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Federschwingen

von

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Nach wenigen Jahren hatte er ihr seine Zuneigung gestanden. Und sie hatte sie erwidert. Sie hatten wahre Liebe gefühlt. Jeder Moment, den er mit ihr verbringen durfte, war einzigartig gewesen. Keine Sekunde erschien ihm sinnlos – und doch hatten sie noch immer denselben Spaß wie all die Jahre zuvor, die sie in bloßer Freundschaft verbracht hatten.

Das war der Höhepunkt seines Glücks gewesen. Acedia, die ihn mit verliebten Augen betrachtete, die seinen Mund küsste und die den letzten Rest ihres Lebens mit ihm verbringen wollte.

Zumindest war es das, was er lange Zeit geglaubt hatte.
 

„Wie geht es dir?“, fragte Luxuria besorgt, als sie zusammen auf einer Treppe im Himmel saßen. Sie waren beide aus dem Zyklus gewachsen – und natürlich hatten sie, wie es sich für Freunde gehörte, alle dasselbe Alter gewählt, um weiterzuleben. Kurz hatten sie mit dem Gedanken gespielt, ewig zehn Jahre alte Kinder zu bleiben, weil sie sich in diesem bedeutungsvollen Alter kennen gelernt hatten, doch die Eitelkeit hatte gesiegt. 27. Jung, reif und schön.

„Gut“, entgegnete er unbekümmert, „Warum sollte es mir auch anders gehen?“

Luxuria warf ihm einen entgeisterten Blick zu. „Ich dachte einfach … es würde dich mitnehmen?“, mutmaßte sie unsicher.

Er lächelte. „Was soll mich mitnehmen? Dass ich mich heute mit dir hier treffe, um zu reden?“

Sie runzelte die Stirn. Ihr Haar war lang und strahlte genauso golden wie der Himmel. Es fiel bis zum Boden – und das sorgte dafür, dass sie gar keinen modischen Umhang benötigte, weil ihr Haar diesen Zweck erfüllte. „… Moment.“

„Ich laufe nicht weg“; versicherte er ihr, wobei ihm klar war, wie billig der Scherz war. Aber irgendetwas schien sie wirklich zu bedrücken. … Kein Wunder, dass sie ihm einen kleinen Ruf gesendet hatte. … Was wohl passiert war?

„Du weißt es nicht“, stellte sie schockiert fest, „Du …hast tatsächlich keine Ahnung, dass …“

„Wovon habe ich keine Ahnung?“, wollte er unsicher wissen. Irgendetwas in ihm zog sich schmerzhaft zusammen – was unmöglich war, weil er im Himmel keinen Schmerz empfinden konnte.

Mitleid schlich sich in ihre Augen und sie seufzte betrübt. „Nichts … Das … sagt sie dir wohl selbst.“

„Ist etwas mit …?“, fragte er. Was für einen Namen hatte er damals nur genannt? Wie stark musste der Schwur einer Todsünde sein, dass er den Namen der Person vergaß, die ihm am meisten im Universum bedeutet hatte?

„Nein“, entgegnete Luxuria entschlossen. Dann erhob sie sich. „Ich bin bloß ein bisschen enttäuscht von ihr, dass sie es auf diese Weise tut.“ Sie schaute auf ihn herab. „Findest du nicht auch, dass sie … ein bisschen zu ehrgeizig wird?“

Zu ehrgeizig? Seine Acedia. Nein – es war genau richtig. Sie wollte den höchsten Punkt des Himmels erreichen. Sie wollte an Gottes Seite sein – mit ihm zusammen. Das hatte sie ihm gesagt. Sie war idealistisch – wenn sie genügend starke Engel hatten, konnten sie die Dämonen verjagen. Aussperren. Sie mussten Gott helfen.

Er hatte sich ihrer Meinung angeschlossen – Gott riskierte sein Dasein für die Engel. Und was taten sie? Sie übten den Schwertkampf ein wenig, um bei einem etwaigen Angriff vielleicht eine Chance zu haben. Sie stellten mit ihren kreierenden Kräften Kaffee und Kuchen her, anstatt dass sie Schilde bauten … Sie führten ein Leben im Paradies – und das auf Kosten Gottes! So konnte das nicht weitergehen. Irgendwann würde irgendetwas daran zerbrechen.

