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Battle for the Sun

von

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I will battle for the sun

I will battle for the sun“

 

Placebo, „Battle for the sun“

 

„Hey! HEY!“

Chuuya schlug mit zunehmender Intensität gegen Dazais Wange. Er hatte den bewusstlosen Spinner bereits erfolglos an der Schulter gerüttelt und dann seinen Puls gefühlt. Der Mistkerl verfügte noch über einen, wenn auch über keinen sonderlich starken, aber sein Gesicht war so weiß, dass es fast durchsichtig wirkte. Seine Atmung war flach. Chuuya hob Dazai ein wenig an und musterte ihn kritisch. Zwei offensichtliche Wunden sprangen ihm ins Auge: eine an seinem Bauch und eine an seinem Oberschenkel. Beide bluteten nur moderat, jedoch …. Der Blick des Mafioso wanderte weiter in die dunkle Gasse hinein. Dem schlechten Licht zum Trotz war dort, wo der Regen nicht hinkam, klar und deutlich eine Blutspur zu erkennen. Hatte Dazai sich von da hinten bis hierher geschleppt? Was war passiert? Es war bei ihm nie auszuschließen, dass er sich diese Wunden selber zugefügt hatte, aber eigentlich war er doch immer sehr darauf bedacht, keine Schmerzen zu erleiden. Vielleicht hatte er aber auch schlicht und ergreifend endgültig den Verstand verloren. Auch das war bei ihm niemals auszuschließen.

Chuuya erstarrte, als eine Hand seine Wange berührte. Seine Augen schnellten zurück zu dem am Boden liegenden Mann, der ihn mit erschöpften Blick auf seine typische Art anlächelte. Der Rothaarige schluckte. Die Hand war eiskalt – und tätschelte ihn plötzlich.

„Guter Junge … du hast … Herrchen gefunden.“

Dazais Stimme war mehr ein furchtbares Krächzen und elendes Röcheln, aber trotzdem in der Lage, Chuuya unverzüglich auf 180 zu bringen.

„Red nur weiter!! Dann hast du es schneller hinter dir als dir lieb ist!!“

„Eigentlich … kann es mir … nicht schnell genug gehen ...“ Dazai versuchte zu lachen, doch aus heiterem Himmel krampfte er und Blut spie aus seinem Mund. Geistesgegenwärtig drehte Chuuya Dazai auf die Seite, damit er nicht an seinem eigenen Blut erstickte. Er erbrach Unmengen der roten Flüssigkeit auf den kalten, dreckigen Boden.

Hier stimmte etwas nicht.

Chuuyas Augen suchten erneut den Körper des würgenden und hustenden Brünetten ab. Diese zwei Verletzungen, die er gesehen hatte, konnten allein nicht der Grund für seinen miserablen Zustand sein. Übersah er etwas?

„Du musst in ein Krankenhaus. Und das schnell.“

Der verrückte Bastard hatte die Nerven, ein Kopfschütteln anzudeuten.

„Dass … du dich … hier herumtreibst …. Will Mori … diesen Jungen … haben?“

„Woher zur Hölle weißt du davon?!“

Dazais blutüberströmte Mundwinkel formten sich zu so etwas wie einem schwachen Lächeln.

„Schon klar, soll heißen, der gnädige Herr weiß immer alles.“ Chuuya knirschte mit den Zähnen. Selbst in so einer Situation konnte Dazai nichts anderes als ein besserwisserischer Arsch sein. Das Handy des Mafioso klingelte und Chuuya fummelte es mit der Hand, die nicht Dazai festhielt, aus seiner Tasche.

„Was?“ Als er das Gespräch annahm, fühlte er Dazais durchdringenden Blick auf sich, obwohl der Andere seine Augen nur mit Mühe offenhalten konnte. „Woher weißt du, wo der Junge auftauchen … du hast den Menschentiger belauscht? Ja, ich habe auch schon gemerkt, dass die Detektive hier herumschnüffeln. Ja, geh.“ Mit einem lauten Knurren steckte er das Handy wieder weg. Dazais erbrochenes Blut mischte sich mit dem Regen und saute seine teuren Lederschuhe ein.

