kniete sich selbst neben seinen ehemaligen Lehrmeister. Er zerriss dessen Hemd und fühlte an die Spitze, die sich durch den Verband drückte. Akutagawas Blick schnellte zu Fagins Leiche zurück. „Das ist eine Waffe der Engländer. Die Klinge spaltet sich im Körper in mehrere Einzelteile auf.“

„Warte, was?!“ Chuuya blickte von Dazai hoch. „Soll das heißen mehrere kleine Klingen wandern gerade lustig durch den Körper dieses Idioten und schlitzen ihn von innen auf??“

„Es gibt zwei Einstichstellen. Das heißt, es waren zwei Messer.“ Akutagawas Stimme klang noch vergleichsweise ruhig, aber sein Blick verriet, dass ihm die Schwere seiner Entdeckung massive Sorgen bereitete.

„Kein Wunder, dass er wie blöd blutet und Unmengen Blut gespuckt hat.“

„W-WIR MÜSSEN ETWAS TUN!!“

Die drei anderen zuckten zusammen, als Atsushi aus dem Nichts lautstark diesen Satz brüllte. Bis gerade eben hatte der Junge nur dagestanden und tatenlos auf sie geblickt. Die Angst darüber, nicht zu wissen, was geschehen war, drückte ihm den Hals zu und er bekam kaum einen klaren Gedanken zu fassen. Nun aber, als hätte ihm jemand ins Gesicht geschlagen, wachte Atsushi aus seiner Paralyse auf und wurde überwältigt von der Angst um seinen Kollegen.

„Er stirbt, wenn wir nichts tun!!“

„Der Menschentiger hat ausnahmsweise Recht. Wir müssen uns beeilen!“ Akutagawa machte bereits Anstalten nach Dazai zu greifen, als Kunikida dazwischen ging.

„Wenn wir ihn noch weiter durchschütteln, machen wir seine Verletzungen nur noch schlimmer. Er wird verblutet sein, bis wir ihn ins nächste Krankenhaus gebracht haben. Wir müssen ihn vorsichtiger bewegen und die schlimmsten Blutungen stoppen.“

Der dunkelhaarige Mafioso knurrte noch unzufriedener als er sonst tat und ließ überstürzt Bänder Rashomons auf die sichtbaren Verletzungen des Brünetten los, doch die schwarzen Binden taugten als solche nichts bei diesem Patienten. Sie verschwanden sofort, nachdem sie seinen Körper berührt hatten.

„Verdammt! Wir brauchen etwas Anderes!“

Mit zitternden Fingern zog Atsushi sich hastig seinen langen Gürtel aus. Sogleich griff Kunikida danach und zurrte ihn um eine der dutzenden Wunden. Geschwind nahm Akutagawa den Gürtel aus seinem eigenen Mantel, während Atsushi schon dabei war, den Gürtel aus Dazais Trenchcoat zu ziehen. Kunikida wickelte alles stramm an dem mit Verletzungen übersäten Körper fest, selbst das rote Band seiner Schleife funktionierte er um. Einer plötzlichen Eingebung nachgehend, steckte Atsushi seine Hand in eine der Manteltaschen Dazais und förderte seine eigene Krawatte daraus zutage, die Kunikida ebenso verwendete.

Während diese drei hektisch versuchten, den Blutverlust einzudämmen, sah Chuuya ihnen nur abwartend zu.

„Ihr wisst schon, dass ihr gegen seinen Willen handelt, oder?“

In ihrem panischen Werk gestört, schauten sie erschrocken zu dem Führungsmitglied.

„Das ist es doch, was er immer wollte“, fuhr Chuuya fort und bemühte sich darum gelassen zu klingen, auch wenn der Zorn in seiner Stimme deutlich hervortrat. „Seht euch nur seine zufrieden grinsende Visage an. Er wähnt sich am Ziel seiner Träume. Sollten wir ihn da nicht einfach in Ruhe lassen?“

„Aber ...“, begann Atsushi und schluckte. Gab es ein gutes Gegenargument gegen Chuuyas Aussage? Er hatte schließlich Recht. Dazai wollte sterben. Aber – konnten sie ihn deswegen einfach sterben lassen? Das ging doch nicht! Sie konnten doch nicht … oder? War es falsch oder richtig, was sie hier taten?Ratsuchend guckte er zu Kunikida, dessen ernster Blick von dem Mafioso hin zu Dazai und wieder zu Chuuya wanderte.

„Hat Dazai auf dich je den Eindruck gemacht, wirklich zu wissen, was er will? Ich weiß nicht, wie lange du ihn kennst, aber ich kenne ihn lang genug, um behaupten zu können, dass der Mann selbst nicht weiß, was er tatsächlich will. Und solange er dies nicht herausgefunden hat, können wir ihn auch nicht sterben lassen.“

Chuuya tauschte einen intensiven, schweigenden Blick mit dem Idealisten aus.

„Ich frage mich, ob wir überhaupt den selben Dazai kennen.“ Der Rothaarige lächelte plötzlich. „Wenn man es so sieht, dann müssen wir seinen traurigen Hintern ja retten. Nicht zuletzt, weil ich derjenige sein will, der den Spinner irgendwann zur Hölle schickt.“ Er sprang auf und stürmte in Richtung der weiter zurückliegenden Gebäude los – dorthin, wo die nächste Straße war. Während Atsushi ihm verwirrt hinterher sah, zog Kunikida noch einmal alle Bänder um Dazais Wunden stramm und prüfte noch einmal seinen Puls. Er biss sich auf die Lippen, als er ihn kaum noch finden konnte.

„Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.“

„Kunikida, wir brauchen ein Auto, aber deins ist -“ Atsushi stockte, als er zu dem demolierten Fahrzeug sah. Ein gepeinigtes Japsen entwich ihm und seine Augen weiteten sich bei dem Anblick. „Das Auto … habe ich … ? Nein …. Nein! Ich war …! Ich habe-!“ Tränen und Übelkeit kamen gleichzeitig über Atsushi, als ein verstörender Rausch von vagen Erinnerungen über ihn hineinbrach. Wie die verschwommenen Bilder in seinem Kopf plötzlich klarer wurden (er hatte Kunikida gegen die Wand geschleudert, er hatte diese junge Frau verletzt, er hatte Dickens zu Boden geschlagen! Oh Gott, Kyoka war hier gewesen, hatte er ihr auch etwas getan?!), brach er zusammen und übergab sich elendiglich.

Ohne jegliches Mitgefühl hievte Rashomon ihn umgehend wieder auf die Beine.

„Menschentiger, hast du nicht gerade eine Aufgabe vor dir, die wichtiger ist als dein Selbstmitleid?“

Bevor er antworten konnte, raste mit quietschenden Reifen ein Auto um die Ecke.

„Macht schon!“ Chuuya öffnete die Fahrertür und brüllte zu ihnen herüber.

Atsushi und Akutagawa tauschten einen kurzen Blick aus, ehe Ersterer Dazais Oberkörper anhob und Letzterer dessen Beine. Kunikida biss die Zähne zusammen und humpelte so schnell er konnte ihnen hinterher.

„Ist der eigentliche Fahrer dieses Wagens unverletzt?“, fragte er in Richtung des Rothaarigen.

Der Mafioso stöhnte genervt. „Ja ja, er kommt mit 'nem Schrecken davon.“

„Na gut. Aber ich fahre.“

„Häh?“

„Ich fahre. Und für Diskussionen haben wir keine Zeit.“

Chuuya machte ein murrendes Geräusch, gab aber angesichts des Zeitdrucks klein bei und ließ den Detektiv ans Steuer, während Atsushi und Akutagawa mit Dazai auf die Rückbank kletterten. Chuuya beeilte sich, auf der Beifahrerseite einzusteigen, als Kunikida den Fahrersitz ein Stück nach hinten setzte. Ihre Situation war so schon seltsam genug, nie im Leben hätte er sich da in einen Wagen gesetzt, der von einem Führungsmitglied der Hafen-Mafia gelenkt wurde. Eigentlich waren schließlich zwei der Insassen dieses Autos ihre Feinde und auch wenn Kunikida momentan keinen Zweifel daran hatte, dass allen daran gelegen war, Dazai zu retten; ihm war wohler bei dem Gedanken, selbst das Steuer in der Hand zu halten.

Das war wohl das Seltsamste überhaupt an ihrer Situation: Sie alle wollten Dazai retten.

Nein, eigentlich war daran nichts seltsam, dachte Kunikida, als er mit durchdrehenden Reifen losfuhr.

Die Kraft der Beschleunigung schmiss ausgerechnet Chuuya in den Sitz. „Whaa! Wo hast du denn Fahren gelernt?!“

„In der Nähe von Suribachi gibt es kein Krankenhaus“, antwortete der Idealist nüchtern. „Wir müssen über die Brücke und in die Stadt hinein.“ Er warf einen hastigen Blick in den Rückspiegel. Bei dem halsbrecherischen Tempo, das er fuhr, durfte er seine Augen nicht zu lange von der Straße nehmen. Der flüchtige Blick reichte, um zu sehen wie Atsushi, von den Ereignissen merklich gezeichnet, mit bebenden Händen Dazai umklammerte.

„K-kunikida“, wimmerte der Junge leise und doch hörbar, „es-es tut mir alles so -“

„Du hast nichts falsch gemacht, Atsushi“, fiel der Angesprochene ihm ins Wort.

„G-geht es Kyoka gut?“

„Sie ist unverletzt.“

Ein abschätziges Geräusch von Akutagawa mischte sich in das angespannte Gespräch. „Bevor der Menschentiger noch weiter über seine eigene Schwäche jammert: Wieso sagte Kyoka, sie sei ihm nur ein einziges Mal begegnet?“

„Sie steht unter dem Einfluss einer Fähigkeit und kann sich nicht an mich oder an sonst wen erinnern“, erklärte Atsushi stimmlos und ohne seinen Sitznachbarn anzusehen.

