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Battle for the Sun

von

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And I don't enjoy to watch you crumble – I don't enjoy to watch you cry

And I don't enjoy to watch you crumble

I don't enjoy to watch you cry“

 

Placebo, „Begin the end“

 

„Töte diese drei da.“

Atsushi verstand nicht mehr, was los war. Plötzlich fühlte sich alles so an, als würde er unter Wasser gedrückt. Er hörte nur noch ein Rauschen, sah nur noch verschwommene Bilder, als würde er vom Grund aus auf die Wellen in einem Teich gucken, in den ein Stein geworfen worden war. Sollte er nicht irgendwo sein? Sollte er nicht irgendetwas tun? Sein Kopf fühlte sich vollkommen leer an. Doch kalt war ihm, schrecklich, schrecklich kalt und ohne dass er es sich erklären konnte, war ihm nach Weinen zumute. Mit einem Mal fühlte er sich furchtbar einsam.

 

„Atsushi?“, fragte Kunikida vorsichtig in seine Richtung, nachdem der Blick des Jungen ungewöhnlich leer geworden war. Wie er sich vom Boden erhob und einfach ins Nichts starrte, wirkte er mehr wie eine mechanische Aufziehpuppe als wie ein Mensch aus Fleisch und Blut.

„Oh nein, nein, verdammt!“ Burnett fluchte. „Er kontrolliert ihn. Fagin kontrolliert den Jungen jetzt.“

„Was?“ Kunikida hatte gerade einmal die Gelegenheit zu stutzen, als Atsushi sich plötzlich in den Tiger verwandelte. Nicht teilweise, wie er es sonst tat; vor ihnen stand nun ein meterhohes Raubtier – das auf sie zustürmte. Kunikida stieß Burnett und Eleanor weg und schrieb mit Windeseile in sein Notizbuch.

„Fähigkeit: Der elegante Poet Doppo! Elektroschocker!“

Er feuerte die Waffe umgehend auf das heranpreschende Ungetüm ab, aber dieses schüttelte den Angriff lediglich ab und setzte zu einem Sprung an. Der Detektiv wich dem Tiger aus, der mit voller Wucht auf dem Auto landete und es in Nullkommanichts in einen kleinen, metallischen Schrotthaufen verwandelte. Der Tiger brüllte lautstark, sprang vom kläglichen Rest des Autos hinunter und schlug mit einer Pranke nach seinem eigentlichen Kameraden. Kunikida flog meterweit durch die Luft und donnerte in die Außenwand des Firmengebäudes. Er schrie vor Schmerz auf und biss dann sogleich die Zähne zusammen. Der Tiger hatte ihn nicht mit den Krallen, sondern mit der Außenseite seiner Pfote erwischt; wäre es anders gewesen, wäre es aus mit ihm gewesen. So tat ihm zwar alles weh (und seine Brille war durch die Wucht des Aufpralls zerbrochen), aber er lebte noch. Solange seine Arme funktionierten und er sein Notizbuch hatte, konnte er noch etwas tun. Die Frage war nur: Was?

Atsushi zu töten war keine Option (davon abgesehen, dass der Tiger so leicht auch nicht zu töten war); er musste ihn hinhalten, bis ihnen eine bessere Idee kam. Zum Glück hatten Kunikida und Burnett auf der Fahrt hierher per Anruf das Gebäude räumen lassen. Die Methode, mit der die Frau die Mitarbeiter der Immobilienfirma zur fluchtartigen Evakuierung gebracht hatte, war zwar mehr als fragwürdig gewesen („Hier spricht Special Agent Errol von der CIA! Uns liegt eine Bombendrohung für Ihre Firma vor!“), doch immerhin hatte sie damit zügig das gewünschte Ergebnis erreicht. Es war zwar ebenso unschön, das Gebäude zu demolieren, aber so wie er die Sache sah, hatten wenigstens nicht sie damit angefangen. Sowieso … was machte ausgerechnet Akutagawa hier?!

Der Mafioso besah sich mit wenig beeindruckter Miene aus der Distanz das Schauspiel. „Bist du so erbärmlich, Menschentiger? Du lässt dich von jemand anderem kontrollieren?“

Der Tiger reagierte nicht auf die Provokation des jungen Mannes, was Kunikida neue Sorgenfalten ins Gesicht trieb. Atsushi war doch noch da drin, oder? Mit langsameren, aber wuchtigen Schritten kam das gigantische Tier auf den Detektiv zu.