„Chuuya ...“ Die eiskalte Hand fand wieder ihren Weg zu seiner Wange. „Du hast … Akutagawa gerade … in sein … Verderben geschickt.“

„HÄH? Was redest du für einen Mist?“

Dazai wirkte, als würde er jeden Augenblick das Bewusstsein verlieren und doch sah er den Rothaarigen intensiv an. „Ich kann ... meine Beine ... nicht ... bewegen. Sei noch einmal … ein guter Junge … und … hilf Herrchen.“

Chuuya fragte sich, ob da ein akuter Sauerstoffmangel im Gehirn zu ihm sprach. „Du bittest mich um Hilfe? Hah! Wieso glaubst du, dass ich dich nicht einfach hier verrecken lasse?“

Der Detektiv setzte zu einer Antwort an, doch stattdessen spuckte er von neuem anfallsartig Blut. Das qualvolle Röcheln übertönte sogar noch das nicht nachlassen wollende Peitschen des Regens. Mit tiefen Furchen auf seiner Stirn sah Chuuya auf das erbärmliche Bild, das sein ehemaliger Partner nun abgab.

Nicht mehr lange … und es ist aus mit ihm.

 

Atsushi hatte mit wenigen Worten das Mädchen bei ihren Klienten aus Suribachi abgeliefert und war, mit dem Versprechen, sie möglichst schnell wieder abzuholen, aus dem Slum herausgeeilt. Kunikida hatte ihm, während er mit Burnett und Eleanor zu seinem Wagen gerannt war, die Adresse der Firma und eine Kurzfassung der Ereignisse mitgeteilt.

Dem jungen Detektiv schwirrte der Kopf.

Experimente an Waisenkindern, Gedankenmanipulation, fehlgeleitete Nächstenliebe.

Wut und Verzweiflung türmten sich in seinem Innern auf. Warum taten Menschen solche schrecklichen Dinge? Spyri und ihren Leuten machte er dabei den geringeren Vorwurf. Sie hatten in der Überzeugung gehandelt, das Richtige zu tun und dabei den Blick dafür verloren, was richtig und was falsch war. Ihr Wunsch, Kyoka und Lucy zu helfen, hatte dazu geführt, dass die beiden ihm entrissen worden waren. Und Ranpo vergessen hatte, zu wem er gehörte. Das größere Verbrechen war zweifellos das von Fagin und seinen Leuten, die über Leichen gingen und keine Achtung vor dem Leben zu haben schienen.

Der Junge, den er nun aufhalten sollte, war ein Opfer, kein Täter. Und Atsushi konnte, während er wie der Wind rannte, nur hoffen, dass Tanizaki es rechtzeitig zum Hafen schaffen würde.

Wo steckte Dazai nur?

Wieso war er in einer solchen Krise nicht da?

Atsushis Magen verknotete sich mehr und mehr, je öfter er an seinen wie vom Erdboden verschluckten Mentor dachte.

Dazai war der einzige, der Dickens, Kyoka, Lucy und Ranpo helfen konnte.

Bitte, bitte, bitte, Dazai! Wo auch immer du bist, komm so schnell wie du kannst her. Wir brauchen dich!

Der silberhaarige Detektiv stoppte nach Luft schnappend vor dem schmucklosen, zweckdienlichen Bürogebäude der Immobilienfirma. Der Regen hatte sich ein wenig abgeschwächt, aber noch fielen weiter ununterbrochen Tropfen vom Himmel. Vor dem Firmensitz sammelte sich das Wasser in tiefen Pfützen. Schlagloch reihte sich an Schlagloch und in der weiteren Umgebung war nichts außer ein paar alten Fabriken. So nah an Suribachi war wohl keine der besten Adressen in Yokohama. Noch schien hier alles ruhig zu sein, beinahe schon zu ruhig - wenn man von einer Sache absah:

„Warum bist du mir gefolgt?“ Er drehte sich um und blickte auf Akutagawa, der ihn mithilfe von Rashomon im Nu eingeholt hatte.

Der schwarzgekleidete Mafioso zuckte betont indifferent mit den Achseln. „Ich verstehe absolut nicht, wie Dazai es mit einem dermaßen begriffsstutzigen Individuum wie dir aushält. Ist es nicht offensichtlich?“

Atsushi ballte seine Hände zu Fäusten. „Was will die Hafen-Mafia von dem Jungen?“

Akutagawa lachte kurz und überheblich. „Du bist ja doch nicht auf den Kopf gefallen, Menschentiger. Mori hat es 'Kompensation' genannt, stell dir darunter vor, was auch immer du willst.“

„Kompensation?“ Atsushi war verwirrt. „Wofür?“

„Geschäftliche Verluste.“

Man konnte mit ansehen, wie der junge Detektiv langsam zu begreifen begann. Die Menschen, die Dickens ermordet hatte, hatten zur Hafen-Mafia gehört? Das hieß …. Er zog scharf die Luft ein.

„Du bist hier, um ihn zu töten?!“

Der Ältere schnaufte. „Denken ist in der Tat nicht dein Fachgebiet, oder, Menschentiger?“

Stimmt ja, das Versprechen, das ich ihm abgerungen habe! Aber was macht er dann hier?

