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Die Legende vom Mädchen vom Mond der Illusionen ( LMMI )

von

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An dieser Stelle einemal danke an die, die mir Kommentare schreiben. Wie wärs mal mit Hinweisen auf etwas, das euch nicht gefallen hat oder was euch ganz besonders gefallen hat? Ich kann schließlich keine Gedanken lesen, und wenn ich besser werden soll...
 


 

Kapitel 4 - Der Dolch der Reinheit
 

"Was, das soll es sein?" Ich stand fassungslos vor einem Monstrum von Felsen. Dieser Felsen maß etwa 20 Meter im Durchmesser, und wenn ich an ihm vorbei sah, konnte ich einen kleinen Canyon sehen, aus dessen Tiefen das Rauschen eines kleinen, über Felsen gischtenden Flusses zu hören war.

"Ich hatte es mir auch etwas eindrucksvoller vorgestellt." gab Blinx zu, als er auf die Behausung von Norenkei blickte. Endlich war ihm eingefallen, warum ihm dieser Name bekannt vorkam. Norenkei war einer der drei großen Schwertmeister Gaias, zu denen auch Vargas gehört hatte.

Wir waren früh aufgebrochen, da uns ein kleiner Schauer geweckt hatte und wir nicht noch einmal einschlafen konnten. Nun war es kurz nach Mittag und wir waren an unserem ersten Ziel.

Seine Behausung wirkte von außen... halt wie ein Loch im Felsen, mit einer perfekt in die ovale Öffnung eingepassten hölzernen Tür. Der Felsen wirkte wie der Panzer einer Schildkröte, mit unförmigen Buckeln übersäht und oben mit kleinen runden Öffnungen, die Licht hereinließen - allerdings nicht sehr viel.

"Hier ist ein Seil", sagte Blinx, als wir vor der Tür standen. "Wahrscheinlich muss man daran ziehen." Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er das Seil bereits gepackt, und zog mit aller Kraft daran.

Mir war nicht ganz geheuer. Dieser ganze Ort wirkte irgendwie unheimlich, und ein beklemmendes Gefühl beschlich mich.

Von der anderen Seite der Tür hörte ich ein leises, entfernt klingendes Läuten als ob die Türglocke nicht hinter der Tür, sondern hinter dem ganzen Felsen wäre. Eine Minute standen wir da, dann drehte sich Blinx um, und zu meiner Überraschung konnte ich auf seinem pelzigen Gesicht die selben Gefühle sehen, die ich auch hatte.

"Tja, sieht so aus, als ob keiner da wäre. Lass es uns ein anderes Mal probieren, und wieder nach Hause gehen." Verlegen wollte er an mir vorbei stolzieren, aber ich hielt ihn auf.

"Blinx! Du weißt so gut wie ich, dass wir nicht so einfach gehen können."

Er ließ den Kopf sinken, wohl beschämt. Natürlich wusste er es. Aber er wäre lieber woanders gewesen. Ich konnte es ihm sehr gut nachfühlen, aber im Gegensatz zu ihm wusste ich, was auf dem Spiel stand.

Ich drückte zaghaft gegen die Tür, und zu meiner Überraschung öffnete sie sich tatsächlich einen Spalt breit. Ich drückte sie ganz auf, und trat in den dahinter liegenden Raum. Es war dunkel darin, lediglich eine Reihe winziger Löcher in der Decke ließen Licht herein. Sie waren von außen nicht zu sehen, lagen wohl hinter so etwas wie einem Vorsprung. Der Form des Felsen folgend, wölbte sich die Wand hinter mir hinauf und neben mir in einem Viertelkreis, wurde zur Decke und endete an einer Wand, die diesen Raum begrenzte.

"Niemand hier." hörte ich Blinx verwunderte Stimme hinter mir. Er hatte wohl erwartet, ein vielköpfiges Empfangskomitee vorzufinden, dass uns für unser Eindringen den Kopf abschlagen würde. Jedenfalls hatte ich daran gedacht, als ich in die Dunkelheit trat.

Mittlerweile hatten sich meine Augen an die Dunkelheit hier drin gewöhnt, und ich erkannte eine weitere Tür an der gegenüber liegenden Wand. "Da geht es weiter", sagte ich zu Blinx, und zeigte ihm dir Tür.

"Willst du da wirklich durch?" Ihm schien jetzt, das Empfangskomitee würde da auf uns warten.

"Ja." sagte ich nur, und ging voraus.

Mit zögernden, tapsigen Schritten folgte mir Blinx, und ich konnte regelrecht spüren, wie er sich misstrauisch in dem völlig leeren Raum umsah.

Entschlossen öffnete ich auch die nächste Tür, ganz egal, was dahinter liegen würde, und darauf vertrauend, dass uns jemand, der wie Vargas war, einfach nichts antun konnte.

Dieser Raum war groß, er nahm wohl alles von der vorderen Hälfte des Felsens ein, dass nicht der erste Raum belegt hatte. Zusätzlich zu den Löchern in der Decke, oder den überhängenden Wänden, es war schwierig das festzustellen, waren auch noch einige Öllampen am Boden entlang der Wände aufgereiht. Sie beleuchteten eine einschüchternde Sammlung von Schwertern, Keulen, Dolchen und Messern, Rüstungen und Helme und noch vieles mehr, das zum Kriegshandwerk gehörte. Das Beeindruckenste aber war die im Schneidersitz sitzende Gestalt in der Mitte des Raumes, angeleuchtet von fünf ringsherum stehenden Lampen.

Der Mann schien alt zu sein, wenn auch noch lange kein Greis, und sein weißes Haar reflektierte das schwache Licht des Raumes. Seine Gestalt wirkte hager, aber kräftig. Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück, als er die Augen öffnete, und zu uns herauf sah.

"Wer stört meine Ruhe?" fragte er, und seine Stimme klang als ob er selbstverständlich davon ausgehen konnte, hier Jahrelang zu sitzen und zu meditieren, ohne gestört zu werden. Es war unheimlich.

"E... Entschuldigung. Meine Name ist Hitomi. Hitomi Kanzaki, und das hier ist Blinx. Wir, wir suchen jemanden..."

"Wir suchen den Schwertmeister Norenkei."

"Das bin ich." antwortete der Mann mit seiner beunruhigend ruhigen Stimme, und schloss die Augen wieder.

Ich war vollkommen verwirrt. Was nun? "Eliandra hat uns geschickt."

"Eliandra?"

Zum ersten Mal konnte ich so etwas wie Überraschung in seiner Stimme hören. Seine Augen hatte er wieder geöffnet und auf mich gerichtet, und in ihnen konnte ich Neugier, aber auch Misstrauen erkennen. "Die Heilerin und Hohepriesterin? Diese Eliandra?"

"Ja. Sie hat gesagt..."

Er schien gar nicht auf meine Worte zu achten, sondern nur auf seine eigenen Gedanken, die er auch sogleich aussprach. "Was bewegt die Hohepriesterin dazu, mir die berühmte Hitomi Kanzaki, das so genannte "Mädchen vom Mond der Illusionen" zu schicken?"

"Ihr wisst, wer ich bin?" wunderte ich mich, denn auf meinen Namen hatte er gar nicht reagiert, und so hatte ich gedacht, dass er nichts damit anfangen kann.

"Natürlich. Aber nun sprich: Was führt dich zu mir?"

Ich überlegte, wo ich anfangen sollte, ob bei Eliandra oder bei Van, bei dieser merkwürdigen Suche oder wo auch immer, da hörte ich auf einmal, wie durch eine Tür, die ich noch gar nicht bemerkt hatte, jemand in die steinerne Halle kam, und mit heller, klarer Stimme fragte: "Mit wem redest du da, Vater? Das Essen ist fertig!"

Das Mädchen war etwa in meinem Alter, hatte schwarze Haare, und machte einen sehr beschäftigten Eindruck. Außerdem hatte sie eine Schürze umgebunden und sah ganz genauso aus, wie man sich das Idealbild einer Hausfrau vorstellt. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Ihr Blick schweifte eher uninteressiert über uns. Also schien es hier doch häufiger Besuch zu geben, als der alte Mann den Eindruck erweckt hatte. Doch dann kehrten ihre Augen zu mir zurück, schienen fast aus ihren Höhlen zu quellen und das Mädchen bot ein Bild der reinsten Ungläubigkeit. Sie hob ihre Hände, als ob sie mich aus sechs Metern Entfernung berühren wollte, dann schoben sich ihre Mundwinkel nach oben, und mit einem lauten, überglücklichen Kreischen stürzte sie auf mich zu, warf mich um und drückte mir die Luft aus den Lungen.

"Oh Mann, das ist ja nicht zu fassen! Ich kanns einfach nicht glauben! Ich hätte nie gedacht, noch mal jemand in einer Schuluniform zu sehen! Wer bist du, wo kommst du her, wie ist das Wetter in Japan, gibt's immer noch so viele Erdbeben? Ich möchte dich so viel fragen! Hach, ich freu mich ja so!"

Während ich verstört am Boden lag und mir dieses Mädchen langsam eine Rippe nach der anderen brach, konnte ich Blinx sehen, der zur Säule erstarrt neben uns stand und anscheinend beschlossen hatte, das ganze für einen Traum zu halten.

"Haruka! Benimm dich! Du bringst sie ja noch um, sie läuft schon rot an!"

Das Mädchen - Haruka - hörte mit ihrer stürmischen Umarmung auf, sah auf mich runter, und stand mit hochrotem Kopf wieder auf. "Entschuldige", murmelte sie. "Aber ich war so überrascht, na ja..." Sie nahm meinen Arm und zog mich hoch. "Also, mein Name ist Haruka, und eigentlich komme ich wie du vom Mond der Illusionen." sagte sie und schaute mich neidisch an. "Weißt du, ich wünschte, ich hätte meine Schuluniform auch noch. Die Sachen, die es hier gibt sind nicht gerade die geeignetsten, wenn man mit ihnen mehr machen will als nur spazieren gehen."

Ich sah sie an, schaute an mir runter, blickte wieder zu ihr hoch, und fing dann an zu lachen. Tränen rollten mir über die Wangen, und meine sich gerade erholt habenden Lungen hatten schon wieder Probleme mit der Luftzufuhr. "Da hast du Recht! Das erste Kleid, das ich hier anhatte, habe ich gleich am ersten Tag zerrissen, weil es mich beim Rennen behindert hat."

Unbemerkt war Norenkei zu uns getreten. "Das ist Hitomi Kanzaki. Ich habe dir doch von ihr erzählt."

Haruka schaute mich mit großen Augen an. "Hitomi? Die Hitomi?" Sie strahlte mich an. "Ich glaube, das mit der Erde kann erst mal warten. Ich war seit vier Jahren nicht mehr da, da wird mir auch jetzt nichts mehr weglaufen. Erst mal musst du mir vom Kampf mit den Zaibachern erzählen."

"Ich glaube erst einmal", sagte Norenkei, "ist es deine Aufgabe, unsere Gästen an unseren Tisch zu bitten. Wie du vorhin gesagt hast, ist das Essen fertig." Er drehte sich zu mir und Blinx, der sich nun endlich von seiner Überraschung erholt hatte und sich nun wieder bewegen konnte, und meinte bedauernd: "Wir haben nicht mit Gästen gerechnet, also entschuldigt, wenn das Essen noch etwas dauert. Ich fürchte, unsere Portionen reichen nicht für euch aus, aber ihr dürft gerne mit ihnen beginnen. Haruka und ich können auch noch ein Weilchen warten, aber es wäre schade, das Essen kalt werden zu lassen, oder?"

Ich wurde rot, als mein Bauch, angeregt durch die Vorstellung von herrlich duftendem Essen, lautstark seine Meinung kund tat. "Es sieht so aus." sagte ich leise, und stimmte dann in das Lachen der anderen ein.

"Dann kommt!" rief uns Haruka zu, schon wieder halb in der Tür verschwunden. "Hier geht's lang."
 

"Und dann bin ich hier gelandet." Beendete ich meine Erzählung. Haruka saß mir gegenüber, und hatte mir aufmerksam zugehört.

Nach dem Essen hatte sie uns Zimmer gezeigt, in denen wir übernachten würden. Norenkei hatte uns gesagt, dass wir das, was wir suchten, den Dolch des reinen Geistes, frühestens morgen bekommen könnten.

So musste ich nun erneut meine ganzen Erlebnisse auf Gaia erzählen. Auch Blinx hatte aufmerksam zugehört. Als ich an die Stelle kam, an der ich zum zweiten Mal nach Gaia kam- nach Akoths Traumwarnung- hatte ich erst gezögert. Norenkei hatte hatte, als ob er meine Gedanken gelesen hätten, gemeint, dass ich alles erzählen könnte, denn er wusste alles über die Tihani, auch wenn er keiner von ihnen war.

"Ich gehe einen sehr ähnlichen Weg, aber mein Weg kann nicht in einer großen Gruppe begangen werden. Haruka wird hoffentlich meine Nachfolgerin, und wenn nicht, bin ich mir sicher, dass sie und die Tihani oft miteinander zu tun haben werden. Vielleicht wird sie dann sogar eine."

Es hätte mich nicht verwundert, wenn Norenkei ein Tihani gewesen wäre, schließlich schien er Eliandra gut zu kennen. Ich fragte ihn, was er mit seinem Weg meinte, aber er schüttelte nur stumm den Kopf. Und Haruka schien zumindest zu wissen, was die Tihani waren, auch wenn sie keine Einzelheiten wusste. Nun saßen sie, Blinx und ich in meinem Zimmer, und ich hatte meine Geschichte erzählt.

"Aber nun bist du an der Reihe, Haruka. Ich habe meine Geschichte erzählt, jetzt erzähle deine."

"Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich komme aus der Nähe von Ôsaka. Es war vor etwas mehr als vier Jahren, ich war damals gerade elf Jahre alt geworden. Ich ging wie immer nach der Schule durch einen ziemlich großen und ziemlich dunklen Park. Auf einmal fühlte ich ein merkwürdige Kribbeln am ganzen Körper, und dann erfasste mich die selbe Lichtsäule, von der du erzählt hast, und ich wurde nach Gaia getragen. Ich kann dir sagen, ich war mindestens genauso erschrocken und einsam wie du. Aber im Gegensatz zu dir hatte ich niemanden, der sich um mich kümmerte. Dafür waren allerdings auch keine Zaibacher hinter mir her." Sie wiegte nachdenklich den Kopf. "Ich glaube fast, ich habe noch das bessere Los gezogen.

Wie dem auch sei, nach etwa zwei Wochen, nach denen ich meine Sachen - meine Schuluniform - total zerrissen hatte, um mindestens zehn Kilo leichter geworden war und dem Wahnsinn ziemlich nahe, fand mich Norenkei. Er hat mich aufgenommen. Später hat er mir mal gesagt, dass er bei meinem Anblick sofort gewusst hatte, woher ich kam, und dass er auf der Suche nach mir gewesen war. Nicht direkt nach mir, er hatte nicht gewusst, was er suchte, er hatte nur gefühlt, dass er jetzt aufbrechen musste, wenn er denjenigen finden wollte, der sein Nachfolger werden soll."

"Nachfolger wovon eigentlich?"

"Nachfolger im Amt des zweiten Schwertmeisters von Gaia."

Ich staunte. "Schwertmeister? Danach siehst du aber nicht aus!" Dann wurde ich rot. Gerade hier auf Gaia war ich mir bewusst geworden, wie wenig das äußere über eine Person in den meisten Fällen aussagt.

Doch sie lachte und klopfte sich vergnügt auf die Schenkel. "Ja, da hast du Recht. Mehr wie eine Hausfrau, oder?"

Ich nickte, froh, dass sie es mir nicht übel nahm.

Sie hörte auf mit Lachen, grinste dann noch einmal, und beugte sich verschwörerisch zu mir und Blinx. "Aber das ist noch gar nichts. Ihr solltet mal sehen, wie Norenkei mit einer solchen Schürze aussieht."

"Norenkei???" schrieen Blinx und ich wie aus einem Mund. Niemand von uns konnte ihn sich als Hausmann vorstellen, geschweige denn, in einer Schürze.

"Psst! Lasst ihn das bloß nicht hören! Wenn er mitkriegt, dass ich das verraten habe, redet er für einen Monat kein einziges Wort mit mir. Und es ist hier ziemlich einsam." Den letzten Satz sagte sie mit mehr als nur ein wenig Wehmut.

"Ich kann dich zurück bringen!" platzte es aus mir heraus. "Ich meine auf die Erde", fügte ich hinzu, als sie mich verwirrt ansah. "Glaube ich jedenfalls." sagte ich noch einschränkend, aber irgendwie war ihre Reaktion anders, als ich gedacht hatte.

