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Battle for the Sun

von

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I'd tear the sun in three to light up your eyes

I'd tear the sun in three

To light up your eyes“

 

Placebo, „For what it's worth“

 

Allein verließ Atsushi Nakajima an diesem Mittwochmorgen den Aufzug, nachdem dieser ihn in die Etage der Detektei gebracht hatte. Es war acht Uhr in der Früh und erst so langsam lugte die Sonne zaghaft hinter der dicken Wolkendecke hervor, was den Weg vom Wohnheim der Detektei bis hierhin erheblich kühler gemacht hatte. Der Wetterbericht für heute hatte recht unentschlossen geklungen: „Es könnten weitere Wolken aufziehen.“ Für den Moment war dies dem jungen Detektiv egal, denn ihn beschäftigte etwas anderes.

Kyoka verhielt sich auffallend merkwürdig.

Nicht, dass er das Verhalten seiner Mitbewohnerin ansonsten immer als merkwürdig beschreiben würde, aber das Mädchen hatte eben so ihre Eigenarten. Manchmal wirkte sie äußert verschlossen und ernst und redete nicht mehr als unbedingt nötig. Andere Male konnte sie voller Begeisterung stundenlang über ihre Lieblingstofugerichte dozieren. Wieder andere Male wechselte sie, ohne den Tonfall zu ändern, das Thema binnen eines Augenaufschlages von einer niedlichen Häschenhaarspange, die sie irgendwo gesehen hatte, hin zu einer Methode, wie man jemanden mit einer einfachen Haarnadel ermorden konnte (Letzteres war während eines gemeinsamen Abendessens plötzlich Thema geworden und da Kyoka keine anatomischen und äußerst, äußerst blutigen Details in ihrer Erzählung ausgelassen hatte, hatte Atsushi – merklich grün im Gesicht - das Abendessen fast unangetastet von sich schieben müssen).

Und das war das, was Atsushi als Kyokas „normales“ Verhalten bezeichnete. Daher beunruhigte es ihn doch sehr, dass Kyoka gestern aus dem Blauen heraus verkündet hatte, sich heute frei zu nehmen zu wollen und, nachdem der Chef ihr dies genehmigt hatte, es tatsächlich auch tat. Sie hatte verdächtig nachdenklich gewirkt, als sie am Tag zuvor aus der Mittagspause unten im Café gekommen war und dann, plötzlich, hatte sie einen freien Tag haben wollen. Sogleich hatte Atsushi sie gefragt, ob sie irgendwohin wollte, denn dann würde er auch um einen Tag Urlaub bitten und sie selbstverständlich begleiten, doch das hatte Kyoka vehement abgelehnt. Sie wollte einen Tag allein zu Hause verbringen. Und er sollte aufhören, nachzufragen.

Das war nicht nur Atsushi seltsam vorgekommen. Der Großteil der restlichen bewaffneten Detektive hatte ebenso verwirrt und erstaunt dreingeblickt.

„Ein Mädchen braucht auch mal einen Tag nur für sich“, hatte Yosano gemutmaßt, als Kyoka nicht in der Nähe gewesen war.

„Vielleicht ist sie überarbeitet?“, hatte Tanizaki besorgt geäußert und Naomi hatte direkt angefügt, dass sie das lieber beobachten sollten und im Zweifelsfall dem Chef Bescheid geben sollten (nicht ganz direkt, denn Naomi war ihrem Bruder erst einmal mit einem Lob für seinen fürsorglichen Charakter um den Hals gefallen. Einem sehr physischem Lob ...).

„Dann sollte ich sie mit zu den Feldern nehmen“, hatte Kenji eingeworfen. „Nichts entspannt mehr als ein Tag voller harter Feldarbeit!“

„Kenji, wir hatten schon einmal darüber gesprochen, dass du nicht immer von dir auf andere schließen darfst“, hatte Kunikida wohlwollend gemahnt. „Außerdem sehe ich da nichts Beunruhigendes in Kyokas Verhalten. Wenn sie sich überarbeitet fühlt, dann ist es ein sehr vernünftiger Schritt von ihr, rechtzeitig Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Zudem meldet sie sich ordnungsgemäß beim Chef ab. Nicht wie andere Individuen ….“ Sein missbilligender Blick hatte seinem Gegenüber gegolten – seinem breit grinsendem Gegenüber.

„Kunikida, woher weißt du, dass ich mir morgen freinehme?“, hatte Dazai gespielt beeindruckt gefragt.

„Was soll das heißen, du nimmst dir morgen frei?? Hast du beim Chef einen Antrag auf Urlaub eingereicht?“

„Natürlich nicht.“

„Hrrrrrrrgghhhhh!! Was redest du dann von Freinehmen?!“

„Was soll der Krach??“, hatte Ranpo letztlich dazwischen gemault. „Habt ihr nichts zu tun? Wie soll ich bei diesem Lärm schlafen??“

So war das Thema fallen gelassen worden.

 

Vielleicht machte er sich wirklich zu viele Sorgen, dachte Atsushi, als er die Tür zum Büroraum öffnete. Kyoka und er hingen in der Tat fast immer aufeinander, wenn sie nicht bei der Arbeit waren. Vermutlich brauchte sie wirklich nur etwas Zeit für sich. Warum sie deswegen so ernst wirkte und es nicht hatte erwarten können, bis er heute Morgen endlich aus dem Haus gewesen war, blieb allerdings ein Rätsel.