Kunikida krallte das Lenkrad noch etwas fester. Der Mord an Fagin hatte nicht dessen Fähigkeit aufgelöst. Das hieß, selbst wenn Eleanor starb - was auf gar keinen Fall passieren durfte - könnte ihre Fähigkeit weiter aktiv bleiben. Und wenn Dazai starb, würde niemand seine Erinnerungen zurückerhalten. Ranpo, Kyoka, Lucy; keiner von ihnen würde zurückkommen.

Der Blondschopf erschrak, als sein Handy plötzlich in seiner Westentasche klingelte. Er überlegte, wie er es beantworten sollte, wenn er wie der Teufel durch die Straßen fegte und Überholmanöver machte, die Dazais selbstmörderischen Fahrkünsten gleich kamen.

Ein wenig hilflos sah er aus dem Augenwinkel heraus zu Chuuya, der seinen Blick erst fassungslos und dann genervt erwiderte.

„Echt jetzt?“, schimpfte der Mafioso und ächzte. „Na schön!“ Er langte in Kunikidas Westentasche, zog das Mobiltelefon heraus und nahm den Anruf entgegen. „Was?!“

Der Detektiv konnte das verdatterte Geräusch auf der anderen Seite hören. „Lautsprecher, bitte.“

Mit einem abermaligen Grollen kam Chuuya auch dieser Bitte nach.

„Kunikida??“, drang Naomis erschütterte Stimme an alle Ohren. „Bist du da??“

„Was gibt es, Naomi?“

„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll!“

Ihr panischer Tonfall alarmierte auch Atsushi. Aufgeschreckt sah er nach vorne.

„Der Chef und Ranpo sind schwer verletzt! Der Chef hatte gerade noch die Kraft, Haruno anzurufen. Und Yosano ist bewusstlos! Mein Bruder hat sie wiederbelebt, aber sie wacht nicht auf! Wo sind du und Atsushi??“

Der Idealist fühlte sich, als wäre er aus einem Albtraum aufgewacht, nur um direkt danach einen noch schlimmeren zu haben. Er schluckte.

„Auf dem Weg in ein Krankenhaus“, sagte Kunikida um Fassung ringend. „Dazai ist ebenso schwer verletzt.“

„Dazai auch??“

„Melde dich, wenn es etwas Neues gibt, Naomi.“

„Ja!“ Sie legte auf und Chuuya nahm das Handy herunter, während er auf Kunikidas Hände sah, die sich regelrecht um das Lenkrad verkrampften.

„Heute wäre also ein guter Tag, um der Detektei den Gnadenstoß zu versetzen.“

Atsushis Hände krallten sich fast in Dazai, als er die Tränen in seinen Augen daran hindern wollte zu fallen. Alles war bereits schrecklich genug, er wollte nicht auch noch vor Akutagawa weinen. Wenn die beiden Mafiosi sich jetzt gegen sie wandten, wäre alles aus. Akutagawa war eigentlich an sein Versprechen gebunden, aber wenn Chuuya ihm den Befehl gab, sie anzugreifen, dann würde er dies ohne jeglichen Zweifel auch tun. Atsushi vergaß zu atmen, als ihm plötzlich etwas Gravierenderes auffiel.

Panisch fuhr er mit einer Hand unter die Nase des bewusstlosen Mannes in seinen Armen. Mit einer gleichermaßen aufgescheuchten Bewegung legte er zwei Finger an dessen Hals.

Die plötzliche Aufgekratztheit des Detektivs bemerkend, hob Akutagawa fragend eine Augenbraue.

„Er atmet nicht! Er atmet nicht mehr!“, schrie Atsushi. „Ich spüre auch keinen Puls mehr!!“

„Was?! Lass mich mal!“ Der Dunkelhaarige griff nach Dazais Handgelenk und versuchte, dort einen Puls zu finden.

„Was ist? Hat der Menschentiger Recht?“ Chuuya drehte sich zu ihnen um.

Akutagawas entsetzte Mimik beantwortete seine Frage.

„Scheiße!“

Mittlerweile hatten sie die Insel, auf der Suribachi lag, hinter sich gelassen und waren in den dichten Feierabendverkehr der Innenstadt geraten. Kunikida konnte noch so schnell Abkürzungen durch Seitenstraßen ansteuern, sie gerieten trotzdem immer wieder ins Stocken.

„Akutagawa!“, bellte Chuuya im Befehlston und ließ die beiden Detektive vor Schreck die Luft anhalten. „Wir müssen die Straße verlassen!“

Akutagawa nickte, schubste Dazais lange Beine von sich und versuchte, von ihm wegzurutschen. Als dies nicht gelang, öffnete der Mafioso das Fenster und kletterte auf die Autotür. Riesige, stelzenartige, pechschwarze Beine erschienen und hoben das Fahrzeug (unter den erstaunten Blicken der anderen Verkehrsteilnehmer) hinauf.

Ein merkwürdiges Glühen, welches den gesamten Wagen erfasste und Chuuyas konzentrierte Miene waren das Einzige, das ihnen verriet, dass gerade die Gravitation manipuliert wurde. Das – und der Umstand, dass das Auto plötzlich an der Wand eines Hochhauses entlang fuhr. Für einen Moment von der ungewohnten Situation irritiert, holte Kunikida tief Luft und trat das Gaspedal wieder durch.

„Wenn dieser durchgeknallte Schwachkopf nach dem ganzen Aufwand, den wir betreiben, immer noch stirbt, bringe ich ihn um!“, wütete Chuuya und war sich seines unlogischen Satzes nicht einmal bewusst.

„Aber bitte erst nachdem ich ihm eine Tracht Prügel verpasst habe!“, wandte Kunikida ein.

„Das kann unmöglich dein Ende sein.“ Akutagawa sah in den Wagen zurück und biss seine Zähne aufeinander. „Das darf unter keinen Umständen dein Ende sein!“

„Bitte stirb nicht, bitte stirb nicht, bitte stirb nicht, Dazai. Bitte, bitte, bitte, bitte stirb nicht, Dazai“, wiederholte Atsushi immerfort, während er den leblosen Körper seines Mentors an sich drückte und heiße Tränen auf diesen fielen.

 

Als Dazai dieses Mal die ihm so bekannten Treppenstufen unter seinen Füßen sah, rannte er sofort los. Wie ein amerikanisches Kind am Weihnachtsmorgen sprintete er die Stufen hinab. Er meinte, sein Herz bis in seine Ohren schlagen zu hören. Die Vorfreude ließ ihn fast platzen. Er strahlte über das ganze Gesicht, als er am Fuß der Treppe das ersehnte Bild erblickte.

„Da bist du ja wieder.“ Odasaku grüßte ihn von seinem angestammten Hocker aus.

Mit noch mehr Schwung als beim ersten Mal ließ Dazai sich neben ihm nieder. Selbst sein Glas und die angefangene Flasche standen noch dort, wo er sie zurückgelassen hatte.

„Jetzt bleibe ich hier, Odasaku! Freust du dich?“

„Freust du dich?“

„Ja! Ja! Natürlich! Siehst du das nicht?“

Der Rothaarige schmunzelte. „Alles erledigt?“

„Im wahrsten Sinne des Wortes!“ Dazai schüttete sich sein Glas bis zum Anschlag voll und trank es in einem Zug aus. „Ah~!“ Er stellte es auf dem Tresen ab und drehte sich seinem Freund zu. „Jetzt werden wir nicht mehr gestört, Odasaku. Also, was wollen wir mit der Ewigkeit anfangen?“

Der Angesprochene nippte an seinem Glas. „Wir könnten uns unterhalten.“

Dazai klatschte in die Hände, als würde ihn diese Idee begeistern. „Das ist ein großartiger Einfall, Odasaku! Ich habe dir so viel zu erzählen! Wo soll ich nur anfangen?“

„Hmm ...“ Odasaku stellte sein Glas ab und legte nachdenklich den Kopf leicht schief. „Du hattest von diesen bewaffneten Detektiven gesprochen. Erzähl mir mehr von denen.“

Der Brünette stutzte kurz verwundert, aber seine überschwängliche Euphorie verließ ihn nicht. „Wenn du das willst, mach ich das gerne, Odasaku.“

„Wie bist du bei denen gelandet?“

„Ich musste ja etwas finden, bei dem man Menschen retten kann und Herr Taneda vom Innenministerium vermittelte mich dann quasi an die Detektei. Und die machen tatsächlich nichts anderes als Menschen zu retten! Kannst du dir das vorstellen? Die sind geradezu besessen davon, anderen zu helfen!“ Dazai warf theatralisch die Arme in die Höhe, was Odasaku erneut schmunzeln ließ.