"Nein!" sagte sie schließlich leise, aber entschlossen. "Nein. Ich bin seit vier Jahren hier auf Gaia. Meine Familie glaubt sicher, dass ich tot bin. Und selbst wenn nicht, ich möchte nicht zurück. Sie wären mir mittlerweile fremd. Ehrlich gesagt, kann ich mich kaum noch an sie erinnern. Hier ist Norenkei mein Vater und meine Mutter, und ich liebe ihn wirklich sehr. Ich möchte hier bleiben." Sie sah mir in die Augen, und ich konnte ein helles Feuer darin sehen, das selbe, dass Van hatte, als ich ihn auf dem Crusador verließ. Traurigkeit, aber auch Entschlossenheit und das Bewusstsein, das Richtige zu tun, auch wenn es schmerzte.

"Am Anfang habe ich einfach nur in meinem Zimmer gehockt, und an meine Familie und an den Mond der Illusionen gedacht, aber das hat sich geändert." Sie lächelte. "Siehst du, mittlerweile denke ich von der Erde sogar als Mond der Illusionen. Die Erde ist nicht mehr mein Zuhause, Gaia ist jetzt meine Heimat." Sie stand auf, ging zum Fenster und schaute hinaus. Unsere Zimmer lagen an der Südseite des Felsens, mit relativ großen Löchern, in die kunstvoll Fenster eingepasst waren.

"Hier habe ich das erste Mal erlebt, was es heißt, wirklich frei zu sein. Norenkei hat mich machen lassen, was ich wollte. Natürlich, ich habe Fehler gemacht, oft schmerzhafte, und ich habe Dinge getan, auf die ich heute nicht besonders stolz bin. Aber ich habe daraus gelernt, genau wie er es wollte. Ja, er hat mir oft das Gefühl gegeben, auf mich gestellt zu sein, aber ich habe immer gewusst, dass er da war und mich beschützt hat. Ich habe gewusst, er würde mich nicht vor den Konsequenzen meiner Dummheiten beschützen, ich würde ausbaden müssen, was immer ich anstellte. Aber genauso habe ich gewusst, dass er nicht zulassen würde, dass mir etwas Ernsthaftes geschieht. Ich habe eine Menge Blessuren davongetragen, blaue Flecke und sogar den ein oder anderen gebrochenen Knochen. Aber ich habe niemals das Gefühl gehabt, verloren zu sein, er war immer da, wenn ich etwas aus eigener Kraft nicht schaffen konnte."

Sie drehte sich wieder zu uns um, und schüttelte den Kopf. "Ich will hier nicht weg. Ich bin glücklich hier. Aber trotzdem danke für dein Angebot." Sie zögerte. "Es gibt da aber etwas, dass ich sehr vermisse, und das du mir vielleicht besorgen könntest, wenn du mal einen Abstecher in ein Kaufhaus machst."

"Und was?" fragte ich ahnungslos.

"Musik! Ich hatte ein paar CD's und meinen Discman dabei, als ich nach Gaia versetzt wurde, aber der wurde mir gestohlen, gleich am ersten Tag. Ich hatte mich hingesetzt und ihn laufen lassen. War wohl so was wie eine Trotzreaktion: Ich würde einfach Musik hören, bis alles wieder in Ordnung kam. Nun, eine Gruppe Kinder kam, sah mich und das seltsame Ding in meinen Händen, und hat es mir gestohlen. Na ja, wenigstens konnte ich mich damit trösten, dass sie nicht viel Freude daran hatten. Die Batterien waren nämlich schon so gut wie leer. Aber ich würde zu gern wissen, was sie dann damit angestellt haben. Einfach weggeworfen haben werden sie ihn wohl kaum, sie haben so etwas schließlich noch nie gesehen."

In diesem Moment erinnerte ich mich an etwas, dass mich so manche schlaflose Stunde gekostet hatte. "Ich denke, sie haben ihn verkauft."

"Verkauft?"

"Ja, als Schmuckstück oder so. Zumindest die CD's. Ich habe nämlich eine in Asturia gefunden. Ich hab mich schon ewig gefragt, woher die kommt. Ich denke, jetzt weiß ich's."

Haruka lehnte sich überrascht zurück. "Asturia. Ganz schöner Weg. Als Schmuckstück? CD's?" Plötzlich grinste sie. "War doch bestimmt teuer, dieses angebliche Schmuckstück, oder?"

"Äh, ja, ich glaube schon."

"Wenn du das nächste Mal auf den Mond der Illusionen bist, musst du unbedingt einen ganzen Sack CD's mitbringen. Und natürlich was zum Abspielen mit einer Menge Batterien. Dann hab ich wieder vernünftige Musik, und werde noch dazu steinreich."

Ich lachte. An so etwas hatte ich nie gedacht. Aber funktionieren würde es bestimmt.

"Aber sie wird es nicht tun!"

"Norenkei!" Ich sprang überrascht auf. "Seit wann sind sie denn..."

"Lange genug." Er blickte Haruka an. "Du wirst nichts dergleichen tun. Dinge vom Mond der Illusionen gehören nicht auf Gaia, genauso wenig wie Dinge von Gaia auf den Mond der Illusionen gehören."

"Und was ist mit mir und Hitomi?"

Ich hielt den Atem an. Norenkei schien mir nicht der Mann für solche Fragen. Doch er nickte nur anerkennend.

"Eine kluge Frage - aber du bist eigentlich klug genug, um auch die Antwort zu kennen. Du und Hitomi habt beide eine Aufgabe auf diesem Planeten zu erfüllen. Mag sein, dass Hitomis Aufgabe größer aussieht, aber deswegen ist sie nicht mehr oder weniger wichtig als deine. Jedes Wesen hat eine Aufgabe. Die Schwierigkeit ist nur, sich seiner Aufgabe bewusst zu werden, und nach dieser Bestimmung zu handeln."

Er drehte sich zu mir. "Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass wir morgen noch vor Sonnenaufgang aufbrechen, Hitomi. Blinx kann dich begleiten, wenn du willst, aber das ist nicht nötig. Wir werden zum Sonnenaufgang an dem Ort sein, an dem der Dolch des reinen Geistes ist." Damit drehte er sich um und verschwand.

"Tja", meinte Haruka. "Das heißt wohl, dass du heute früh ins Bett gehen solltest. Und noch etwas, Hitomi."

"Was?"

"Ich weiß es nicht genau, aber wenn dieser Dolch das Ding ist, dass mein Vater bewacht - er hat mir nie gesagt, was er bewacht, nur dass es sehr wichtig ist - dann wird er es dir nicht einfach so in die Hand drücken."

Ein seltsamer Druck legte sich auf mein Herz.

"Dann gibt es eine Prüfung?" fragte Blinx.

Ich horchte auf - natürlich, so musste es sein. Das hatte Eliandra gemeint.

"Ich weiß es nicht." antwortete Haruka. "Aber ich halte es für durchaus möglich. Ja, ich bin mir sogar sicher, dass Hitomi irgendwie beweisen muss, dass sie den Dolch bekommen darf. Wenn ich eins von diesem Planeten verstanden habe, dann ist es die Tatsache, dass es eine Menge seltsamer, mehr oder weniger geheimnisvolle Dinge gibt, an die man nicht so leicht herankommt. Beziehungsweise hinter die Geheimnisse."

Ich konnte ihr nur aus vollstem Herzen zustimmen. Alles auf Gaia schien von Geheimnissen, Legenden und wahrgewordenen Mythen durchdrungen zu sein, und nichts war so einfach, wie es auf den ersten Blick erschien.
 

Gähnend folgte ich Norenkei. Ich war allein mit ihm, denn Blinx war nicht aus dem Bett zu bekommen gewesen, und Haruka hatte schon gestern gesagt, dass sie uns nicht begleiten wolle. So langsam wusste ich auch warum. Der Weg in den Canyon war schmal, steinig und das genaue Gegenteil von bequem. An einigen Stellen war der Weg so schmal, dass ich mich nur mit dem Rücken an die Felswand gepresst getraut hatte, ihm weiter zu folgen. Die Sonne war außerhalb des Canyons schon längst aufgegangen, aber hier war es noch fast dunkel. Nur einige verirrte Lichtstrahlen und die rußende Fackel Norenkeis beleuchteten unseren Weg auf gespenstische Weise.

"Wir sind gleich da, Hitomi."

"Na endlich!" rief ich aus tiefstem Herzen.

Eine Minute später kamen wir auf einer Art Plateau an, das weder von oben noch von unten zu sehen war. Von unten verhinderten fünfzehn Meter und hunderte Risse und Spalten, das diesem kleinen Vorsprung mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde als anderen. Von oben schützten mindestens genauso viele Meter und ein Felsen vor der Sicht, in dessen Schatten der Eingang zu einer Höhle lag - unter der Bedingung, dass die Sonne bis hierher kam. Dieser Zeitpunkt schien kurz bevor zustehen.

Norenkei drehte sich zu mir um. Ich stand zitternd dicht hinter ihm und wagte nicht, hinab zu sehen. Ich hatte es einmal getan, und das hatte gereicht. Der Fluss unten im Canyon rauschte über eine Stromschnelle nach der anderen, und das ziemlich laut, wenn man einmal im Canyon war. Es war fast ein Wunder, dass ich Norenkei verstand, ohne dass er schreien musste.

"In dieser Höhle ist der Dolch des reinen Geistes. Aber zuvor muss ein Schloss geöffnet werden. Das ist deine Aufgabe. Ich kann dir dabei nicht helfen."

"Was soll das heißen, sie können mir nicht helfen? Können sie nicht, oder wollen sie nicht?"

Er lachte. "Sagen wir es so: Ich habe mir nie die Mühe gemacht, herauszufinden, wie das Schloss geöffnet wird. Das muss ohnehin derjenige tun, der den Dolch haben will. Und wenn ich nichts über den Mechanismus weiß, kann ich auch nichts verraten." Er schaute mich bedauernd an. "Du siehst also, ich kann dir nicht helfen, selbst wenn es mir nicht verboten wäre. Aber das Schloss an sich soll gar nicht so kompliziert sein. Die wahre Prüfung wartet erst hinter der Tür."

"Die wahre Prüfung?"

"Ja, die, die ich gewählt habe, um jeden zu prüfen, der den Dolch besitzen will. Aber eines nach dem anderen. Jeden Moment wird die Sonne die Tür erreichen, und dann achte genau auf das, was passiert. Ihre Strahlen werden dir den Weg weisen."

In der Tat waren die Sonnenstrahlen an der Canyonwand abwärts gewandert, und gleich mussten sie die Höhle, in der sich jetzt auch ganz schwach so etwas wie eine steinerne Tür abzeichnete, erreichen. Aber wie sollte die Sonne mir den Weg zeigen?

Ich schloss geblendet die Augen, als etwas ungeheuer grelles vor mir aufblitzte. Was war das? Blinzelnd versuchte ich etwas zu erkennen. Die Sonnenstrahlen wurden von einem Spiegel neben dem Felsen reflektiert, der in der zerklüfteten Canyonwand so gut wie unsichtbar war. Die reflektierten Strahlen fielen auf einen weiteren Spiegel auf der anderen Seite, und wurden dorthin geworfen, wo die Höhle war, die jetzt taghell erstrahlte.

Ein vielfaches Aufblitzen auf der Tür ließ mich erschrocken den Atem anhalten. Es blitzte mal hier, mal da, in einem irisierenden Funkeln erglühte die Tür, und erlosch dann schließlich flackernd.

Ich blinzelte mehrmals. Tränen rannen mir über die Wange, und meine Augen schmerzten.

"Was sollte das sein?" fragte ich verdutzt und schaute Norenkei an, der scheinbar unberührt da stand. Hatte ihn das Licht nicht geblendet?

"Ich weiß nicht Hitomi. Ich habe dir doch gesagt, dass ich von diesem Schloss keine Ahnung habe. Aber ich denke, du musst die Spiegel in der Tür in der Reihenfolge drücken, in der sie aufgeleuchtete sind. Raffiniert." Er drehte sich um, und sah hinunter zur gegenüber liegenden Wand. "Deshalb wurde diese Stelle ausgesucht. Auf der anderen Seite ist der Felsen an dieser Stelle so zerklüftete, das man vielleicht nicht einmal merkt, dass hier etwas ist, wenn man oben steht. Das Licht geht in den Rissen regelrecht verloren. Was für eine Arbeit muss das gewesen sein, das alles auf die natürliche Beschaffenheit anzupassen."

"Aber ich kann mich unmöglich daran erinnern, in welcher Reihenfolge dieses Geflimmere stattfand. Am Anfang war ich total geblendet, und außerdem, wer soll sich an das alles erinnern?"

"Ich könnte es." warf Norenkei beiläufig ein.

Ich sah ihn ungläubig an, während er sich auf einen Stein setzte. "Aber sie werden mir sicher nicht die Reihenfolge verraten."

"Nein, da hast du Recht. Das ist deine Prüfung, nicht meine."

"Aber wie soll ich das schaffen?"

"Versuch dich zu erinnern! Vielleicht schaffst du es ja doch."

"Nein, unmöglich!"

"Unmöglich? Woher willst du das wissen? Hast du es denn schon einmal probiert?"

"Nein!" erwiderte ich wütend. "Kein Mensch kann das schaffen, darum ist es unmöglich!"

"Nur weil kein Mensch es schaffen kann, ist es noch lange nicht unmöglich. Insekten würden zum Beispiel nicht geblendet werden, da sie Facettenaugen haben. Zumindest ein Teil ihrer Augen würde nicht alles Licht abbekommen, und etwas erkennen können."

"Ich bin aber kein Insekt! Ich bin ein Mensch. Und ein Mensch kann es nicht schaffen!"

"Ich kann es. Und ich bin ein Mensch, das versichere ich dir. Und du könntest es auch schaffen - wenn du es trainierst."

Ich wollte ihm erst widersprechen, aber dann schloss ich meinen Mund wieder. Er hatte behauptet, nicht geblendet worden zu sein, und er hatte keinen Grund zu lügen, wenn er mich nicht einfach nur ärgern wollte. Das aber traute ich ihm nicht zu. Er war manchmal so sarkastisch, dass es mich zur Weißglut trieb, aber lügen... nein, lügen würde er nicht. Und ich wusste wohl am besten, dass man scheinbar unmögliches machen konnte. Ich hatte den Untergang Gaias verhindert, auch wen mir nicht klar war wie. Ich hatte damals kaum noch bewusst gehandelt. Es war mehr ein Horchen auf mein Inneres gewesen... Ein Horchen auf mein Inneres... Was war da mal im Fernsehen? Das Unterbewusstsein kennt oftmals die Antwort auf Fragen die uns beschäftigen, aber diese Antwort kommt nicht ins Bewusstsein. Erst im Traum verschwindet die Barriere zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein. Das war der Grund, weshalb so vielen Wissenschaftlern die Lösungen ihrer Probleme im Traum eingefallen waren. Kekulés Affen, eine Formel bei Einstein...

"Wie kannst du alle gesehen haben und dich auch noch daran erinnern? Gibt es da ein Geheimnis?"

"Ein Geheimnis?" Norenkei schien belustigt. "Nein. Aber du siehst so aus, als sei dir etwas eingefallen. Hatte deine Frage vielleicht einen bestimmten Grund?"

"Schon möglich. Wie machst du es, dich zu erinnern?"

"Eigentlich erinnere ich mich gar nicht bewusst daran. Aber meine Augen tun es noch, und woran sie sich erinnern, das kann auch ich wieder sehen."

Ich runzelte die Stirn. Das war nicht die Antwort, die ich erhofft hatte, jedenfalls nicht auf dem ersten Blick. Ich musste den Sinn hinter seinen Worten erkennen. Ja, Norenkei wäre ein richtig guter Tihani. Nie alles sagen, immer nur Andeutungen. Bah! Aber wie bei den Tihani steckte immer ein Sinn dahinter, war er auch noch so versteckt.

"Und meine Augen erinnern sich auch noch daran, was sie gesehen haben?"

Norenkeis Schultern zuckten, und er schien kaum ein Lächeln verbergen zu können. "Eigentlich schon. Aber es sind deine Augen, nicht meine. Sag es mir."

So langsam wurde ich wirklich wütend. Ich versuchte hier, seine Rätsel zu lösen, hinter diese verdammte Tür zu kommen, die er angeblich so leicht öffnen konnte, und er machte sich über mich lustig. "Und wie kann ICH mich daran erinnern, was meine Augen gesehen haben?"

"Wie gesagt, es sind deine Augen, nicht meine."

Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Ich versuchte verzweifelt Van zu helfen, und dieser...

Seine Augen sahen mich so merkwürdig an. So... taxierend. Als ob er eine Maus im Irrgarten betrachten würde, und überlegte, ob dieses Tierchen den rettenden Ausgang finden oder ertrinken würde. Und da verstand ich. Er wollte, dass ich wütend wurde. Er wollte mich ablenken. Und genauso plötzlich wusste ich auch, dass er wollte, dass ich das verstand. Er wollte, dass ich wusste, dass er es für nötig hielt, es aber nicht persönlich meinte.

