Alptraum
Kapitel 32: Alptraum
Als Jessie aufwachte war es stockdunkel. Irgendetwas stimmte nicht. Seto wand sich unruhig neben ihr unter der Decke. Sie beugte sich zu ihm.
„Seto, hey…“ Vorsichtig streckte sie die Hand nach ihm aus. Er bäumte sich auf, stieß sie von sich. Sie konnte sich gerade noch auf dem Bett halten, bevor sie heraus fiel. Blind tastete sie nach dem Lichtschalter. Kurz blinzelte sie in die plötzliche Helligkeit und sah dann zu Seto. Er hatte die Decke inzwischen von sich getreten und war schweißgebadet.
„Nein… Bitte…Nein!!“ Er wimmerte, Tränen liefen ihm über die Wangen. Vorsichtig rutschte Jessie näher, schüttelte ihn leicht an der Schulter.
„Seto? Wach auf!“ Er reagierte nicht, warf gequält den Kopf auf die andere Seite. Hilflos sah sie ihn an, dann eilte sei ins Bad, füllte ihren Zahnputzbecher mit Wasser. Zurück in ihrem Schlafzimmer versuchte sie noch einmal ihn anzusprechen. Ohne Erfolg. Kurzerhand kippte sie ihm das Wasser ins Gesicht. Erschrocken atmete er ein, keuchte, hustete. Langsam öffnete er die Augen, das Blau wirkte trüb und verschleiert. Er atmete schwer, so als wäre er noch immer in dem Traum gefangen. Jessie streckte die Hand nach ihm aus, er zuckte zurück, wurde von einer Sekunde auf die andere blass und schlug die Hand vor den Mund. Er sprang auf, taumelte und stürzte ins Bad. Jessie lief ihm nach, blieb allerdings vor der geschlossenen Tür stehen. Trotzdem konnte sie ihn würgen hören. Nein, sie würde ihm jetzt nicht nachlaufen. Für ihn würde das alles doch nur noch schlimmer machen. Sie eilte Richtung Küche. Sie würde erst noch Tee kochen und dann nach ihm sehen. Allzu lange hielt sie es allerdings nicht aus. Sie hängte nur schnell den Teebeutel in die Kanne und klopfte dann an die Badezimmertür.
„Seto?“ Keine Antwort, sie klopfte noch einmal.
„Kann ich reinkommen?“ Wieder keine Antwort, also öffnete sie die Tür und trat ins Bad. Sofort wurde ihr schlecht. Seto saß auf dem Rand der Badewanne. Leicht nach vorne gebeugt zog er sich eine Rasierklinge über den linken Unterarm. Ohne mit der Wimper zu zucken. Woher hatte er die Klinge?
„Scheiße Seto!“ Jessie machte einen Schritt auf ihn zu, hielt jedoch inne, als er sie mit kalten Augen musterte.
„Verschwinde!“ Seine Stimme klang rau und schwankte. Jessie schüttelte den Kopf und trat einen weiteren Schritt auf ihn zu. Langsam streckte sie die Hand aus.
„Gib mir die Rasierklinge!“ Er umklammerte sie nur fester, sodass seine Knöchel weiß hervortraten. Jessie machte noch einen Schritt.
„Seto bitte! Gib mir die Klinge!“ Er zitterte am ganzen Körper, fixierte sie.
„Hau ab, lass mich zufrieden!“ Wieder schüttelte sie den Kopf, blieb allerdings stehen.
„Ich werde dich jetzt nicht alleine lassen!“ Er starrte auf seinen Arm. Einzelne Blutstropfen perlten aus der Wunde. Sie schien nicht besonders tief zu sein. Wieder setzte er die Klinge an. Zog sie über seine blasse Haut. Noch bevor Jessie bei ihm war hatte er sich auch noch einen dritten Schnitt zugefügt. Jessie packte sein Handgelenk, er erstarrte, sah sie gehetzt an.
„Lass los!“ Eindringlich sah sie ihn an. Kurz schien es, als wollte er sich wiedersetzten, dann allerdings gehorchte er. Laut klirrte die Klinge in der Stille, als sie auf die Fliesen fiel. Langsam löste Jessie ihre Finger von seinem Handgelenk.
„Warum machst du das?“ Lange starrte er auf die blutige Klinge zu seinen Füßen.
„Der Schmerz holt mich zurück in die Wirklichkeit!“ murmelte er schließlich. Jessie setzte sich neben ihn, ohne ihn zu berühren. Er verspannte sich auch so schon genug.
„Machst du das nach jedem Alptraum?“ Er schüttelte den Kopf.
„Nein, nur nach den schlimmen!“ Er teilte seine Alpträume ein?
„Wenn ich das nach jedem machen würde…“ stellte er tonlos fest und umklammerte sein Handgelenk. Wie oft hatte er denn Alpträume?
„Möchtest du darüber reden?“ Er antwortete nicht, wich ihrem Blick aus. Das musste sie akzeptieren. Also stand sie auf und holte den Verbandskasten unter dem Waschbecken hervor.