„Klingt nett. Du rettest also Menschenleben?“

In einer weiteren theatralischen Geste ließ Dazai erschöpft seinen Kopf auf den Tresen fallen. „Das ist viel anstrengender als mein Job bei der Mafia. Einmal wollte eine amerikanische Organisation ein riesiges Luftschiff auf Yokohama hinabstürzen lassen. Hast du eine Ahnung, wie viel Arbeit das war, das zu verhindern?“

„Viel, vermute ich.“

Sein Gegenüber seufzte. „Und weil die Detektei ständig irgendwen rettet und beschützt, macht sie sich immer mehr Feinde. Von der Blutfehde zwischen Mori und dem Chef fang ich gar nicht erst an. Trotzdem ...“ Dazai hob seinen Kopf wieder und fuhr mit einem Finger über den Rand seines Glases. „Trotzdem sind sie alle davon überzeugt, dass es sinnvoll und richtig ist, was sie tun.“ Ein schmales Lächeln bildete sich auf seinen Lippen, als er das Glas ansah. „Du würdest dich da wohlfühlen, Odasaku. Ja, ich glaube, du würdest perfekt zu ihnen passen.“

„Zu dem Pedanten, der Angsteinflößenden und den unschuldigen Gesichtern?“

Bei dieser Reaktion hielt Dazai kurz inne, bevor er loslachte. „Vielleicht sind bei meiner Beschreibung von ihnen ein paar ihrer anderen Charakterzüge untergegangen.“ Sein Lachen ebbte ab. „Im Ernst, Odasaku, ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie du wohl mit Atsushi umgegangen wärst. Er hat so viel Potenzial, aber das Selbstwertgefühl eines Stecknadelkopfes. Mir war direkt klar, dass ich ihn nicht auf die gleiche Weise behandeln kann, wie ich es bei Akutagawa getan habe. Atsushi wäre daran zerbrochen.“

Interessiert blickte Odasaku seinen nachdenklich gewordenen Freund an. „Und was hast du letztlich mit ihm gemacht?“

Jetzt war es Dazai, der schmunzelte. „Wie ich schon sagte: Ich habe überlegt, was du wohl getan hättest.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber dein Weg ist so viel schwerer, Odasaku.“

Für einen kurzen Moment lang schwiegen sie sich an, ehe Dazai sich dem Rothaarigen wieder zudrehte. „Aber … du hattest Recht. Er ist schöner.“

Er bekam eines der seltenen Lächeln des eigentlich Älteren zur Antwort. „Das freut mich.“

Dazai sog das Lächeln und die Antwort in sich auf, bevor Odasaku etwas hinzufügte:

„Jetzt müssen sie also ohne dich klar kommen?“

„Das kriegen sie schon hin.“

„Der Pedant, Kunikida hieß er, richtig? Wird er ohne dich zurecht kommen?“

Der Brünette stutzte abermals. „Ja, das ist er vorher auch. Auch wenn ich mit meinen Bemühungen, dass er mal etwas von seiner Anspannung verliert, nicht so weit gekommen bin, wie ich gehofft hatte. Hoffentlich war jetzt nicht alles umsonst und es wird noch schlimmer mit ihm. Das wäre ärgerlich.“

„Und dieser Junge, Atsushi … es klingt so, als wäre er auf deine Unterstützung angewiesen. Hängt er nicht an dir?“

Dazai schüttelte irritiert den Kopf. „Ja, er sucht aus irgendeinem Grund ständig meine Nähe, aber das kann Kunikida übernehmen. Er bringt dem Jungen sowieso mehr bei als ich.“

„Ist Kunikida nicht mit sich selbst beschäftigt? Du sagtest doch gerade, es könnte mit ihm noch schlimmer werden, wenn du nicht mehr bei ihm bist.“

Die Irritation des Detektivs wuchs. „Was soll das, Odasaku? Warum versuchst du, mir ein schlechtes Gewissen einzureden?“

„Tue ich das?“, entgegnete der Angesprochene seelenruhig.

„Ja! Und ich bitte dich, hör auf damit! Ich will einfach nur hier mit dir zusammensitzen und über alles reden, was uns einfällt. So oft habe ich mir gewünscht, ich könnte wieder mit dir reden, Odasaku! So oft!“ Dazai sah ihn beinahe verzweifelnd an. „Manchmal habe ich Zigaretten angezündet, nur weil ihr Geruch mich an dich erinnert. Ich habe sogar extra-scharfes Curry heruntergewürgt, weil du es so gemocht hast. Aber nichts davon hat dich mir wiedergebracht, Odasaku!“

Der Angeklagte atmete hörbar ein. „Das tut mir leid, Dazai. Ich habe nie gewollt, dass du meinetwegen leidest.“

„Das weiß ich doch. Aber ohne dich …“ Dazais Hände krallten sich von neuem in die Ärmel des Anderen. „ … ohne dich wusste ich gar nicht mehr, was ich tun sollte ...“

Er stockte, als er bemerkte, wie der Rothaarige den Kopf sacht schüttelte.

„Das stimmt nicht, Dazai. Ich hatte es dir gesagt und du hast dich daran gehalten. Mehr noch, du hast alle meine Erwartungen übertroffen. Es gibt nur immer noch ein Problem.“

Erstaunt blickte Dazai auf und sah ihn mit fragenden Augen an. „Was für ein Problem?“

„Du weißt nicht, was du tatsächlich willst.“

Der Brünette verstärkte seinen Griff in die beige Jacke. „Natürlich weiß ich, was ich will! Ich will bei dir bleiben!“ Er wirkte nun wie ein trotziges Kind.

Odasaku seufzte leise. „Wenn das die ganze Wahrheit wäre, könntest du das hier ignorieren.“

„Was? Könnte ich was ignorieren?“

Kaum hatte er diese Frage gestellt, begann das Licht im Lupin zu flackern.

Er atmet nicht! Er atmet nicht mehr! Ich spüre auch keinen Puls mehr!!“

Wo kam diese Stimme her? Klang das wie … Atsushi?

Scheiße!“

Der Wicht, keine Frage. Was machte der denn bei Atsushi?

Dazai kniff die Augen zusammen, als das Stimmengewirr immer lauter wurde. Er hörte auch Kunikida und Akutagawa heraus. Sie klangen alle so aufgewühlt, geradezu panisch.

„Odasaku, was ist das? Was passiert hier?“

„Klingt, als würde sich jemand um dich sorgen.“

Dazai schüttelte heftig den Kopf. „Unwahrscheinlich.“ Plötzlich zog er scharf die Luft ein. Die Schmerzen in seinem Körper waren zurückgekehrt.

Odasaku sah ihn ganz ruhig und abwartend an. „Ich habe mich früher nie in deine Angelegenheiten eingemischt. Jetzt weiß ich, dass das ein Fehler war und möchte ihn nicht wiederholen. Warum kannst du es dir nicht eingestehen?“

Die Flaschen und Gläser in den Regalen zersprangen mit einem lauten Knallen und Klirren, während das Licht immer stärker flackerte.

„Mir eingestehen?“ Dazai stöhnte vor Schmerzen und fiel beinahe vornüber.

„Dass noch ein anderer Wunsch in dir aufgekommen ist. Einer, der das genaue Gegenteil des ersten Wunsches ist.“

„Ich weiß nicht … wovon du redest … Odasaku ...“

Odasaku richtete seinen gepeinigten Freund auf und sah ihm direkt in die Augen. „Du weißt es. Er sagt es dir doch.“

„Bitte stirb nicht, bitte stirb nicht, bitte stirb nicht, Dazai. Bitte, bitte, bitte, bitte stirb nicht, Dazai!“

Atsushis verzweifeltes Flehen erfüllte die auseinanderfallende Bar.

„Fürs Erste musst du eine Entscheidung treffen“, sagte Odasaku, ohne den Anderen loszulassen. „Sie wird nicht endgültig sein, aber sie wird von Bedeutung sein.“

Dazai schluckte und erwiderte mit bebenden Lippen seinen Blick.

„Also“, fuhr Odasaku fort, „wofür entscheidest du dich?“

To see the birth of all that isn't now

To see the birth of all that isn't now“

 

Placebo, „Loud like love“

 

Ein Krankenpfleger und eine Krankenschwester schritten aufmerksam und jederzeit bereit, den großen Mann vor sich aufzufangen, sollte er ins Taumeln geraten, den Flur des Krankenhauses entlang. Nicht gerade glücklich über seine scheinbar sture Haltung geleiteten sie ihn durch den Verwaltungstrakt. Fukuzawa wollte ihnen am liebsten erneut sagen, dass dies nicht nötig war, dass er es allein schaffte, aber er ließ es. Sie machten nur ihre Arbeit und er war sich bewusst, dass er ihnen diese gerade erschwerte. Eigentlich hatten sie darauf bestanden, ihn nur im Rollstuhl herzubringen (eigentlich waren das Pflegepersonal und die Ärzte ganz und gar nicht einverstanden damit, dass er die Versorgung seiner Verletzungen wegen einer dringenden Bitte unterbrach), aber um die Diskussion abzukürzen und den anscheinend unwilligen Patienten schnell weiter behandeln zu können, hatten sie sich hierauf geeinigt.

Mit sorgenvoller Miene führte die Sekretärin der Klinikchefin ihn in deren Büro, wo er auf einem der Stühle Platz nahm. Er erahnte das Kopfschütteln der beiden Pflegekräfte, die an der offenen Verbindungstür zum Vorzimmer der Sekretärin stehen geblieben waren und ihr sagten, dass sie bei ihr warteten, solange diese Besprechung stattfand.

Fukuzawa versuchte, so wie er es gelernt hatte, in den Schmerz hinein zu atmen.

Sie hatten die Schnittwunde an seinem Arm notdürftig versorgt, sodass er nicht befürchten musste, zu verbluten, aber seine gebrochenen Rippen und besonders der zertrümmerte linke Arm schmerzten dermaßen höllisch, dass ihm ständig die Sicht vor seinen Augen verschwamm. Die Ärzte hatten ihm starke Schmerzmittel geben und ihn natürlich für den OP vorbereiten wollen, doch zu ihrem Entsetzen hatte der Chef sie gebeten, mit all dem zu warten. Er musste sich nämlich noch um eine äußerst wichtige Sache kümmern und dafür musste er bei möglichst klarem Verstand sein.

Das Chaos auf dem Gelände der Immobilienfirma und in der alten Villa in Yamate war nicht unentdeckt geblieben, ebenso war die Mordserie und der Angriff auf das Ermittlungsteam im Gerichtsgebäude noch nicht aufgeklärt. Die Militärpolizei suchte nach Antworten und daher hatte Fukuzawa darum gebeten, mit den zuständigen Ermittlern zu reden, bevor irgendjemand sonst dies tat. Zu seinem Glück kannte er die Chefin dieser Klinik und diese hatte letztlich eingewilligt, seiner nicht sonderlich klug wirkenden Bitte nachzukommen. Um ungestört und privat mit der Polizei sprechen zu können, hatte sie ihm ihr Büro zur Verfügung gestellt. Jede Minute würden die Ermittler hier eintreffen und Fukuzawa fragen, was in aller Welt eigentlich in ihrer Stadt los war.