Ich erstarrte und schaute ihn ungläubig an. Wie passte das zusammen? War es auch ein Test? Vielleicht. Nein, eher Wahrscheinlich. Fast mit Sicherheit. Wie war das? "Du wirst geprüft werden, ob du dieser Macht würdig bist." Und würdig war nur, wer auch seinen Zorn kontrollieren konnte. Wenn nur nicht die Zeit so drängen würde. Aber ich hatte keine Wahl. Schon wieder nicht. Ich war immer nur ein Spielball im Schicksal dieser Welt. Nein, kein Spielball. Ich war es, der das Schicksal dieser Welt schon einmal bestimmt hatte. Und nun konnte ich wieder über ein Schicksal entscheiden. Vans Schicksal.

"Du kannst alles schaffen Hitomi." sagte Norenkei leise. "Nichts ist unmöglich, solange du es wirklich willst. Und denke immer daran, für was du kämpfst, nicht gegen was."

Das würde ich. Wie hatte ich es nur vergessen können? Ich hatte ein Ziel, und ich würde es erreichen.

Ich sah Norenkei an. Er blickte mir in die Augen, und erkannte, dass ich verstanden hatte. Er nickte fast unmerklich, und bedeutete mir, mich neben ihn zu setzten.

"Also", fragte ich ihn, "wie erinnerst du dich an das, was deine Augen gesehen haben?"

Er lächelte warm, fast herzlich. "Es ist eigentlich ganz einfach..."

***
 

"Ah! Thana! Zu dir wollte ich gerade."

"Was ist, Van?"

"Hast du Hitomi gesehen? Ich habe sie heute und gestern nirgendwo bemerkt."

"Sie ist weg gegangen, zusammen mit Eliandra."

"Eliandra? Die war hier? Warum hast du mir nichts gesagt?"

"Hättest du dich ein bisschen um uns andere, und besonders um Hitomi gekümmert, hättest du sie auch bemerkt. Aber du steckst ja nur mit dieser Zaibacherin zusammen."

"Und? Was geht dich das an?" fragte er in rüden Ton.

"Eine ganze Menge. Sie hat einen schlechten Einfluss auf dich. Aber du warst schon vorher so, seit du verschwunden warst. Was ist da passiert?" Thana fragte es nicht zum ersten Mal. Aber diesmal bestand die Reaktion nicht in einem Abwinken und Ignorieren ihrer Frage. Diesmal veränderte sich sein Gesichtsausdruck, als ob er nach innen schaute. Seine Augen wurden leer, und ein merkwürdiges Flackern darin erschreckte Thana.

"Van! Was ist mit dir!"

Er hob die Hände an den Kopf, und sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Thana wollte ihm helfen, ihn stützen, doch er schlug ihre Hand zur Seite.

"Fass mich nicht an!"

"Aber Van!"

"Verschwinde!" schrie er, und rannte dann durch den leeren Gang davon.

***
 

"Es ist eigentlich ganz einfach", hatte er gesagt. Natürlich nur, wenn man es konnte. Ich konnte es anscheinend nicht. "Konzentriere dich Hitomi!" kam seine Stimme erneut zu mir durch.

< Was denkst du denn, was ich hier mache!> huschte ein verärgerter Gedanke durch meinen Kopf, den ich aber sofort verdrängte. Schließlich bewies er, dass ich nicht konzentriert war.

Norenkei hatte mir den Rat gegeben, nicht auf Teufel komm raus zu versuchen, aus meinen Erinnerungen etwas herauszureißen. "Damit verspannst du dich nur. Dein Geist muss frei sein, damit die Erinnerung aus deinem Innersten in ihn dringen kann. Denke nicht an das, an was du dich erinnern willst. Denke an die Situation in der du warst. Atme tief durch, befreie deinen Geist von allen überflüssigen Gedanken, und stell dir die Situation vor."

Ich stellte mir vor, wie ich an genau diesem Ort stand, die Sonne tiefer wanderte, immer tiefer und dann plötzlich...

"Es hat keinen Zweck!" rief ich enttäuscht und trat wütend nach einem Kiesel, der an die Wand prallte, zurück rollerte, und schließlich über die Kante nach unten fiel. "Ich schaffe es nicht!" Frustriert setzte ich mich auf den steinigen Boden, und legte den Kopf auf meine Knie. "Es muss doch noch einen anderen Weg geben!" rief ich verzweifelt.

"Natürlich gibt es den. Es gibt immer mehr als einen Weg."

Ich sah Norenkei an, und zweifelte an meinem Verstand. Was sollte das bedeuten?

"Von einem guten oder schlechten Gedächtnis auf die Reinheit des Geistes zu schließen, ist doch etwas gewagt, oder? Es gibt immer mehrere Wege, ein Schloss zu öffnen."

Einen Augenblick starrte ich einfach durch ihn hindurch. Ich war so was von dumm. Natürlich gab es einen anderen Weg. Das hatte ja Eliandra deutlich gesagt.

"Und was für einen anderen Weg gibt es?" Er runzelte die Stirn. "Nun, du könntest versuchen, die Tür einzutreten." meinte er dann mit ernstem Ton.

Ich stöhnte. "Und welche Möglichkeit gibt es außerdem noch?"

"Außerdem könntest du die Gebrauchsanleitung lesen", antwortete er, und sah mich erwartungsvoll an.

Oh nein, ich würde ihm nicht den Gefallen tun, und ausrasten. Mühsam beherrscht fragte ich. "Eine Gebrauchsanweisung?"

"Aber ja doch. Das ist so bei dieser Art von Türen. Wenn eine Prüfung darin besteht, eine Tür zu öffnen, dann gibt es mit Sicherheit auch einen Hinweis, wie man das tut."

"Und wo finde ich diesen Hinweis?" fragte ich, nun doch am Rande meiner Selbstbeherrschung.

Norenkei aber sah mich stirnrunzelnd an. "Überlege mal ein bisschen. Eigentlich müsstest du da auch allein draufkommen. Verlass dich nicht immer auf andere."

Ich atmete tief durch. Einmal, zweimal, dreimal. Dann zählte ich bis zehn, dann noch bis zwanzig. Es half nicht wirklich.

"Da hier nicht viel Platz ist, dürfte sich dieser Hinweis auf der Tür selbst befinden, richtig?"

"Ich denke schon. Wie gesagt, ich habe mich nie damit befasst."

Ich stand auf, klopfte mir den Staub von meinem Rock, und ging zur Tür. Erst, als ich im Schatten des Felsens stand konnte ich erkennen, was ich bisher nicht gesehen hatte. "Da sind ja Bilder drauf!" staunte ich. Fasziniert stellte ich mich ganz dicht vor die Tür. Der Stein der Tür war bedeckt von einem Relief aus Dutzenden verschiedener Bilder. Und fast jedes Bild hatte eine Gemeinsamkeit: Einen etwa Kirschgroßen, reinweißen Edelstein. "Sind das etwa Diamanten?"

"Kann schon sein. Wahrscheinlich haben sie das Licht reflektiert. Darum hat es auch so gefunkelt. Die Diamanten sind so geschliffen, dass sie nur einen kurzen Strahl abgeben, wenn das Licht im genau richtigen Winkel auf sie fällt. Erstaunliche Arbeit. Wenn man bedenkt, dass sich Einstrahlungswinkel im Laufe des Jahres ändert..."

Ich sah ihn zweifelnd an. "Aber was haben diese Bilder zu bedeuten?"

"Ich habe keine Ahnung. Ich bin ein Krieger, kein Gelehrter, der sich in den Überlieferungen auskennt. Diese Bilder sind mir ein Rätsel."

"Bilder. Rätsel. Bilder. Rätsel." Immer wieder sprach ich diese Wörter vor mich her. "Bilderrätsel. Bilderrätsel? Das muss es sein!"

"Wie?" Norenkei hatte, wie ich, in Gedanken versunken dagestanden und über die Bilder nachgedacht.

Ich freute mich, dass ich ihn bei einer Unaufmerksamkeit erwischt hatte. "Ein Bilderrätsel! Diese Bilder erzählen eine Geschichte, und wenn man in der richtigen Reihenfolge auf sie drückt, öffnet sich die Tür!"

"Erstaunlich. Ja, das könnte sein." Sein Blick wurde eine Zehntelsekunde leer, dann huschten seine Augen schneller als ich gucken konnte über die Tür. "Ja, du hast Recht. In der Reihenfolge des Aufblinkens ergeben sie einen Sinn."

"Und wie ist die Reihenfolge?" fragte ich möglichst uninteressiert.

Norenkei aber hatte mich durchschaut. "Das musst du schon selbst herausfinden." Er schaute mich entschuldigend an. "Ich darf dir wirklich nicht helfen, Hitomi. Wenn ich das tun würde, würde ich alle meine Vorgänger im Amt des Schwertmeisters verraten, alles woran sie geglaubt haben. Ich glaube, dass du würdig bist, den Dolch des reinen Geistes zu erhalten, aber ich kann dir die Prüfungen nicht erlassen, so leid es mir tut. Aber tröste sich, du weißt wie es geht. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis du die richtige Reihenfolge herausgefunden hast."

Ja, nur noch eine Frage der Zeit. Ich stand hilflos vor den Bildern, die in meinem Kopf bereits ineinander übergingen. Wie sollte ich die richtige Reihenfolge herausfinden, wenn ich noch nicht einmal die Geschichte kannte, die dort abgebildet war? Moment...

"Welche Geschichte wird dort erzählt?"

Er schaute mich an, und sein Lächeln gab mir eine Menge meiner Kraft wieder. "Die Legende vom Diamanten der Unschuld. Eine sehr schöne Geschichte. Willst du sie hören?"

"Gern."

"Gut, dann setz dich hin. Das wird ein bisschen dauern."
 

Endlich hatte ich das erste Bild gefunden. Die weinende Himmelsgöttin Umiko. Sie hatte geweint wegen des Mordes an ihrem sterblichen Geliebten.

< Ihre Träne war vom Himmel gefallen - dort. Sie fiel in die Berge, wo waren Berge? - Da! Aber das Bild kann es nicht sein. Da sind noch zwei mit Bergen und da noch eines. Das muss es sein.>

So ging es noch eine Weile weiter.
 

Der Legende nach, die mir Norenkei erzählt hatte, war die Träne zu einem Diamanten unvorstellbarer Größe geworden, reiner und strahlender als alle anderen Diamanten, als sie den Fels des Gebirges in der Nähe der Heimatstadt des ermordeten Geliebten berührte.

Dann hatte ein Schäfer den Diamanten gefunden, der seinen Wert nicht erkannte. Er nahm sie mit, um etwas schönes in seiner Hütte zu haben. Seine Frau aber, habgierig und des Lebens als Schäferin leid, erkannte bald, was ihr Man da gefunden hatte. Als dieser wieder einmal für mehrere Tage mit den Schafen unterwegs war, ging sie mit diesem Diamanten in die Stadt Ehrenhain um ihn zu verkaufen und reich zu werden. Sie hatte Mühe ihn zu tragen, so groß und schwer war er. Deshalb war sie froh, als ein Fuhrmann, der auf dem selben Weg war wie sie, ihr anbot sie mitzunehmen. Zufällig warf er einen Blick in das Bündel, das die Frau trug und in dem der Diamant versteckt war. Auch ihn beschlich die Gier, und er brachte die Frau um, versteckte ihren Leichnam und wollte den Diamanten an sich nehmen. Doch als er ihn berührte, verbrannte ihn das göttliche Licht, denn der Diamant war aus Trauer über einen Mord entstanden, und niemals würde er sich von einem Mörder berühren lassen.

Zufällig sah eine Seherin dieses Licht. Der Name dieser Seherin ist nicht überliefert, aber man sagt, sie sei eine der schönsten und klügsten Frauen aller Zeiten gewesen. Sie fand das herrenlose Fuhrwerk. Es war abgestürzt, denn die Pferde waren bei dem Licht in Panik geraten und nun tot. Und sie fand den Diamanten und die Leiche der Frau. Sie sprach einen Segen über ihr, und begrub sie ordentlich. Von dem Fuhrmann fehlte jede Spur. Alle Zeichen seiner Existenz waren ausgelöscht.

Als Seherin kannte die Frau die Geschichte der Himmelsgöttin, und konnte sich schnell ausmahlen, was sie dort in Händen hielt, sie hatte ja selbst gesehen, wie die Träne gefallen und zu einem Diamanten geworden war. Und sie wusste auch, dass ihr nun eine wichtige Aufgabe zufiel.

Sie ging mit dem Diamanten in die Stadt und stellte sich auf den Marktplatz. Dort stand seit ewigen Zeiten die Statue eines Schwertes, des heiligen Schwertes von Ehrenhain. Die Leute kannten die Seherin, und als sie ankündigte, einen Mord zu rächen, strömte das Volk zusammen. Unter ihnen auch der Mörder des Geliebten der Sonnengöttin.

Diese Tat war mittlerweile drei Monate her, und niemand hatte ihn verdächtigt, noch nicht einmal die Klatschweiber. Denn ihnen hatte er eine andere Geschichte gegeben, die einer verstorbenen, einsam lebenden Tante, zu deren Begräbnis er angeblich zwei Tage vorher aufgebrochen war. Er hatte die Tante schon vorher benutzt, um sich aus der ein oder anderen Verpflichtung zu stehlen, oder um seine Raubzüge zu decken, jedes Mal weil sie krank war, und so zog niemand die Geschichte ihres Todes in Zweifel. Es gab sogar einige, die ihr Beileid ausgedrückt hatten an dem Tag, an dem er die Stadt für zwei Wochen verlassen hatte.

So also war der Mörder unter den Schaulustigen, als die Seherin begann, von einem grausamen Mord aus Habgier zu reden. Ein Dieb, der erwischt worden war, und deshalb getötet hatte. Dem Mörder kam immer noch nicht in den Sinn, dass er gemeint sein könnte.

Die Seherin ging mittlerweile durch die Reihen der umstehenden.

"Berührt die Träne der Göttin!" sagte sie immer wieder, und die Leute berührten, manche ehrfürchtig, manche gierig, den Diamanten. Die Seherin erzählte weiter die Geschichte, und als sie an die Stelle mit dem Fuhrmann kam raunte die Menge. So also sollte sich die Rache vollziehen.

Der Mörder hatte der Geschichte gebannt gelauscht, doch nun erfasste ihn die Angst. Auch wenn kein Mensch wusste, was er getan hatte, die Götter wussten es bestimmt, so, wie sie es auch bei dem Fuhrmann gewusst hatten. Er versuchte, sich unauffällig davonzustehlen, aber in diesem Moment stand die Seherin vor ihm.

"Berührt die Träne der Göttin!" forderte sie ihn auf, und in ihren Augen konnte er sehen, dass sie die Wahrheit wusste.

"Aber sie tötet!" versuchte er sich herauszureden.

"Nur die Schuldigen. Hunderte Menschen haben sie vor dir berührt, und niemandem ist etwas passiert. Du hast doch nichts zu verbergen?"

"Nein!" rief der Mörder wieder besseren Wissens. Niemals würde er zugeben, was er getan hatte. Er griff nach der Träne, und als er sie berührte spürte er die Anwesenheit der Himmelsgöttin. "Nein! Nein! Bitte nicht! AAAHHH..."

Als die Bürger wieder sehen konnten, war von dem Mörder nichts weiter übrig, als ein Häufchen Asche, das der Wind gerade hinaufwirbelte. Nichts weiter blieb von ihm zurück, als die Erinnerung.

Die Seherin aber hielt die Träne der Himmelsgöttin hoch über die Köpfe der Menge. "Von heute an und für alle Zeiten soll dieser Diamant seinen Glanz verlieren, und nur erstrahlen, wenn ein Mörder ihn berührt!" Mit diesen Worten drehte sie sich um, und rammte den Diamanten auf das heilige Schwert Ehrenhains. Der Diamant glitt an der Klinge hinab, als sei sie nicht vorhanden, und erst in der Mitte blieb er auf einmal stecken. Die Seherin ließ den Stein los, und sein Glanz verschwand.

Noch heute steht dieses Schwert mit dem verblassten Diamanten auf den Marktplatz von Ehrenhain, und es heißt, dass nie wieder ein Mord in dieser Stadt geschah.
 

Ich schob das letzte Bild in den Stein der Tür. Dieses sprang nicht wie die anderen wieder heraus, sondern blieb etwa zwei Zentimeter tief stecken.

"Und was nun?" fragte ich ratlos Norenkei.

"Jetzt müsste sich die Tür eigentlich..." Ein Knirschen unterbrach ihn, das mir durch Mark und Bein ging. Ruckartig öffnete sich die Tür, begleitet von einem lauten Rumpeln und dem Geräusch von Stein, der über Stein schleift.