„Wie kommst du darauf?“, fragte er unbehaglich.

„Nein …“ Sie wirkte bestürzt. „Vergiss es einfach für den Moment. Ich frage dich demnächst wieder. Aber sei nicht zu enttäuscht.“

Und sie hatte Recht behalten: Er war enttäuscht worden.


 


 

„Wo … sind unsere Kräfte?“, erklang Superbias Murmeln um die Ecke.

Nathan wankte zurück. Sein Licht war allmählich ganz aufgebraucht. Nur noch der letzte Rest … dann würde Acedia sie in sich vereinen, das Licht weben und ihm schlussendlich die Macht der Todsünden überreichen. Und dann bekam jeder sein Licht zurück.

Sie stand immernoch vorne, schaute in Richtung des Turms der Ränge und empfing das Licht aller. … Wie lange dauerte es denn noch …?

„Sie … sollte es schon längst … abgeben …“, stimmte Invidia zu, „Sie … laugt alle aus …“

„Es sind alle da …“, stimmte Avaritia zu, „Wir … sollten wieder erstarken, um ihr unsere Kräfte darzubieten … Wo … sind sie?“

Nathan ließ sein Licht weiter fließen … Acedia würde schon wissen, was sie da tat. Sie war immerhin eine Todsünde. Sie hatte dafür gekämpft. Sie hatte ihre besten Freunde verloren – wenn jemand daran interessiert war, dass hier alles glatt lief, dann war sie es.

Er glaubte an sie. Daran, dass sie das richtig machen würde … und bald würden die anderen auch anfangen, an ihn zu glauben. Einfach deshalb, weil er heute zur Todsünde ernannt werden würde. Es war schon ironisch, dass das in einer Sekunde zur nächsten geschah. Aber er würde dann eben schnell in seine Rolle hineinwachsen müssen … Zumindest war dann keine Frau sein Vorgänger … Ira … wäre doch wirklich gar nicht so übel …

Wer braucht schon einen Nathan … wenn man einen weiteren Ira haben konnte?

Sein Licht war aufgebraucht.

Wenn er sich nicht gerade im Himmel befinden würde, so würde er jetzt einfach zerfallen, weil sich nichts mehr in ihm befand. Doch er spürte, wie der Himmel diese Leere bereits wieder zu füllen versuchte. Hunger machte sich in ihm breit. Ein Kuchen wäre jetzt toll – ein Lichtkuchen, wohl gemerkt … Vielleicht erhielt er ja die Erlaubnis, noch schnell einen mit seinen Freunden zu essen …

Er saß mittlerweile am Boden, zu schwach, um aufzustehen. Er fühlte sich genauso leer, wie er war … Seine Gedanken waren unlogisch … unbedeutend …

Letzte Lichtflimmer wurden noch zu Acedia gesandt, die nur noch von Xenon ausgingen … Also war er der stärkste Engel hier … Gut zu wissen … Oder der, der einfach später angefangen hatte, mit ihr seine Kräfte zu teilen …

„Bereit?“, stieß er hervor. Es war anstrengend, auch nur einen Ton hervorzubringen – als hätte er alles, was ihn je angetrieben hatte, gerade Acedia gegeben.

„Sowas von“, antwortete Xenon locker.

Er sollte sich nicht mit ihm anfreunden … Wenn er eine Todsünde war … würde er ihn anklagen …

Acedia verbeugte sich tief. „Danke für euer Vertrauen an die Todsünden“, sagte sie aus tiefstem Herzen, „Nun werden wir die neuen ernennen.“

Sie wandte sich um. Dann lächelte sie.

Sie lächelte Nathan an. Er wusste, dass dieses freundschaftliche, fast mütterliche Lächeln ihm galt.

Er lächelte zurück … Dann wären sie also Kollegen.

Doch plötzlich verschwand Acedia von der Bildfläche, ließ nur noch ein bisschen Licht zurück.

Entsetztes Aufatmen machte sich in der Menge breit.

Doch keiner hatte die Kraft, noch einen Verzweiflungsschrei abzulassen.

Er selbst konnte seinen Augen nicht trauen. Wo war sie hin? Wie war sie verschwunden?! Warum?!