Was sollte er ihnen antworten?

Die Schmerzen waren nicht das Einzige, das sein Denken momentan so schwer beeinträchtigte. Haruno, die mit dem Rettungswagen zusammen bei ihm und Ranpo eingetroffen war und sie bis in die Notaufnahme begleitet hatte, hatte gemeinsam mit Naomi in Erfahrung gebracht, was mit den anderen Detektiven war. Ranpo hatte eine schwere Kopfverletzung und war nach wie vor nicht bei Bewusstsein. Nach Fukuzawas letztem Stand hatten die Ärzte ihn direkt nach dem CT in einen OP-Saal gebracht und das konnte nichts Gutes heißen. Haruno war mit dem Auftrag zurückgeblieben, dort zu warten und den Chef zu informieren, sobald es irgendetwas Neues gab. Obwohl ihm bewusst war, dass jedes Schreckensszenario durchzugehen gerade niemandem half, konnte Fukuzawa nicht verhindern, dass ihn die Sorge um Ranpo in Angst versetzte. Er konnte auch nicht den Gedanken verhindern, dass selbst wenn Ranpo wieder aufwachte, er immer noch nicht Ranpo wäre. Er hätte immer noch keine Erinnerung an ihn, die Detektei oder die Detektive. Es bestand die hohe Wahrscheinlichkeit, dass er, selbst wenn er wieder aufwachte, nicht bei ihnen bleiben würde. Seine verfälschten Erinnerungen sagten ihm, dass er zu Spyri und ihren Leuten gehörte und kein vages Gefühl, das Taro eine Verbindung zu Fukuzawa spüren ließ, wäre genug, um ihn hier zu halten. Dessen war er sich bewusst und er würde Taro nicht gegen dessen Willen hier festhalten. Auch wenn dies hieß, Ranpo zu verlieren.

Es war das Gleiche mit Kyoka und Lucy.

Die beiden Mädchen waren zur enormen Erleichterung des Chefs unverletzt, aber auch sie fühlten sich ihrer neuen Familie zugehörig und waren nur verwirrt davon, dass ihnen ständig Fremde auf die Pelle rückten. Kyoka zu verlieren würde Atsushi mehr als schlimm treffen und Fukuzawa fragte sich, was er dem Jungen sagen sollte, falls es dazu kam. Vielleicht würde Atsushi sie begleiten wollen und auch in diesem Fall würde Fukuzawa ihn ziehen lassen. Er selbst hatte nur kurz mit Kunikida telefonieren können (die Ärzte waren außer sich gewesen, als er darauf bestanden hatte), aber aus diesem knappen Gespräch wusste er, was sich zugetragen hatte und was dies für die Zukunft des Büros der bewaffneten Detektive bedeuten konnte.

Wenn Dazai starb, würde es nie wieder so werden, wie es zuvor gewesen war.

In einem anderen Krankenhaus kämpften die Mediziner gerade um Dazais Leben. Er war am schwersten von ihnen allen verwundet und hatte weder Atmung noch Herzschlag gehabt, als Atsushi und Kunikida mit ihm in die Notaufnahme gestürmt waren. Die Möglichkeit bestand, dass er es nicht schaffte. Und das allein war eigentlich bereits furchtbar genug.

Eleanor, das Mädchen, das Atsushi ungewollt verletzt hatte, war gerade noch rechtzeitig von Weißer Dämonenschnee ins Krankenhaus gebracht worden. Sie würde überleben, aber sie konnte ihre Fähigkeit nicht zurücknehmen. Yosano konnte im Moment auch nichts für irgendeinen von ihnen tun. Nachdem sie fast ertrunken wäre, war sie noch nicht wieder zu sich gekommen. Sie lag irgendwo in einem Bett dieser Klinik und wurde gerade untersucht. War sie zu lange unter Wasser gewesen? Hatte sie Schäden davon getragen? Würde sie vielleicht gar nicht mehr aufwachen? Fukuzawa hatte nur mitbekommen, wie Naomi draußen im Flur vor seinem Behandlungsraum zu Tanizaki gesagt hatte, er sollte sich beruhigen und aufhören zu weinen, denn er hätte alles in seiner Macht Stehende getan. Er hatte auch das lautstarke Schluchzen und Schreien und Weinen Spyris dort gehört und dann wie um Hilfe gerufen wurde, weil eine Frau im Flur zusammengebrochen war.

Wahrscheinlich gab Spyri sich die Schuld an alledem.

Die junge Frau namens Nancy, die sie gewarnt hatte, war tot. Dickens, der Junge, den sie alle so verzweifelt gesucht hatten, war ebenso verletzt und nach wie vor unter dem Einfluss der Fähigkeit Fagins. Selbst wenn Eleanor ihre Fähigkeit erneut auf ihn anwendete, würde dies das Problem nicht lösen. Er blieb eine Gefahr für sich und andere. Alles schien nur noch hoffnungslos und tragisch zu sein. Trotzdem machte Fukuzawa Spyri keinen Vorwurf. Kein einziger böswilliger Gedanke hatte hinter ihrem Handeln gestanden. Er verstand, warum sie so gehandelt hatte, wie sie es getan hatte.

Was sollte er der Polizei sagen?

Aus dem Büro der Sekretärin drang leise ein Lied aus dem eingeschalteten Radio an seine Ohren. „Jeder lügt einhundert Mal am Tag“, hörte er den Sänger singen.

Ob dies stimmte? Ein ehrlicher und integrer Mensch wie Kunikida, überlegte Fukuzawa, während die Ermittler eintrafen und Platz nahmen, käme bestimmt nicht auf diese Zahl. Auch eine gute Seele wie Atsushi würde diese Zahl nicht erreichen und das nicht nur, weil der Junge ein wirklich miserabler Lügner war. Ranpo konnte zwar unterirdisch schlechte Manieren und Launen an den Tag legen, aber für jemanden, der immer gleich die Wahrheit erkannte, war Lügen vermutlich eh eine langweilige Angelegenheit. Yosano versuchte es gerne mit Tricks, um Leute davon zu überzeugen, sich von ihr aufschneiden zu lassen, doch Fukuzawa wusste, dass sie niemals einem Unschuldigen tatsächlich Leid zufügen würde. Kenji schien das Lügen komplett fremd zu sein und Tanizaki war ein anständiger Junge (wenn man von der offensichtlichen Lüge hinsichtlich eines Verwandtschaftsverhältnisses absah, aber da sah der Chef in der Tat drüber hinweg). Von Kyokas Bemühungen, aufrichtig zu sein, war er insgeheim sogar sehr gerührt. Sie alle kämen niemals auf einhundert Male. Und glichen damit denjenigen aus, der diese Zahl wahrscheinlich locker überschritt.

Dazai machte ein Geheimnis aus allem und vielleicht war er sich selbst schon überhaupt nicht mehr bewusst, wie oft er eigentlich log. Solange es niemandem schadete, kümmerte es Fukuzawa nicht weiter. Jedoch musste er sich fragen, warum Dazai so viel vor ihnen verbarg. Er hatte keinen Zweifel an dem jungen Mann; nein, er vertraute ihm sein eigenes Leben und das der anderen an, aber bisher hatte der Chef in dem Bewusstsein gelebt, dass Dazais Lügen eines Tages gefährlich werden konnten – und wenn auch nur für ihn selbst. Er hatte bis jetzt keine Antwort darauf finden können, was er dann tun sollte, um ihn zu beschützen.

Die Ermittler begannen, ihm Fragen zu stellen. Er musste ihnen antworten.

Fukuzawa verstand nicht nur, warum Spyri so gehandelt hatte. Er konnte es vollkommen nachvollziehen. Sie wollte ihre Kinder beschützen. Und er kannte die Antwort darauf, was er an ihrer Stelle getan hätte; wenn es um eines seiner … um einen seiner Schützlinge gegangen wäre.

Er war selbst überrascht über die Worte, die nun seinen Mund verließen. Aber auch nur zu einem Teil. Damals, als er einen gewissen vorlauten Jungen hatte retten wollen, war es schon einmal so gewesen. Er hätte gelogen, um den Deal mit dem rothaarigen Auftragsmörder, der selbst noch ein Kind gewesen war, zu machen. Wenn er so darüber nachdachte, dann war ihm das Lügen gar nicht so fremd.

Es war schließlich eine Lüge gewesen, die zur Gründung der Detektei geführt hatte.

 

Unbeweglich wie eine Säule stand Atsushi im Gang und starrte durch das Glas der Fensterscheibe in den dahinter liegenden Raum hinein. Vielleicht war es inzwischen schon wieder Morgen, er konnte es nicht sagen. Die Zeit verging und verging doch nicht.

Kunikida und er hatten Dazai in die Notaufnahme gebracht, nachdem Chuuya mit den Worten, dass sie nicht auch noch mit reingingen, aus dem Auto gestiegen war. Akutagawa hatte kurz gezögert, dann aber seinem Vorgesetzten zugestimmt und mit ihm zusammen den Rückweg angetreten. Atsushi hatte Akutagawas Blick ein letztes Mal auf sich gespürt, als sie in das Krankenhaus gestürmt waren. Der Wunsch, bei Dazai zu bleiben, war selbst aus der Distanz und ohne sein Gesicht zu sehen, erkennbar gewesen.

Die Mitarbeiter der Notaufnahme hatten den Schwerverletzten hektisch entgegengenommen und eine der Krankenschwestern hatte auch Kunikida und Atsushi in Behandlungsräume führen wollen, doch Kunikida hatte dankend abgelehnt. Seine Wunden wären nicht akut und bedürften keiner zügigen Versorgung, hatte er ihr erklärt, während Atsushi, mit bangem Blick in die Richtung, in die Dazai abtransportiert worden war, die Frage nicht einmal registriert hatte.