„Guten Morgen“, begrüßte Atsushi seine Kollegen im Büro. Tanizaki grüßte sofort freundlich zurück. Er und Kunikida waren meistens die ersten, die morgens schon bei der Arbeit waren. Naomi war in der Schule und Kenji hatte die Erlaubnis sich um seine Felder zu kümmern, wenn sonst nichts anlag. Yosano war besonders morgens häufig im Arztzimmer zu finden, doch heute lehnte sie über Ranpos Schulter, der – vollkommen ungewohnt – nicht nur physisch anwesend war. Der Meisterdetektiv hatte die Morgenausgabe der Zeitung aufgeschlagen und echauffierte sich lautstark über etwas, das er dort gelesen hatte.

„Ein Mord an mehreren Personen und diese Idioten von der Polizei haben mich immer noch nicht angerufen?? Was glauben die denn? Dass sie einen Fall alleine lösen können? Für wen halten die sich?“

Für die Polizei?, wollte Atsushi einwerfen, aber wenn Ranpo so in Fahrt war, war mit ihm nicht gut Kirschen essen.

„Oooh“, machte Yosano enttäuscht, „das Foto ist ja nur schwarzweiß und wurde aufgenommen, nachdem die Leichen abtransportiert worden sind. Wie langweilig. Dabei verraten einem die vielen Blutspritzer an den Wänden, dass sie bestimmt interessant ausgesehen haben.“

Wahrscheinlich ist genau deswegen das Foto so in der Zeitung, wie es ist. Damit Lesern ohne Vorliebe für blutige Gemetzel nicht das Frühstück hochkommt.

„Es hat einen Mord gegeben?“, hakte Atsushi so wertneutral wie möglich nach.

„Einen Mehrfachmord“, antwortete Tanizaki. „Mehrere Würdenträger einer Kirche sind vorletzte Nacht umgebracht worden.“

„Würdenträger einer Kirche? Wieso sollte jemand die ermorden?“

„Weil gegen sie wegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern aus dem angeschlossen Waisenhaus ermittelt wurde“, erklärte Yosano. „Alle Indizien sprachen gegen sie, aber komischerweise wurde die Klage vor Gericht trotzdem abgewiesen.“

Während sie sprach, wurde es Atsushi schrecklich heiß und sämtliche Farbe wich aus seinem Gesicht. Ein Waisenhaus. Vernachlässigte und misshandelte Kinder. Ihm war dies alles schmerzlich bekannt. Zu schmerzlich. Zu bekannt.

„Geht es dir nicht gut, Atsushi?“

Tanizakis Frage riss den Jungen aus seiner aufkommenden Schwermut.

Das war die Vergangenheit. Jetzt gab es Leute, die sich um ihn kümmerten und ihn gern hatten. Darauf musste er sich konzentrieren.

„D-doch, ich musste nur … nicht so wichtig.“ Seine zittrige Stimme zeugte von dem Schmerz, den er zu vergessen versuchte. Atsushi atmete tief ein und wieder aus. „Also ist da wahrscheinlich Schmiergeld geflossen? Vielleicht hat dann jemand, um Selbstjustiz zu üben, einen Auftragski-“

„Nein.“ Ranpos trockener Kommentar schnitt seine Vermutung mittendrin ab. Ein spitzbübisches Grinsen schlich über Ranpos Gesicht. Der Mordfall machte ihm offensichtlich Freude. „Das sieht nicht aus wie ein geplantes Attentat. Das war ein spontanes Massaker. Der Täter muss ein Befähigter sein.“

Überrascht blinzelte Atsushi den älteren Kollegen an. Egal wie oft er Ranpos Fähigkeit, die „Ultra Deduktion“, live erlebte, es war immer ein faszinierendes Schauspiel. Auch wenn es gar keine übernatürliche Fähigkeit war. Ranpo hatte all diese Informationen von einem kleinen, unscharfen Schwarzweißfoto, auf dem sogar die Mordopfer fehlten. Genau deswegen war der Meisterdetektiv der Stützpfeiler der gesamten Detektei.

„Und trotzdem rufen diese Idioten mich nicht an??“, plärrte besagtes Genie im nächsten Moment. „Wollen die mich beleidigen?? Ja! Das muss es sein! Sie leiden an einem plötzlichen Anfall von Hochmut und denken, sie könnten es mit mir aufnehmen! Was für lächerliches Ungeziefer! Wo bleibt Kunikida? Er soll bei den Ermittlern anrufen und ihnen sagen, dass sie Ungeziefer sind.“

Stimmt, fiel es Atsushi da auf. Wo steckt eigentlich Kunikida?

Es war sehr untypisch für den stets überkorrekten Idealisten, nicht bei der Arbeit zu sein. Aber im Büroraum war er nirgends zu entdecken.

„Ist der immer noch in der Teeküche?“ Yosano hob kritisch eine Augenbraue. „Er wollte sich doch nur seinen üblichen Morgenkaffee holen. Ist er in die Kaffeekanne gefallen?“

„Ich werde mal nachsehen“, bot Atsushi an und machte sich gleich auf den Weg in die kleine Teeküche … aus der äußerst merkwürdige Geräusche herausdrangen.

„Hrrrnnnnngggghhhh!! Dieser elende … hrrrnnnggghh! Wenn ich ihn in die Finger kriege, werde ich ihn … hrrrnnnnggghhh! Eines schönen Tages werde ich ihm das alles … hrrrnnnngggghh!“

Mit einem mulmigen Gefühl öffnete Atsushi langsam die Tür. Das war ohne Zweifel Kunikidas Stimme und sie klang schrecklich angestrengt und gereizt. Sowieso, es stand bereits völlig außer Frage, über wen der Blonde da wohl schimpfte.

„Kunikida?“ Atsushi stand im Türrahmen und … wusste nicht so recht, was er sich da besah. Der Ältere hatte beide Hände um eine Tasse gegriffen, die im oberen Teil des Küchenschranks stand. Seine Füße hatte er fest gegen den unteren Teil des Schranks gedrückt und mit zusammengepressten Zähnen zog und zog er an der Tasse, die sich keinen Millimeter vom Fleck rührte.