„Was … was soll das?!“, rief Xenon schwach aus, „Sie soll uns doch … erheben!“

„Die Attentäter“, kombinierte Invidia hinter ihm, „Sie … müssen sie … verschleppt haben!“

… Sie war der stärkste Engel. Der vermutlich einzige Engel, der noch Kraft besaß … Wie sollten die Attentäter … das bewerkstelligen … Außer … sie wären die Abwesenden …

„Im Moment können wir nichts tun“, erklärte Superbia ruhig, „Außer Abwarten – darauf warten, dass der Himmel uns mit genug Licht versorgt, um uns auf die Suche nach unserem eigenen zu machen.“

„Wie lange … dauert das?“, wollte Invidia wissen.

„Keine Ahnung“, gab Superbia trocken zu, „Das ist mir jetzt in tausend Jahren noch nicht passiert.“

Nathan starrte entsetzt in die Menge. … Ihnen allen wurde gerade das Licht gestohlen. Verflucht. Was … was bedeutete das dann?! Es musste doch irgendetwas zu tun geben … Er … er musste irgendwohin …

Er wollte sich bewegen, aber es funktionierte nicht. Er wollte einen Arm heben, aber es ging nicht mehr.

„Gib es auf, Junge“, murmelte Invidia, „Das hat keinen Zweck.“

Er musste sich bewegen! Er musste zusehen, dass er weiterkam. Acedia war vor seinen Augen verschwunden! Was, wenn noch mehr verschwanden?! Da unten waren alle seine Freunde! Er würde zu ihnen gehen! Musste zu ihnen! Einer musste doch auf sie aufpassen …

Auf … auf Joshua … und Liana … Thierry … Deliora und Kyrie …

Doch er bewegte sich keinen Zentimeter weiter.

… Warten … Er sollte seine Zeit damit verschwenden zu warten, während da draußen irgendetwas im Gange war?! Sie würden alle hier herumliegen und warten!?

… Andererseits … was sonst … sollten sie tun?

Er ließ den Kopf sinken.

Warum ließ Gott so etwas zu? Warum hatte er Acedia nicht beschützt?!

Warum hatte Sin sich nicht gewehrt?

Wo war der überhaupt?

Warum kam er nicht?!

Alle … Engel … mussten ihre Kraft abgeben – warum er nicht?!

„Peinlich“, meinte Avaritia, „Als Todsünden so herumzuliegen …“ Sie seufzte. „Aber zumindest haben wir jetzt ein gemeinsames Erlebnis.“

„Ziemlich lange“, fügte Invidia hinzu, „Vielen Dank auch …“

„Was … ist los mit euch!?“, wollte Xenon wissen, „Beschäftigt euch das nicht?“

„Es kommt, wie es kommt“, erklärte Invidia und lächelte schief, „Mach dir nichts daraus. Du hast genug Zeit. Die läuft dir nicht davon.“

Wie konnten sie das nur so sehen?! Hatten sie keine Freunde mehr, auf die es sich zu warten lohnte?

… Er blickte noch einmal ins Publikum. … Freunde, die so nah und doch so fern waren … Hoffentlich ging es ihnen gut … Hoffentlich waren sie zusammen … Er fühlte sich zwischen all den Fremden hier nämlich ziemlich einsam.
 

Kyrie kam zu sich, als der Schmerz weniger wurde. Als sie ihre Augen öffnete, konnte sie sehen – sie bewegte sich. Das war doch ihr Vater. Er trug sie.

„Papa …“, machte sie auf sich aufmerksam.

Er schaute zu ihr zurück. Man sah, dass er geweint hatte.

„Mir geht es gut …“, eröffnete sie leise. Das war eine offene Lüge. Es brannte noch immer. Doch es führte nicht mehr zur Bewusstlosigkeit. Es war wie bei Nathans Ruf … als hätte sie sich an den Schmerz gewöhnt. … Nein. Nicht ganz. Er war wirklich schwächer geworden. Wie war das möglich? Warum hatte der Schmerz nachgelassen … Acedia. Weiterhin rief ihr ganzer Körper nach ihr, aber … so abgeschwächt, als sei es ein ganz normaler Ruf.

… Konnte der Magnet etwa verfallen sein?!