„Atsushi! Atsushi, hörst du mich nicht?!“ Er tat es offensichtlich nicht. „Bengel! Verdammt, Bengel, komm zu dir!!“ Der Tiger brüllte lediglich ein weiteres Mal und setzte zu einem erneuten Sprung an.

„Der elegante Poet Doppo!“, versuchte Kunikida es von neuem und mit zunehmender Ratlosigkeit. „Fangnetz!“ Ein pistolenförmiger Gegenstand materialisierte sich in seiner Hand und aus diesem schoss er ein Netz ab. Es war nicht einmal groß genug, um den riesigen Körper des Tigers abzudecken. Wutentbrannt schlug die Raubkatze das Netz weg und zerteilte es mit ihren Krallen. Der Blutdurst, der jetzt von dem Ungetüm ausging, ließ Kunikida den Atem anhalten. Fagins Befehl schloss auch Burnett und Eleanor mit ein. Und wenn sie Atsushi nicht aus seinen Fängen befreien konnten, dann würde er noch viel mehr Unheil bringen. Jedoch - selbst wenn er auf ihn schoss, Kugeln hatten keine Wirkung auf ihn. Eine Handgranate? Aber er konnte doch nicht …. Kunikida schluckte. Was blieb ihm noch übrig?

„Atsushi“, sagte er mit gebrochener Stimme, „verzeih mir bitte.“ Eine bebende Hand schrieb „Handgranate“ auf eine leere Seite.

„Warte!“ Eleanor rannte zu ihnen, bevor Burnett auch nur reagieren konnte. Als wäre jegliche Form von Angst ihr ein völlig fremdes Konzept, stellte sie sich zwischen Kunikida und den Tiger, dem sie in seine großen Augen sah. „Er ist doch dein Freund, oder? Du hast ihn bestimmt sehr gerne. Du willst ihm nicht wehtun.“ Zum Erstaunen aller hielt der Tiger inne und Eleanor lächelte ihn an. „Ah! Ich wusste es, du bist gar nicht böse! Warte, ich helfe dir!“ Die junge Frau streckte ihre Hände nach dem Kopf des Tieres aus, während Kunikida und Burnett den Atem anhielten. Selbst Akutagawa war plötzlich ein wenig angespannter als zuvor. Dickens, der sich seit der Ankunft Eleanors nicht mehr von der Stelle gerührt hatte, starrte ebenso zu ihr hin.

„Nichts da!“, plärrte Fagin. „Du sollst sie töten!! Töte die drei und alle, die sich dir in den Weg stellen! Na los, ich befehle es dir!!“

Der Tiger zuckte zusammen und ihm entfuhr ein tiefes, ohrenbetäubendes Grollen.

„Weg da!“, schrie Kunikida noch, als er die Gefahr erkannte, doch es war bereits zu spät. Mit einer unmenschlichen Geschwindigkeit raste eine Pranke auf Eleanor zu und schlitzte sie mit ihren Krallen auf. Ein schriller, schmerzerfüllter Schrei der jungen Frau hallte durch die Umgebung, bevor sie stark blutend zu Boden fiel. Der Tiger erkannte, dass sein Opfer noch lebte und wollte sich auf es stürzen. Aus purer Verzweiflung schmiss sich Burnett über die lebensgefährlich verletzte Kameradin und mit entsetztem Blick und Tränen in den Augen stand Kunikida von dem Platz auf, an den das Raubtier ihn geschleudert hatte.

Es war aussichtslos.

Die Handgranate materialisierte sich in seiner zitternden Hand.

Im nächsten Augenblick ertönte ein markerschütternder Kampfschrei und Dickens stürzte sich in blinder Wut auf den Tiger. Das Untier, dem sonst auch Schwerthiebe nichts anhatten, wich zurück, nachdem Dickens mit seiner Klinge einen Treffer gelandet hatte. Die Schärfe des präparierten Schwertes schien sogar dem mächtigen weißen Tiger Probleme zu bereiten. Ohne Unterlass drosch der junge Engländer mit einer gewaltigen Kraft auf den verwandelten Atsushi ein, der immer weiter zurückgedrängt wurde und keine Gelegenheit zum Gegenangriff bekam.