„Eine junge Frau“, hatte der Junge stattdessen wie geistesabwesend gesagt, „ist eine verletzte junge Frau hier eingeliefert worden?“

Die Schwester hatte genickt und geantwortet, dass eine blonde Dame eine jüngere Frau hereingetragen hätte. Sie wäre bereits im OP. Die beiden Detektive waren daraufhin von ihr in den Wartebereich der Notaufnahme eskortiert worden, wo nur wenige Minuten später erneut aufgebrachtes Geschrei erklungen war. Atsushi konnte sich erinnern, wie er Bates und Kyoka hereinkommen gesehen hatte und Bates, nachdem er Dickens dem Personal übergeben hatte, schnurstracks zu Kunikida marschiert war.

„Wie ruft man in diesem Land die Polizei?“, hatte der junge Engländer ihn mit brüchiger Stimme und leerem Blick gefragt. „Ich muss ihnen den Mord an meiner Schwester melden. Und mich dann selbst ihnen übergeben.“

Die Militärpolizei hatte Bates anschließend mitgenommen und in der Zwischenzeit hatten sie von Naomi erfahren, dass zwei weitere der Engländer von Kenji der Polizei übergeben worden waren. Atsushi wusste daher auch, wie es um seine anderen Kameraden stand. Kyoka wartete derweil bei Burnett darauf, dass Eleanor erwachte. Der Gedanke schnürte Atsushi den Hals zu, aber er konnte nichts tun. Kyoka sah nicht mehr ihn als ihren engsten Vertrauten an. Sie fühlte sich nicht länger der Detektei zugehörig. Und nichts, was er sagte oder tat, konnte daran etwas ändern. Wenn es zum Schlimmsten kam, würde er sie für immer verlieren. Atsushi wusste nicht, was er machen sollte, wenn dieser Fall eintrat. Dafür wusste er, dass Lucy bei Salten und Spyri war und ebenso wenig mit ihm anfangen konnte. Er hatte so viel geweint, dass keine einzige Träne mehr aus seinen Augen kam.

Atsushis richtete seine müden, vom Weinen geschwollenen Augen weiter stur nach vorne. Dazai war stundenlang im OP gewesen und dennoch gab es kaum Hoffnung. Die Klingen hatten ihm von innen heraus unzählige Stich-und Schnittwunden zugefügt. Kaum hatten die Chirurgen einen Teil des Messers entfernt, hatte sich an anderer Stelle ein weiteres den Weg nach draußen gebohrt und damit noch größeren Schaden angerichtet. Es war sogar beinahe zynisch davon zu sprechen, dass Dazai im Moment von Maschinen am Leben erhalten wurde. Er konnte nicht selbstständig atmen, hatte keinen eigenen Herzschlag. Ein großer Teil seiner Organe und Blutgefäße war einfach zerschnitten und nicht mehr zusammenzufügen. Es grenzte an ein Wunder, dass wenigstens sein Gehirn noch mit Blut versorgt wurde. Die Ärzte hatten gesagt, dass es bei der extremen Schwere seiner Verletzungen am besten wäre, ihn gehen zu lassen, doch Kunikida hatte sie gebeten, alles zu tun, um ihn so lange wie möglich am Leben zu erhalten.

Es waren Kunikidas Augen, die Atsushi jetzt auf sich spürte. Der Idealist war in den Gang der Intensivstation zurückgekehrt, nachdem er erneut mit Naomi telefoniert hatte.

„Kunikida“, sagte Atsushi leise und mit vor Erschöpfung rauer Stimme, „meinst du, Dazai wäre sauer auf uns?“ Er wandte sich nicht zu seinem Kollegen um, sondern starrte weiter durch die Glasscheibe in den Raum hinein; auf seinen dort liegenden Mentor.

Einige Sekunden verstrichen, ehe Kunikida antwortete.

„Wahrscheinlich. Aber …“ Er atmete hörbar aus. „Damit könnte ich leben.“

Atsushi zuckte zusammen, als Kunikida neben ihn trat und ebenso durch die Scheibe sah.

„Er nimmt sich immer am gleichen Tag frei.“

„Huh?“ Der silberhaarige Detektiv blickte verwirrt aus den Augenwinkeln zu seinem Kameraden.

„Dazai nimmt sich oft, ach, ständig, einfach frei, aber dieser Tag vor drei Tagen ist immer gleich. Ich hatte es mir in meinem Notizbuch notiert. Seit er bei uns ist, fehlt er immer an diesem einen Tag. Und wenn er am nächsten Morgen wieder im Büro erscheint, ist er verkatert und stinkt nach Curry und Zigaretten.“ Kunikida seufzte. „Was auch immer dieser Tag für ihn bedeutet, es wäre wahrscheinlich besser, wenn ihm dann jemand Gesellschaft leistet. Nächstes Jahr werde ich an diesem Tag ebenso Urlaub nehmen.“

Mit großen, angsterfüllten Augen wandte Atsushi sich zu ihm um und starrte den Idealisten sprachlos an.

„Yosano ist kurz aufgewacht.“

Dieser knappe Satz des Blonden ließ den Jungen scharf die Luft einziehen.

„Allerdings ist sie noch sehr schwach und bleibt kaum bei Bewusstsein“, fuhr Kunikida fort, „sie wollte sofort herkommen, aber sie ist noch nicht transportfähig und der Chef hat angeordnet, dass sie ihre Fähigkeit nicht einsetzen darf, solange es eine Gefahr für ihr eigenes Leben darstellt.“ Er schob seine mit Klebeband notdürftig reparierte Brille hoch. „Es ist also ganz klar, was dieser Idiot jetzt tun muss. Er muss nur noch ein wenig durchhalten.“

 

Mehr als 30 Kinder tobten auf dem leeren Parkplatz in der Nähe des Piers wild umher. Salten versuchte, sie dazu zu bringen, sich ordentlich aufzustellen, damit er sie durchzählen konnte, aber es war offensichtlich, wie befreiend es für die Kinder war, ein wenig an der frischen Luft und bei strahlendem Sonnenschein herumtollen zu können und sie machten ihm seine Aufgabe alles andere als leicht. Burnett inspizierte unterdessen kritisch den Reisebus, den Haruno organisiert hatte. Einige der jüngeren Kinder quiekten vergnügt, nur weil die Frau die Tür per Knopfdruck zu- und wieder aufmachte. Atsushi konnte bei diesem Anblick das Lächeln in seinem Gesicht nicht verbergen. Die ganze schwere Last der vergangenen Tage fiel mit einem Mal von ihm ab.

Eleanor hüpfte Lucy entgegen, die Kenji Bentoboxen anreichte, um sie in den Bus zu laden und übernahm schließlich für die Rothaarige, die nun Kurs nahm auf Atsushi und Kyoka.

„Das ist nett vom Café, dass sie so viel Essen zur Verfügung stellen“, sagte der silberhaarige Junge und Lucy zog sofort wieder eine eingeschnappte Schnute.

Ich habe geholfen, diese Boxen zu packen, ja? Lass meine Bemühungen nicht unter den Tisch fallen.“

„Das hat er doch gar nicht“, konterte Kyoka gelassen. „Du gehörst doch zum Café, oder etwa nicht?“

Lucy gab ein kurzes Grummeln von sich, lenkte dann aber ein. „Wenn man es so sieht, dann war ich bei deinem Lob wohl mit eingeschlossen, oder, Tigerkätzchen?“

„Äh, ja, natürlich.“ Atsushi lachte verlegen und konnte es immer noch nicht fassen, wieder hier mit den beiden zu stehen und reden zu können.

Dazai hatte durchgehalten.

Er hatte durchgehalten, bis Yosano stabil genug gewesen war, um ihn zu heilen. Dazais erste Worte nach seinem Erwachen waren „Du machst ja immer noch so ein Gesicht, Atsushi“ gewesen, dicht gefolgt von Beschwerden darüber, dass sie wohl eindeutig Probleme damit hatten zu verstehen, dass er nicht gerettet werden wollte.

„Nicht, Kunikida. Nicht. N.I.C.H.T. Wo ist dein Notizbuch? Ich schreibe es dir auf.“ In Ermangelung des Notizbuches hatte Dazai letzten Endes „NICHT“ mit einem schwarzen Filzstift auf die Stirn des wenig begeisterten Blonden geschrieben.

Die schwierigere Aufgabe hatte dann darin bestanden, Kyoka und Lucy (und über 30 anderen Kindern) zu erklären, dass ihre Erinnerungen verfälscht worden waren und die Möglichkeit bestand, dies rückgängig zu machen. Atsushi hatte es sehr gut nachvollziehen können, dass sie alle skeptisch und ängstlich deswegen gewesen waren und keiner sich hatte trauen wollen.

Bis auf einen.

Taro, der ebenso von Yosano geheilt worden war, hatte den Wunsch geäußert, die Wahrheit erfahren zu wollen und ohne Umschweife Dazai berührt. Alle anwesenden Detektive hatten den Atem angehalten, als der Schwarzhaarige danach ungewöhnlich still geworden war. Für schier endlose Sekunden hatte er einfach mit seinen großen, grünen Augen bestürzt dreingeblickt und Atsushi hatte schon befürchtet, es hätte nicht funktioniert, als der Meisterdetektiv sehr plötzlich das Wort an Kyoka und Lucy gerichtet hatte:

„Tut es. Und nach dem ganzen Theater brauche ich eine Woche Urlaub. Mindestens. Das wird doch wohl drin sein, oder, Chef?“

Keiner von ihnen würde je vergessen, wie Fukuzawa Ranpo danach mit weit aufgerissenen Augen angesehen hatte.