Ein Magnet. Sie hatte einen Magneten ignoriert. Ein Magnet bedeutete, dass sie in den Himmel zu einer Versammlung musste. … Nathans Worte traten mit extremer Deutlichkeit wieder in den Vordergrund ihrer Gedanken: Wer einen Magneten ignorierte, würde verbannt werden, vom Himmel ausgeschlossen …

Aber … er hatte ihr doch versprochen, dass er sie abholen würde! Er hätte nur kommen und mit ihr in den Himmel zu gehen brauchen …! Noch mehr Angst versteifte alles in ihr. Diese Strafe … was genau würde sie erwarten? Was hatte sie verpasst?

Sie lehnte sich gegen den Kopf ihres Vaters. Warum? Warum hatte sie nicht einfach rechtzeitig gehen können? Warum hatte diese verfluchte Angst sie nur so gelähmt?! Sie wollte das nicht …. sie wollte das doch alles nicht … Ein Zittern durchfuhr ihren Körper. Sie hielt die Tränen angestrengt zurück. So … so durfte das doch nicht geschehen! Sie … sie wollte doch immer schuldlos sein!

„Kyrie!“, machte Magdalena auf sie aufmerksam, „Bitte ziehe deine Flügel ein!“

Erschrocken stellte sie fest, dass ihre Flügel rausgekommen waren. Sofort versteckte sie sie wieder. Wieso waren sie da? Hatten sie etwa auf den Magneten reagiert? War es das, was ihn so anziehend gemacht hatte – dass sogar ihre Flügel hervorgekommen waren, ohne dass sie es wollte? So verzweifelt hätte sie nach da oben kommen sollen? Nein … wie konnte sie nur …?

„Wir bringen dich zum Himmel“, erklärte ihr Vater leise, „Oben werden sie dir helfen und …“

„Nein!“, entgegnete sie barsch, „Nein, nein, nein!“ Sie stieß sich in einer Schockreaktion von ihrem Vater ab und fiel auf den Boden.

„Mädchen!“, rief Magdalena entsetzt, „Was ist los mit dir?!“ Sofort duckte sie sich zu ihr, schien überprüfen zu wollen, ob es ihr auch gut ging – aber Kyrie hatte den Aufprall nicht gespürt. Alles in ihr war zugeschnürt. Nicht in den Himmel!

Kyrie starrte mit aufgerissenen Augen auf John. „Nicht in den Himmel! Ich will nicht in den Himmel!“

„Was … Kyrie …“ Er wirkte bestürzt. Sehr bestürzt. „Bitte, sag mir die Wahrheit, ich …“

„Nein!“, rief sie, „Lasst mich in Ruhe. Es ist alles in Ordnung. Alles ist in bester Ordnung!“ Sie hätte sich am liebsten an ihre Mutter geklammert und sie nie wieder losgelassen. Sie hätte ihren Vater umarmen wollen, ihn darum bitten, sie nie wieder alleine zu lassen … und sie vom Himmel zu verstecken. Sie konnte das doch nicht auf sich nehmen! Eine Strafe der Todsünden? Eine Verbannung? Wie sollten sie sie verbannen?! Sie lebte auf der Erde! Für fünfundzwanzig Jahre würde sie noch hier leben – aber was würde bei der Verbannung nur geschehen?

Sie hatte Angst vor dem Unbekannten. Angst vor den Todsünden. Angst vor Xenon. Und sie fühlte sich alleine gelassen. Wo war Ray? Wieso war er nicht da?! … Nein … Nathan. Nathan – er hätte kommen sollen! Ray hatte nichts damit zu tun, sie …sie wollte nur … dass er sie festhielt und …

„Gut“, meinte ihr Vater, „Dann … eben nicht …“ Jetzt wirkte er enttäuscht.

„Es tut mir so schrecklich leid …“, murmelte Kyrie, „Wirklich … Aber ich kann es euch nicht sagen …“ Sie müsste ihnen sagen, dass sie verbannt werden würde. Dass sie zwanzig Jahre der Vorfreude einfach wegwerfen würde. Dass … dass sie genauso gut an ihrem Geburtstag einfach den Tod hätte wählen können! Warum sie? Warum hatten sie sie ausgewählt?