Atsushis angestrengtes Nachdenken wurde von Schritten unterbrochen. Die beiden jungen Männer wandten sich den näher kommenden Geräuschen zu. Ein Junge, vielleicht im gleichen Alter wie Atsushi, aber definitiv jünger aussehend, stand vor ihnen. Seine dunkle Kleidung war von oben bis unten mit altem Blut befleckt und sein unfokussierter Blick verriet, dass er sich nicht für die zwei, die vor dem Eingang des Bürogebäudes standen, interessierte.

Das muss er sein!

„Du bist Charlie, nicht wahr?“, sprach Atsushi ihn an. „Ich bin Atsushi Nakajima vom Büro der bewaffneten Detektive. Ich bin hier, um dich nach Hause zu bringen.“

Dickens registrierte, dass er angesprochen worden war und neigte den Kopf leicht in die Richtung des Silberhaarigen. Seine Augen sahen durch Atsushi hindurch.

„Kürzen wir das ab“, warf Akutagawa genervt ein und ging mit Rashomon auf den Engländer los, um ihn damit zu fangen.

Als er die Bänder auf sich zurasen sah, regte sich mit einem Mal etwas in dem leeren Blick des Jungen und wie aus dem Nichts … war er verschwunden.

„Was??“, stutzte der Mafioso erzürnt. „Wo ist er hin??“

Atsushi blickte ebenso nervös umher. Was war denn das gewesen? War der Junge etwa so schnell?

„AHHH!“

Ungläubig beobachtete Atsushi, wie Akutagawa durch einen Tritt in den Rücken in die Fassade des Gebäudes geschmettert wurde.

Der Junge war so schnell.

Der junge Detektiv fuhr erschrocken zusammen, als Dickens nun vor ihm stand.

„Ich verstehe“, sagte er mit leiser, kalter Stimme, „ihr gehört zu ihnen. Ihr gehört zum Feind.“

„Huh?“ Atsushi wedelte panisch mit den Händen. „W-was? N-nein! Wie ich schon sagte, ich bin hier, um dich nach Hause zu bringen! Deine Tante schickt mich!“

„Tante?“ Atsushi konnte sehen, wie die Pupillen des Anderen sich weiteten und wieder kleiner wurden. „Tante ...“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht fasste Dickens sich mit einer Hand an den Kopf. „Ich muss … die Kinder beschützen und alle Feinde-“

„Nein, das ist nicht nötig! Du musst nicht mehr kämpfen!“ Der Detektiv machte einen behutsamen Schritt auf ihn zu. „Deine Geschwister warten zu Hause auf dich. Sie wollen, dass du nach Hause kommst.“

Wenn er ehrlich war, dann hatte Atsushi keine Ahnung, was er da tat. Er erinnerte sich alles andere als gern an das Mal, als er unter der Kontrolle einer Fähigkeit gestanden hatte. Hätte Dazais Stimme ihn damals nicht erreicht, er hätte Naomi und Haruno an diesem beschaulichen Bahnhof wahrscheinlich getötet. Nur – er hatte Dazai schon lange gekannt, damals, als er unter Qs Einfluss geraten war. Für Dickens war er selbst ein vollkommener Fremder; wie sollte er da einen Zugang zu ihm finden?

„Meine Geschw- … argh!“ Der junge Engländer griff sich nun mit beiden Händen an den Kopf, es sah gar so aus, als würde er sich gleich seine braunen Locken herausreißen.

Wie soll ich weitermachen? Was soll ich ihm sagen? Denk nach, Atsushi, denk nach! Du schaffst das! Du musst dir etwas einfallen lassen!

„Wir können dir helfen, alles wird gut werden! Ich habe einen Freund, der andere Fähigkeiten neutralisieren kann, er kann dich von dieser Fähigkeit befreien.“ Wir müssen ihn nur wiederfinden. Dazai, verdammt, wo steckst du bloß?!

„Nichts kann gut werden … wie sollte es …?“, murmelte Dickens und atmete immer schwerer. „Ich weiß nicht mehr, was real ist und was nicht … das Wasser! Es zieht mich immer wieder hinunter! Ich ertrinke! Wenn ich unter Wasser gezogen werde, werde ich bestimmt wieder töten!“ Den letzten Teil schrie er voller Verzweiflung hinaus.

Atsushi schluckte angespannt. Das Wasser? Was soll das heißen?

„Du hast Angst, habe ich Recht?“

Dickens wirrer Blick sah genau zu ihm und er nickte.