Dickens, der keine Wahl gehabt hatte, hatte seine Geschwister gleichermaßen bekräftigt und sie mit behutsamen Worten darauf vorbereitet, dass es schlimm werden konnte, wenn die Erinnerungen zurückkamen. Aber, so hatte er es ihnen erklärt, sie müssten sich nicht fürchten, denn sie alle wären immer noch eine Familie und würden niemanden allein lassen.

Bevor Dazai sich hatte versehen können, hatten sich daraufhin über 30 Kinder auf ihn gestürzt. Einige der Kinder waren danach verängstigt gewesen, andere hatte herzzerreißende Tränen geweint und manche hatten lediglich genickt und waren froh gewesen, nun die Wahrheit zu kennen. Keines von ihnen hatten sich von Spyri und den anderen abgewandt. Solange sie weiter zusammenbleiben durften, hatte der Großteil der Kinder der zutiefst bewegten Frau gesagt, wäre alles gut.

In Atsushis Herzen hatte sich derweil für immer der Moment eingebrannt, als Kyoka nach der Berührung von Dazai den Jungen angeblinzelt hatte und ihm im nächsten Moment um den Hals gefallen war. (Lucy war mal wieder schroff und abweisend gewesen und dann zur heulenden Salzsäule erstarrt, als die Besitzer des Cafés gekommen waren und sie in ihre Arme geschlossen hatten.)

„Tigerkätzchen?“

„Atsushi?“

Der junge Detektiv kehrte aus seiner gedanklichen Versunkenheit in die Gegenwart zurück, als er bemerkte, wie Lucy mit einer Hand vor seinem Gesicht wedelte und Kyoka ihn sanft am Ärmel zog.

„Ist alles in Ordnung?“ Seine dunkelhaarige Kameradin musterte ihn besorgt.

Erneut verlegen lachend, kratzte Atsushi sich am Hinterkopf. „Aber ja! Ich war nur gerade gedanklich woanders.“

„Wirklich? Hat man gar nicht gemerkt“, spottete Lucy, während Kunikida, der Chef und ein überdeutlich lustloser und grummeliger Ranpo an ihnen vorbei zu Spyri schritten.

Nervös und doch ihre aufrechte Haltung bewahrend, kam die Schweizerin zusammen mit Burnett und Salten den dreien entgegen.

„Es ist unmöglich, diese Schuld je zu begleichen“, richtete Spyri an Fukuzawa, der kaum merklich den Kopf schüttelte.

„Vergessen Sie nur Ihr Versprechen nicht.“

„Sicher nicht. Wir werden nie wieder die Erinnerungen von irgendjemandem manipulieren.“

„Und?“, hakte Kunikida nach.

„Und auch keine Kinder mehr ungefragt mitnehmen. Und keine Erwachsenen“, antwortete Salten bedröppelt. „Besonders keine Erwachsenen mehr.“

Ranpo gab im Hintergrund ein leises Murren von sich.

„Es tut mir so ...“, setzte Spyri mit Blick auf ihn an, „ich kann mich gar nicht genug bei Ihnen entschuldigen. Für alles, was wir Furchtbares getan haben.“

Erneut schüttelte Fukuzawa minimalistisch den Kopf. „Denken Sie nicht darüber nach. Denken Sie daran, was wir besprochen haben: Man darf keinem Menschen das Recht nehmen, selbst über sein Leben zu entscheiden. Ein Leben, das eine Lüge ist, ist etwas Anderes als eine Lüge, die ein Leben rettet.“

„Sie sind wahrhaftig ein kluger Mann, Herr Fukuzawa. Und nicht nur das ...“ Spyri schluckte, während sich Tränen in ihren Augen zu sammeln begannen. „Sie haben all dies für uns getan, obwohl ich ein schreckliches, unverzeihliches Verbrechen begangen habe. Ich habe einem Vater den Sohn weggenommen.“

Einen Augenblick lang sahen sich die beiden Älteren wieder stillschweigend an, als wären sie in der Lage, die Gefühle und Gedanken des jeweils anderen lesen zu können. Plötzlich fühlte Fukuzawa Ranpos Blick auf sich und räusperte sich verlegen.

„Sie sollten bald aufbrechen. Es ist ein langer Weg bis in die Alpen von Nagano.“

Da es zu gefährlich für Spyri und all ihre Kinder war nach Europa zurückzukehren, hatte der Chef ihnen ein neues Heim tief in der Provinz der Präfektur Nagano organisiert. Weder die Hafen-Mafia, noch die britische Regierung würden sie dort je finden und es war auch zu bezweifeln, ob einer der beiden Fraktionen sie überhaupt suchen würde. Fukuzawa kannte Mori zu gut und hatte daher von Katai die Krankenhausakte des jungen Dickens manipulieren lassen. Wollte Mori wissen, was aus dem gesuchten Jungen geworden war, würde er dort erfahren, dass er seiner schweren Kopfverletzung erlegen war (zu Katais Leidwesen hatte Yosano den gefälschten Bericht mit ungeschönten Details ausgeschmückt).

Die Militärpolizei war sogar vollkommen ahnungslos, was Dickens betraf. In dem Gespräch mit ihnen hatte Fukuzawa eine für ihn immer noch unfassbar groteske Lügenlawine losgetreten, die ihn selbst erschrak. Fagin und seine Leute hatten demnach einen Putsch in Großbritannien geplant und Spyri durch Zufall davon erfahren, wodurch sie und die Waisen, um die sie sich kümmerte, ins Visier der Engländer geraten waren. Die Morde an den Kirchenoberen, dem Richter und dem Staatsanwalt hatte er Sikes und Fagin zugeschoben.

Wenn Fukuzawa über seine absurde Lügengeschichte nachdachte, kam ihm das alles wie in einem Fiebertraum zusammengesponnen vor, aber da die Polizei und die Justiz ihm vertrauten, hatten sie ihm dies alles abgekauft. Es hatte auch geholfen, dass Dawkins mit viel Tamtam erklärt hatte, ohne seinen Anwalt überhaupt nichts sagen zu wollen und Noah panisch grundsätzlich jedem außer sich selbst die Schuld an allem gab. Das Zünglein an der Waage war Bates gewesen, dem die Beamten Fukuzawas Märchen vorgetragen hatten und von dem sie hatten wissen wollen, ob diese Geschichte stimmte.

„Ja“, hatte Bates ihnen mit einem traurigen Lächeln bestätigt, „ja, genau so war es.“

Fukuzawas unauffälliger Themenwechsel hatte Spyri nun ein wenig zum Lächeln gebracht. Zudem konnte sie sehen, wie Ranpo ihn seit ihres Satzes baff anblickte. „Ach“, fiel ihr plötzlich etwas Wichtiges ein, „die Kinder aus Suribachi … werden sie zurecht kommen?“

Sie meinte die drei vermissten Kinder, für deren Suche sie von den anderen Kindern engagiert worden waren. Sie waren die einzigen, die nicht mit Spyri mitgingen, sondern zu ihren Freunden zurückkehren wollten – was von der Schweizerin und ihrer Gruppe mit Besorgnis aufgenommen worden war.

„Seien Sie unbesorgt“, erwiderte der Chef. „Wir haben einen Vertrag mit ihnen und jede Seite hält sich an die vereinbarten Bedingungen.“

Skeptisch blinzelte Burnett ihn an. „Und was genau heißt das?“

„Die Pension in Yamanashi, in die Sie eigentlich gebracht werden sollten“, erklärte Kunikida anstelle seines Vorgesetzten, „wird allein von einem schon etwas älteren Freund des Chefs betrieben. Er erhält jetzt sieben junge Auszubildende und eine Aufsichtsperson für die Kinder. Eine Frau, von der ausgerechnet Dazai sagt, er würde für sie bürgen und ich will gar nicht wissen, warum.“

Spyri atmete erleichtert aus und umklammerte mit einer Hand ihre Kreuzkette. „Das beruhigt mich sehr.“

„Ist das nicht das Beste?“ Zum ersten Mal, seit sie ihr begegnet waren, lächelte Burnett ein wirklich gelöstes und glückliches Lächeln. „Dass so vielen geholfen ist, wenn nur ein Mensch etwas Gutes tut?“

Sie verabschiedeten sich voneinander und Salten und Burnett begannen, die Kinder in den Bus zu bringen. Dickens verbeugte sich tief vor den Detektiven (Eleanor hatte ihm gesagt, dass man das in diesem Land so machte) und bedankte sich bei ihnen für alles. Der Junge war in der Tat ein zahmes Lamm, es gab keine Spur mehr von der gewaltbereiten Tötungsmaschine, zu der man ihn hatte machen wollen. Eindringlich und doch sanft sah er Atsushi zum Abschied an.

„Beschütze sie auch weiterhin, ja? Deine Familie, meine ich.“

Atsushi stutzte, bevor er den Blick des Jungen erwiderte. „Das werde ich. Das werde ich auf jeden Fall.“

Dickens lächelte leicht und stieg in den Bus. Eleanor kam ihm hinterher und hielt plötzlich inne. Mit einem Mal hüpfte sie die Stufen wieder herunter, lief zu Fukuzawa und umarmte ihn stürmisch.

„Ich bin ja so froh, dass alles wieder gut ist!“ Sie lachte und hüpfte wieder in den Bus.

Der überraschte Chef blinzelte ihr verdutzt hinterher, als Spyri ebenso lachte.

„Eleanor kann ihre Gefühle viel besser ausdrücken als wir Erwachsenen.“ Bevor Fukuzawa sich versehen konnte, umarmte auch Spyri ihn.

Während Lucy und Kenji bei seinem völlig verdatterten Gesichtsausdruck ihr Lachen nicht mehr unterdrücken konnten, versuchten Atsushi und Kyoka mit mäßigem Erfolg an sich zu halten. Selbst Kunikida hatte plötzlich einen merkwürdig auffälligen Hustenanfall.