Von dem plötzlichen Besuch überrascht, schreckte er kurz zusammen, ehe er – keuchend – die Tasse losließ und sich räusperte. „Was gibt es, Atsushi?“

„Die anderen sagten, du wärst schon so lange weg und da wollte ich mal sehen, ob alles in Ordnung ist.“

„Natürlich ist es das. Was soll mir in der Teeküche schon Gravierendes passieren?“ Schwer darum bemüht, Indifferenz auszustrahlen, schob Kunikida sich die Brille hoch.

Atsushi zwang sich zu einem freundlichen Lächeln. Er wusste, dass Kunikidas Stimmung immer schnell kippen konnte. „Stimmt etwas mit der Tasse nicht?“

„Nein. Mit der Tasse ist alles in Ordnung. Mit einem Mitglied der Detektei stimmt nur etwas ganz gewaltig nicht.“

Die Schultern des silberhaarigen Jungen sackten ein wenig in sich zusammen. „Was hat Dazai getan?“

Ah. Da war er. Der Trigger, der den ruhigen Kunikida zum Berserker werden lassen konnte. Zwei Silben. Ein Name. Dazai.

Mit einem Mal schoss das Blut in den Kopf des Brillenträgers und er stürzte sich wieder auf die Tasse.

„DAZAI! DIESER TUNICHTGUT! DIESER TAUGENICHTS!! ER WIRD NICHT EHER RUHEN, BIS ER MICH UM DEN VERSTAND ODER INS GRAB GEBRACHT HAT!!“ Er zerrte nun so stark an der Tasse, dass der Schrank bereits zu ächzen anfing.

„Kunikida!“ Hastig versuchte Atsushi, beschwichtigend auf ihn einzureden. „Der Schrank wird kaputt gehen, wenn du damit weitermachst.“

Mit einem lauten Stöhnen ließ der Angesprochene die Tasse erneut los und atmete durch. „Dieser Mistkerl hat meine Tasse am Regalboden festgeklebt.“

„Wieso?“ Atsushi bereute die Frage sogleich. Sie redeten von Dazai. „Wieso?“ war da eine unnütze Frage.

Kunikida funkelte die Tasse an, als wäre sie nun sein Erzfeind. „Gestern kurz vor Feierabend sagte dieser Nichtsnutz noch, dass er länger bleiben würde. Und ich war so glücklich. Ich hatte gedacht, endlich zu ihm durchgedrungen zu sein. Wenn er schon einen Tag einfach von der Arbeit wegblieb, dann war er wenigstens so pflichtbewusst, vorher seine Arbeit fertig zu machen. Das hatte ich gedacht. Was bin ich für ein armer Idiot. Und verabschiedet hatte er sich von mir noch mit den Worten: 'Ich will nur sicher gehen, dass du an mich denkst, auch wenn ich nicht da bin.'“ Kunikida seufzte einen entsetzlich langen Seufzer. „Atsushi, bin ich ein Idiot?“

Verdattert zuckte der Junge zusammen. „Ähhh … nein.“

Ein missmutiger Blick traf ihn daraufhin. „Das war nicht sehr überzeugend.“

„Entschuldigung.“ Atsushi lachte verlegen. „A-aber du kannst doch eine der anderen Tassen nehmen.“ Es war ein verzweifelter Versuch seinen Fauxpas auszubügeln.

„Unmöglich“, entgegnete der Ältere zurechtweisend. „Dann würde ich jemand anderem die Tasse wegnehmen. Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder einfach irgendeine Tasse nehmen würde?“

„U-und was ist mit den Tassen für Besucher?“

„Hörst du nicht zu? Was, wenn wir Besucher bekommen?“

„Zwölf auf einmal?“

„Ich müsste den Chef bitten, mir den Kopf abzuschlagen, wenn wir uns die Blamage erlaubten, einem Gast keinen Tee anbieten zu können.“

Atsushi seufzte innerlich. „Bitte nimm meine Tasse. Ich brauche sie heute nicht.“

„Das ist sehr rücksichtsvoll von dir. Ich würde ja Dazais nehmen … aber kurioserweise ist die nirgends zu finden.“

Nach ein paar Schlücken Kaffee aus einer Tasse, die am oberen Rand Tigeröhrchen und am Griff ein Tigerschwanz zierten und auf der in einer runden, hellblauen Schrift geschrieben stand „Ich hab dich tiiiierisch gern!“ (es war Kyokas erster Versuch eines Geschenks gewesen), war Kunikidas Laune wieder ein wenig angehoben. Zusammen mit Atsushi kehrte er in den Büroraum zurück, wo er die Tasse auf seinem Schreibtisch abstellte. Dort hielt er plötzlich inne und beäugte seinen Schreibtischstuhl mit einer so gewaltigen Portion Misstrauen, dass man sich fragen musste, was das arme Möbelstück wohl verbrochen haben mochte. Die anderen Detektive beobachteten ihn mit einer Mischung aus Neugier und der sofortigen Bereitschaft, in der nächsten freien Gummizelle einen Platz für den Kollegen zu reservieren.

„Moment“, sagte Kunikida, rollte seinen Stuhl beiseite und dafür Dazais an seinen Platz. „Ich kenne diesen Wirrkopf schon lange genug. Seine kindischen Streiche würden bestimmt nicht vor einem auseinanderfallenden Stuhl Halt machen.“ Zufrieden über sein Mitdenken setzte er sich auf den Stuhl des abwesenden Kollegen und … landete einen Sekundenbruchteil später mit Karacho auf dem Boden. Der Stuhl war auseinander gefallen.