„Ist ja irre“, kommentierte Bates, der sich zu Fagin gesellt hatte, das Geschehen.

Der ältere Mann lachte finster. „Stell dir vor, ich könnte diese Tiger-Fähigkeit mit einer anderen kombinieren, was das für eine Sensation gäbe! Allein schon diesen Tiger zur Verfügung zu haben, ist ein Geschenk! Mit ihm kann ich endlich diese Lachnummer von Sikes loswerden!“

„Da hätte Nancy aber was dagegen.“

Fagin stutzte, ehe er erneut unheimlich lachte. „Nancy wird nie wieder ihr freches Maul aufreißen und uns Probleme machen.“

Jetzt war es an Bates verwundert zu stutzen. Aufs Äußerste irritiert, guckte er seinen Meister fragend an. „Was … was soll das denn heißen?“

„Nancy hat uns verraten, mein Lieber. Und der gute Bill hat sich darum gekümmert.“

„Nancy ...“ Die Schultern des sonst so fidelen Jüngeren fielen kraftlos in sich zusammen. „Nancy ist doch nicht … tot, oder?“

„Natürlich ist sie das“, antwortete Fagin ungerührt und beiläufig. Er begriff die Schwere seiner Antwort erst, als er den aus dem Nichts kommenden Zorn neben sich spürte. „Was ist denn?“

„Nancy ist … TOT!“ Bates brüllte ihm ins Gesicht. „Sie war eine von uns, wir gehörten zusammen! Wir … wir waren doch eine Familie! Und du Mistkerl lässt sie einfach umbringen, als wäre sie nur irgendein Müll, den man wegwirft?!“

„Pass auf, was du sagst. Du bist auch nicht unersetzlich“, entgegnete Fagin eiskalt. „Nur weil du zu willensstark bist, um von mir kontrolliert zu werden, heißt das nicht, dass du Narrenfreiheit besitzt.“

Bates zog eine Art Teppichmesser aus einer Tasche an seinem Gürtel und fuhr die Klinge heraus – was seinem Gegenüber nur ein überhebliches Grinsen entlockte.

„Glaubst du wirklich, du könntest mich damit treffen? Im Gegensatz zu euch Amateuren habe ich in jungen Jahren eine richtige Militärausbildung genossen. Jemand wie du kann mir nichts anhaben.“

Der blonde Engländer biss sich auf die Unterlippe. Fagin sprach wahre Worte. Das, was sie an Kampftechniken beherrschten, hatten sie von ihm und Sikes gelernt.

„Deine Fähigkeit wirkt nur bei willensschwachen Menschen? Der Menschentiger enttäuscht mich immer wieder aufs Neue.“ Seufzend hatte Akutagawa sich zu ihnen umgedreht. „Trotzdem wäre ich gerne derjenige, der ihn irgendwann tötet und dann sollte er bei dem bisschen Verstand sein, das er hat.“

„Was willst du, Mafioso?“, fragte Fagin gereizt. „Misch dich nicht weiter in unsere Angelegenheiten ein. Ich entbinde euch von unserem Vertrag.“

Akutagawa hustete und lachte im Anschluss. „Ach, so ist das. Du Wurm denkst immer noch, wir würden für euch arbeiten. Ich würde auch sehr gerne mal ein Experiment durchführen.“

Fagin hob fragend eine Augenbraue, als plötzlich rasend schnell schwarze Bänder auf ihn zuschossen und ihn im Handumdrehen einwickelten. Lediglich ein kleines Loch auf der Brust ließ Rashomon unbedeckt.

„Ich würde sehr gerne wissen, was aus deiner Fähigkeit wird, wenn du stirbst.“ Akutagawa blickte abwartend zu Bates, der den Wink sofort verstand.