Hinter der Tür lag ein kleiner, schmuckloser Raum, und in ihm lag auf einem Podest eine unverzierte, hölzerne Schatulle. Norenkei ging an mir vorbei und griff nach der Schatulle.

"Der Dolch müsste hier drin sein. Mal sehen." Er legte die Hand darauf, und schloss die Augen. Etwas klickte leise, und der Deckel der Schatulle sprang auf. Er griff hinein, und holte etwas seltsames heraus.

"Der ist ja aus Glas!" rief ich erstaunt. So ein Wirbel um einen Dolch aus Glas!

"Natürlich. Der Dolch ist das Symbol der Reinheit. Was ist reiner als Glas? Sand, der durch das Feuer gereinigt wurde. Gibt es etwas besseres? Aber es ist besser, wir gehen jetzt." Er verschloss den Dolch wieder in der Schatulle und verließ den dunklen Raum.

Ich wunderte mich über seine plötzliche Eile, doch in diesem Moment hörte ich wieder ein Rumpeln in den Felsen um mich herum. Schnell brachte ich ein paar Meter zwischen mich und der Tür, und knirschend verschloss sich dir Höhle wieder.

"Am besten, wir gehen erst mal zurück zum Haus. Ich habe langsam Hunger, und es liegt noch ein anstrengendes Stückchen Weg vor uns."

Ein anstrengendes Stückchen Weg. Mir grauste, als ich an den Rückweg dachte. Diesen mörderischen Pfad wieder hinauf... Ich hoffte inständig, dass es das letzte Mal war.
 

"Da seid ihr ja!" begrüßte uns Haruka. "Ich habe euch schon vor ein paar Minuten gehört, und das Essen schon aufgesetzt. In zehn Minuten geht's los!" Sie ging pfeifend wieder in die Küche zurück, wo ich sie dann ziemlich falsch singend klappern hörte.

"Ist der Dolch da drin?" fragte Blinx mit einem neugierigen Blick auf die Schatulle, die Norenkei noch immer in der Hand hielt.

"Ja." antwortete er vor mir. "Aber Hitomi muss ihn noch da raus kriegen."

"Wie?" Ich hatte mich erschöpft auf einen Stuhl um den großen Tisch auf der Terrasse gesetzt. Die Terrasse war auf der zur Schlucht blickenden Seite der Höhlenwohnung, wo auch der eigentliche Wohnbereich lag. Sie bot genug Platz für zehn Leute, und war trotz der hineinscheinenden Sonne recht kühl, so dass sie ein idealer Aufenthaltsort war. Nun schaute ich verwirrt auf Norenkei.

"Aber du hast die Schatulle doch schon geöffnet!"

"Richtig." Er nickte und stellte die Schatulle in die Mitte des Tisches. "Aber du nicht. Das ist die Aufgabe, die der erste Schwertmeister denjenigen gestellt hat, die den Dolch haben wollen. Ich kann sie öffnen, aber kannst du das auch? Nur jemand, der mit den Kräften des Geistes umgehen kann, ist dazu in der Lage. Und das ist auch eine Voraussetzung, um den König von Fanelia zu heilen, wenn ich mich richtig erinnere. Tut mir leid, dass ich dir da nichts genaues sagen kann, aber ich habe nie damit gerechnet, dass der Dolch jemals wieder aus dieser Höhle geholt wird, und habe mich deswegen nicht über das Mindestmaß mit dieser Möglichkeit beschäftigt."

"Und da sagst du immer, man muss auf alles vorbereitet sein, auch auf das Unwahrscheinliche." meinte Haruka tadelnd, die gerade aus der Küche kam und das Essen auf den Tisch stellte.

"Ja, und das sage ich deswegen so häufig, weil ich genau das nicht getan habe, und schon mehrmals erlebt habe, dass ich diesen Rat, den mir mein Meister gab, besser hätte beachten sollen. Genau wie in diesem Fall."

"Alles schön und gut, aber wie macht man denn diese Schatulle auf?" fragte Blinx, der die Schatulle von allen Seiten betrachtet, und weder Schloss noch Öffnungsmechanismus entdeckt hatte.

"Das ist das, was Hitomi herausfinden muss. Wenn sie es nicht schafft, kann sie mit dem Dolch sowieso nichts anfangen."

Ich nahm die Schatulle vom Tisch und legte so die Hände darauf, wie Norenkei es getan hatte. Auch ich konnte nichts sehen, dass darauf hinwies, wie man dieses Behältnis öffnen könnte. Ich versuchte daran zu drehen oder zu schieben, drückte auf alle möglichen Stellen, aber nichts geschah.

"So wird es nichts Hitomi!" meinte Norenkei nuschelnd, da er den Mund voll hatte. "Ich werde es dir nach dem Essen erklären, aber jetzt greif erst mal zu. Glaub mir, du wirst in nächster Zeit eine Menge Hunger haben."

Ich verstand zwar nicht, was er damit meinte, aber in einem hatte er Recht. Die Schatulle konnte bis nach dem Essen warten. Mein Magen grummelte lautstark seine Zustimmung zu dieser Entscheidung.
 

"Also, es ist wie folgt", erklärte Norenkei.

Wir hatten uns alle die Bäuche vollgeschlagen und saßen nun auf der Terrasse, mit dem Rücken zur Sonne, die durch einen hauchfeinen, fast unsichtbaren aber erstaunlich belastbaren Vorhang abgemildert wurde. Wenn man erst mal alles entdeckt hatte, wirkte diese Höhle nicht mehr wie eine Verlegenheitsbehausung, sondern vielmehr wie ein ausgeklügelter Palast voll nützlicher Dinge, die ich mir merken würde. Vor allem das Wasserspiel gefiel mir, das mit leisen, fast unhörbaren und doch so entspannenden Geräuschen nicht nur für eine Abkühlung sorgte.

"Die Schatulle", er zeigte auf das Objekt der Diskussion, das immer noch auf dem Tisch lag, "hat ein Schloss, das von außen nicht zu öffnen ist, sondern nur von innen."

"Von innen?" Ich sah ihn ungläubig an. "Aber das ist Unsinn! Wie soll man es dann aufbekommen!"

"Ich habe es doch geschafft, oder? Hör zu, ich muss dir wohl etwas über die drei Schwertmeister Gaias erzählen." Er trank einen Schluck der klaren, gelben Flüssigkeit, die Haruka ihm gebracht hatte.

Ich hatte neugierig gefragt, was das sei, und als sie "Saftquitte" gesagt und meinen Gesichtsausdruck gesehen hatte, hätte sie vor Lachen fast das Glas fallen lassen.

"Ich kann das Zeug auch auf den Tod nicht ausstehen. Aber ihm scheints zu schmecken."

Sie hatte mir stattdessen ein Glas mit dunkelblauer Flüssigkeit gebracht, das für mich nach Brombeeren schmeckte, und das ihr Lieblingsgetränk war.

Blinx wollte nichts, er war viel zu fasziniert von der Schatulle.

"Schon seit langer Zeit gibt es auf Gaia drei Schwertmeister. Die ursprünglichen Schwertmeister hatten besondere Kräfte, und sie wählten ihre Nachfolger unter den Menschen aus, die ebenfalls solche Kräfte besaßen. Die Linie, der Vargas angehörte, die Seher-Linie, zeichnet sich durch die Gabe aus, die Gegenwart sehen zu können. Ereignisse an weit entfernten Orten."

"Sie zeichnete sich aus." sagte ich traurig. "Vargas ist tot. Und seine Fähigkeit hat ihm nicht geholfen, den Angriff der Zaibacher zu sehen."

"Auch er konnte nichts Unsichtbares sehen, und diese Gabe ist sehr schwer zu kontrollieren. Man weiß eigentlich nie vorher, was man sehen wird, wenn man sie einsetzt. In den meisten Fällen sind es nur Alltagsdinge. Fischer beim fischen, ein Wolf, der einen Hasen jagt... Die Chance etwas wirklich wichtiges zu sehen, ist äußerst gering. Es gab vereinzelt Schwertmeister, die eine größere Kontrolle über ihre Fähigkeit hatten, aber das ist schon lange her." Er zögerte. Etwas schien er noch sagen zu wollen, aber er schien sich nicht sicher zu sein, ob er es mir anvertrauen könne. Schließlich entschied er sich dafür.

"Auch wenn Vargas tot ist, ohne einen wirklichen Nachfolger zu haben - er hatte mal einen ausgewählt, aber dieser Junge ist gestorben - ist die Linie der Schwertkämpfer nicht zu Ende. Sie wurde schon oft unterbrochen, denn wir sind wirklich nicht unsterblich."

"Das sagt er mir andauernd!" stöhnte Haruka, und ich musste lachen.

"Aber obwohl sie unterbrochen wurde", nahm Norenkei seinen Faden wieder auf, "geht die Linie weiter. Es ist seltsam, aber von irgendwoher kommt immer jemand, der die Fähigkeiten hat, der neue Schwertmeister zu werden. Es ist fast, als ob das Schicksal dafür sorgen würde, dass die Linie nicht ausgelöscht wird. Wer weiß."

Das Schicksal. Mir lief ein kalter Schauer den Rücken runter. Dem Schicksal stand ich seit einiger Zeit ziemlich... misstrauisch gegenüber. Um ein Haar wäre es Dornkirk gelungen, Gaia in den Untergang zu führen, indem er das Schicksal veränderte. Ich hatte das irgendwie verhindert. Das Schicksal war launisch, und seine Launen konnten gefährlich sein.

"Die andere Linie zeichnet sich durch die Fähigkeit der Voraussage aus. Manchmal haben sie Visionen von der Zukunft." Er schaute mich an, und sein Blick schien in mein Innerstes zu gehen. "Ich weiß nicht, ob du das weißt, aber die Tihani haben eine sehr große Sammlung von Prophezeiungen. Viele von ihnen stammen von den Schwertmeistern dieser Linie, der Visionärs-Linie. Ihre Voraussagen sind nie sehr genau, und oft zeigen sie Dinge, die niemals eintreffen, oder die niemand beobachtet, oder die einfach erst im Nachhinein klar werden. Viele ihrer Visionen beschäftigen sich mit dir, Hitomi."

"Mit mir?" Ich war ziemlich überrascht. War ich der Gegenstand von Visionen, die diese Schwertmeister seit Jahrhunderten hatten? Mir war nicht gerade wohl bei diesem Gedanken.

"Ja, mit dir. Du bist etwas besonderes Hitomi, ist dir das nicht klar? Du hast Gaia vor dem Untergang bewahrt, und soviel kann ich dir sagen: Dein Weg ist noch lange nicht zu Ende."

Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her. Was sollte das nun schon wieder heißen?

"Hör auf, Norenkei!" schimpfte Haruka, die mein Unwohlsein sah, und der ich anscheinend leid tat. "Wenn du ihr unbedingt Angst machen willst, kannst du das später immer noch tun. Im Moment geht es erst mal um die Schwertmeister und um die Schatulle!"

"Nun ja, da hat sie Recht. Bitte entschuldige Hitomi, ich wollte dir wirklich keine Angst machen. Aber allein, dass du den Dolch haben willst zeigt, dass du noch einen großen Einfluss auf Gaia Schicksal haben wirst. Daran zweifle ich ebenso wenig, wie daran, dass du in der Lage sein wirst, ihn aus der Schatulle zu holen.

Doch nun zu der Linie, der ich angehöre, und hoffentlich auch einmal Haruka. Unsere Linie heißt die Macht-Linie, denn wir haben die Fähigkeit, Kraft unseres Geistes die Wirklichkeit zu manipulieren, und zum Beispiel Schlösser ohne Schlüssel zu öffnen, oder Schlösser, die hinter etwas anderem liegen - wie hinter dem Holz einer Schatulle."

"Und wie soll ich das machen? Ich bin doch kein Schwertmeister!"

"Genau! Das ist ungerecht!" unterstützte mich Blinx lautstark. Er schien sehr aufgebracht zu sein. "Wie soll sie das machen? Ihr redet hier von seltsamen Kräften, und vielleicht hab ihr beide sie tatsächlich, aber wie kann so etwas die Voraussetzung dafür sein, den Dolch zu bekommen? Außerdem", er schaute die Schatulle nachdenklich an, "könnte man sie einfach aufbrechen."

"Nein, kann man nicht." sagte Norenkei bestimmt. "Dann würde der Dolch darin zerbrechen, er ist schließlich aus Glas. Es gibt keine Möglichkeit, den Dolch heil zu bekommen, außer man öffnet die Schatulle mit den Kräften des Geistes."

"Und Hitomi hat diese Kräfte!" fügte Haruka hinzu, und lächelte mich an, als ich sie ungläubig ansah.

"Habe ich nicht!"

"Doch, Hitomi. Glaub mir. Sag, wie bist du nach Gaia gekommen?"

Ich sah sie irritiert an. Was hatte das damit zu tun? "Ich habe mich auf Gaia konzentriert, und mir ganz fest gewünscht, hier zu sein."

"Na also. Das ist fast das selbe. Du hast die Wirklichkeit manipuliert, indem du dich von einen Ort zu einem anderen versetzt hast. Das ist nichts anderes, als ein Schloss mit den Gedanken zu öffnen."

Ich wollte "Nein!" rufen, sagen, dass es etwas sehr anders war, dass es das Tor war, dass mich nach Gaia gebracht hatte, und ich seine Kraft nur benutzt hatte. Aber was war, wenn ich diese Kraft auch dazu nutzen konnte? Wenn es tatsächlich das gleiche war, und egal, ob ich mich oder etwas anderes bewegte?

"Du hast die Kraft dazu, Hitomi", sagte nun auch Norenkei. "Du bist etwas ganz besonderes. Du hast die Kräfte aller Schwertmeister. Du kannst Dinge bewegen, in die Zukunft sehen, und auch in die Gegenwart."

"Nein, das kann ich nicht. Das weiß ich genau. Ich habe noch nie etwas gesehen, dass in der Gegenwart passiert ist. Immer nur die Zukunft und manchmal auch die Vergangenheit. Und das war schlimm genug." Ich schaute in den blauen Saft in meinem Glas. Es war mehr als das. Es war zuviel gewesen.

"Du irrst dich Hitomi. Es gibt keinen großen Unterschied darin, seinen Körper an einen anderen Ort zu versetzten, nur seinen Geist, oder diesen an einen Ort, der erst noch geschaffen wird. Du hast die Kraft, alles dreies zu machen. Das ist noch niemals zuvor passiert. Niemand außer den Göttern hat bis jetzt diese Fähigkeiten alle auf einmal gehabt. Wenn du willst, zeige ich dir, wie du die Schatulle öffnen kannst. Aber tun musst du es selbst."

Ich sah Norenkei ungläubig an. Bot er mir gerade an, diese Fähigkeit zu lernen? Wie ich Dinge mit meiner Vorstellung manipulieren konnte? Oder konnte ich es schon, und er wollte mir nur zeigen, wie ich es richtig einsetzte?

"Ich muss darüber nachdenken." sagte ich.

"Natürlich. Lass dir nur Zeit."

"Entschuldigt mich."

Zeit. Ich hatte keine Zeit. Ich musste Van helfen. Aber wenn ich dazu den Dolch brauchte, was sollte ich tun?
 

"Also dann Hitomi. Sieh dich um." Wir waren wieder in dem Raum, den Blinx und ich als zweiten betreten hatten, und in dem Norenkei auf dem Boden gesessen hatte. Es war der Trainingsraum des Schwertmeisters.

Ich hatte die halbe Nacht wach gelegen, und überlegt. Aber ich schien keine Wahl zu haben. Ich hatte keine andere Wahl, als das zu tun, was Norenkei wollte.

"Betrachte die Waffen und wähle eine aus."

"Eine auswählen?" fragte ich überrascht. Wozu?

"Ja. Du musst lernen, dich richtig zu konzentrieren. Und das lernst du am besten mit einer Waffe in der Hand. Glaub mir, wenn dein Leben auf dem Spiel steht, lernst du sehr schnell neue Dinge."

"Mein Leben?" Was sollte das werden? Was hatte er vor? Aber Norenkei lachte nur.

"Keine Sorge. Du bist nicht in Gefahr. Ich wäre ein schlechter Lehrer, wenn ich meine Schüler in Gefahr brächte. Aber du wirst glauben, dass du in Gefahr bist."

Einigermaßen beruhigt schritt ich an den aufgereihten Waffen entlang. Er hatte Recht, in Gefahr war man in der Lage, unglaubliches zu erreichen. Und wenn er seine Schüler in Gefahr brachte, würde Haruka wohl kaum noch leben. Davon abgesehen, dass sie ihm vertraute. Ich erinnerte mich an ein Gespräch von gestern:

"Ich kann die Entscheidung nicht für dich treffen, Hitomi. Aber wenn mein Vater sagt, dass es der einzigste Weg ist, dann hast du wohl keine Wahl. Du hast nicht die Zeit, nach einem anderen Weg zu suchen.