Tanizaki eilte herbei, um dem übertölpelten Blondschopf wieder aufzuhelfen, während Yosano losprustete und Ranpo breit grinste.

„Nun, mein lieber Kunikida“, richtete Letzterer das Wort an den Kameraden, „mir scheint, Dazai kennt dich noch viel besser als du ihn.“

Ein tiefes Grollen donnerte durch die Detektei.

„Eines schönen Tages werde ich ihm das alles heimzahlen! Eines schönen Tages …!“

 

Einige Stunden und eine Glitzerbombe in Kunikidas Schreibtischschublade später, betrat Atsushi zur Mittagszeit das Café Uzumaki im Erdgeschoss des Gebäudes. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu Kyoka zurück. Was sie gerade wohl machte? Ob es ihr gut ging? Er hatte bereits mehrmals den Drang unterdrückt, sie anzurufen. Engte er sie vielleicht ein? Hingen sie tatsächlich zu viel aufeinander? Es würde zu Kyoka passen, sich nicht lautstark zu beschweren, wenn dem so war. Und vielleicht hatte er subtilere Hinweise übersehen.

Ein Gespräch zwischen der Kellnerin Lucy, der früheren-Todfeindin-nun- Freundin, und einer Dame mittleren Alters, die an einem Tisch im Café saß, lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Atsushi rutschte auf eine der Bänke und spitzte seine Ohren. Er wollte nicht lauschen, aber das Gespräch schien sehr intensiv zu sein und Lucy sah mitgenommen aus. Sie schniefte, so als wären ihr Tränen gekommen und in der Tat wischte sie sich mit dem Handrücken über die Wangen. Die Frau hatte er hier noch nie gesehen. Sie hatte dunkelbraune Haare, die oben am Kopf zu einem Haarkranz geflochten waren und sie trug ein langes, schwer aussehendes Kleid in Schwarz und Dunkelrot. Um ihren Hals hing ein Kreuz. Die unbekannte Dame sah ganz mitleidig zu Lucy, nickte verständnisvoll zu dem, was sie sagte und legte ihr in einer behutsamen Geste eine Hand auf ihren Arm.

„Armes Kind“, hörte Atsushi die Frau sagen und dabei einen Akzent heraus, den er nicht zuordnen konnte. „Du hattest es bislang wirklich sehr schwer im Leben. Kein Wunder, dass du traurig bist.“

Lucy wischte sich die restlichen Tränen weg und schüttelte den Kopf. „Es geht schon. Bitte, machen Sie sich keine Sorgen.“ Da bemerkte sie Atsushi und entschuldigte sich bei der Frau, weil Kundschaft da war.

„Ganz alleine heute, Tigerkätzchen?“, versuchte sie ihn nonchalant zu necken, als sie zu seinem Tisch ging, doch seine Miene blieb ernst.

„Ist alles in Ordnung?“

„Häh?“

„Weil … weil du offensichtlich geweint ha-“

Wumms!

Sie zog ihm das runde Tablett, das sie trug, über den Kopf.

„Aua!

„Natürlich ist alles in Ordnung.“ Lucy gab sich spürbar Mühe so wie immer zu wirken und vor allem keine Schwäche zu zeigen. „Ich bin schließlich nicht aus Pappe.“

„Das wollte ich auch nicht andeuten“, verteidigte sich Atsushi, während er sich den Kopf rieb. „Wer ist denn die Frau, mit der du geredet hast?“

„Eine Reisende aus Europa. Eine sehr nette Dame.“

Der junge Detektiv warf einen verstohlenen Blick zu der Unbekannten, bevor er sich wieder der Rothaarigen zuwandte. „Und worüber habt ihr geredet?“

Wumms!

„Aua!“

„Hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du schrecklich neugierig bist?“

„Ich bin ein Detektiv!“

„Wie auch immer.“ Lucy winkte mit ihrer freien Hand ab. „Wir sind einfach so ins Gespräch gekommen und als ich ihr von meiner Kindheit im Waisenhaus erzählte, war sie total geschockt und wollte mich trösten. Das kriegst du ja nicht hin!“

Wum-

Atsushi stoppte das Tablett auf halbem Weg zu seinem Kopf. Wie typisch das mal wieder lief! Da wollte er sich nach ihr erkundigen und Lucy stellte auf stur. Und aggressiv. „Tut mir leid, aber hör doch bitte auf, nach mir zu schlagen, wenn ich mich um dich sorge.“

Erstaunt hielt Lucy inne. „Du sorgst dich um …. Ist ja auch egal.“ Ihr kurzer Moment der Weichheit wich rasch wieder ihrem trotzigen Gehabe. „Wo ist denn dein Anhang?“

„Mein Anhang? Meinst du Kyoka?“

„Wen denn sonst? … Was sollen die hängenden Schultern, Tigerkätzchen?“

„Nichts nur … Kyoka verhält sich ein wenig merkwürdig.“

„Das merkst du jetzt erst?“

Angesichts ihrer kratzbürstigen Art fragte Atsushi sich, wer hier das Kätzchen war. Er seufzte. „Sie hat sich heute frei genommen und konnte mich heute morgen nicht schnell genug aus dem Haus haben.“

Als wäre dieser Tag noch nicht wunderlich genug verlaufen, stutzte der junge Detektiv heftigst, als er die Reaktion seines Gegenübers bemerkte.

Lucy nickte verstehend und murmelte „Ah, dann will sie es wohl sofort in die Tat umsetzen ...“

„Was? Was will Kyoka in die Tat umsetzen?“ Atsushi war fast von seinem Sitz aufgesprungen.