„Das verstehe ich gut. Ich habe auch oft Angst. Früher war es sogar noch schlimmer, aber seit es Leute gibt, die an mich glauben und die ich beschützen will, kann ich diese Angst viel leichter beiseite drängen. Gibt es solche Leute nicht auch in deinem Leben?“

Der Junge kauerte sich zusammen und wirkte, als würde er gleich weinen. Dann nickte er von neuem.

„Gut.“ Atusushi lächelte und hielt ihm eine Hand hin. „Dann lass uns zu ihnen gehen.“

Zögerlich streckte Dickens eine zitternde Hand nach der ihm Hingehaltenen aus – als plötzlich ein schwarzes Band zwischen sie rauschte und sie gewaltsam auseinander riss.

Ein Husten ertönte.

„Leider muss ich das tragische Gejammer zweier so unglückseliger Gestalten unterbrechen. Er kommt mit mir.“

Mist! Akutagawa! Ihn hatte ich total vergessen!

„Musste das sein??“, knurrte Atsushi erbost dem Mafioso entgegen. „Ich hatte es fast geschafft!!“

„Es fast geschafft zu haben, sind die Worte eines Verlierers, denn nur dem, der es schafft, wird Anerkennung zuteil.“ Akutagawa trat von der hinter ihm auseinander bröckelnden Wand weg und gab Rashomon den Befehl, den am Boden liegenden Dickens einzuwickeln.

Kräftige Tigerarme und -beine ersetzten die schmalen Gliedmaße an Atsushis Körper. „Du kannst ihn NICHT MITNEHMEN!!“

Der Detektiv stürmte nach vorne und zerriss mit seinen Krallen das Band, das den Jungen einwickelte. Unzählige Bänder schossen daraufhin auf ihn los und rammten sich mit ihren spitz zulaufenden Enden in seinen Körper. Atsushi schrie vor Schmerzen auf und machte einen Hechtsprung rückwärts, um Rashomons Speerspitzen wieder loszuwerden. Pechschwarze Lanzen sprossen aus dem Boden und Atsushi drehte seinen Körper in der Luft so, dass bei seiner Landung seine mächtigen Tigerbeine an den glatten Seiten der Lanzen aufkamen und er diese mit purer Kraft zerbersten lassen konnte. Aus dem Augenwinkel bekam er mit, wie Dickens aufstand und sich wieder zum Firmeneingang aufmachte.

War alles umsonst?? Hat die Fähigkeit wieder Kontrolle über ihn??

„Akutagawa! Stopp! Wir müssen erst den Jungen aufhalten!“

„Hm?“, brummte der Mafioso und beendete seine Attacken abrupt, als er das sah, was sein Gegner bemerkt hatte. „Wir?“ Er schnaubte erneut verächtlich, ehe ein Überraschungsangriff von Rashomon Atsushi auf die Erde knallen ließ. Akutagawa wollte gerade auf Dickens losgehen, als ein weiterer junger Mann auf Dickens zulief. Seine blonden Haare flogen beim Rennen wild auf und ab und die ganze Zeit grinste er dabei albern.

„Ich habe ein Geschenk für dich!“, flötete der Neuankömmling, blieb vor dem Jungen stehen, zog ein Schwert aus einer hinter seinem Cape verdeckten Scheide und überreichte es ihm. Dickens nahm es ohne zu zögern, was den blonden jungen Mann ekstatisch verzückte. „Ah! Wer einmal ein Kunsthandwerk des großartigen Meisters Bates genossen hat, will nie wieder mit etwas anderem zustechen, wie?“

Wer war das denn nun schon wieder? Dieser Kerl musste zu Fagins Leuten gehören. Atsushi richtete sich nach dem letzten harten Schlag von Akutagawa ein Stück auf, als er plötzlich eine Präsenz hinter sich wahrnahm.

„Großartig! Großartig!“ Ein älterer Herr in einem geflickten Mantel tauchte breit und unheimlich grinsend neben ihm auf. „Was für unfassbar schöne Fähigkeiten!“

Atsushi hatte nicht lange Gelegenheit sich über diesen Satz zu wundern, denn mit quietschenden Reifen und einer Vollbremsung erschienen just in diesem Moment Kunikida, Burnett und Eleanor auf der Bildfläche. Sie stürmten aus dem Wagen und Burnett erstarrte vor Schreck.

„Junger Detektiv! Vorsicht!!“

Verdattert hörte Atsushi ihre Warnung, bevor er fühlte, wie der ältere Mann neben ihm dreimal über das Fell seines linken Arms strich.