Aber vor einem möchte ich dich noch warnen: Du kennst bisher nur den Menschen Norenkei, nicht den Lehrer. Der Lehrer ist ein ganz anderer Mensch. Hinterhältig, unbarmherzig, ja fast brutal. Wenn es nicht so verrückt klingen würde, dass über den Menschen zu sagen, den ich als meinen Vater betrachte, würde ich sogar sagen, ich hasse ihn. Aber vielleicht muss das so sein. Denn sonst würde ich vielleicht nicht aufpassen, und das kann gefährlich sein, wenn man den Schwertkampf trainiert. Und man gewöhnt sich so gleich an, immer voll aufzupassen, wenn man ein Schwert in der Hand hält."

Harukas Worte hatten mir die Entscheidung nicht gerade leichter gemacht. Aber sie hatte wohl Recht, ich hatte keine andere Wahl. Norenkei würde die Schatulle nicht öffnen, das hatte er deutlich gesagt. Und wenn es stimmte, dass ich die selbe Fähigkeit brauchte, die notwendig war um die Schatulle zu öffnen, um Van zu heilen, dann musste ich ihm dafür sogar dankbar sein. Sonst wäre ich vielleicht in Versuchung geraten.

"Hast du schon eine Wahl getroffen?" fragte Norenkeis harte Stimme hinter mir. Auf diese Art hatte ich ihn noch nie reden hören. War das der Lehrer Norenkei? Dann verstand ich langsam, was Haruka meinte.

"Nein. Ich... ich weiß doch gar nicht wie. Ich habe keine Ahnung von Waffen."

"So, du hast keine Ahnung!"

Unwillkürlich zog ich den Kopf ein. Seine Stimme klang so, wie es sich anfühlen musste, einen Schlag mit dem Holzhammer auf den Kopf zu bekommen.

"Du hast doch in dem niedlichen Köpfchen da auf deiner Schulter noch etwas anderes als nur die verliebten Gedanken an deinen Van, oder?"

Ich fuhr wütend herum "Was erlauben sie sich!" schrie ich, und spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Wie konnte dieser Kerl es wagen, über meine Gefühle zu spotten?

Aber seine Augen, wie sie mich anblickten... Ich weiß nicht, wie ich das jemals beschreiben soll. Es war, als sei alle Wut plötzlich verflogen. Ich schaute ihn an, konnte meinen hektischen Atem spüren - und senkte beschämt den Kopf.

"Gut. Nachdem das geklärt ist... sieh her." Er hatte ein großes, massiv wirkendes Schwert genommen, und hielt es nun vor mich. "Was kannst du über dieses Schwert sagen?"

Ich zögerte. Was sollte ich denn sagen? "Es ist groß. Groß und schwer. Man braucht sicher zwei Hände, um es zu führen." Keine Reaktion. Das machte ich einerseits unsicher, andererseits bestärkte es mich weiter zu reden. Ich versuchte mich daran zu erinnern, was ich von Van und Allen über Schwerter gehört hatte.

"Jemand mit einem solchen Schwert muss angreifen, er kann damit nicht alles blocken, denn leichte Waffen können viel schneller bewegt werden. Und er kann auch keinen Schild tragen. Es ist eine Waffe für den Angriff, zum Durchbrechen der feindlichen Verteidigung. Der Kampf muss schnell gehen. In längeren Kämpfen kann nicht nur angegriffen werden. Außerdem würde der Träger sonst zu erschöpft, bevor der Kampf vorbei ist. Das ist ein Schwert zum Kampf gegen mehrere Gegner, nicht für den Zweikampf."

"Sehr gut. Und da hast du gesagt, du wüsstest nichts von Schwertern. So kann man sich täuschen. Nun, da du jetzt weißt, dass du die Waffen einschätzen kannst, solltest du dich vielleicht noch einmal umsehen."

Mich noch einmal umsehen? Dabei wollte ich doch gar keine Waffe. Egal was für eine. Andererseits gefiel mir der Gedanke, mich verteidigen zu können. Ich ging weiter die Wände entlang, und war schon fast wieder an meinem Ausgangspunkt. Schwerter, Dolche, Keulen...

"Was ist das?" Ich bückte mich, und hob einen geraden, abgerundeten, etwa armstarken Stock auf, der etwas größer war als ich.

"Ein Kampfstab."

"Ein Kampfstab? Das soll eine Waffe sein?"

"Ja, und nicht nur irgendeine. Der Kampfstab ist die Waffe der Pazifisten, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Er ist ungeeignet für den Angriff, aber ein geübter Stabkämpfer ist fast unbesiegbar in der Verteidigung. Er hat einen Reichweitenvorteil gegenüber den meisten Nahkampfwaffen, und nutzt die Kraft des Gegners für sich selbst. Ein Stabkämpfer muss nicht stark sein, im Gegenteil. Gewandtheit und Geschicklichkeit zählen mehr als alles andere bei dieser Waffe. Die Hebelkraft ist der wichtigste Verbündete eines Stabkämpfers. Wer einen Kampfstab hat, kann einen Gegner entwaffnen und besiegen, ohne ihn wirklich zu verletzten. Trotzdem kann der Stab genauso tödlich sein wie ein Schwert. Dazu ist er wesentlich unauffälliger. Richtig gearbeitet, sieht er für jeden Uneingeweihten aus wie ein Wanderstock, und ist dennoch eine starke Waffe."

"Das nehme ich!" rief ich aus, ohne weiter darüber nachzudenken. Ich wollte niemanden verletzen, und das schien mir die einzige Waffe zu sein, mit der das möglich war.

"Ich habe gehofft, dass du diese Wahl triffst."

"Ach ja?" Ich sah Norenkei verwundert an.

"Ja, denn er passt zu dir und deinem Charakter. Du bist jemand, der das Kämpfen verabscheut wie kaum etwas anderes. Außerdem bist du das Idealbild des Stabkämpfers. Körperlich eher schwach, aber schnell und gewandt. Und es gibt noch einen Grund, warum ich gehofft habe, dass du dich für den Stab entscheidest."

"Und welchen?"

Er grinste. "Der Kampfstab erfordert von allen Nahkampfwaffen am meisten Konzentration. Und deswegen unterrichte ich dich ja."

Ich schaute zweifelnd auf den Stab in meiner Hand. Er sah wirklich wie ein Wanderstab aus.

"Und sie meinen, dass ich es lernen kann, damit umzugehen?"

"Da bin ich sicher. Komm her." Norenkei war jetzt fast freundlich, aber trotzdem lag noch immer diese Strenge in seiner Stimme, die deutlich zeigte dass er immer noch der Lehrer war. "Ich werde dir erst mal zeigen, wie man ihn richtig hält."
 

"Nein, du musst die Spitze höher halten. Und vergiss das Atmen nicht, ja, so ist besser. Jetzt nach vorn bewegen! Drehung! Umfassen!"

Der Stab polterte mit einem lauten Klappern auf den Boden.

"Verdammt!" fluchte ich, und erhielt als Belohnung einen kleinen Schlag mit dem Bambusstock, den Norenkei benutzte, um meine Körperhaltung zu korrigieren - oder um mir schmerzhaft klar zu machen, wenn ich mich falsch verhielt.

"Hier wird nicht geflucht. Wut ist der Feind des Kriegers und des reinen Geistes. Leere deinen Geist, werde eins mit deiner Umgebung und dem Stab, fühle wie die Kraft dich durchfließt, und du brauchst über die Bewegungen nicht nachdenken, sie kommen dann von ganz allein. Heb ihn auf. Wir fangen noch einmal an. Aber diesmal bitte ohne Fluchen!"
 

Ich ließ mich erschöpft auf den Stuhl fallen. Mir taten sämtliche Knochen im Leib weh.

"Na, du siehst ja ganz schön erledigt aus!" meinte Haruka.

"Und wie! Ich kann mich kaum noch rühren."

"Kein Wunder, nach dem Training." Norenkei setzte sich auf seinen Platz.

"Ach, schon wieder auf Mensch umgeschaltet, Vater? Dann kannst du sie ja vielleicht mal loben."

Norenkei lachte lauthals, und zwinkerte mir zu. "Ist sie nicht süß? Immer so charmant!"

Ich nickte irritiert. Er war tatsächlich wieder so wie gestern. Nett, wenn auch ein bisschen sarkastisch und manchmal ziemlich nervend. "Aber sie hat Recht. Du warst gut Hitomi. Ich glaube, nach dem Essen können wir den ernsthaften Teil angehen."

"Den ernsthaften Teil?" Der Schock musste mir ins Gesicht geschrieben sein, denn Haruka und Norenkei lachten.

"Nun mach mal nicht so ein Gesicht." meinte er "So schlimm ist das auch wieder nicht. Was gibt's eigentlich zum Essen, Schätzchen?"

"Keine Ahnung. Da musst du Blinx fragen. Er hat gekocht."

"Wie er? Der Katzenjunge? Bist du dir sicher, dass das klug war?"

"Er scheint zu wissen, was er tut."

In diesem Moment kam er herein, begleitet von einem unbeschreibbaren Duft.

"Donnerwetter. Wenn das nur halb so gut schmeckt, wie es riecht, dann bist du abgeschrieben Haruka."

Sie verzog säuerlich den Mund, schien aber nicht beleidigt zu sein. "Schön wärs. Aber ich fürchte, er wird früher oder später wieder gehen, und dann muss ich wohl wieder ran. Norenkei ist nun mal ein Krieger", sagte sie mir mit einem Zwinkern, "und was er kocht, kann man auch bloß im Krieg verwenden - um den Feind zu vergiften."

Nachdem das Lachen sich gelegt hatte, langten wir alle ordentlich zu. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mich Haruka und Norenkei mit diesem Frotzeln nur aufmuntern wollten. Aber das war mir egal. Wenn das ihr Ziel war, hatten sie es jedenfalls erreicht, ich fühlte mich schon wieder viel besser, und vergaß für eine Weile sogar Van.
 

Ich stürmte in mein Zimmer und hatte das dringende Bedürfnis, irgendetwas zerbrechliches gegen die Wand zu schmeißen. Statt dessen ließ ich mich aufs Bett fallen. Zwei Stunden lang hatte Norenkei auf mir herumgehackt. Und warum? Weil ich nicht richtig hinfiel, jawohl! Dass der Boden aus Stein war, schien ihn nicht sonderlich zu interessieren.

"Das ist egal. Wenn du hinfällst, musst du dich richtig abrollen. Und wenn wir auf Daunendecken üben, wirst du in einem richtigen Kampf Angst davor haben, zögern, und sterben. Und du kannst mir eins glauben: Wenn du hinfällst, dann garantiert auf den spitzesten Stein im Umkreis von einer Meile."

Das mochte ja laut Murphy so sein, aber verdammt, wir könnten doch wenigstens am Anfang auf einem etwas weniger harten Boden üben! Und was war nun, nach zwei Stunden, nachdem mir alle Knochen weh taten, und sich sicher schon die ersten blauen Flecke zeigten? Er hatte mich davon geschickt, ich sei zu unkonzentriert und heute würde es keinen Sinn mehr machen.

Die Tür ging auf.

"Hitomi?"

"Geh weg Haruka!" rief ich genervt. Das Kissen, in den ich meinen Kopf gepresst hatte, dämpfte meinen Ausruf zu einem leisen Murmeln.

"Nichts da! Du kommst jetzt mit mir." Sie zog mich hoch und weiter zur Tür hinaus.

"He, was soll das?" fragte ich.

"Ich will dir helfen."

"Mir helfen?" Ich fragte mich, wie.

Sie zog mich weiter, durch den Hintereingang, den ich erst jetzt bemerkte, auf die Wiese neben dem Haus, die ich beim Ankommen ebenfalls noch nicht bemerkt hatte, da eine mannshohe Hecke sie umgab, die zwischen ihr und dem Weg lag.

"Ich weiß wie du dich jetzt fühlst, und ich habe genau das richtige für dich." sagte sie schmunzelnd, und dann führte sie mich zu einer Stange, über der ein Teppich hing. Sie ließ endlich meinen Arm los, und drückte mir dann mit einem albernen Grinsen einen Teppichklopfer in die Hand.

"Was...?"

"Ist das so schwer zu erraten? Du bist wütend, willst etwas zerdeppern, stehst vor einem Teppich und hast einen Teppichklopfer in der Hand. Was meinst du, weshalb das so ist?"

"Du meinst, ich soll..."

"Genau. Das hilft, glaub mir. Und wenn du es nicht tust, platzt du irgendwann."

Ich starrte noch eine Weile unschlüssig auf den Teppich, bevor ich dann mit einem Schulterzucken zuschlug. Vielleicht half es ja wirklich.

"Fester Hitomi, fester! Stell dir vor, Norenkeis Gesicht auf dem Teppich zu sehen. Das dort, das könnten doch seine Augen sein, und da, siehst du seine Nase? Die, die er immer so rümpft, wenn ihm mal wieder etwas nicht an deiner Bewegung gefällt?"

Ich musste grinsen. "Du scheinst dich ja auszukennen."

"Das habe ich dir doch gesagt. Na los, stell ihn dir vor. Ja, so ist es gut so!" Sie nahm sich noch einen Teppichklopfer, und gemeinsam schlugen wir auf den armen Teppich ein. Irgendwann lachten wir lautstark, und riefen Sätze wie "Und noch eins auf die Nase! Und das auf die Stirn war für Papi, und das für Mami. Hast du ein Brüderchen Hitomi? Dann noch eins für das Brüderchen aufs Maul!"

Völlig erschöpft, durchgeschwitzt und noch immer lachend ließen wir schließlich von dem malträtierten Teppich ab, und fielen ins grüne, saftige Gras.

"Oh Mann, bin ich durchgeschwitzt!" japste ich.

"Ja, die Sonne knallt mächtig. Zieh dich doch aus!" forderte Haruka mich auf, und ich beobachtete staunend, dass sie sich ohne Scheu in rasender Schnelle von allen Kleidern befreite. Dann sah sie mich verwundert an. "Was ist? Ich denke, du schw... oh!" Sie lachte. "Keine Angst, es kann uns niemand sehen. Norenkei kommt grundsätzlich nicht, wenn hier Teppiche geklopft werden. Und außerdem sitzt er mit Blinx beim Kartenspielen. Bis zum Abendbrot kommt keiner von den beiden hier raus, das kannst du mir glauben. Ehrlich gesagt kommt die Idee mit dem Teppichklopfen sogar von Norenkei. Und er hat sie von dem Schwertmeister, der sein Lehrer war. Scheint so etwas wie eine Familientradition zu sein. Wahrscheinlich sind alle Schwertmeister als Lehrer unausstehlich."

Ich war noch einen Augenblick unentschlossen, doch dann tat ich es ihr nach, und bald darauf lagen wir beide splitterfasernackt auf unseren Sachen im Gras, genossen den sanften, kühlen Wind auf unseren Körpern und beobachteten den Himmel, an dem weiße, fransige Wolkenberge entlang zogen.

"Hitomi, schau mal diese Wolke da!" rief Haruka auf einmal lauthals lachend.

Ich sah zu der Wolke, wusste einen Moment nicht, was sie meinte, bis es mir auffiel. "Blinx und Norenkei beim Kartenspiel!" verblüfft schaute ich zu der Wolke. Langsam verschoben sich ihre Konturen, bis sie nur noch zwei unförmigen Türmen auf einem Berg ähnelte. "Schade. Das war ein lustiges Bild. Komm Hitomi, spielen wir ein wenig Wolken-Raten."

Und so ging es eine ganze Weile. Ich hatte Spaß wie lange nicht mehr. Es tat gut, in der Sonne zu liegen und ein albernes Spiel zu spielen. In solchen Momenten merkt man erst, wie wenig man eigentlich braucht, um glücklich zu sein.

Leider musste ich in diesem Moment wieder an Van denken und meine Fröhlichkeit verflog. Außerdem hatte es sich etwas abgekühlt, und eine kühle Brise ließ mich frösteln.

"Nicht mehr so warm, oder?" Haruka schien mein Frösteln bemerkt zu haben.

"Nein. Ich glaube, wir sollten uns wieder anziehen."

"Warte, noch nicht." Haruka stand auf, und hielt mir die Hand hin. "Ich habe eine bessere Idee."

"Eine bessere Idee?" fragte ich verwundert. Was meinte sie denn diesmal? Ich nahm ihre Hand und ließ mir von ihr hoch helfen. "Ahh! Meine Muskeln!" rief ich erschrocken, als der Schmerz mich durchzuckte.

"Wusste ich's doch!" kicherte Haruka. "Ich hab mir schon gedacht, dass deine Muskeln protestieren werden. Darum auch meine Idee. Komm!"

Wir gingen ein paar Schritte bis zur Mitte der kleinen Wiese.