„Lässt du mich die Wunden desinfizieren und verbinden?“ Lange sah er sie einfach nur an, bis er ihr seinen Arm hinhielt. So vorsichtig wie möglich nahm Jessie seine Hand und legte ihm einen sauberen Verband an. Seto ließ sie nicht aus den Augen. Als sie fertig war ließ sie ihre Fingerspitzen auf seinem Arm liegen. Langsam begann sie über seine verschwitzte Haut zu fahren.
„Warum hast du nicht meinen Arzt gerufen?“ Kurz hielten ihre Finger inne und sie erwiderte seinen fragenden Blick.
„Es ist mitten in der Nacht und die Wunden scheinen nicht allzu tief zu sein. Es reicht, wenn er sie sich morgen ansieht!“ Eine Zeit lang war es still, dann räusperte Jessie sich leise.
„ Du bist total verschwitzt. Ich geh dann mal schauen, ob ich ein paar trockene Klamotten für dich finde!“ Sie erhob sich, hielt dann allerdings inne.
„Versprichst du mir, dass du das nicht mehr in die Finger nimmst?“ Mit trüben Augen folgte er ihrem Blick.
„Versprochen! Die Rasierklinge bleibt wo sie ist!“ Jessie verließ das Bad und trat an ihren Kleiderschrank. Kurz wühlte sie in den Fächern, dann zog sie ein schwarzes T-Shirt mit dem knallroten Schriftzug `Traumprinz´ quer über die Brust heraus. Es gehörte eigentlich Charles, aber er hatte es bei seinem letzten Besuch vergessen. Nach kurzem Zögern nahm sie ganz hinten aus dem Schrank eine weiße Plastiktüte. Sie zog eine weiße Boxershorts mit grünen Fröschen heraus. Vor Jahren hatte sie Joey zum Gag eine schwarze mit roten Kussmündern geschenkt. Inzwischen war es zur Tradition geworden, wenn sie mal wieder ein lustiges Exemplar entdeckte, bekam er es zum nächsten Geburtstag. Er musste schon eine ganze Kiste voller außergewöhnlicher Unterwäsche haben. Sie grinste, ob Seto das überhaupt anziehen wird? Sie wollte gerade den Schrank schließen, als ihr ein dunkelblaues Sweatshirt entgegen fiel. Auch das gehörte eigentlich Charles, eigentlich! Sie hatte es stibitzt, weil es einfach nur bequem und total kuschelig war. Und es dürfte Seto passen. Unsicher huschte sie zurück ins Bad. Er saß noch immer so da wie sie ihn zurückgelassen hatte, hatte sich keinen Millimeter bewegt. Vorsichtig setzte Jessie sich neben ihn und breitete die Kleider aus.
„Froschkönig?“ Fragte Seto mit einem schwachen Lächeln. Jessie erwiderte es sanft und ein wenig entschuldigend.
„Was anderes habe ich leider nicht da!“ Wieder war es still zwischen ihnen, dann strich er sich unsicher durch die Haare.
„K…kann ich vorher duschen?“ Jessie sprang auf.
„Natürlich, ich gehe solange raus… Halt, warte…“ Sie kniete sich vors Waschbecken.
„Hier muss irgendwo Folie und Klebeband sein, damit ich den Verband abkleben kann.“
„Du musst nicht raus!“ Sie fuhr auf und stieß sich den Kopf am Waschbecken.
„Was?“ Sie rieb sich den Hinterkopf. Seto sah auf die Fließen zwischen seinen Füßen.
„Ich möchte jetzt nicht alleine bleiben!“ Jessie erhob sich und kniete sich dann vor ihn, bekam seinen Blick allerdings nicht zu fassen.
„Okay, ich bleibe. Gibst du mir deinen Arm?“ Er gehorchte und sie deckte den Verband wasserdicht ab. Dann stand er auf, zog sich sein T-Shirt über den Kopf. Jessie schluckte schwer.
„Seto, das…“ Weder die Fotos, noch die gemeinsame Nacht hatten ihr wirklich deutlich gemacht, was er alles hatte ertragen müssen. Erst jetzt in unter dem grellen Licht war alles zu sehen. Alles…
Die Narben.
Kleine, große.
Lange, kurze.
Seine schlanker, viel zu schmaler Körper.
Seine Rippen.
Langsam drehte er sich um, sah ihr in die Augen. Er wirkte verloren.
„Es ist meine Vergangenheit… die Welt…in der ich jahrelang gelebt habe…“ Seine Stimme zitterte. Er musste mehrmals tief durchatmen und doch kamen die Worte nur stockend.
„…und sie…sie verfolgt mich… egal wohin ich geh... egal was ich tue…“ Er griff sich an die Stirn. Schluckte krampfhaft, presste beide Arme auf seinen Magen. Plötzlich stürzte er zur Toilette, würgte. Alles was kam war Galle. Jessie eilte zu ihm, zögerte kurz, legte dann eine Hand vorsichtig um seine Schulter. Er zuckte zusammen, stieß sie allerdings nicht von sich.