Er rammte dem entgeisterten Fagin die vollständig ausgefahrene Klinge des Teppichmessers mitten ins Herz. Der ältere Herr riss erschrocken die Augen weit auf und spuckte Blut. Dann sackte er leblos zusammen und fiel zur Erde, als Rashomon ihn losließ. Das Messer fiel heraus – oder vielmehr der Griff; die Klinge schien sich von ihm gelöst zu haben. Interessiert beobachtete Akutagawa, wie kleine Teile der Klinge (als hätte jemand die einzelnen Fragmente des Teppichmessers abgebrochen) wieder aus dem Brustkorb des Toten heraustraten, jedoch nicht an der Stelle, wo Bates zugestochen hatte. Die scharfkantigen Blättchen bohrten sich aus beiden Lungenflügeln hinaus.

„Kontakt mit Blut führt dazu, dass das Messer sich in seine Einzelteile aufspaltet“, erklärte Bates mit emotionsloser Stimme, ohne gefragt worden zu sein und ohne seinen starr gewordenen Blick von Fagin zu nehmen. „Wenn man an keiner lebenswichtigen Stelle zusticht, dann verteilen sich die kleinen Klingen im Körper und töten einen langsam und qualvoll. Er hat mich für diese Erfindung sehr gelobt. Dabei ist sie, wenn man darüber nachdenkt, sehr grausam, nicht wahr?“

Akutagawa antwortete nicht und löste seinen Blick von dem sichtlich verstörten jungen Mann. So seltsam diese präparierte Waffe auch war, im Moment interessierte er sich mehr für das Ergebnis seines Versuchs. Er wandte sich wieder Dickens und dem Menschentiger zu.

Mit einem lauten 'Klirr!' zerbrach das Schwert, mit dem der Engländer auf den Tiger eingedroschen hatte. Ein paar Treffer hatte er tatsächlich landen können, wodurch die Klinge sich rasch abgenutzt hatte. Die Wunden der Raubkatze begannen schon wieder, sich zu schließen und mit einem beängstigenden Gebrüll setzte sie endlich zum Gegenangriff an.

„Der Versuch ist wohl fehlgeschlagen“, murrte Akutagawa und blitzschnell flogen Bänder auf das Ungetüm los und zurrten sich um die Beine des Tigers fest.

Burnett hatte in der Zwischenzeit Eleanor weggetragen und presste ihre Hände auf ihre Wunden. Das Blut sickerte in einem unaufhörlichen Strom hindurch. Auf wackligen, schmerzenden Beinen hatte sich auch Kunikida vom Kampfschauplatz entfernt und blickte abwechselnd zwischen der Granate in seiner Hand und dem weißen Tiger hin und her. Er hatte mitbekommen, dass Akutagawa und der jüngere Engländer Fagin getötet hatten – und dass das an ihrer Situation nichts geändert hatte.

Mit einem Ruck riss der Tiger sich von Rashomon los und stieß mit der Wucht seines Befreiungsschlags Akutagawa gleich mit um. Nur einen Wimpernschlag später warf die Bestie den vom Kampf erschöpften Dickens zu Boden. Der Junge schlug hart mit dem Kopf auf dem Asphalt auf und blieb regungslos liegen.

Atsushi würde ihn töten. Er würde ihn töten, genau wie er auch Eleanor lebensgefährlich verletzt hatte. Der entfesselte weiße Tiger würde durch Fagins Befehl jeden vernichten, der seinen Weg kreuzte. Das alles war ein Albtraum, der nicht enden wollte.

Kunikida erschrak, als eine weiße Gestalt plötzlich an ihm vorbei durch die Luft sauste und mit ihrem Schwert den Tiger davon abhielt, seine Krallen in den Jungen unter sich zu schlagen.

„Weißer Dämonenschnee …? Aber … wie ist das möglich?“ Die ungläubige Frage des blonden Detektivs wurde durch eine ihm mehr als vertraute Stimme beantwortet.

„Hör auf! Bitte hör auf!“

Kyoka lief an ihm vorbei auf das Raubtier zu und blieb vor diesem stehen. Mit bangem Blick sah sie zu dem Tiger, der sie bemerkte und mit einem Mal von Weißer Dämonenschnee zurückwich.

„Geh weg von ihm!“, schrie Kunikida voller Verzweiflung. Vor seinem inneren Auge sah er auch Kyoka bereits blutend auf der Erde liegen.