„Töte diese drei da.“

 

Mit nicht gerade mildem Staunen beobachtete Fukuzawa, wie Spyri und Salten diszipliniert alle Kinder in dem an das Foyer angrenzenden Salon versammelten. Sie zählten die Kinder durch (Fukuzawas Schätzung nach mussten es etwa 35 sein), während Kenji und Lucy das Haus durchsuchten, um keines der Kinder zu übersehen. Die tropfnasse Nancy stand, in eine Decke gewickelt, an einer Wand und konnte das Schauspiel vor ihren Augen ebenso kaum glauben. Taro lümmelte mit langem Gesicht auf einem Stuhl herum und beschwerte sich weiter über seine Kopfschmerzen.

„Herr Fukuzawa“, wandte sich Spyri besorgt an ihn, „was ist mit Polly?“

„Ich werde meine Sekretärin später damit beauftragen, sie abzuholen und zu Ihnen zu bringen.“

„Und … das ist wirklich in Ordnung?“ Die Dame strich nervös über ihre Kreuzkette.

Der Chef nickte. „Ein Bekannter von mir betreibt eine Pension in Yamanashi. Dort werden Sie vorerst bleiben, bis wir Ihre Verfolger dingfest gemacht haben.“

Der Plan war einfach. Die Kinder, ihre Aufpasser und die Verräterin Nancy sollten in Lucys künstlichen Raum gebracht werden. Fukuzawa und Kenji mussten dann lediglich Lucy (die nur auf den Namen „Maud“ hörte und sich wunderte, woher die Fremden denn bitte ihre Fähigkeit kannten) nach Yamanashi begleiten.

„Tante!“ Lucy blieb mit Kenji zusammen aufgeregt im Türrahmen stehen. „Wir können Kyoko nirgends finden!“

Spyri und Fukuzawa stutzten gleichermaßen.

„Wir haben das ganze Haus abgesucht und wirklich überall nachgesehen“, erklärte Kenji ratlos, „aber wir haben sie nicht gefunden.“

„Das verstehe ich nicht.“ Der Griff um ihr Kreuz wurde wieder fester. „Wo kann sie denn nur sein?“ Sichtlich beunruhigt wandte sie sich den anderen Kindern zu. „Hat jemand Kyoko gesehen?“

„Sie sagte, sie wollte kurz raus“, antwortete ein kleiner Junge.

„Raus?“, hakte Spyri nach.

„Wir haben auch draußen nachgesehen“, entgegnete Kenji sogleich, „da war niemand.“

„Wann war das?“, fragte nun Fukuzawa nach und versuchte, seine Stimme etwas zu mäßigen, da die Kinder bei ihm umgehend zurückschreckten. „Wann wollte sie kurz nach draußen?“

Der Junge legte beim Überlegen den Kopf schief. „Bevor Frances und Eleanor mit dem ernsten Mann rausgegangen sind.“

„Sie ist ihnen gefolgt.“ Taro richtete sich ein wenig auf. „Das ist interessant. Warum macht sie so etwas?“

Fukuzawa schaute zu Spyri. „Kann sie unser Gespräch belauscht haben?“

Die Dame nickte verdutzt. „Das alte Haus ist sehr hellhörig. Aber warum sollte sie-?“

Die Augen des Chefs wanderten zu Taro, der ihn interessiert anblinzelte. „Vielleicht hat es etwas in ihr ausgelöst, Atsushis Namen zu hören.“

Sichtlich geknickt richtete Spyri ihren Blick nun zu Boden. „Was haben wir nur getan …?“

„Und Sie wollen mich wirklich mitnehmen?“, warf Nancy schwermütig ein. „Obwohl ich doch-“

Die Frau sah wieder auf und schüttelte schwach ihren Kopf. „Du bist in Not. Und wir lassen niemandem im Stich, der in Not ist.“

Wortlos umklammerte die Engländerin die Decke, die sie wärmen sollte. Endlich fielen die Tränen aus ihren Augen und rannten in Strömen über ihre Wangen. „Dass es solche Menschen gibt ….“ Sie schluchzte. „Danke. Ich danke Ihnen so sehr.“

Mit einem Mal fuhr Fukuzawa zusammen, so deutlich, dass die anderen Anwesenden es bemerkten. Sein Blick schnellte in das Foyer zurück. Das war keine Einbildung. Aus dem Nichts spürte er eine unbändige, düstere Aura voller Mordlust. Und sie näherte sich ihnen rasant.

„Schnell! Sie müssen gehen!“, brüllte er Spyri zu, die unverzüglich alle Kinder zusammenwinkte und Lucy herbeirief.

Doch bevor Lucy zu ihnen kommen und ihre Fähigkeit aktivieren konnte, ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen und die Haustür flog mitsamt Teilen der Wand ins Innere der Villa und zerschmetterte die Treppe. Blitzschnell hatte Kenji Lucy zu Boden gerissen und sich schützend über sie geworfen, damit sie vor den herumfliegenden Trümmerteilen geschützt war. Eine durch die Wucht der Zerstörung entstandene Staubwolke breitete sich aus. Verängstigt schrien die Kinder durcheinander und husteten elend.