„Kann ich irgendetwas tun?“ Er würgte erneut.
„Was… was würdest du… du tun, wenn jemand anderes… anderes hier knien und… du weißt schon!“ brachte er schließlich unter Keuchen hervor.
„Ihn in den Arm nehmen und festhalten! Nur weiß ich nicht… ob du das jetzt aushalten kannst!“ Er stöhnte leise auf, hielt sich den Bauch.
„Können… können wir es nicht… nicht einfach versuchen?“ Er krümmte sich zusammen, blickte sie mühsam an.
„Bitte!“ Sie zögerte keine Sekunde länger, zog ihn vorsichtig an sich. Er erstarrte. Locker lagen ihre Hände auf seiner Haut, ließen ihm die Chance sich jederzeit zu befreien. Doch das tat er nicht. Er blieb einfach so liegen.
Auf dem Boden.
In ihren Armen.
Als sein Herzschlag sich beruhigt hatte, lehnte er den Kopf an ihre Schulter und weinte still. Seine Tränen durchnässten ihr Shirt. Zärtlich begann sie seinen Nacken zu streicheln, fuhr ihm durch sein dichtes braunes Haar. Sein Atem wurde ruhiger. Sein Körper hörte auf zu zittern und er entspannte sich zumindest etwas.
„Seto…“ Er sah sie an, seine blauen Augen waren wieder klar und sie wirkten friedlich. Nichtmehr so aufgewühlt.
„Hhm?“ Sie strich ihm das Haar aus den Augen.
„…hier auf dem Boden ist es viel zu kalt. Du solltest duschen und dir etwas Trockenes anziehen!“ Etwas mühsam rappelte er sich auf und zog auch seine Shorts aus. Dann trat er unter die Dusche. Jessie kam es wie eine Ewigkeit vor, die er einfach nur da stand und sich von dem warmen Wasser berieseln lies. Aber sie unterbrach ihn nicht. Er brauchte die Zeit für sich. Irgendwann drehte er das Wasser ab und trat aus der Dusche. Jessie hielt ihm einen flauschigen Badeschal hin und wickelte ihn darin ein. Rasch rubbelte sie ihn trocken, da es nicht wirklich so aussah, als würde er das selbst in Angriff nehmen wollen. Dann reichte sie ihm die frischen Klamotten. Er murmelte irgendetwas von Froschkönig vor sich hin, während er sich anzog. Jessie verstand ihn allerdings nicht. Gemeinsam verließen sie das Bad. Jessie tappte Richtung Küche. Sie hatte den Tee vergessen. Rasch probierte sie ihn. Trotz dass er ewig gezogen hatte schmeckte er. Sie nahm zwei Tassen und sah dann zu Seto, der ihr gefolgt war.
„Was willst du machen? Wollen wir uns einen Film anschauen oder soll ich dir etwas vorlesen?“ Kurz leuchteten seine Augen auf.
„Hast du ein Märchenbuch?“ Sie nickte.
„Es steht im Wohnzimmer. Rechts oben im Regal, wenn ich mich richtig erinnere!“ Er holte das Buch und ging dann ins Schlafzimmer voraus. Nebeneinander setzten sie sich aufs Bett. Jessie schenkte ihm Tee ein.
„Hier trink etwas!“ Er schüttelte den Kopf. Sie strich ihm über die Schulter.
„Komm, deinem Magen tut das gut. Außerdem wirkt Tee beruhigend!“ Er verdrehte die Augen, nahm die Tasse dann allerdings aus ihrer Hand. Abwesend nippte er an dem Tee und blätterte in dem Buch auf seinem Schoß. Jessie sah ihm über die Schulter.
„Welches soll ich denn vorlesen?“ Er schob ihr das Buch hin.
„Der Froschkönig?! Irgendwie hat der dir das angetan, oder?“ Er zuckte mit den Schultern, stellte seine Tasse zur Seite.
„Passt doch irgendwie!“ Mit einem eindeutigen Blick sah er an sich hinab. Jessie lachte leise.
„ich küss dich aber lieber, als dass ich dich an die Wand klatsche!“ Sanft küsste sie ihn auf die Lippen. Er erwiderte ihren Kuss und kuschelte sich dann an ihre Schulter. Jessie löschte alle Lampen bis auf das Nachtlicht und begann dann zu lesen.
„ In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König. Seine Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, dass sogar die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hatte, sich wunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien. Nahe beim Schloss des Königs…“
Erst am Ende des Märchens schlief Seto ein. Jessie zog die Decken höher und schaltete das Licht aus. Sanft strich sie Seto durchs Haar.
„Was hat man dir nur angetan?“ Er drückte sich noch näher an sie, erschauerte.
„Shhhhh. Ich bin ja da. Es ist alles gut!“ Beruhigend streichelte sie ihm weiter übers Haar. Schließlich entspannte er sich wieder.
„Ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst!“