Nachdem der Bus vom Parkplatz gefahren war und die Detektive samt Lucy sich auf den Heimweg machten, musste Atsushi eine Frage, die ihm unter den Nägeln brannte, loswerden.

„Ranpo“, fragte er den ungewöhnlich schweigsamen und scheinbar schmollenden Kollegen, „hast du schlechte Laune?“

Der Meisterdetektiv warf ihm einen missmutigen Blick zu.

„Wie könnte ich gute Laune haben?? Jemand konnte mein außerordentliches, geniales Hirn manipulieren und was noch viel schlimmer ist: MEINE BRILLE IST WEG!!“

„Die hier?“ Zu Ranpos Unglauben zog Fukuzawa das vermisste, schwarz umrandete Gestell aus seinem Kimonoärmel.

„Was …? Wie …?“ Der Schwarzhaarige starrte auf die Brille und nahm sie andächtig an sich, als wäre sie ein heiliger Gegenstand. Bedächtig setzte er sie auf und blinzelte erstaunt hindurch.

„Die Gläser waren zersprungen, also habe ich sie ersetzen lassen“, erläuterte Fukuzawa beiläufig und verdrängte dabei die Erinnerung an das irritierte Gesicht des Optikers, als er Gläser ohne Sehstärke hatte bestellen wollen.

Alle anderen warteten gespannt auf eine Reaktion des Meisterdetektivs – und drehten sich diskret weg, als sie kam.

Ranpo war dem Chef um den Hals gefallen.

 

„Was ist denn hier los?“

Kunikida hatte, gefolgt von Atsushi, Kyoka, Kenji und Ranpo, den Hauptraum der Detektei betreten. Der Chef war in sein Büro zurückgekehrt.

„Tanizaki, ist alles in Ordnung?“ Besorgt blinzelte Atsushi den auf dem Boden liegenden Rothaarigen an. Seine Beine waren hochgelagert und sein Teint ein wenig … grünlich. Yosano stand über ihm und fächerte ihm mit ein paar Blättern Papier Luft zu.

„E-es geht schon wieder, danke der Nachfrage.“ Tanizaki setzte sich wieder auf und unterdrückte ein Würgen, als er auf die Blätter sah mit denen Yosano gefächert hatte.

Die Ärztin seufzte und grinste dann. „Ich habe Tanizaki gefragt, ob er nicht unter meiner Anleitung Medizin studieren will. Und um ihm zu zeigen, was für wundervolle Dinge man dabei lernt, habe ich ihm diese Bilder von sezierten Organen gezeigt.“

Armer Tanizaki …

Atsushis Augen zuckten, als sein gleichaltriger Kollege allein bei der Erwähnung sezierter Körperteile abermals grüner im Gesicht wurde.

Derweil hatte sich Kunikida vor seinen Arbeitsplatz gestellt und ein unzufriedenes Knurren von sich gegeben. Ihm gegenüber sollte doch jemand sitzen und arbeiten – und doch blickte er auf einen völlig leeren Stuhl.

„Wo ist Dazai schon wieder hin?“, fragte er erzürnt. „Ich hatte ihn doch dazu verdonnert, heute endlich mal seinen Papierkram aufzuarbeiten!“

Yosano zuckte mit den Achseln, während Tanizaki vom Fußboden aufstand.

„Er war bis eben hier, aber dann hat er Naomi gebeten, ihm bei der Fertigstellung eines langjährigen Projektes zu helfen und sie sind rausgegangen.“

Bei diesen Worten trafen sich die alarmierten Blicke von Kunikida und Atsushi.

„K-kunikida … Dazai wird doch nicht …?“ Erschrocken sah der Junge den Älteren an.

„Ist bei ihm schwer zu sagen. Wir sollten sie schnell finden.“

„Wieso? Was ist denn?“ Tanizaki war verwirrt.

„Tanizaki“, seufzte Kunikida angestrengt, „überleg mal. Ein langjähriges Projekt von Dazai. Für das er ausgerechnet Naomis Hilfe braucht.“

Der Rothaarige riss erschrocken die Augen weit auf. „Oh nein! Naomi!!“

Die drei stürzten zur Tür, doch bevor sie sie aufreißen konnten, wurde sie von außen geöffnet.

Sie konnten gerade rechtzeitig abbremsen, um nicht in Naomi zu krachen, die sie verwundert anschaute, während sie ein Tablett mit vielen kleinen Portionen Tofu auf den Armen trug.

„Was ist denn mit euch los?“

„Naomi! Geht es dir gut?“ Tanizaki beäugte besorgt seine Schwester, die nur erstaunt eine Augenbraue hob.

„Ja, warum sollte es das nicht? Und jetzt lasst mich mal durch. Ich weiß nicht, was genau Dazai damit angestellt hat, aber der Tofu ist verdammt schwer.“ Sie schritt an ihnen vorbei und stellte das Tablett auf dem Tisch des Empfangsbereichs ab. Keine Sekunde später erschien der Verursacher dieser Aufregung mit einem weiteren Tablett voller Tofu in der Türe.

„Ah~, ihr seid zurück! Sehr gut, sehr gut! Gerade richtig!“

„Äh, Dazai?“ Atsushi versuchte die Situation zu verstehen und scheiterte kläglich. „Was ist hier los?“

Dazai schüttelte gespielt tadelnd seinen Kopf. „Für einen Detektiv stehst du schrecklich oft auf dem Schlauch, Atsushi. Es ist doch offensichtlich. Ich habe Tofu für euch gemacht!“

„Du hast für uns Essen gemacht?“ Atsushi wusste nicht, ob er gerührt oder beunruhigt sein sollte.

„Probiert ihn! Probiert ihn!“

Die restlichen Detektive sahen sich untereinander an und nahmen je eines der kleinen Teller mit Tofu von den Tabletts. Dazais euphorischer Aufforderung nachzukommen, gestaltete sich jedoch als schwieriger als erwartet. Die beigelegten Essstäbchen zerbrachen bei dem Versuch das eigentlich weiche Sojagericht zu zerteilen, sodass Kenji dazu überging die kleinen weißen Blöcke mit Gewalt von Hand zu zerkleinern und Kyoka mit ihrem Schwert Splitter davon abschlug. Obwohl dies den Detektiven ein mehr als mulmiges Gefühl gab, sagte ihnen ihr Bauchgefühl, dass dies kein Streich des Brünetten war. So aufgeregt hatten sie ihn noch nie erlebt. Voller Begeisterung wartete er auf ihre Reaktionen.

„Das ist ein … interessanter Geschma-au!“ Es knirschte in Kunikidas Mund, als würde er Steine zerbeißen.

„Wie-wie kann Tofu so hart sein??“ Atsushi versuchte verzweifelt, das Stück in seinem Mund zu zerkauen.

„Geschmacklich ganz gut.“ Kyoka zerbiss den knüppelharten Tofu ohne eine Miene zu verziehen.

„Könnte süßer sein.“ Ranpo lutschte sein Stück nur statt draufzubeißen.

„Ich bringe euch morgen selbstgebackenen Kuchen mit“, fügte Kyoka daraufhin hinzu und ließ den Meisterdetektiv zufrieden grinsen und Atsushi freudig lächeln.

„Dazai“, richtete der silberhaarige Junge an ihn, nachdem er den Brocken beinahe am Stück heruntergeschluckt hatte und die anderen weiterhin mit ihrer Portion kämpften, „soll der Tofu so hart sein?“

„Ist das der härteste Tofu, den ihr je gegessen habt?“

Die anderen nickten und verzückten ihn mit dieser Antwort anscheinend.

„Ich habe eine Ewigkeit gebraucht, um ihn so hinzubekommen!“ Für den Hauch eines sehr flüchtigen Moments trat an die Stelle von Dazais überschwänglicher Euphorie ein wahrhaft seliges Lächeln in sein Gesicht. „Wie schön, dass ihr ihn probieren konntet.“

Das war ihm wirklich wichtig, dachte Atsushi perplex, als Kunikida sich räusperte.

„Nun, gut.“ Der Idealist ging zu seinem Schreibtisch zurück. „Es ist eine Menge Arbeit liegen geblieben. Wir haben viel zu tun.“ Er setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl – und fiel daraufhin mit einem krachenden Geräusch zu Boden. Der Stuhl war auseinandergefallen.

„DAZAI!!“

„Oh, mir fällt gerade ein“, sagte Dazai spitzbübisch, „ich muss noch einmal dringend weg.“ Er stellte das Tablett ab und entkam blitzschnell durch die Tür – verfolgt von einem wild fluchenden Kunikida.