Plötzlich wie Espenlaub zitternd, ließ Nancy die Decke fallen. „Oh nein, nein! Er! Das ist ER! Wieso ist ER hier?!“

Schnellen Schrittes kehrte Fukuzawa aus dem Salon hinaus zurück in das nun zerstörte Foyer. Er stoppte in wenigen Metern Entfernung zu einem großgewachsenen Mann, der jetzt dort stand. Der Mann war sogar noch einmal einen Kopf größer als er selbst. Und er hatte einen trainierten Körper. Schiere Masse bedeutete zwar nicht unbedingt einen Vorteil in einem Kampf, aber Fukuzawa fragte sich schon, ob der Kräfteunterschied zu einem Problem werden könnte.

Der Riese strich sich seine längeren, hellbraunen Haare aus dem Gesicht und lächelte dünkelhaft.

„Hab wohl zu feste geklopft.“

Der Chef sah kurz hinter sich auf die eingefallene Treppe. Das war nicht das Werk reiner Muskelkraft. Er seufzte innerlich. Ein Befähigter also.

„Sikes.“ Salten war hinzugekommen, um Lucy vom Boden aufzuhelfen, nachdem Kenji sich im Hintergrund aus den Trümmern geschält hatte. „Das ist William Sikes. Er gehört zu Fagin.“

„Bill!“ Nancy eilte aus dem angrenzenden Raum herbei und lief zu Sikes. „Bill!“, rief sie atemlos. „Bitte! Lass die Kinder in Ruhe!“

Sikes wirkte schlagartig verletzt und bitter, als sie vor ihm erschien. „Nance, warum? Warum verrätst du uns? Warum verrätst du mich?“

„Ich verrate dich nicht, Bill“, entgegnete sie mit Tränen erstickter Stimme, „ich wollte nur-“

„SEI STILL! Ich will keine Lügen mehr aus deinem Mund hören!“, fuhr er sie an. „Der Alte hatte damals schon gemeint, du hättest die Schweizerin auf den Plan gerufen, aber ich Idiot habe dich verteidigt. Nicht meine Nance, hab ich dem Alten gesagt, nein, meine Nance würde uns nicht verraten! Und dann kam der Anruf von Noah, dass du hier bist! Hier! Und mir in den Rücken fällst!!“

„Noah?“ Salten japste. „Noah ist hier?“

Sikes Verbitterung wich einem verzweifelten Grinsen. „Dieser Taugenichts von einem Normalo ist für sonst nichts zu gebrauchen, aber im Beschatten macht ihm niemand etwas vor. Er ist den Detektiven bis hierhin gefolgt und hat alles, was er gehört und beobachtet hat, schön brav weitergegeben.“

Fukuzawa konnte nicht glauben, was er da hörte. Er hatte niemanden bemerkt, wie hatte ihm so ein Fehler passieren können?

„Machen Sie sich keinen Vorwurf“, erklärte Salten grimmig. „Noah ist ein unscheinbarer Feigling, der aus seiner Schande eine Tugend macht. Niemand versteckt sich besser als er.“

Wenn dieser Junge über keinerlei Tötungsabsicht verfügte, war es in der Tat schwerer ihn zu bemerken. Trotzdem, hielt Fukuzawa sich selbst vor, trotzdem entschuldigte dies nicht, dass durch das Übersehen dieses Spions jetzt alle in Gefahr waren. Fagin wusste somit, wo er Dickens finden würde und so erklärte es sich auch, wie sie Yosano hatten angreifen können.

„Nance“, sprach Sikes geradezu flehentlich zu seiner eigentlichen Kameradin, seine tiefe Stimme beinahe brechend, „wieso tust du mir so etwas an?“

Die junge Frau wischte sich ihre Tränen aus dem Gesicht. „Kannst du es denn wirklich verantworten, weiter Charles und vielleicht auch andere Kinder zu quälen? Ich weiß, dein Stolz ist verletzt und Fagin hat dir versprochen, er würde dir zu Ruhm und Ehre verhelfen, doch ist es das wert? Ist es das wert, andere dafür leiden zu lassen?“

Plötzlich wurde Sikes Gesichtsausdruck ganz leer, als hätte er aufgegeben. „Nance … aber natürlich ist es das. Und ich kann nicht zulassen, dass du oder jemand anderes dem im Weg steht.“

Im gleichen Atemzug, wie er dies sagte, schmetterte Sikes der Frau seine Faust in den Brustkorb. Man hörte ihre Rippen brechen, bevor sie mit nie zuvor gesehener Wucht durch die nächste Wand in den Salon geschleudert wurde. Das Haus wurde erfüllt von panischen, hysterischen Schreien.