"So, stell dich hier hin. Ich zeige dir jetzt etwas." Sie hockte sich auf den Boden, die Hände vor ihr auf den Boden gedrückt. "Und das machst du jetzt auch."

"Und was soll das sein? Eine Art Yogaübung."

"Yoga?" Sie runzelte die Stirn. "Also hier heißt es auf jeden Fall anders. Aber ich glaube, es ist sich ziemlich ähnlich. Es sind Entspannungs- und Dehnungsübungen, und wenn du sie nicht mitmachst, wird dein Muskelkater morgen sehr laut jaulen."

Ich verzog das Gesicht, als ob ich es jetzt schon spüren konnte. "Bloß nicht. Mit Muskelkater kenn ich mich aus. Ich soll also meine Muskeln bewegen. Gut, ich mache mit."

Sie musste mir die Übungsreihenfolge ein paar Mal zeigen, und dabei konnte ich sehen, wie geschmeidig sie war. Es war mir noch nie aufgefallen, aber sie schien jeden einzelnen Muskel an ihrem Körper einzeln anspannen zu können. Und sie hatte eine ganze Menge davon.

"Wie machst du das?" fragte ich, mich mit einer Übung und dem trotz allem einsetzenden Muskelkater abplagend.

"Wie mache ich was?"

"Deine Muskeln. Du bist so geschmeidig, und scheinst so stark zu sein... Das ist mir bisher gar nicht aufgefallen."

"Ach so, das. Ist alles nur eine Frage der Übung. Ich werde dir noch ein paar zeigen. Dann wählen wir einige aus, die du ab jetzt jeden Morgen und Abend machst, und bald bist auch so geschmeidig wie ich." Sie zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. "Geschmeidigkeit ist sehr wichtig für eine Stabkämpferin, und die Übungen sind gut für die Konzentration. Ich werde mit Vater darüber reden. Dann machen wir das jeden Nachmittag."

Ich wusste nicht, ob mir das wirklich gefallen würde, aber es schien besser zu sein als diese dämlichen Fallübungen, bei denen einem anschließend jede Körperstelle wehtat. Und andererseits war es so schön entspannend. Vielleicht würde es mir wirklich Spaß machen. Aber mir gefiel der Ton nicht, in dem sie "jeden Nachmittag" gesagt hatte. Wenn mich die Zeit nicht drängen würde, würde ich es vielleicht probieren, aber so klang es nach einer viel zu langen Zeit.

"Haruka!" hörte ich auf einmal die leise Stimme eines Jungen, und ich kippte vor Schreck von dem Bein, auf dem ich gerade stand, und landete unsanft im Gras. "Haruka!" hörte ich ihn wieder schreien.

"Hier drüben!" antwortete Haruka, und ich zischelte sie an.

"Bist du verrückt! Hast du vergessen, dass wir nichts anhaben?" Ich sprang bereits auf, und hastete nach meinen Sachen.

"Keine Sorge, ich habe doch gesagt, niemand wird uns sehen. Er ist blind."

"Wie?"

"Blind. Das ist Garm."

In diesem Moment trat besagter Garm durch die Büsche. "Mit wem redest du da, Haruka?" fragte er mit sanftem Lächeln.

"Mit Hitomi. Sie ist vorübergehend bei Vater in Ausbildung."

"Du Arme!" brach es aus ihm heraus, dann lachte er. "Ich mache keinen guten Eindruck, oder? Das erste, was mir zu meinem alten Meister einfällt, ist jeden zu bedauern, den er unter seiner Fittiche hat."

"Du musst es ja wissen." Haruka kam zu mir. "Er war nämlich mal der Schüler Norenkeis. Aber dann hat ihn eine seltene Krankheit erwischt, und als Folge ist er erblindet."

"Ja, ein blinder Krieger taugt nicht viel. Ist der Alte da?"

"Ja."

Ich hatte mich mittlerweile halb angezogen, als Garm plötzlich in meine Richtung starrte. "Was ist das?" fragte er, und zeigte auf mich.

"Was meinst du?" Haruka schien noch verwirrter als ich zu sein.

"Das da an ihrem Hals."

Er trat auf mich zu, hob die Hand, und ich rief erschrocken "Halt!" da ich ja immer noch nicht angezogen war.

"Keine Sorge, Mädchen. Ich fass dich nicht an. Das mache ich niemals. Auch nicht wenn du angezogen wärst. Aber was zum Teufel ist das?"

Statt einer Antwort frage ich verwirrt: "Woher weißt du, dass ich nicht angezogen bin?"

Garm lächelte. "Ich kann zwar nichts sehen, Bewegungen spüre ich aber trotzdem."

"Es ist wegen der Geisteskraft. So wie Norenkei die Schatulle mit seinen Gedanken öffnen kann, so kann Garm auch Dinge erspüren. Aber nur Bewegungen, wenn es weiter als eine Handbreit weg ist. Und das ist auch der Grund, warum er zögert, andere Menschen zu berühren. Die Energieströme verwirren ihn. An unseren Bewegungen hat er erkannt, dass wir uns anziehen. Aber was strahlt eine solche Energie aus, dass er es aus fünf Metern Entfernung spüren kann?" Ihr Blick fiel auf den Torstein um meinen Hals. "Was ist das für ein Anhänger?"

Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. "Natürlich. Das ist es, was er spürt." Dann schaute ich zweifelnd zu ihm. "Auch wenn ich nicht weiß, wie."

"Ein Anhänger?" fragte er erstaunt. "Muss ein sehr mächtiges Artefakt sein. Darf ich einmal haben?"

Zaudernd stand ich da. "Nein!" entschloss ich mich schließlich. "Nimm es bitte nicht persönlich, aber ich möchte ihn niemanden..."

"Schon gut, macht nichts. Aber jetzt, da ich so dicht vor dir stehe - auch du strahlst eine große Kraft aus." Er überlegte einen Moment. "Größer als meine, und wahrscheinlich auch Norenkeis. Aber viel ungerichteter und auch vielfältiger. Wer bist du? So etwas habe ich noch nie gespürt."

Bei seinen Worten war ich bleich geworden. Nicht auch noch er. Ich konnte es nicht mehr hören. Immer redeten alle von der Kraft in mir. Wer war ich denn? "Du musst dich irren, ich bin nicht so mächtig. Ich kriege ja nicht mal diese verdammte Schatulle auf!" Ich rannte an ihm vorbei, zurück ins Haus. Meine gute Stimmung war verflogen. Wieder hatte mich das eingeholt, was ich so sehr verabscheute. Ich war nicht dieses übernatürliche Wesen, zu dem mich alle machten. Warum verstand das bloß keiner?"

Ich hörte noch leise die Frage Garms. "Wer ist das, Haruka? Bitte sag es mir!"

Ihre Antwort hörte ich nicht mehr, aber das war mir auch egal.
 

"Hitomi?"

"Geh weg Blinx!"

"Nein, das werde ich nicht." Lautlos schloss sich die Tür hinter ihm. "Ich werde nicht zulassen, dass du weiter auf deinem Bett liegst, und rumheulst."

Ich drehte mich um und starrte ihn an. Seine Gestalt verschwamm vor meinen Augen, aber ich musste ihn nicht sehen, um zu erkennen, dass er anders war als sonst. Seine Stimme war anders, viel härter, und es schwang eine Entschlossenheit darin mit...

"Ich habe Merle nämlich versprochen, dass ich dich heil wieder zurück bringe."

"Du hast WAS?" fragte ich fassungslos.

"Eigentlich war sie es, die es mir befohlen hat.

,Hör zu, du Nichtsnutz. Ich habe keine Ahnung, warum Hitomi ausgerechnet dich mitnimmt. Aber wenn du zulässt, dass ihr irgendetwas passiert, drehe ich dir den Hals um. Und falls du nicht alles tust, damit Hitomi das kriegt, was immer sie da draußen sucht, dann bete, dass du mir nie wieder unter die Augen kommst. Hast du verstanden!?'

Das waren ihre Worte. Und ich habe sie verstanden. Ich weiß nicht, was schon wieder mit dir los ist, aber du wirst jetzt nicht in Selbstmitleid versinken. Du wirst dieses verrückte Training mitmachen, und wenn ich dich an den Haaren dahin ziehen muss. Du wirst es mitmachen! Norenkei wird dir zeigen, wie man diese Schatulle öffnet, und dann werden wir mit dem Dolch von hier verschwinden. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?"

Ich stierte ihn an, spürte wie die Wut in mir hochstieg, heiße und doch zugleich eiskalte Wut. Ich sprang auf, und schrie ihn an. "Hör auf so zu reden! Du hast ja keine Ahnung, wie ich mich fühle! Alle halten mich für irgendwas besonderes, aber das bin ich nicht. Ich halte das nicht mehr aus! Ich..."

Blinx schlug mich. Nicht etwa sanft, sondern mit aller Kraft, die er hatte, verpasste er mir eine Ohrfeige. Ich starrte ihn an. Dann schlug er mich wieder. Und noch einmal. Ich sah ihn immer noch ungläubig an, als es schwarz vor meinen Augen wurde, und ich zusammen sackte.

***
 

Die Frauenhand, die den Federkiel hielt, zitterte. Dann, mit einer entschlossen wirkenden Bewegung berührte die Feder das weiße, unbeschriebene Blatt.
 

Liebes Tagebuch.
 

Wieder zitterte die Hand als ob sie noch nie geschrieben hätte. Doch trotz der durch das Zittern krakeligen Schrift lag eine gewisse Anmut in den Buchstaben, die bewies, dass es nicht das erste Schriftstück dieser Dame war. Die Feder wurde in das Tintenfass getaucht, und nach einer weiteren Sekunde des Zögerns füllten rasch Reihe um Reihe immer weniger zittrig gemalter Buchstaben das Blatt.
 

Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Wenn SIE das finden, ist das mein Todesurteil. Aber ich halte es nicht mehr aus. Ich muss jemandem meine Gedanken mitteilen, oder ich werde noch verrückt.

Die Menschen tun mit leid. Ja, das tun sie wirklich. Ich kann es kaum glauben, aber ich will nicht, dass ihnen das passiert, was ihnen bevorsteht. Diese Menschen hier haben keine Schuld an dem, was geschehen ist. Ich habe einige der Wachsoldaten ausgefragt. Egal was man in Zaibach sagt, Fanelia war nicht der Angreifer. Diese Menschen hier wollten uns nicht angreifen, und wir sind ihnen zuvorgekommen. Sie hatten keine Ahnung von einem Krieg. Es ging alles nur um diesen Guymelef, Escaflowne. General Folken hat sein Heimatland nur deswegen angreifen und zerstören lassen.

Ach, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Die Menschen Fanelias sind keine Monster. Viele von ihnen schienen von Zaibach nicht mal etwas gehört zu haben, bis zu dem Tag, an dem ihre Stadt von den unsichtbaren Guymelefs der Drachenschwadron in eine flammende Hölle verwandelt wurde. Jetzt hassen sie die Zaibacher, aber ich kann ihnen deswegen keinen Vorwurf machen. Fast ein Drittel der Bewohner dieser einstmals bescheidenen aber schönen Stadt sind dabei grausam ums Leben gekommen.

Und Van. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Immer hieß es, er sei der schlimmste von allen, grausam und erbarmungslos, später war er der Schlächter der Zaibacher Soldaten. Aber nun da ich ihn kenne - selbst unter dem verderblichen Einfluss des Kirseth ist er ein netterer Mensch als die meisten von Abathurs Hexern, von ihm selbst ganz zu schweigen. Er hat gelogen, als Er mir sagte, Sie würden Van beeinflussen, dass er mich nicht heimtückisch aus dem Weg räumen würde. Ich habe sein Tagebuch gefunden. Ja, der große Schlächter hat ein Tagebuch, kaum zu glauben. Ich habe die Vermutung, nicht mal dieses überall herumschnüffelnde Katzenvieh weiß das.

Einige Stellen sind immer noch in meinem Kopf, so deutlich, als ob die Seiten noch vor mir liegen würden. Er liebt dieses seltsame Mädchen vom Mond der Illusionen. Er hat es nie deutlich ausgedrückt, aber die Art, wie er über ihre Abwesenheit geschrieben hat, war eindeutig. Auch wenn ich nicht weiß, was Liebe ist, habe ich es erkannt. Die Frage ist nur, was besser ist. Ich glaube, ohne seine Liebe zu diesem Mädchen wäre er besser dran.

Ich bin ihr übrigens kurz begegnet. Ich habe mich gefragt, warum er für dieses Mädchen solche Risiken eingegangen ist. Vom Aussehen her ist sie nichts wirklich besonderes. Ich gebe zu, sie hat irgend etwas an sich, das ich nicht beschreiben kann. Trotzdem bleibt es mir unerklärlich.

Ich hatte erst gedacht, es wäre wegen ihrer Fähigkeit, die Zukunft zu sehen, Abathur hat mich ja davor gewarnt. Aber selbst wenn es am Anfang so war, spätestens als er Folkens Festung in Pallas angriff, war es, weil er sie liebte. Den Angriff hat er kaum erwähnt, aber den Tag davor hat er auf zehn Seiten ausgebreitet. Und immer die selbe Frage, deren Hintergrund ich nicht kenne, und die ich deswegen nicht verstehe. Warum? Warum sie das getan hat. Und ich weiß nicht was. Er erwähnt eine Brücke und den Ritter des Himmels, Allen Shezar. Ich habe fast das Gefühl, sie und er...

Nein! Dann würde Van ihr doch niemals verziehen haben.

Aber andererseits hat er sogar seinem Bruder Folken verziehen.

Es stand da, auf der Seite auf der stand, dass Hitomi wieder auf ihren Planeten zurück gekehrt war. Es war an Folkens Grab. Dort, wo auch Escaflowne steht. Folken soll darüber wachen, dass dieser Guymelef nie wieder erwacht. Und das soll der Schlächter sein, der so etwas schreibt? Der den mächtigsten Guymelef ganz Gaias hat? Wo dieser Guymelef der einzige Grund ist, aus dem Abathur Van kontrollieren will? Ich hoffe nur, Abathur hat nicht das vor, das ich allmählich befürchte. Ich dachte, er wollte nur seine Rache an Van, indem er und Fanelia in einen Krieg gezogen und vernichtet werden. Aber vielleicht will er ja auch die Vernichtung aller Länder Gaias...

***
 

Ich kam langsam wider zu mir. Was war geschehen? Es fiel mir wieder ein. Blinx hatte mich geschlagen. Ich war so geschockt und wohl auch noch erledigt gewesen, dass ich in Ohnmacht gefallen war. Ich lag auf meinem Bett, und jetzt konnte ich Blinx leise Stimme hören.
 

Ich ging so lang, ich weiß es nicht mehr - wo war mein Zuhaus?

Gesichter so fern, sie werden blass, ich bin immer nur allein.

Auch ich kann lächeln, ja das ist nicht schwer

Vielleicht habe ich die Kraft, niemals aufzuhörn.

Aber manchmal möchte ich doch einfach nur weg von all dem.
 

Wenn Nachzudenken nicht ihre Art ist, durch Liebe lehrte ich sie.

Die Berge scheinen höher noch, mit Steinen unter deinen Schuhen

Und wenn du immer noch in Verzweiflung fällst, es gibt da eins, an das du glaubst

Ich bin immer in deinem Herzen.
 

Nichts ist mutiger als Ehrlichkeit, dein Leben ist dein Vertrauen in mich
 

Ich bin da, wenn du mich brauchst

Du brauchst dich nicht vor mir verbergen

Was du nun in dir spürst

Ich bin in deiner Seele
 

Wir werden zusammen sein, das Schicksal suchen

Unser Leid wird zu Ende sein

Zusammen sind wir, Hand in Hand

Du bist nicht allein
 

Menschen suchen verzweifelt außerhalb ihrer Selbst

Gefangen in dem Denken, dass ihnen niemals hilft

Und ich habe auch vergessen, dass die Liebe in mir genauso existiert wie in jenen, von denen ich sie haben wollte

Ich fühle dich jetzt
 

Ich bin bei dir, wenn du mich brauchst

Wir sind für immer zusammen

Nichts steht uns in unsrem Weg

Mit Vertrauen in uns selbst.
 

Wir werden zusammen sein, das Schicksal suchen

Unser Leid wird zu Ende sein

Zusammen sind wir, Hand in Hand

Wir werden nie vergessen, dass wir uns haben

Niemals
 

Liebe ist in dem Herz von jedem Mensch

Du bist nie mehr allein
 

"Ein schönes Lied."

Überrascht drehte er sich um. "Ich habe nicht gehört, dass du wach bist." Sein Gesicht verzog sich vor Kummer. "Es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe. Aber du warst einfach nicht du selbst."