Es war ein ganz normaler Tag im Büro der bewaffneten Detektive. Die Sonne schien hell und warm durch die Fenster der Detektei.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Du siehst zu viel Bungo Stray Dogs, wenn du das beim Betrachten der Fische in einem Aquarium siehst. Aber die haben sich wirklich so verhalten! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
„Konbini“ ist kurz für „Convenience Store“; das sind Mini-Supermärkte, die oft rund um die Uhr geöffnet haben.
Ich musste Kyoka ein zweites Handy geben, weil ich Weißer Dämonenschnee noch brauche; ich hoffe, diese Lösung hier macht Sinn. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Anpan sind Brötchen mit süßer Bohnenmusfüllung. Kurioserweise war es das erste, was mir einfiel, als ich Ranpo etwas zu essen geben wollte.
Da die Kinder aus Suribachi Namen brauchten, gab ich ihnen die von einigen der Kinder des echten Yukichi Fukuzawa. 853 Yen sind übrigens noch nicht einmal acht Euro. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Bei meiner Beschreibung Suribachis habe ich ein bisschen die Verfilmung eines Romans einer hier vorkommenden Schriftstellerin (also eine meiner OCs) einfließen lassen. Habt ihr schon eine Idee, wer hier alles als Vorlage herhalten muss?
Tsuneko ist der Name eines Charakters aus Osamu Dazais Roman „No Longer Human.“
Maud ist der zweite Vorname von Lucy Maud Montgomery. Für Kyoka hatte ich eigentlich den ursprünglichen Namen von Kyoka Izumi nehmen wollen, aber ich fand dann „Kyotaro“ doch ein wenig zu männlich für ein Mädchen. Daher diese Lösung. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Eleanor Hodgman Porter (1868-1920): amerikanische Schriftstellerin. In ihrem Roman „Pollyanna“ spielt die junge Protagonistin ein Spiel, bei dem man immer etwas finden muss, worüber man froh ist. Das Buch gibt es übrigens auch als Animeserie.
Frances Hodgson Burnett (1849-1924): amerikanisch-britische Schriftstellerin. Ich habe das Aussehen meines OCs ein bisschen an die Schauspielerin angelehnt, die in der Verfilmung des Romans „Der kleine Lord“ („Little Lord Fauntleroy“) die Mutter spielt. Auch meine Beschreibung von Suribachi ist eine Referenz an eine Szene im Film.
Felix Salten (1869-1945): österreichisch-ungarischer Schriftsteller und Journalist. Sein bekanntester Roman dürfte „Bambi – Eine Lebensgeschichte aus dem Walde“ sein. Ja, das mit dem Rehkitz. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Taro Hirai ist der Geburtsname von Ranpo Edogawa.
Ich habe mich so gefreut, als Ranpo im Manga „Lieblingskind“ genannt wurde. Endlich spricht's mal jemand aus. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich freue mich immer, wenn ich Odasaku unterbringen kann, auch wenn der Mann nicht leicht zu schreiben ist. Ist es nicht interessant, dass Odasaku Dazai in der Serie oft mit einem Kind vergleicht? Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Fagin, Sikes, Dawkins, Bates, Noah und Nancy sind allesamt Namen von Charakteren aus Charles Dickens „Oliver Twist.“ Und jetzt dürft ihr eins und eins zusammenzählen, wer das ist, den sie suchen. *zwinker* Hier kam auch ein Hinweis, wer die „Tante“ sein könnte.
In einem der Mangabände zeigte Elise ihre Karikaturen der Detektive. Ich fand die herrlich und ließ sie daher auch hier zu ihren Stiften greifen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Johanna Spyri (1827-1901): Schweizer Schriftstellerin. Sie ist vor allem bekannt durch ihre „Heidi“-Romane. Und ja, auch davon gibt es einen Anime.
Endlich erwähnen wir auch: Charles Dickens (1812-1870): britischer Schriftsteller.
Polly ist der Name eines Charakters aus „Pollyanna.“
„Herzlieb“ ist der Spitzname der Mutter in Frances Burnetts „Der kleine Lord.“ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Den Trick, Lucy mit ihrer Fähigkeit alle in Sicherheit bringen zu lassen, habe ich aus dem Manga übernommen. Das ist ausnahmsweise mal kein kurioser Zufall. Zu dem kommen wir noch. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Atsushi und Co. sind natürlich nicht vergessen; aber dieses Kapitel wäre überladen gewesen, wenn ich den dritten Schauplatz noch mit rein genommen hätte. Vorsicht, wenn ihr Oliver Twists Nancy in einem Wörterbuch entdeckt. Mir ist es noch nie zuvor passiert, dass ein Wörterbuch mich gespoilert hat. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
„Errol“ ist der Nachname des kleines Lords aus Burnetts Roman.
Ich habe ewig über diese Teppichmesserwaffe nachgedacht und als ich endlich eine zufriedenstellende Lösung hatte … kam das so ähnlich im Manga. Ich muss wohl einfach akzeptieren, dass das manchmal passiert. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich liebe die „Kunikida klaut ein Auto“-Szene im Manga. Die ist großartig!
Dazais Fahrkünste werden in der ersten Light Novel erwähnt. Ich würde nicht zu ihm in einen Wagen steigen.
Ich wünsche euch allen einen guten Rutsch ins neue Jahr. Das hier war das vorletzte Kapitel. Es folgt noch der Epilog. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
„Everybody lies one hundred times a day“ ist eine Zeile aus Placebos „Beautiful James“ und gab mir die Inspiration für den ersten Teil des Epilogs. Fukuzawa denkt hier zurück an die Geschehnisse aus der Light Novel „The Untold Origins of the Armed Detective Agency“: Ranpo ist der vorlaute Junge in Gefahr und der rothaarige Auftragsmörder niemand Geringeres als Odasaku. Fukuzawa macht dort Ranpo weis, er sei ein Befähigter, was schließlich zur Gründung der Detektei führt.
Die Tofu-Sache stammt aus der zweiten Light Novel. Dazai will für Odasaku extrem harten Tofu machen, aber Letzterer stirbt, bevor er den Tofu probieren kann. Das wird auch in der Light Novel „Beast“ aufgegriffen.
Und das ist das Ende dieser Geschichte! Sie nahm ihren Anfang, als ich damals Charaktere für meine FF „See you at the bitter end“ gesucht hatte und ich fand, dass Johanna Spyri zwar zeitlich passte, aber nicht inhaltlich. Die Sache hat mich dann aber nicht losgelassen, sodass nach und nach diese Geschichte in meinem Kopf entstanden ist. Ich hoffe, sie hat euch gefallen! Vielen Dank für euer Interesse! Ich hatte enorm großen Spaß daran, sie zu schreiben. Bis bald! Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  Votani
2022-08-07T23:11:59+00:00 08.08.2022 01:11
Ich musste echt lachen, als die Kinder in die Detektei kommen und sich mit Fukuzawas finsteren Blick konfrontiert sehen. XD Ich meine, klar kriegen die da erst einmal Angst! *lach*
Arme Lucy...! ;o; Du weisst, ich liebe sie. Hoffentlich geht es dir gut!
Ich bin jedenfalls gespannt, wie es weitergeht und ob noch jemand verschwindet bzw. alle heil aufgespuert werden, selbst die vermissten Kinder. Du baust auf jeden Fall eine Menge Spannung auf und gibst deinem Leser eine Menge Fragen, die er beantwortet haben moechte. :)
Antwort von:  rokugatsu-go
13.08.2022 13:10
*lach* Ich glaube, Fukuzawa ist sich gar nicht wirklich bewusst, wie finster er dreinblickt. Andererseits sind die einzigen Kinder, die sonst um ihn herum sind (Kenji und Kyoka) ja auch vollkommen furchtlos; wie soll er das da dann auch merken? XD
Ich bin froh, Lucy mal endlich untergebracht zu haben. Ich mag sie ja auch. ^^
Ich bin sehr gespannt, was du zum nächsten Kapitel und der Wendung, die dieses mit sich bringt, sagst. So gesehen kann ich auf deinen Kommentar, ob noch jemand verschwindet bzw. alle heil aufgespürt werden, antworten: Ja und jein. ;)
In traditioneller BSD-Manier werden jetzt erst einmal noch viel, viel mehr Fragen aufgeworfen. ;)
Vielen, vielen Dank für deinen Kommentar! ^_^
Von:  Votani
2022-07-22T21:44:50+00:00 22.07.2022 23:44
Hey du, endlich dazu gekommen auch das Kapitelchen zu lesen. Ich muss sagen, du bekommst die Charas und vor allem den Humor des Mangas soooo gut hin. *-* Es ist, als ob ich ein Kapitel lese bzw. eine Folge schaue!
Es faengt mit Kyoukos Entfuehrung auch sehr spannend an. Ich muss sagen, ganz besonders gefaellt mir irgendwie auch Ranpo aus deiner Feder und wie er am Ende des Kapitel gleich wusste, was passiert ist. Es macht auch absolut Sinn durch die Hinweise, die er aufspuert. XD Sehr unterhaltsam, ich bin gespannt, wie es weitergeht!
Antwort von:  rokugatsu-go
23.07.2022 14:59
Hallo!

Aiiii, das freut mich sehr, dass du meine FF liest! Und ich freue mich riesig über dein Lob!!
Ich mag Fische auch, es hat so etwas Beruhigendes ihnen zuzugucken - und dann verhalten sie sich wie BSD-Charaktere und ich werde doch ganz aufgeregt, weil mir dabei so eine Idee kommt. XD

Es ist immer so schön, wenn jemandem der Humor in meinen Geschichten gefällt. ^__^ Gerade bei BSD spielt dieser chaotische Humor ja auch eine ziemlich große Rolle und zugegeben: Ich mag es auch einfach, Kunikida zu ärgern. XD
Ich liebe Ranpos Fähigkeit ... also, seine "Fähigkeit." Man muss sich nie lange Erklärungen für einen Fall zusammenreimen; ein paar kleine Hinweise reichen ihm ja, um alles zu durchschauen. ;) Und Ranpo an sich ist einfach pure Liebe, es macht unheimlich viel Spaß ihn zu schreiben.
Ich hoffe, du wirst weiterhin gespannt bleiben, denn die mysteriösen Ereignisse haben gerade erst ihren Anfang genommen. ;)
Vielen, vielen Dank für deine Kommentare! Die haben mich wirklich gefreut! ^___^
Von:  Votani
2022-07-16T23:15:09+00:00 17.07.2022 01:15
Hey du,
Ich bin zufaellig ueber deine FF gestossen und da sie gerade begonnen hat, dachte ich, dass es das perfekte Timing ist um reinzuschnuppern. :D
Ich mag den Einstieg schon mal sehr. Du schafft Atushis Gedankenwelt sehr gut einzufangen. Ich bin gespannt, was passiert ist und was mit den anderen Mitgliedern/der Detektei ist. D: Ich werde morgen gleich das naechste Kapitel lesen.
Btw, da ich Fische sehr mag, fand ich den Einstieg sehr kreativ. :)


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