„Kenji“, sagte Fukuzawa nach außen hin ruhig erscheinend in dieses Chaos hinein, „du begleitest Lucy. Bring alle in Sicherheit.“

„Kein Problem! Aber was ist mit Ihnen, Chef?“

Selbst der arglose Kenji, die friedfertige Spyri und der Gewalt ablehnende Salten spürten die veränderte Aura, die den silberhaarigen Mann nun umgab. Sikes entwich sogar ein kaltes, dröhnendes Lachen, als er dies bemerkte.

„Oh ha! Was für eine Bestie hab ich denn da geweckt?“

Die Augen des Chefs verengten sich.

„Geht. Ich kümmere mich darum.“

Lucy rannte, gefolgt von Salten und Kenji in den Salon zurück, wo Spyri die schwer verletzte Nancy vorsichtig hochhob. Die anderen Kinder versammelten sich - vor Angst weinend und brüllend – um ihre Tante.

„Okay, also los!“, rief Lucy aus und bevor Sikes wusste, was sie vorhatten, waren alle Geräusche aus dem Salon verstummt.

Verwirrt blickte der Engländer durch das Loch in der Wand und fand den Raum plötzlich leer vor. Nur das rothaarige Mädchen und der blonde Junge waren noch da und kletterten aus dem Fenster nach draußen.

„Was soll die Scheiße?! Bleibt gefälligst hier!“ Sikes stürmte auf das Loch in der Wand zu und wollte mit einem Faustschlag den Rest der Wand weg hauen, als Fukuzawa sein Handgelenk griff und ihn so davon abhielt.

„Nicht schlecht.“ Sikes wandte sein Gesicht dem Anderen zu. „Zupacken können Sie schon mal. Wie sieht es mit Einstecken aus?“ Seine andere Faust raste auf den Chef zu, der während er auswich, seinen Gegner mit dem Griff ums Handgelenk drehte und zu Boden warf. Sikes hatte den Boden noch nicht berührt, da bemerkte Fukuzawa das wahnsinnige Grinsen im Gesicht seines Kontrahenten. Der brünette Mann schaffte es, im Fall zu einem Tritt anzusetzen. Schnell ließ Fukuzawa ihn los und wich zurück, während Sikes auf beiden Beinen landete.

„Uns wurde zugetragen, dass der Chef der Detektei ein unvergleichlicher Kämpfer sein soll, in allen Kampfkünsten perfekt ausgebildet.“ Sikes zog sein Schwert unter seinem Cape hervor. „Ich vermisse bei Ihnen aber irgendwie eine Waffe. Vergessen?“

Fukuzawa antwortete mit einem stoischen Blick. Sein Schwert lag immer noch oben auf dem Schrank. Er musste einen Weg finden, daran zu kommen, während er seinen Gegner in Schach hielt. Das würde keine leichte Aufgabe werden. Sikes Fähigkeit schien seine übermenschliche Stärke zu sein. Zudem war er trotz seiner Masse flink und wendig und an der Art, wie er sein Schwert gezogen hatte und es hielt, konnte man erkennen, dass er ein geübter Schwertkämpfer war. Außerdem sah die Klinge ungewöhnlich aus. Kommissar Minoura hatte ihnen gestern Ranpos Schlussfolgerungen mitgeteilt. Das waren speziell bearbeitete Schwerter, darauf ausgelegt, besonders scharf und geschmeidig zu sein. Nur, wer auch immer sie hergestellt hatte, hatte dabei im Gegensatz zu den meisten japanischen Schwertern nicht Langlebigkeit, sondern Effektivität im Sinn gehabt. Optimal, um mit nur einem schwachen Hieb zu töten.

„Ich habe heute einen geliebten Menschen verloren“, sagte Sikes tatsächlich kummervoll klingend, während er sein Schwert in einer Hand hielt und sein Gegenüber fixierte. „Irgendjemand wird dafür büßen müssen.“

Er preschte nach vorn und holte mit seiner Klinge aus. Fukuzawa duckte sich gerade rechtzeitig zur Seite weg, doch der Engländer setzte im exakt gleichen Moment zu einem Schlag mit seiner freien Hand an, welchem der Chef nicht mehr entkommen konnte. Sikes Faust traf ihn in die Rippen und ließ ihn mit einem lauten Krachen in die Trümmer der eingestürzten Treppe donnern.