Oder viel mehr: Warum konnten Halbengel nicht einfach Engel sein? Wenn sie Xenon nicht zum Opfer gefallen wäre …

„Wir bringen dich auf dein Zimmer“, erklärte John dann, „… Geht das?“

Sie nickte. „Bitte …“

„Wir sehen dann ja, wie es dir morgen geht.“ Eine plötzliche Kälte hatte sich in seine Stimme geschlichen. War er wütend auf sie? Weil sie ihn belogen hatte? Weil sie sich noch immer weigerte, die Wahrheit zu erzählen? … Sie konnte doch nichts dafür! Sie … sie wollte ihn doch nur beschützen!

Er half ihr hoch und gemeinsam gingen sie hinein. Und als erstes räumte sie ihre Federn auf. Sonst würde Ray sie morgen noch fragen, ob sie ein Huhn geschlachtet hatte … Oder vielmehr einen Schwan … Ray … Zum Glück war er schon weg gewesen. Sonst wäre sie in einen ziemlichen Erklärungsnotstand geraten … Oder sie hätte einfach weiter gelogen. Wie sie es bei ihren Eltern gemacht hatte … Sie sollte sich schämen. Und dass sie dann noch nach ihm verlangt hätte, ohne ihm etwas zu erklären … Warum nutzte sie jeden immer nur aus? Warum konnte sie nichts alleine auf die Reihe kriegen? Und warum konnte sie nicht einfach nur einmal etwas richtig machen?

Sie war der schlimmste Mensch von allen. Und sie würde es wohl immer bleiben.
 


 

John saß in der Küche. Er fühlte sich schrecklich. Was war mit Kyrie los? Wann genau hatte sie angefangen, ihm so zu misstrauen?

Ihr Blick, mit dem sie ihn angesehen hatte, als er ihr erklärte, dass er sie in den Himmel bringen wolle, zerfraß ihn. Er blieb in seinem Gedächtnis haften und schien seine Seele auszusaugen. Warum hatte er es nie bemerkt? Sein Mädchen hatte Angst vor dem Himmel. Wie lange schon? Was für ein Vater war er, dass er so etwas nicht bemerkte? Das war kein normales Erschrecken – das war Panik. Sie war aschfahl geworden. Und das allein bei der Erwähnung! Was wäre nur mit ihr passiert, wenn sie sie wirklich zum Hochhaus gebracht hätten?

Und warum wollte sie einfach nicht darüber sprechen?

„Ich bin besorgt“, eröffnete Magdalena ihm, „Was ist nur mit ihr?“

„Wir sollten Nathan zur Rede stellen“, schlug er vor, „Kyrie scheint ja darauf zu beharren, uns nicht einzuweihen …“

„Wir müssen mit ihr reden“, entgegnete seine Frau, „Wir müssen ihr zeigen, dass wir unter allen Umständen auf ihrer Seite stehen!“

„Das sollte sie doch wissen!“, keifte er harscher, als er eigentlich wollte.

Magdalena sog scharf die Luft ein.

Er starrte gegen den Tisch. Was konnte er ausrichten, um seinem Kind zu helfen? Wie sollte er sie vor Schaden bewahren, den er selbst weder kannte noch verstand? Das war nicht möglich. Einfach unmöglich. Er würde sie noch sterben sehen, ohne zu verstehen, was vor sich ging! Und davor fürchtete er sich. Am allermeisten. … Hatten sie sie etwa in die falsche Richtung gebracht? Oder gar … gedrängt? War ihre Entscheidung vor zwanzig Jahren falsch gewesen?

Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Nicht eine Sekunde in seinem Leben hatte er sie bisher angezweifelt. War das unverantwortlich gewesen? Aber … Gott hatte die Engel geschickt. Und Gott wusste, was er tat …

„Aber sie vertraut sich uns nicht mehr an“, stellte sie erneut das Offensichtliche fest, „Das müssen wir unterbinden …“

… Gott … warum gab er ihm kein Zeichen? Warum konnte er ihm nicht seine Fragen beantworten, wenn Kyrie das schon nicht wollte? Wollte Gott etwa, dass er sich vor Sorge hier fertig machte? Dass er seiner Tochter so nicht helfen konnte? Dass die Verzweiflung ihn packte? Aber er musste weiter daran glauben, dass alles gut würde. Alles, ob er es verstand oder nicht.

„Der Himmel!“, rief Magdalena plötzlich erschrocken aus.

Er schaute ebenfalls nach draußen. Und zog die Stirn kraus: Kam es ihm nur so vor … oder hatte der Himmel wirklich seinen Glanz verloren?