„Beruhige dich.“ Lucy winkte abermals ab. „Mach dir keinen Kopf um sie.“

Moment. Atsushi ging ein Licht auf. Kyokas hatte ihren Beschluss, heute Urlaub zu nehmen, gefällt, nachdem sie aus der Mittagspause gekommen war – aus dem Café. Er selbst hatte zwischendurch einmal kurz ins Büro zurück gemusst; für nur wenige Minuten zwar, aber trotzdem …. Konnte es sein?

„Lucy, hast du gestern mit Kyoka gesprochen?“

Ertappt zuckte die Kellnerin zusammen. „Natürlich. Ich rede oft mit ihr.“

„Nein, ich meine, über irgendetwas, das sie beschäftigt?“

Ihre Augen schnellten verdächtig hin und her. „Se-selbst wenn, geht dich das nichts an.“

„Lucy, ich bitte dich.“ Atsushi war nun aufgestanden und sah der jungen Frau aus nächster Nähe eindringlich in ihre Augen.

Die Rothaarige bekam weiche Knie und errötete. „Na-na schön!“, fauchte sie und drückte Atsushi zurück auf die Bank. „Die Kleine fragte mich, ob mir etwas einfiele, wie man jemandem eine Freude machen könnte. Es war ziemlich offensichtlich, dass die Rede von dir war. Und in meiner schier endlosen Güte habe ich ihr gesagt, sie soll irgendetwas Nettes für dich machen.“

Überrascht blinzelte der Detektiv sie an. „Warum will Kyoka denn-“

„Sie fragt sich wohl, ob sie dir ihre Dankbarkeit genügend zeigt, da du ständig so viel für sie machst.“ Lucys Miene und Tonfall wurden dezent schmollend. „Und sie hat ein schlechtes Gewissen wegen irgendeines Vorfalls mit einer Haarnadel und einem fast ausgespuckten Essen. Das habe ich nicht so ganz verstanden.“

Oh.

Oh!

Atsushis Gesicht hellte sich auf. Das war es? Eine Stein in der Größe eines Mini-Vans fiel von seinem Herzen. Seine Sorge um Kyoka war unbegründet. Endlich atmete er erleichtert aus.

„Lucy?“

„Was denn noch?“

„Ich danke dir!“

Mit hochrotem Kopf nahm sie seine Bestellung entgegen.

 

Mit federleichten Schritten und einem vorfreudigen Lächeln auf den Lippen hopste Atsushi am frühen Abend die Treppenstufen zu seiner Wohnung hinauf. Seltsam, dachte er, irgendwo riecht hier etwas verbrannt. Irgendwo in der Nähe. In der sehr nahen Nähe – ah!

Eilig riss er die Tür zu seiner Wohnung auf und wurde von einem Nebel aus schwarzen Rauchschwaden begrüßt. Der Rauch trieb ihm die Tränen in den Augen und bevor er irgendetwas Anderes tun konnte, musste er husten.

„Du bist schon wieder da?“

Er war erleichtert, Kyokas Stimme zu hören und noch erleichterter, als er sie durch den Rauch hindurch sehen konnte. Ein Hauch von Enttäuschung und Bitterkeit schwang in ihrer Stimme mit. Atsushi blinzelte die Tränen weg.

„Was ist passiert?“

Die Schultern des Mädchens sanken noch mehr hinab. Wortlos ging sie von dem schmalen Eingangsbereich zurück in den Wohnraum. Die Fenster waren aufgerissen und als Atsushi einen Blick in die kleine Küche warf, dämmerte ihm, was passiert war. Unmengen an aufgeschlagenen Eiern und leeren Packungen Butter lagen dort herum, die großen Mehl- und Zuckertüten waren völlig in sich zusammengeschrumpft … hatte Kyoka versucht, ihm etwas zu backen?

„Ich hatte dich mit etwas Besonderem überraschen wollen“, erklärte sie geknickt, „aber ich habe noch nie zuvor einen Kuchen gebacken.“

Sein Blick wanderte zu mehreren unappetitlich wirkenden Klumpen, die auf der Anrichte standen. Einer war in sich zusammengefallenen und sah seltsam klebrig aus, ein anderer war in unzählige hart aussehende Bröckchen zerfallen, ein dritter war pechschwarz und somit höchstwahrscheinlich der Urheber der Rauchschwaden.

„Du hast den ganzen Tag damit verbracht?“ Atsushi Staunen spiegelte sich in seinem Tonfall wider.

Schweigend starrte Kyoka gen Boden, ehe plötzlich eine neue Welle Determiniertheit über sie kam. Pfeilschnell schoss ihr Kopf nach oben und mit fester Stimme verkündete sie: „Einen Versuch mache ich noch! Ich brauche neue Zutaten! Ich bin gleich zurück!“

Bevor Atsushi auch nur irgendwie darauf reagieren konnte, rauschte sie zur Tür hinaus. Trotz des suspekt riechenden Chaos um ihn herum bildete sich ein seliges Lächeln auf den Lippen des Zurückgelassenen.

 

Bis zum nächstgelegenen Supermarkt war es zu weit. Er hätte geschlossen, bis Kyoka ihn auch nur erreicht hätte. So lief sie schnurstracks in den großen Konbini, der sich lediglich ein paar Straßen weiter befand. Unter den surrenden Neonröhren suchten ihre Augen die Regale nach allem ab, was ihr zum gewünschten Backerfolg verhelfen sollte.

„Was …?“, ertönte eine Frauenstimme verärgert im Nachbargang. „Wo ist Eleanor hin? Das ist doch nicht wahr! Ich drehe ihr nur kurz den Rücken zu und sie verschwindet? Du solltest doch auf sie aufpassen!“

„Wie du schon sagtest: Es ist leichter einen Sack Flöhe zu hüten.“ Die Antwort kam von einem Mann.

„Du hast doch bestimmt schon wieder irgendeinem Rock hinterhergeguckt und sie so aus den Augen verloren“, konterte die Frau vorwurfsvoll.