„Nein! Das geht nicht! Er leidet! Wir müssen ihm helfen!“, gab sie entschlossen zur Antwort und ließ den Idealisten stutzen. Erinnerte sie sich etwa an Atsu-

„Ich bin diesem Jungen nur einmal begegnet“, fuhr Kyoka fort und beantwortete so unbewusst seine Frage, „aber aus irgendeinem Grund will ich nicht, dass er leidet!“

Der Tiger knurrte und schüttelte sein mächtiges Haupt, als würde dort etwas sitzen, das er abzuschütteln versuchte. Plötzlich traute Kunikida seinen Augen nicht mehr.

Atsushi stand vor ihnen.

Wie er es schon so oft gesehen hatte, sahen seine Gliedmaße und sein Gesicht noch animalisch aus, doch das Untier von eben hatte sich zurückgezogen.

„Atsushi“, hauchte Kunikida fassungslos.

Der Blick des Silberhaarigen war nach wie vor leer, als könnte er nicht sehen, was direkt vor ihm war. „Kyoka?“, fragte Atsushi und es klang tatsächlich so, als würde ihn etwas quälen, als hätte er geweint. „Kyoka? Bist du hier irgendwo? Kyoka??“

„Sie ist hier, Atsushi“, antwortete Kunikida an ihrer Stelle. „Sie ist hier und wartet auf dich!“ Es dämmerte ihm, was hier geschah. So wie die eigentlich erinnerungslose Kyoka in dem Tiger Atsushi hatte erkennen können, so hatte Atsushi, wo auch immer sein Bewusstsein gerade eingesperrt war, Kyokas Stimme hören können.

„Kunikida?! Wo bist du?? Ich ... das Wasser! Es ist überall! Ich kann nicht atmen!“

„Ganz ruhig. Alles wird gut, Atsushi“, sagte der Blondschopf in dem ruhigsten Tonfall, der ihm in dieser Krise möglich war. Auch wenn er selbst noch nicht wusste, wie; wichtig war nur, dem Bengel jetzt irgendwie beizustehen.

Atsushi krallte seine prankenartigen Hände in seine silbernen Haare. „Nein!“, schrie er panisch und ließ damit Kunikida das Blut in den Adern gefrieren. „Lasst mich nicht alleine! Geht nicht weg!! Ich kann nicht atmen! Ich ertrinke!!“ In sein Schreien mischte sich das Brüllen des Tigers.

So schnell wie Atsushi eben aufgetaucht war, war auch der Tiger wieder erschienen. Seine gigantische Pranke schlitzte Weißer Dämonenschnee auf und ließ die Fähigkeit verschwinden. Kyoka erstarrte vor Schreck, als das riesige Raubtier auf sie zusprang.

Schwärze Bänder rissen sie nach hinten und bewahrten sie davor, zerfleischt zu werden.

„Es hilft nichts“, schnaubte Akutagawa, „wir müssen ihn töten.“ Im Nu prasselte ein schwarzes Trommelfeuer von Angriffen Rashomons auf den weißen Tiger ein.

„Kyo … ko“, richtete Kunikida mit einem Tonfall, der bar jeglicher Emotionen war, an das Mädchen. „Benutze bitte Weißer Dämonenschnee, um diese beiden in Sicherheit zu bringen.“ Burnett blickte entgeistert auf, als der Detektiv zu ihr sah. „Und du da“, sprach er weiter, dieses Mal an Bates gerichtet, „kann ich davon ausgehen, dass du die Seiten gewechselt hast?“

Bates, der an die Seite des ohnmächtigen Dickens geeilt war, nickte bedächtig. So erschüttert wie der Engländer nun dreinblickte, fiel die Vorstellung schwer, dass jemals ein vergnügtes Grinsen sein Gesicht geziert hatte.

„Dann bring du den Jungen hier weg.“

Unsicher sah Kyoka zwischen Kunikida und dem Tiger hin und her. „Ihm darf nichts passieren.“

„Geh jetzt. Beeil dich. Sonst stirbt Eleanor.“

Weißer Dämonenschnee erschien von neuem, schnappte sich die verletzte junge Frau und deren große Schwester und flog mit ihnen davon. Kyoka hastete ihnen hinterher. Bates lud sich Dickens über eine Schulter und folgte ihnen. Er kannte sich in dieser Stadt kaum aus; um Hilfe für den Verwundeten zu erhalten, musste er sich auf Kyokas Führung verlassen.