Ich schaute eine Weile schweigend an ihm vorbei. "Doch, ich war ich selbst. Und das ist das schlimme. Komm Blinx, ich muss mich bei wem entschuldigen. Und danke, dass du mich zur Vernunft gebracht hast."
 

"Vergiss es Hitomi."

"Aber..."

"Ich sagte, vergiss es. Jeder dreht mal durch. Und du hast alles Recht dazu. Übrigens haben wir uns etwas ausgedacht."

"Wir?"

"Norenkei, Garm und ich. Komm mit."

Sie führte mich in den Trainingsraum. Was sich dort meinen Augen bot, war unglaublich. Garm saß da im Schneidersitz, aber nicht etwa auf dem harten Boden, sondern zwanzig Zentimeter darüber. Und Norenkei genauso.

"Was...?"

"Ah, Hitomi." Garm öffnete die Augen, lächelte mich an und sank dann langsam zum Boden. Bei Norenkei war es ähnlich, aber er fiel mehr.

"Bravo!" meinte Haruka, stellte sich vor Garm, und gab ihm einen hauchfeinen Kuss auf die Stirn. "Wie ich sehe, hast du ihn überflügelt."

"Ja, aber auch nur, weil er nicht richtig bei der Sache ist."

"Ich habe über deine Idee nachgedacht, Haruka!" verteidigte sich der Schwertmeister.

"Sie hat nämlich vorgeschlagen", erklärte er mir, "dass Garm dir zeigen soll, wie du deine Kräfte kontrollieren kannst. Und ich finde, die Idee hat was. Er kann die Linien der Kraft genauer wahrnehmen als jeder, den ich kenne. Er sieht ja gewissermaßen mit ihnen. Und bei dir geht es darum die vorhandene Kraft zu bündeln, und nicht sie erst zu verstärken, wie bei Haruka."

"Ja, Garm ist viel stärker als ich!" seufzte sie, woraufhin Garm ihr vorsichtig die Hände auf die Schultern legte, und sie zärtlich auf den Nacken küsste. Die beiden waren wohl mehr als nur Bekannte.

"He, ihr Turteltauben! Kommt zum Thema zurück!" bestätigte auch Norenkei unbeabsichtigt meine Vermutung.

"Also gut", meinte Haruka grinsend. "Wir haben uns überlegt, dass Vater dich frühmorgens trainiert. Er ist sowieso ein Frühaufsteher, im Gegensatz zu mir. Nach dem Mittag bin ich dann dran, mit den Übungen auf der Wiese. Und danach Garm. Er kann dir zeigen, wie du deine Energie kanalisierst. - Was ist? Hast du was dagegen?" fragte Haruka, als ich, statt freudig zu strahlen, wie sie vielleicht erwartet hatte, betreten zum Boden schaute.

"Nein, das ist es nicht, es ist nur... das klingt, als ob ich noch länger hier bleibe. Nicht, dass es mir nicht gefällt...", obwohl ich da gar nicht so sicher war, "aber ich muss mich beeilen." Stille herrschte im Raum.

"Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen", sprach plötzlich Norenkei, "aber vor einer Stunde kam eine Brieftaube von Eliandra. Im Moment scheint sich Van beruhigt zu haben. Er hockt in seinem Zimmer und macht nichts. Das ist zwar nicht besonders günstig, aber so kann er auch nichts anstellen. Irgendwer mit dem Namen Merle scheint das Königreich am Laufen zu halten, und erhält den Anschein von Normalität."

"Ein Glück!" entfuhr es mir. Ich fühlte mich unendlich erleichtert.

"Nachdem das geklärt ist, kannst du ja mit Garm anfangen. Geht aber besser auf dein Zimmer."

Ich schaute Garm zögernd an, und er lächelte aufmunternd, als ob er mein Zögern spüren konnte. Vielleicht konnte er das ja auch. "Einverstanden."
 

Nachdem Hitomi mit Garm und Haruka verschwunden war, ging Blinx zu Norenkei und setzte sich neben ihn.

"So, eine Nachricht von Eliandra."

"Gewissermaßen."

"Nur, dass die Nachricht ursprünglich nicht von ihr stammt, denn sie ist ja nicht mehr in Fanelia."

"Ist das wichtig?"

"Nur Thana kann noch unseren Aufenthaltsort kennen."

"Das ist wahrscheinlich, aber nicht sicher."

"Nein, nichts ist wirklich sicher. Van vergräbt sich also in seinem Zimmer."

"So stand es in der Nachricht."

"Und die Lady Thana hält das für ein gutes Zeichen?"

"Das stand nicht in der Nachricht."

"Dann hält sie es also für ein schlechtes Zeichen?"

"Sie weiß es nicht. Aber sie hat etwas von ,Ruhe vor dem Sturm' geschrieben."

"Dann heißt das, unsere Zeit wird knapp."

"Sieht so aus."

"Ihr habt es Hitomi nicht gesagt."

"Nein, habe ich nicht."

"Aber ihr habt ihr auch nicht gesagt, dass es ein gutes Zeichen ist."

"Das stimmt. Aber sie hat es als solches angesehen."

"Durch eure Wortwahl, Schwertmeister."

Norenkei lächelte. "Worte können starke Waffen sein. Willst du derjenige sein, der ihr sagt, dass die Zeit wegläuft?"

"Nein. Ganz bestimmt nicht. Das würde ihr nur Angst machen, und sie ablenken."

"Dann sind wir ja einer Meinung."

"Ja. Danke, Schwertmeister."

"Nicht der Rede wert. Ich habe kein bisschen gelogen. Ich habe nur die Wahrheit etwas anders ausgedrückt." Norenkei schloss die Augen.

"Glaubt ihr, sie schafft es rechtzeitig?"

Ein Auge von ihm öffnete sich wieder einen Spalt breit, und Norenkei schaute Blinx nachdenklich an. "Das kommt darauf an, wie lange sich der Sturm Zeit nimmt. Sie birgt eine außergewöhnliche Kraft in sich. Aber gerade dadurch ist ihre Hülle verletzlich. Es wird nicht einfach, aber sie kann es schaffen."

"Und wenn nicht?"

"Nun, dann Blinx, dann wird Van durchdrehen, und entweder er oder sein Königreich werden untergehen. Vielleicht auch beide. Die Frage ist nur, welche Entscheidung seine Freunde treffen. Aber verzweifle nicht. Es stand noch etwas anderes in der Nachricht."

"Und das wäre?"

"Hilfe kommt manchmal von jemandem, von dem man es am wenigsten erwarten würde."

***
 

"Eliandra!"

"Guten Tag! Es ist immer wieder schön, hier zu sein."

"Es ist doch kein Höflichkeitsbesuch, der euch jetzt zu mir führt, oder?"

"Nein, aber habt ihr einen bestimmten Grund für eure Vermutung, oder war es nur geraten?"

"Nun, ich hatte da vor ein paar Tagen einen Traum..."

"Erzählt mir davon. Und danach erzähle ich euch, ob der Traum mit dem Auftrag zusammenhängt, den ich euch erteilen möchte. Ihr seid doch im Besitz des dritten reinen Gegenstandes, oder?"

Eine Sekunde lang herrschte gespannte Stille zwischen den beiden.

"Ja. Aber ich bin erstaunt, dass ihr davon wisst."

"War nicht schwer zu erraten. Sie traut keinem mehr als euch."

"Ich fühle mich geschmeichelt, das aus eurem Mund zu hören!"

"Hört auf damit! Macht mir lieber einen Tee, und erzählt mir von eurem Traum."

"Wie ihr wünscht, Eliandra."

***
 

Eine Woche verging.

Die Sonne stieg auf, schaute auf Meister Norenkeis Höhlenhaus hinab, und versank wieder, nachdem sie Hitomi beobachtete hatte, die jeden Tag besser darin wurde, die Übungen zu absolvieren.

Haruka war erstaunt über ihre Fortschritte in der Körperbeherrschung, die sich auch in ihrem Können mit dem Stab ausdrückte.

Norenkei meinte, er kenne niemanden, der diese Waffe in dieser kurzen Zeit in einem solchen Ausmaß gemeistert hatte. Seiner Meinung nach musste es etwas mit damit zu tun haben, dass sie langsam aber sicher gelernt hatte, ihre inneren Kräfte zu steuern, wobei ihr Garm die größte Hilfe war.

Allerdings hatte sie am Anfang einige Probleme damit, dass er sie niemals berührte. Lediglich Haruka fasste ihn manchmal an, aber das auch immer nur zögernd, und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass er es bemerkt hatte. Auf Hitomis Frage erklärte Garm, er würde die Energieströme nicht nur sehen, sondern auch spüren, wenn ihn jemand anderes anfasste, und das war sehr unangenehm. Allerdings gab ihm dieses Talent auch ausgezeichnete Grundlagen für das Schmiedehandwerk. Nachdem er erblindet war, war er wieder in die Schmiede seines Vaters zurückgekehrt, und hatte ihn schon jetzt überflügelt.

"Ich kann die Form des Eisens sehen, aber nicht wie ihr nur das äußere, sondern das innere. Ich sehe jede Schwachstelle und jede Verunreinigung."
 

"Gut so Hitomi. Jetzt etwas höher heben. Noch weiter. Ja. Hindurch damit. Und festziehen. Ja! Fantastisch!"

Garms warmes Lächeln machte mich stolz. Aber noch stolzer das, was ich gerade getan hatte. Ich konnte es noch immer nicht glauben.

"Also" nörgelte Haruka "ich binde mir die Schuhe doch lieber mit den Händen zu. Das geht viel schneller."

"Haruka!" schimpfte ich gespielt entrüstet.

"Hitomi hat Recht. Fass dir mal an die eigene Nase. Wenn du das versucht hättest, wärst du wahrscheinlich immer noch nicht fertig."

"Natürlich!" meinte sie schmollend, dann blinzelte sie. "Ich hätte nämlich eine Stunde eher angefangen. Oder ich hätte dich gebeten, es zu machen Garm."

"Und du meinst, ich hätte das getan?"

"Aber sicher doch, du tust doch alles, was ich sage."

Wir lachten. Die zwei waren wirklich ein hübsches Pärchen. Garm hatte mir erzählt, dass er sehr wütend gewesen war, dass sich Norenkei einen neuen Schüler auserwählt hatte, kaum dass er ausgefallen war. Und noch dazu ein Mädchen.

"Darüber bin ich heute aber ganz besonders glücklich!" hatte er mit einem Augenzwinkern gemeint, bevor er mir die nächste Aufgabe gestellt hatte.

Seine Beherrschung dieser unsichtbaren - für mich unsichtbaren - Kraft war wirklich überwältigend. Er hatte schon am ersten Tag gesehen, warum ich meine Kraft nicht kanalisieren konnte, und jetzt hatten wir es geschafft, den "Knoten" wie er es sagte, zu lösen.

"Ich glaube jetzt kannst du dich auch daran machen, die Schatulle zu öffnen." meinte er in diesem Moment, und mein Lachen erstarb. "Hitomi, was hast du denn? Du schaffst das, glaub mir. Ich habe mir den Kasten einmal angesehen. Die Mechanik da drin ist ziemlich vertrackt, aber mit ein bisschen Geduld kriegst du sie auf. Du hast gerade bewiesen, dass du mit Hilfe der unsichtbaren Kraft deine Umwelt manipulieren kannst."

"Deine Umwelt manipulieren. Hast du dir jemals überlegt, dass du damit auch Menschen töten kannst?" fragte ich mit plötzlichem Grausen. Daran hatte ich diese Nacht gedacht, nachdem sich die ersten sichtbaren Erfolge anhand von scheinbar allein rollenden Murmeln eingetreten waren.

"Nein, das ist nicht möglich!" riefen Haruka und Garm wie aus einem Mund. "Zumindest wäre es ein sehr unwahrscheinlicher Zufall" schränkte Haruka ein.

Ich sah sie fragend an, und Garm erklärte: "Lebewesen sind anders als leblose Objekte. Sie haben eine gewisse Beharrungskraft, so zu bleiben, wie sie sind, anders als etwas lebloses. Du kannst die Ströme des Lebens nicht so verändern, dass sie versiegen, jedenfalls nicht beabsichtigt. Du kannst so, wie du etwas lebloses bewegst, auch Knochen oder Gewebe bewegen - aber die Lebensenergie wird dir entgegenwirken, und nichts geschieht. Nicht mal ich könnte jemanden so töten, und ich kann die Ströme sehen, anders als ihr. Das ist übrigens auch der Grund, warum in seltenen Fällen Heilungen besonders gut oder besonders schlecht verlaufen. Die Lebensströme haben sich dann verändert. Mal zum Guten, und mal zum Schlechten. So etwas passiert laufend in einem Lebewesen, aber nur ganz selten hat das eine Auswirkung. Es ist ungeheuer komplex."

Ich sah ihn überrascht an. An so etwas hatte ich noch überhaupt nicht gedacht. Aber es klang plausibel. Wir veränderten hier... irgendwelche Energien, mit denen ich mir zum Beispiel gerade die Schuhe zugebunden hatte, warum sollten es nicht auch möglich sein, Lebensenergie zu beeinflussen. Ich dachte an so manche Dinge, die ich bisher nicht verstanden oder für Unsinn gehalten hatte...

"Träum nicht Hitomi!"

"Wie? Entschuldige Haruka." Ich hatte gedankenverloren dagesessen, und hatte nicht mal bemerkt, wie Garm gegangen war.

"Wenn du solche Angst vor der Schatulle hast, können wir auch noch ein paar Tage warten", schlug sie vor, wohl mehr, um mich zum Wiederspruch zu reizen, denn sie wusste genau, dass ich keine Zeit hatte.

"Nein, ich möchte das so schnell erledigen wie möglich."

"Gut. Es ist gleich Zeit fürs Abendbrot. Ich glaube, Blinx wollte mal wieder etwas besonderes machen."

"Schon wieder!" stöhnte ich. "Da werde ich noch zu einer runden Kugel! Hmm. Komisch. Ich glaube, ich habe hier sogar abgenommen, merkwürdig."

"Überhaupt nicht."

"Wieso?"

"Der Gebrauch der Kraft verschlingt eine Menge Energie. Was meinst du, warum du immer so hungrig warst? Und außerdem ist Norenkeis Training auch kein Zuckerschlecken."

"Nein, das ist es nicht. Du hast Recht, ich habe hier fast doppelt so viel gegessen, wie sonst. Dass mir das noch nicht aufgefallen ist!?"
 

"Du willst es also probieren, Hitomi?" fragte mich Norenkei.

"Ja!"

"Gut, dann setz dich hin. Ich werde die Schatulle holen. Bereite dich schon mal vor."

Ich setzte mich wie er gesagt hatte an den Tisch auf der Terrasse. Es waren noch zwei Stunden bis Sonnenuntergang. Genug Zeit also, es zu versuchen. Und leider auch, um zu scheitern.

"Bist du dir sicher, dass du es schaffst?" fragte mich Blinx, der sich neugierig auf den Platz gegenüber gesetzt hatte.

"Nein. Aber Garm. Und wenn er meint, dass ich bereit bin, kann ich es ja wenigstens mal probieren."

"Nein, nicht probieren. Tu es. Bei solchen Dingen gibt es kein probieren. Mach es, oder mach es nicht, einen Versuch gibt es nicht, denn ein Versuch heißt scheitern. Dein Geist kann nur dann erfolgreich sein, wenn du davon überzeugt bist, dass du es sein wirst. Das ist wie beim ins-Wasser-springen. Wenn du glaubst, du machst einen Bauchplatscher, dann machst du auch einen."

"Nanu, sag bloß, du bist nicht wasserscheu? Wenn ich da an Merle denke..."

Er wiegte den Kopf hin und her. "Nun, ich glaube nicht, dass sie wirklich wasserscheu ist. Aber es ist nicht angenehm, mit einem klitschnassen Fell herumzulaufen. Ich hab mir da auch mindestens einmal eine Lungenentzündung geholt. Aber ich war mal im Süden, und da ist es so heiß, dass selbst mein Fell schnell trocken war. Dort bin ich ein leidenschaftlicher Schwimmer geworden."

Ich sah staunend zu Blinx hinüber, der immer wieder eine Überraschung aus dem Ärmel zog. Ich wollte ihn fragen, ob er mir mehr erzählt, aber in diesem Moment kam Norenkei wieder.

"Ich dachte, du wolltest dich vorbereiten, Hitomi?"

Ich wurde rot. "Entschuldigung."

"Du brauchst dich nicht bei mir entschuldigen. Haruka und Garm kommen gleich. Oder ist es dir lieber, wenn keiner bei dir ist?"

Ich zögerte. Einerseits würde ich mich besser fühlen, wenn mich niemand anstarrte, andererseits würde ihre Anwesenheit mir Selbstvertrauen geben können. "Nein, sie können ruhig kommen."

"Gut."