„Erstens, wird das jawohl nicht verboten sein. Zweitens, obliegt dir gleichermaßen die Aufsicht über sie.“

„Argh! Am Ende bleibt immer alles an mir hängen! Du suchst vorne im Laden, ich gehe hierherum.“

In ihrer Konzentration auf ihr Projekt hatte Kyoka das aufgebrachte Gespräch nur am Rand mitbekommen. Sie hatte die nötigen Zutaten gerade gepackt und drehte sich zum Weitergehen um, als die Frau aus dem Nachbargang überstürzt um die Ecke bog und in sie hineindonnerte.

„Verzeihung“, sagte Kyoka umgehend und stockte, als sie zu der Frau emporsah.

Die Unbekannte, die ihre lockigen, hellblonden Haare hochgesteckt hatte, starrte sie mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen an. Sie trug eine weiße, teuer aussehende Rüschenbluse und eine ebenso hochwertige, weite, rosafarbene Hose. Eine weiße Perlenkette zierte ihren Hals. Endlose Sekunden verstrichen, ehe die Frau von Kyoka wegrückte.

„Nein“, entgegnete sie verstört, „nein, mir tut es leid.“

„Hab sie!“, schallte es durch den Laden. „Sie ist im Gang mit den Süßigkeiten!“ Es war der Mann, mit dem sie sich unterhalten hatte. Die Frau atmete hörbar aus und schüttelte ihre Schockstarre ab. Sie nickte Kyoka zu und lief aus dem Gang heraus.

„Wenn du sie noch einmal verlierst, setz ich dich im Wald aus! Darauf kannst du dich verlassen!“

Verwundert blinzelte Kyoka ihr einen Moment lang hinterher, bevor sie sich auf zur Kasse machte.

 

Wie einen Schatz hielt Kyoka die Tüte mit ihren Einkäufen in beiden Armen, als sie den Konbini verließ und sich auf den Heimweg machte. Der Kuchen würde – sollte er endlich gelingen – erst mitten in der Nacht fertig werden, aber dann würden sie ihn eben zum Frühstück essen. Sie hatte sich ein festes Ziel gesetzt und nichts, absolut nichts in der Welt konnte sie davon abbringen.

- Außer einem süßen Kuschelhasen vielleicht.

Kyoka stoppte abrupt, als sie das flauschige, weiße Häschen in einer dunklen Seitengasse erblickte. Was machte ein lebendiger, echter Hase mitten in Yokohama? Es konnte kaum ein Wildtier sein. War er irgendwo ausgebüxt? Das Mädchen blieb genau vor dem Tier stehen, das sie mit seinen großen, leuchtenden Augen fixierte.

Leuchtend??

Sämtliche Alarmglocken in Kyokas Innerem schrillten und im Nu hatte sie die Tüte fallengelassen und blitzschnell ihr Schwert gezogen.

Jedoch -

Das Schwert rutschte umgehend aus ihrer Hand und auch Kyokas alarmierter Blick war schlagartig einer ausdruckslosen Mimik gewichen. Sie konnte sich nicht mehr bewegen, aber dieser Fakt beunruhigte sie nur einen kurzen Moment lang, denn - als hätte sie eine plötzliche Ohnmacht übermannt - fiel sie bewusstlos zu Boden. Bevor sie auf dem Bürgersteig aufschlagen konnte, fing ein Mann sie auf. Er hatte kurze, schwarze Haare und einen Schnauzbart. Im faden Licht der weiter entfernt stehenden Straßenlaterne waren seine dunkelgrüne Jacke und seine dunkelbraune Hose kaum zu erkennen.

„Nimm du das Ding da. Das fass ich nicht an.“ Angewidert deutete er mit dem Kopf zu dem auf der Erde liegenden Schwert. Ein Seufzer erklang neben ihm. Die Frau aus dem Geschäft gesellte sich zu ihm und hob die Waffe auf.

„Alles muss man selber machen.“

„Bringen wir sie zur Tante?“ Eine weitere Frau, jünger als die beiden anderen, die etwa Ende zwanzig sein mussten, sprang aufgeregt auf der Straße auf und ab. Ihre zwei strohblonden Zöpfe und ihr rot-weiß kariertes Kleid hüpften bei ihren fröhlichen Bewegungen mit. Ihre strahlend blauen Augen trotzten der Dunkelheit der angebrochenen Nacht und die Straßenlaterne, unter der sie herumtänzelte, ließ auf ihrem freudig lächelnden Gesicht einige Sommersprossen erkennen.

Die hellblonde Frau erwiderte das Lächeln – der Ausdruck in ihren braunen Augen deutlich betrübt. „Ja. Wir nehmen sie mit.“

 

Mit zunehmender Nervosität blickte Atsushi zum wiederholten Mal auf die Uhr, die auf dem Esstisch stand. Kyoka hätte längst zurück sein müssen. Er war sich sicher, dass sie zum nächsten Konbini gegangen sein musste und selbst wenn sie dort aus irgendeinem Grund aufgehalten worden wäre, hätte sie längst wieder daheim sein müssen. Das angsterfüllte Gefühl in seinem Innern nicht länger aushalten könnend, machte er sich schnellen Schrittes auf den Weg nach draußen. Kyoka war alles andere als hilf-und wehrlos, so viel war ihm klar. Doch seit er dem Büro der bewaffneten Detektive beigetreten war, war Atsushi einer unheimlichen Gestalt nach der anderen begegnet. Und unter diesen waren so mächtige Befähigte, dass es selbst einem Jungen, der sich in einen Tiger verwandeln konnte, angst und bange wurde, wenn er an sie dachte. Kyoka war um einiges furchtloser als er, aber wenn die Hafen-Mafia beschlossen hatte, sie doch wieder haben zu wollen, dann war selbst sie in Gefahr.