„Ist das deine Antwort?“, fragte er leise und traurig. Aber er erhielt keine Bestätigung.

Was war nur aus seinem Glauben geworden? Was ließ ihn so zweifeln?

Er hatte darauf keine Antwort.
 

Als ihre Mutter nach oben stürmte, schaute Kyrie von den Lernbüchern auf. Sie hatte einfach weitergemacht, als wäre sie nie vom Magneten unterbrochen worden. Aber sie hatte auch nichts lernen können – ihre Sorgen kreisten weiter um die Todsünden, die sie bestrafen würden. Sie war noch nie in ihrem Leben von einer Obrigkeit bestraft worden. Aber diesmal würde es kein Entkommen geben … Wie weit würde sie flüchten müssen, um nicht davon getroffen zu werden? Es machte ihr Angst, den Himmel wirklich ein letztes Mal zu betreten, vielleicht noch im Beisein von Nathan als Assistent des Richters …

„Der Himmel!“, rief Magdalena erschrocken, „Schau!“

Kyrie verstand nicht, zog die Stirn kraus – und warf dann einen Blick nach draußen. Das Licht schien wie verschwunden zu sein, alles, was dem Himmel Leben eingehaucht hatte, schien verschwunden zu sein. Er wirkte wie eine fremde, goldene Fläche. Dunkelgold. Nicht mehr makellos reines Gold, sondern beinahe dreckiges. Und so fern. So unglaublich fern, dass er ihr beinahe Angst machte. Dass sie sich fast davor fürchtete … noch mehr, als ohnehin schon. Was bedeutete das?! War das etwa die Strafe dafür, dass sie nicht gekommen war?!

War das nicht etwas übertrieben? Und … wenn es so war … warum waren auch ihre Eltern betroffen?!

Sie erhob sich, wich weiter zurück. Sie war nicht bereit dazu! Sie … sie brauchte Zeit! Zeit zum Nachdenken! Sie würde nicht in den Himmel gehen! Nicht ohne Nathan! Und sie würde nicht bestraft werden wollen! Sie hatte Angst gehabt! Wegen ihnen! Nur ihretwegen! Weil sie ihre Engel nicht unter Kontrolle hatten! Es war ihre Schuld, ihre verfluchte Schuld!

Sie stürmte aus dem Raum. Wohin sollte sie gehen? Was, wenn sie hierher kamen? Ihre Eltern auch noch bestraften, nur weil sie unartig gewesen war?! Das … das durfte doch nicht sein …! Wo war Gerechtigkeit? Was war mit ihr?!

Und wieso fühlte sie sich so im Stich gelassen? Nathan hätte kommen sollen … Er hätte sie beschützen sollen … Ray … Ray würde sie doch ganz bestimmt beschützen, oder? Er würde sie in Schutz nehmen und … und … Ray. Sie musste Ray anrufen! Musste zu ihm und …

Magdalena hielt sie plötzlich umklammert. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie angehalten wurde – sie wollte zu Ray! Wenn er da war, dann war der Schmerz auch nicht mehr so schlimm, die Angst würde vergehen … Warum konnte er nicht doch hier gewesen sein? Dann gäbe es keine Geheimnisse mehr zwischen ihnen. Sie könnte ehrlich sein. Sie könnte ihn lieben.

„Bleib hier, Kyrie!“, rief ihre Mutter verzweifelt, „Bitte, bleib hier …“

Kyrie klammerte sich an ihre Mutter. „Es tut mir leid …“, brachte sie erstickt hervor, „Alles tut mir so leid!“

Und schweren Herzens hielt sie sich davon ab, ihrer Mutter letztendlich die Wahrheit zu sagen. Die Todsünden würden nur ihre Erinnerungen nehmen, wenn sie zu viel wusste. Das durfte Kyrie nicht riskieren … Sie hatte eine Verantwortung … mehrere Verantwortungen … Irgendwann würde sie sich stellen … Aber … noch wollte sie sich einfach an ihrer Mutter festhalten und ihren Tränen freien Lauf lassen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank fürs Lesen! Ich hoffe, es gefällt noch! Nicht mehr lange und es ist geschafft!
Liebe Grüße!
Bibi Komplett anzeigen

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