Er stellte die Schatulle vor mir auf den Tisch. "Wie schon mal gesagt, ist das Schloss eigentlich einfach, aber die Mechanik ist kompliziert. Du musst nur an der richtigen Stelle im Inneren ein wenig Druck ausüben, und die Schatulle springt auf. Fang an, wann immer du bereit bist. Wir werden ruhig sein, und dich nicht stören, aber trotzdem auf dich Acht geben."

Nach dieser Ansprache setzte er sich hin, lehnte sich zurück, und schloss die Augen. Trotzdem wusste ich, er war hellwach bei der Sache. Ob er wohl meine Versuche irgendwie beobachtete? War das möglich? Garm würde jedenfalls die Ströme sehen können, die ich hoffentlich verändern würde.

Ich schloss ebenfalls die Augen, nachdem ich die Schatulle fest mit beiden Händen umschlossen hatte. Ich verbannte alle Gedanken aus meinem Kopf, die nicht mit der vor mir liegenden Aufgabe verbunden waren. Ich nahm sie, stopfte sie in einem Raum in den fernsten Winkel meines Kopfes, und verschloss die mentale Tür hinter ihnen. Norenkei hatte mir mehrere Möglichkeiten gezeigt, wie ich meine Gedanken reinigen konnte, und diese war am besten gewesen. Er hatte auch eine Möglichkeit erwähnt, die Gedanken zu packen, und in einem alles verzehrenden Feuer zu verbrennen, aber allein bei dem Gedanken daran hatte ich Angst bekommen. Bei Feuer musste ich an zu viele grässliche Dinge denken.

Langsam wurde mein Kopf leer, bis nur noch der Wille darin war, die Schatulle zu öffnen. Behutsam griffen meine geistigen Fühler hinaus, um erstmals das Innere dieses Kästchens zu erforschen. Bei dem ersten klaren Bild, dass mir erschien, hätte ich um ein Haar erschrocken aufgegeben. Schier Hunderte von haargroßen Kanälchen gingen durch die Schatulle, kreuzten sich, trafen aufeinander und verzweigten sich. Einer von ihnen führte vermutlich zum Schloss, aber wie sollte ich herausfinden, welcher?

Unbewusst musste ich sehr tief Luft geholt haben, denn ich spürte, wie sich meine Sachen spannten. Garm meinte, ich würde es schaffen. Er hatte meinen Fähigkeiten vertraut, warum sollte ich es nicht auch tun?

Dann kam mir eine Idee. Ich richtete meine Aufmerksamkeit an die Stelle, wo der Mechanismus selbst war, der die Schatulle verschloss. Von da aus musste ich nur... Nichts. Da war nichts. Wie war das möglich?

"So geht das nicht", drang Norenkeis sanfte Stimme zu mir. "Das wäre viel zu einfach. Du musst dich schon an die Kanäle halten."

Ich öffnete die Augen und sah ihn verzweifelt an. Er hatte seine Augen immer noch geschlossen.

"Aber es sind so viele!"

"Ja, sehr viele." Mehr sagte er nicht.

Ich sah mich nach den anderen um. Blinx saß mir immer noch gegenüber, und sein Gesicht drückte Erwartung aus. Haruka und Garm hatten sich zu meiner rechten hingesetzt, Norenkai gegenüber, aber außerhalb meines Blickfeldes, wenn ich nach vorn auf die Schatulle sah. Haruka nickte mir mit einem auffordernden Lächeln zu, und Garm strahlte einfach nur Zuversicht aus.

Also gut, ich würde es noch mal probieren. Nein, nicht probieren, ich würde es tun, so wie es Blinx gesagt hatte. Entschlossen umfasste ich wieder die Schatulle. Ich sammelte meine Konzentration, und versank in den winzigen Kanälen, die ich absuchen musste.
 

Mit leisem Klicken öffnete sich die Schatulle, und ich entspannte mich.

"Du hast es geschafft Hitomi!" hörte ich den müden, und dennoch aufmerksamen Blinx. Seine Stimme klang danach, als ob er es nicht mehr geglaubt hatte. Ich öffnete mühsam die Augen, die schwerer als Blei zu sein schienen.

Tatsächlich. Ich hatte es geschafft. Die Schatulle lag geöffnet in meinen Händen, und ich starrte ungläubig und ohne einen Gedanken auf den darin liegenden gläsernen Dolch, der das flackernde Licht der Kerzen in ein unwirkliches Glitzern brach.

"Ja", sagte ich tonlos. "Ich habe es geschafft."

"Glückwunsch Hitomi. Ich habe dir doch gesagt, dass du es kannst." Garm legte eine Hand behutsam auf meine Schulter. Es war nur eine kurze Berührung, und niemals lastete das ganze Gewicht seiner Hand auf mir, aber ich wusste, dass diese Berührung für ihn nicht einfach war. "Danke." Stammelte ich mit schwerer, trockener Zunge. "Kann ich..." Ein Hustenreiz unterbrach mich, und erst nach ein paar Sekunden konnte ich weitersprechen. Ich versuchte, meine Lippen zu befeuchten, aber vergeblich. "Kann ich etwas zu trinken haben?" fragte ich erneut, als mir Haruka schon einen irdenen Krug reichte.

"Nur zu. Ich hab mir schon gedacht, dass du das brauchen wirst. Nach der langen Zeit. Ich habe schon Angst gehabt, du liegst im Koma."

Ihre Worte waren scherzhaft, aber das leise Zittern in ihrer Stimme sprach Bände.

"Ja, du hast lange durchgehalten. Und du hast es geschafft." Lobte mich nun auch Norenkei, der immer noch zurückgelehnt auf seinem Stuhl saß. "Ich bin wirklich beeindruckt."

"Es ist eigentlich ganz einfach", stammelte ich, nachdem ich den Krug in einem Zug gelehrt hatte.

"Dann kannst du es ja noch einmal vorführen." meinte Norenkei grinsend, und schlug die Schatulle zu.

Mein Unterkiefer klappte herunter, und ich vergaß zu atmen. Ich hatte Stunden gebraucht, um sie zu öffnen - es schien schon weit nach Mitternacht zu sein, und mir kam es so vor, als seien Tage vergangen - und nun sollte alles umsonst sein?"

"Keine Sorge Hitomi. Du hast es einmal geschafft. Jetzt kann ich sie jederzeit für dich öffnen. Ich möchte aber, dass du das machst. Schließlich sollst du den Dolch mitnehmen, und mir wäre lieber, er befände sich in der Schatulle in Sicherheit. Und wie du bemerkt hast, ist es bloß beim ersten Mal schwer."

Ich atmete tief durch. Er hatte Recht. Sowohl, was das Öffnen als auch die Sicherheit anging. Ich legte noch einmal die Hände an das schwere Holz der Schatulle, durchflutete die Kanäle, wie ich es zuletzt getan hatte - und wieder sprang die Schatulle auf.

"Bravo! Ich glaube, sie ist jetzt dein."

Ich wollte aufstehen, doch irgendwie begann sich alles vor mir zu drehen. "Ich glaub...ich glaub, mir wird..."
 

Jäh öffnete ich die Augen. Was war passiert? Dann kam die Erinnerung. Ich fuhr aus dem Bett hoch, und musste dann erst mal abwarten, bis die Welt aufhörte zu schwanken. Ich lag in meinem Bett, und der Sonne nach zu urteilen war es später Morgen. Auf dem Tischchen neben mir stand ein Krug mit dazugehöriger Tasse, ein Teller mit Keksen und ein kleiner Zettel.

< Na toll!> dachte ich. < Das bewusstlos werden wird anscheinend zu einer Gewohnheit von dir, Hitomi.> Ich nahm den Zettel, und las ihn laut.

"Keine Sorge Hitomi. Der Schwächeanfall war zu erwarten. Iss etwas, trink etwas, und dann komm raus, aber langsam. Norenkei."

So, der Schwindelanfall war zu erwarten. Und warum hatte mir das niemand gesagt? Aber eigentlich war ich ja auch selbst schuld. Ich hatte gelernt, dass es eine große Anstrengung war, seinen Geist auf die Art zu benutzen, wie ich es getan hatte. Eigentlich hätte ich selbst auf die Folge kommen können.

Ich stillte Hunger und Durst, und überlegte, wie es nun weiter gehen sollte. Den Dolch hatte ich. Eigentlich müsste Norenkei uns jetzt sagen, wie es weitergeht. Seltsam. Ich war nie auf die Idee gekommen, ihn zu fragen, obwohl wir schon eine ganze Woche hier waren, vielleicht sogar länger. Eine ganze Woche, in der es Van schlechter gehen konnte...

***
 

"Eliandra! Da bist du ja wieder!"

"Hallo Thana. Wie geht es Van?"

"Unverändert. Er sitzt in seinem Zimmer, und brütet irgend etwas aus. Und diese Zaibacherin ist meistens bei ihm."

Die beiden Frauen setzten sich an den Tisch in Thanas Zimmer.

"Das gefällt mir nicht", bemerkte Eliandra. "Diese Frau ist eindeutig nicht bloß zum Heiraten da. Sie hat einen viel zu großen Einfluss auf Van."

Thana nickte, widersprach dann aber der Hohepriesterin. "Vielleicht schätzen wir sie falsch ein."

"Was meinst du damit?"

"Na ja..." Thana zögerte. "Ich glaube nicht, dass sie böse ist."

Eliandra sah sie weiterhin nur fragend an.

"Die Gefühle, die ich von ihr empfange... sind anders. Sie scheint sich Sorgen um Van zu machen, aber nicht, weil sie ihm etwas antun will... Ach, ich weiß auch nicht. Es ist alles so verwirrend."

***
 

"Die nächste Zutat ist ein ganz bestimmter Rubin. Der Rubin der reinen Seele."

Blinx schrie auf, und fiel polternd von seinem Stuhl. "Der Seelenrubin? Bloß das nicht!"

Alle schauten ihn verwundert an, so dass er ganz rot wurde.

"Weißt du etwas darüber?" sprach Haruka schließlich unser aller Frage aus.

"Und ob ich etwas weiß!" Blinx seufzte, stellte den Stuhl wieder hin, und ließ sich darauf fallen. Er stützte den Kopf auf die Hände, und schloss die Augen. "Und ob ich etwas weiß!" Seine Gedanken schienen in die Vergangenheit zurück zu eilen, an einen anderen Ort, und seine Erinnerungen schienen nicht gerade erfreulich.

Letztendlich öffnete er seine Augen wieder, und sah mich ängstlich an. "Das gibt Probleme, Hitomi. Derjenige, der den Seelenrubin in seinem Besitz hat, ist ein übler Kerl, und er wird ihn auf keinen Fall rausrücken."

"Wir sollten die Flinte nicht so schnell ins Korn werfen." tadelte Norenkei den Katzenjungen, der daraufhin ruckartig aufstand, und den Schwertmeister anfauchte.

"Ihr habt ja keine Ahnung! Wenn ihr erlebt hättet..." Er rannte aus dem Raum, und ließ uns verwirrt und ratlos zurück. Was war bloß los mit ihm?

In diesem Moment ruckte Garms Kopf in Richtung Fenster. Er sprang regelrecht zum Fenster, und streckte seinen Kopf hinaus. "Ja, da kommt er!" rief er erregt.

"Wer kommt?" fragte Haruka wirsch. Blinx Abgang schien sie noch mehr verwirrt zu haben als mich, sonst sprach sie nie so mit Garm.

"Akoth." Als er es aussprach, rauschte auch schon der Schatten des Drachen vor dem Fenster vorbei. Garm drehte sich zu mir um. "Du brauchst keine... Oh! Du hast gar keine Angst."

Ich lächelte still vor mich hin. "Schon seit unserer ersten Begegnung nicht!" meinte ich schmunzelnd, und stand auf, um den Drachen draußen zu begrüßen, der eben vernehmbar gelandet war. Blinx hatte ich erst mal vergessen.
 

"Hallo, Mädchen vom Mond der Illusionen. Schön, dich mal wieder zu sehen", hallte Akoths warme Begrüßung in meinem Kopf.

"Hallo, alter Drache!" rief ich lachend. "Auch schön, dich mal wieder zu sehen."

"Auch euch ein Hallo." wandte sich der Drache nun den anderen zu.

"Sei willkommen an diesem Ort der Ruhe, ehrwürdiger Wächter." antwortete Norenkei förmlich, und verbeugte sich. Haruka und Garm taten es ihm nach, wenn auch mit einem Lächeln, das bewies wie sehr sie sich über die Förmlichkeit amüsierten.

Auch Akoth klang belustigt. "Immer noch so erpicht auf Rituale, Schwertmeister?"

Norenkei verbeugte sich noch einmal, und antwortete, von einer abgestimmten Geste begleitet "Rituale sind die Wege des Geistes. Werden sie nicht ausgeführt, verkümmert auch der Sinn für Eleganz."

Haruka seufzte laut und deutlich, und Norenkei warf die Arme in die Luft. "Schon gut, schon gut, ich gebe auf. Die Jugend von heute."

"Ja, die Jugend von heute. Missachtet die Traditionen und die weisen Worte der Älteren."

Haruka lachte, und umarmte ihren Vater "Aber darum sind wir ja jung. Damit ihr Alten über unsere Fehler schimpfen könnt, die ihr schon gemacht habt, und vor euch jede andere Generation genauso."

"Deine Tochter spricht weise Worte, Schwertmeister", meinte Akoth, bevor sein dröhnendes Gelächter uns alle zusammen zucken ließ.

Ich war derweil näher an ihn heran getreten, und staunte nun über die Wunde, die das Messer hinterlassen hatte. Sie war nämlich nicht mehr da. Nur noch ein Streifen heller Schuppen zeigte, wo sich diese für den Drachen fast lebensgefährliche Wunde befunden hatte.

"Ja, es ist gut verheilt", sagte Akoth, als er mein Staunen sah. Dann wurde er ernst. "Ich habe einen kleinen Rundflug gemacht, um mich wieder zu kräftigen, nachdem ich für drei Wochen an den Boden gefesselt war. Dabei bin ich Eliandra begegnet. Sie hat mir alles erzählt."

Sein Kopf drehte sich zu Norenkei "Dann hattest du also den Dolch."

"Ja."

"Und wer hat den Rubin?" fragte er den Schwertmeister weiter, doch es war jemand anders, der ihm antwortete.

"Ein übler Kerl namens Vandegaard. Harlan Vandegaard. Er ist regelrecht besessen von dem Rubin. Er hat ihn einem Räuber abgekauft, der ihn einem Heiler gestohlen hat. Dieser Heiler wollte einem scheinbar verletzten Mann helfen, als dieser plötzlich aufsprang, und ihn tot schlug. Der Heiler dürfte der Hüter des Rubins gewesen sein. Jeder aus dem Ort kennt die Geschichte, aber niemand wagt etwas gegen Harlan zu unternehmen, denn der Ort ist von ihm so gut wie vollständig abhängig."

"Auch dir Hallo, Blinx. Ich habe schon von dir gehört. Keel war ziemlich beeindruckt von dir."

"Keel?" fragte ich überrascht. "Ja, aber das hat Zeit bis später."

"Harlan Vandegaard." murmelte Norenkei "Ja, ich habe davon gehört. Er soll sich auf einmal sehr verändert haben."

"Der Rubin der reinen Seele hat große Heilkräfte, aber auch eine ebenso starke Wirkung auf die Begehrlichkeit der Menschen." stimmte Akoth zu.

"Das klingt nicht nach jemandem, der ihn dir mal eben so gibt, Hitomi." äußerte sich Haruka traurig, und sah mich an.

Ich aber schüttelte nur den Kopf. "Das ist mir egal. Ich gebe nicht auf. Blinx, du weißt, wo wir hin müssen?"

Er schloss für einen Moment die Augen, bevor er mich ansah. "Ja, das weiß ich. Auch wenn ich gehofft habe, dort niemals wieder hinzukommen. Aber ich werde dir den Weg zeigen. Allerdings ist es nicht gerade in der Nähe."

"Kein Problem." Akoth blinzelte mir ermutigend zu. "Ich werde euch hinfliegen. Eliandra hat schon vermutet, dass der Rubin etwas weiter weg ist, und mich gefragt. Und natürlich lasse ich meine Freunde nicht im Stich." Er sah mich noch einmal an. "Wenn du nichts dagegen hast, werden wir morgen früh aufbrechen. Ich muss mich erst mal ausruhen. Außerdem würde ich mich gern mit dir über das ein oder andere unterhalten."

Ich sah erst Akoth und dann Norenkei nachdenklich an.

"Du bist hier fertig." sagte der Schwertmeister. "Ich würde sagen, Akoth hat Recht."

"Also gut." gab ich mein Einverständnis. Ich war froh, dass Akoth gekommen war. Der Drache gab mir nur durch seine Anwesenheit eine solche Ruhe und Stärke... Ich lächelte bei dem Gedanken. Ein Drache, der beruhigt.
 

ENDE KAPITEL 4



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