Im Laufschritt rannte Atsushi zu dem Konbini, suchte dort alle Gänge ab und fragte schließlich mit bebender Stimme den Kassierer, ob er ein Mädchen in einem roten Kimono gesehen hatte.

„Ja. Da war so ein Mädchen. Aber das ist schon 'ne Weile her.“

Diese Antwort kam einem Stich in sein Herz gleich.

Panisch stürmte er aus dem Geschäft hinaus, blickte in alle Seitenstraßen, in jedes kleine Gässchen und brüllte immer lauter werdend ihren Namen.

Nichts.

Atsushi hatte das Gefühl an der frischen, klaren Nachtluft zu ersticken. Seine Gedanken wurden mit jeder verstreichenden Sekunde düsterer. Ihr muss etwas Schlimmes zugestoßen sein. Sie wurde entführt. Sie wurde verschleppt. Ich kann sie nicht finden. Ich kann ihr nicht helfen.

Nein. Nein, wenn er nichts tun konnte, wer dann? Wer konnte ihm jetzt helfen?

Bevor die nackte Angst ihn weiter lähmte, rannte Atsushi in einem höllischen Tempo zum Wohnheim zurück. Hastig (und zu dieser späten Stunde viel zu laut) schlug er gegen eine der Wohnungstüren.

„Dazai! Dazai! Bitte mach auf, wenn du da bist! Bitte! Bitte mach auf!“

Ein tatsächlich kurzer, aber für den aufgebrachten Jungen endlos langer Augenblick verging, ehe die Tür endlich aufging. Ein unangenehmer Geruch, der seine feine Nase sofort übelst irritierte, schlug ihm entgegen. Was in aller Welt war das? Eine eklige Mischung aus Alkohol, Curry und … Zigaretten? Seit wann rauchte Dazai denn?

„Atsushi“, sagte der brünette Mann gequält und sich mit einer Hand die Schläfen reibend, als er in der Tür erschien. „Was soll der Krach? Hast du deine Manieren heute nicht dabei?“

„Entschuldige“, erwiderte er atemlos. Dazai sah so aus, wie es in der Wohnung roch. Er war offensichtlich heftigst verkatert und lehnte mit seinem Körper schlaff gegen die Tür. Hatte er etwa den ganzen Tag mit Trinken verbracht?

„Kyoka ist verschwunden. Ich kann … ich kann sie nirgends finden. Sie wollte nur etwas besorgen und ist nicht nach Hause gekommen. Ich habe sie überall gesucht und an ihr Handy geht sie auch nicht. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, wo ich noch suchen soll. War das die Hafen-Mafia? Oder hat jemand anderes sie angegriffen? Ich hätte sie nicht alleine-“

„Atsushi.“

„Wenn ich mitgekommen wäre, dann wäre das nicht passiert. Das ist alles meine Schuld. Kyoka war nur meinetwegen unterwegs. Und jetzt kann ich ihr nicht einmal helf-“

„Atsushi!“ Dazai griff hinter die Tür und holte ein dort abgestelltes Glas Wasser hervor, dass er dem Jüngeren ohne Umschweife ins Gesicht kippte. Erschrocken, aber abgekühlt blinzelte der Silberhaarige ihn nun wie aus einem Albtraum erwacht an.

„Gut, ich habe deine Aufmerksamkeit“, fuhr Dazai gelassen fort. „Kyoka ist also verschwunden?“

Atsushi nickte verunsichert.

„Du weißt doch, dass es in so einem Fall nur einen gibt, der dir schnell weiterhelfen kann. Auch wenn es riskant ist, ihn zu wecken.“ Dazai schnappte sich seinen neben der Tür abgelegten Mantel, zog ihn beim Verlassen seiner Wohnung an und schloss die Tür. Dann schritt er - obwohl er eben noch wie ein Schluck Wasser in der Kurve gewirkt hatte – erstaunlich aufrecht ein paar Türen weiter. Atsushi folgte ihm auf dem Fuße.

„Klopf an.“

Verwundert sah Atsushi ihn nach dieser Aufforderung an (Dazai hatte die Tür schließlich zuerst erreicht), aber nichtsdestotrotz tat er, was ihm gesagt worden war. Er klopfte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Nichts.

Atsushis Hirn hatte sich inzwischen wieder so weit sortiert, dass er wusste, an wessen Tür er da gerade mitten in der Nacht klopfte.

„Ranpo?“, richtete er zaghaft an die geschlossene Türe. „Wir brauchen deine Hilfe. Es ist dringend. Ein Notfall! Bitte mach auf.“

Nichts.

„Hat Ranpo einen so festen Schlaf?“ Überfordert blickte er zu Dazai. „Soll ich lauter klopfen? So wie eben, als ich dich geweckt habe?“ Dich, der gerade aussieht wie ein lebendiger Toter, schwang in seiner Frage mit.

Der Ältere gähnte ausgiebig. „Ich habe noch gar nicht geschlafen.“

So zerknittert wie Dazai aussah, wunderte es Atsushi nicht. Der Mann hatte keinen sonderlich gesunden Lebensstil. Ob das Teil der Selbstmordfanatik war? Oder war sein Mentor einfach schlecht darin, auf sich Acht zu geben?

„Ist Ranpo vielleicht nicht da?“ Die Panik in dem Jungen wuchs wieder. Er wollte bereits sein Handy zücken, um den Meisterdetektiv anzurufen, als Dazai das Wort ergriff.

„Bevor du Ranpo anrufst, was mit großer Wahrscheinlichkeit vergebliche Liebesmüh sein wird, SAG ICH LIEBER DEM CHEF BESCHEID, dass er nicht aufmacht, obwohl du gesagt hast, es handele sich um einen Notfall.“

Die Tür flog mit Schallgeschwindigkeit auf.