„Willst du nur zusehen, Detektiv?!“, kritisierte der bereits ausgelaugte Akutagawa ihn. Sein Gegner zerriss die Bänder Rashomons, als wären sie nur Papiergirlanden. „Oder willst du das Spielzeug in deiner Hand auch einsetzen?“

Dem Mafioso gelang es, die Raubkatze für einen Moment mit seiner Fähigkeit bewegungsunfähig zu machen.

Ein verzweifelter Schrei schallte durch die fast menschenleere Umgebung, bevor die von Kunikida geworfene Granate direkt neben dem Kopf des Tigers explodierte.

Getroffen taumelte das Ungetüm zurück. Rotes Blut sickerte aus einer Stirnwunde über sein weißes Fell. Doch tot war es nicht.

„Wir brauchen mehr davon!“, bellte Akutagawa und wusste, dass seine Order auf taube Ohren stieß, als er sich den Idealisten besah. Am ganzen Körper zitternd, war er nach dem Wurf der Granate auf die Knie gefallen.

„Ich kann nicht! Ich kann ihn nicht töten! Ich kann Atsushi nicht töten!!“

Der Tiger schüttelte seinen Kopf und stand wieder auf festeren Beinen. Seine Wunde begann bereits zu heilen und er begab sich abermals in Angriffsstellung. Wohl verstehend, wie sein Gegner angriff, schnappte er sich das auf die Erde gefallene Notizbuch und zerfetzte es mit einem einzigen Hieb seiner Krallen.

Akutagawa knarzte mit den Zähnen. Sollte es das etwa gewesen sein? Konnte er den ungezügelten Kraft des Menschentigers wirklich nichts entgegensetzen? Sollte er sich lieber zurückziehen und Mori warnen? Diese Bestie würde ein Massaker in Yokohama anrichten, so viel war sicher.

In den ohne Erbarmen auf sie niedergehenden Regen mengte sich mit einem Mal das immer näher kommende Geräusch eines Kampfschreis. Akutagawa riss die Augen auf, als er dieses cholerische Dröhnen erkannte. Ein lautes Knallen, als wäre ein tonnenschwerer Fels auf das Dach des Gebäudes vor ihnen gedonnert, ließ ihn und Kunikida nach oben blicken. Die Gestalt eines Hut tragenden Mannes näherte sich nun mit rasanter Geschwindigkeit von dort oben – und er trug einen anderen Mann auf den Armen.

Chuuya landete genau vor dem weißen Tiger, der den Neuankömmling sofort aus dem Weg räumen wollte, doch ein ausgestreckter, blasser Finger des Mannes, den er bei sich hatte, berührte das Tier beinahe sanft an der Stirn.

Der Regen stoppte. Als hätte jemand die dunkle Wolkendecke aufgerissen, um auf einen Schlag das trübe Wetter der vergangenen Tage vergessen zu machen, bahnte sich die untergehende Sonne strahlend ihren Weg durch den grauen Himmel und tauchte umgehend alles und jeden in ein leuchtendes Rot.

Mit nicht begreifenden, weit aufgerissenen Augen starrte Atsushi auf seinen blutüberströmten Mentor, der in den Armen Chuuyas lag.

„Was … machst du denn … für ein Gesicht … Atsushi?“ Dazai lächelte schwach, während Kunikida und Akutagawa nicht minder entsetzt auf die Szene vor ihnen starrten.

Unvermittelt sank die ausgestreckte Hand leblos hinab.

„Dazai?!“, fragte Atsushi zu Tode verängstigt und Chuuya rüttelte augenblicklich an dem Brünetten, der plötzlich seine Augen geschlossen hatte.

Dazai reagierte nicht.


Nachwort zu diesem Kapitel:
„Errol“ ist der Nachname des kleines Lords aus Burnetts Roman.
Ich habe ewig über diese Teppichmesserwaffe nachgedacht und als ich endlich eine zufriedenstellende Lösung hatte … kam das so ähnlich im Manga. Ich muss wohl einfach akzeptieren, dass das manchmal passiert. Komplett anzeigen

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