Von diesem kräftigen Schlag schwer getroffen (er hatte ihm wohl mindestens eine Rippe gebrochen), setzte sich Fukuzawa dennoch sofort wieder auf. Der Schmerz der gebrochenen Knochen ließ ihn ächzen, doch was ihn noch viel mehr wurmte, war, dass sein Gegner wieder mehr Abstand zwischen ihn und sein Schwert gebracht hatte. Der Kerl war stärker als Kenji und seine Schwertkunst unterschied sich zwar im Stil von seiner eigenen, aber sie war nicht minder beeindruckend. Er konnte nicht zulassen, dass Sikes ihm entkam und auf die restlichen Detektive, Spyris Leute und die Kinder losging. Es lag an ihm, ihn hier und jetzt aufzuhalten.

Scheinbar ungerührt beobachtete Fukuzawa, wie Sikes siegessicher dreinblickend auf ihn zukam.

 

Der geschützte Raum, den Lucy mit ihrer Fähigkeit erschuf, war voll von markerschütterndem Lärm. Die verstörten und verängstigten Kinder schrien und weinten und Salten stand hilflos daneben, während Spyri auf dem Boden hockte; die Blut spuckende Nancy in den Armen.

„Sie braucht einen Arzt. Ist ihre Lunge perforiert?“ Die Frau sah zu Salten auf, der nervös auf seiner Unterlippe kauend, ihr zustimmte und kurz darauf fast einen Herzinfarkt bekam, als Lucy und Kenji unvermittelt neben ihm auftauchten.

„Junge aus der Detektei“, wandte Spyri sich mit bebender Stimme an Kenji, „kannst du uns zum nächsten Krankenhaus bringen?“

„Das kann ich natürlich machen, aber wir müssen mächtig vorsichtig sein.“

Ohne dass Kenji dies ausführen musste, verstanden die beiden Erwachsenen das Problem.

Saltens Schultern sackten noch ein wenig mehr hinunter. „Noah. Noah läuft hier noch rum und wenn er Verstärkung holt, könnten wir angegriffen werden.“

Ein gurgelndes, röchelndes Geräusch zog mit einem Mal all ihre Aufmerksamkeit auf sich. Nancy versuchte, etwas zu sagen.

„Ich … bitte … dorthin ...“

„Was meinst du, mein Kind?“ Spyri beugte sich zu der jungen Frau hinunter.

„Bringt mich … bitte … zur Marina … die Ärztin der ...“

„Zu Yosano?“ Kenji blinzelte sie an, bevor seine Augen aufleuchteten. „Das ist eine gute Idee! Yosano kann mit ihrer Fähigkeit Verletzungen heilen! Ich weiß nur noch nicht, ob Tanizaki sie schon gefunden hat.“

„Wir müssen aber etwas wegen Noah unternehmen“, dämpfte Salten die Hoffnung und dieses Mal stimmte Spyri ihm zu.

„Taro, fällt dir nichts ein?“ Sie sah sich um. „Taro? Taro?! Wo ist er??“

Panisch wirbelte nun auch Lucy um die eigene Achse. „Er muss hier sein. Ich habe ganz sicher alle, die in der Nähe waren, teleportiert!“

 

Sikes blieb in einem knappen Meter Entfernung vor Fukuzawa stehen.

„Das enttäuscht mich jetzt doch ein wenig. Sollte das etwa schon unser ganzer Kampf gewesen sein? Ich hatte mir wirklich mehr davon erhofft. Tja, geben Sie nicht mir die Schuld für Ihr unrühmliches Ende. Sie hätten sich mehr auf Ihre Kampfkraft konzentrieren sollen als auf Ihre süßen kleinen Detektive.“ Der Engländer holte erneut zum Schlag aus.

„LAAAAAANGWEILIG!!“

Sikes hielt verdattert inne, als eine nörgelnde Stimme durch das Foyer krähte. Er drehte seinen Kopf minimal nach hinten, um zu sehen, wer ihn da so rüde unterbrach.

„Kommen Sie sich etwa toll vor, wenn Sie so einen alten Mann erledigen? Buuhuu, Spitzenleistung. Was machen Sie dann? Babys den Schnuller klauen? Mehr haben Sie wohl nicht drauf, was? Das war übrigens eine rhetorische Frage. Nicht dass ich annehmen würde, dass SIE wüssten, was rhetorisch heißt.“

Fukuzawas Augen weiteten sich voller Unglauben, als er zur Quelle dieser Beleidigungstirade blickte.

Mit den Armen vor der Brust gekreuzt stand Taro großspurig grinsend vor dem hohen Schrank.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Den Trick, Lucy mit ihrer Fähigkeit alle in Sicherheit bringen zu lassen, habe ich aus dem Manga übernommen. Das ist ausnahmsweise mal kein kurioser Zufall. Zu dem kommen wir noch. Komplett anzeigen

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