„Erpressung ist eine Mafia-Methode.“ Mit miesepetriger Miene stand Ranpo maulend vor ihnen.

Der Vorwurf ließ Dazai nur süffisant grinsen. „Spaß beiseite. Kyoka wird vermisst.“

 

Als Atsushi zum zweiten Mal in dieser Nacht den Weg zum Konbini ablief, erklärte er Dazai und Ranpo alles, was sich vor Kyokas Verschwinden zugetragen hatte. Sie gingen in einem gemächlichen Tempo und Ranpo hatte bereits seine Brille auf der Nase. Vor einer Seitengasse, wenige Meter von dem Laden entfernt, stoppte er abrupt.

„Hier ist sie verschwunden.“

Aufgeschreckt warf Atsushi ihm einen fragenden Blick zu.

„Sie hat ihre Einkäufe erledigt, aber dann fallengelassen.“ Ranpos Fuß tippelte gegen eine winzig kleine, leicht verfärbte Stelle auf dem Bürgersteig. Es sah aus, als wäre dort eine Flüssigkeit ausgelaufen. Er machte einen Schritt in die Gasse hinein.

„Atsushi, Licht.“

Der Junge aktivierte unverzüglich die Taschenlampe an seinem Handy und leuchtete in die dunkle, schmale Gasse hinein.

Der Meisterdetektiv beugte sich zum Boden hinunter. „Weiße Fellhärchen?“, stutzte er, als er dort auf die Erde sah. „Eine Falle, verstehe. Die Entführer wussten also um Kyokas Vorliebe für Hasen. Atsushi, ruf ihr Handy an.“

Mit einem beklommenen Gefühl in der Brust tat der Junge auch dies. Er hielt den Atem an, als aus dem Nichts ein Klingeln aus einem der an der Wand stehenden Müllcontainer erklang. Als wäre ein Gespenst oder der Tod persönlich vor ihm erschienen, starrte Atsushi leichenblass zu dem Container, unfähig sich in dessen Richtung zu bewegen. War Kyoka etwa …?

Augenblicklich trat Dazai heran und öffnete ohne zu zögern den Müllcontainer. Er langte hinein und holte etwas heraus, was er den beiden anderen umgehend präsentierte.

„Ihr Handy.“ Es war ihr Arbeitshandy, das im Gegensatz zu dem, mit dem sie Weißer Dämonenschnee rief, funktionierte.

Atsushi atmete lautstark aus. Seine Erleichterung war nur von kurzer Dauer. „Ich verstehe das nicht. Jemand hat Kyoka eine Falle gestellt? Warum? War das-“

„Das war sicher nicht die Hafen-Mafia“, fiel ihm Dazai ins Wort. „Kannst du dir vorstellen, dass Akutagawa mit einem weißes Kaninchen herumhantiert? So amüsant die Vorstellung auch ist, nein, das ist nicht, was geschehen ist. Auch Koyo würde sich nicht die Finger schmutzig machen. Und mit der haben wir ja außerdem noch einen Deal. Es war also nicht die Hafen-Mafia.“ Nachdenklich legte er eine Hand an sein Kinn und blickte auf die Straße zurück. „Aber … wer war es dann?“


Nachwort zu diesem Kapitel:
„Konbini“ ist kurz für „Convenience Store“; das sind Mini-Supermärkte, die oft rund um die Uhr geöffnet haben.
Ich musste Kyoka ein zweites Handy geben, weil ich Weißer Dämonenschnee noch brauche; ich hoffe, diese Lösung hier macht Sinn. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Votani
2022-07-22T21:44:50+00:00 22.07.2022 23:44
Hey du, endlich dazu gekommen auch das Kapitelchen zu lesen. Ich muss sagen, du bekommst die Charas und vor allem den Humor des Mangas soooo gut hin. *-* Es ist, als ob ich ein Kapitel lese bzw. eine Folge schaue!
Es faengt mit Kyoukos Entfuehrung auch sehr spannend an. Ich muss sagen, ganz besonders gefaellt mir irgendwie auch Ranpo aus deiner Feder und wie er am Ende des Kapitel gleich wusste, was passiert ist. Es macht auch absolut Sinn durch die Hinweise, die er aufspuert. XD Sehr unterhaltsam, ich bin gespannt, wie es weitergeht!
Antwort von:  rokugatsu-go
23.07.2022 14:59
Hallo!

Aiiii, das freut mich sehr, dass du meine FF liest! Und ich freue mich riesig über dein Lob!!
Ich mag Fische auch, es hat so etwas Beruhigendes ihnen zuzugucken - und dann verhalten sie sich wie BSD-Charaktere und ich werde doch ganz aufgeregt, weil mir dabei so eine Idee kommt. XD

Es ist immer so schön, wenn jemandem der Humor in meinen Geschichten gefällt. ^__^ Gerade bei BSD spielt dieser chaotische Humor ja auch eine ziemlich große Rolle und zugegeben: Ich mag es auch einfach, Kunikida zu ärgern. XD
Ich liebe Ranpos Fähigkeit ... also, seine "Fähigkeit." Man muss sich nie lange Erklärungen für einen Fall zusammenreimen; ein paar kleine Hinweise reichen ihm ja, um alles zu durchschauen. ;) Und Ranpo an sich ist einfach pure Liebe, es macht unheimlich viel Spaß ihn zu schreiben.
Ich hoffe, du wirst weiterhin gespannt bleiben, denn die mysteriösen Ereignisse haben gerade erst ihren Anfang genommen. ;)
Vielen, vielen Dank für deine Kommentare! Die haben mich wirklich gefreut! ^___^


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