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Federschwingen

von

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Ira. Das war nicht immer sein Name gewesen. Aber es war der einzige, an den er sich erinnerte. Wann würde er wieder zu seinem alten Ich finden? Und wann würde er sich an die Namen seiner Freunde erinnern können? Warum konnte er nicht endlich sterben? Wie lange wollte man ihn noch leiden lassen? Er war tot! Tot genug. Unfähig sich zu bewegen, nur noch in Erinnerungen schwelgend, ohne dass er sich überhaupt an sein altes Ich erinnern konnte … Wann nur hatte er angefangen, alles falsch zu machen?
 

Acedia und Luxuria waren einst ebenfalls einfache, kleine Engelchen gewesen. Sie hatten sich beim Schwertkampfkurs getroffen. Sie waren alle erst zehn Jahre alt gewesen. Stark für ihr Alter, wohl wahr, aber ungeübt genauso.

Und so hatte ihr gemeinsamer Kampf begonnen. Der Kampf dreier Freunde, deren Weg ein gemeinsames Schicksal bereithielt.
 

Die kleine Blondine, deren Lächeln ihn von Anfang an bezaubert hatte, schwang ihr Schwert mit einer Anmut, die beinahe Neid erweckte. Es war kein Kampf, es war ein Tanz. Und ihr langes Haar schien ihr nachzuschweben wie ein drittes Flügelpaar.

Währenddessen tat die engagierte Rothaarige ihr Bestes, um ihrer Freundin eine gute Rivalin zu sein. Sie übte, hart mit dem Schwert zuzustoßen, auch wenn ihre Taktik fehlerhaft und ihre Bewegung noch lange nicht so graziös war, wie die der anderen. Aber sie hatte keinen Skrupel, den entscheidenden Stich zu setzen, was die andere nicht über sich brachte.

Ira selbst war ebenfalls ein mittelmäßiger Schwertkämpfer. Wenn er die anderen um ihn herum betrachtete, fühlte er sich ziemlich unterlegen, aber keiner der anderen forderte ihn zum Kampf auf. Nur die beiden, mit denen er zufällig in eine Gruppe gesteckt worden war.

„Dämonen legen keinen Wert auf Fairness“, betonte ihr Meister, „Dämonen nutzen jeden Vorteil. Der Einzelkämpfer der Dreiergruppe ist der Engel.“ Dann gab er das Signal. „Kämpft!“
 

Luxuria und er hatten gegen Acedia gekämpft und gesiegt. Acedia und er hatten es geschafft, Luxuria zu besiegen – und er wurde von den beiden ebenfalls fertig gemacht. Allerdings nicht nur mit dem Schwert, sondern auch mit Worten und lässigen Sprüchen. Wie sie zusammenhielten – beste Freunde, die einander unterstützten und ergänzten.

Er wusste nicht mehr, was er damals über Acedia gedacht hatte. Vermutlich hatte er sich von ihr einfach freundschaftlich angezogen gefühlt. Und so verbrachten sie auch außerhalb des Unterrichts Zeit miteinander. Alle drei. Sogar noch, als sie alt und grau waren.

„Ta~daaa!“, rief Acedia lang gezogen und stolz aus, während sie das Stück Licht-Kuchen vor sich mit einem überlegenen Lächeln bedachte, „Alles Gute zum Geburtstag!“

„Ich habe aber nicht Geburtstag“; entgegnete Ira belustigt.

„Aber den Kuchen nimmst du doch“, bekräftigte Acedia und schob ihm das Stück zu, „Sonst hätte ich ihn ja umsonst gezaubert.“

„Das hat dich ja so viel Mühe gekostet“, spottete Luxuria amüsiert und griff nach dem Kuchen.

„Hey“, begehrte sie unernst auf, „Das ist ein Meisterwerk!“ Sie grinste schief und zog den Kuchen weg. „Und für Ira!“

„Ich verstehe schon“, meinte Luxuria grinsend, „Dann lass ihn dir schmecken, Ira.“ Sie zwinkerte ihm zu, was auf ihrem Gesicht noch viel mehr Falten auftat.

Mittlerweile kannten sie sich seit siebzig Jahren. Sie verbrachten die ganze Zeit miteinander. Sie hatten sonst nichts zu tun. Sie hatten keine Pflichten, keine Aufgaben … und doch hatten sie Spaß. Ihr Leben war nicht langweilig – sie genossen den Zyklus in vollen Zügen, besaßen keine Geheimnisse voreinander und sie traten auf wie ein und dieselbe Person. Und dennoch begann er irgendwann damit, Unterschiede zwischen Luxuria und Acedia zu entdecken.

„Ich wette“, sagte Acedia dann frei heraus, „Dass ihr keinen so detailreichen und konsistenten Kuchen erschaffen könnt.“

Er riss sich von ihrem Gesicht los und starrte den Kuchen weiter an. Er war wirklich detailliert ausgearbeitet. Er war verziert und geschmückt und sogar die Stellen, an denen er eingeschnitten werden konnte, waren zu sehen. So etwas hatte er noch nie zuvor gesehen.

„Ich lege auf Genauigkeit ja ziemlich viel wert“; fügte sie noch triumphierend hinzu.

„Dann sieh dir einmal das an“, meinte Luxuria, „Ich habe geübt.“ Und schon entstand vor ihr ein Spiegel – genauso voller Schnörkel und anderem Krimskrams wie Acedias Kuchen, nur dass er auch funktionierte. Ira konnte sich darin betrachten.

Er sah den Buckel, den er hatte, die runzlige Haut, die ihn uralt erscheinen ließ und betrachtete seine Haare, die zum Glück noch immer dieselbe Farbe hatten wie früher.

Anders als das seiner beiden Freundinnen – das Haar der einen war von silbernem Glanz, während das der anderen schon komplett weiß erstrahlte, als wäre sämtliches Leben aus ihm ausgehaucht. Noch zwanzig Jahre, dann wären sie hundert. Und dann würde es nur noch besser werden. Aber auch wenn das Alter schmerzhaft aussah, so bereitete es ihnen keine Nachteile. Es ging nur ums Äußere, das sich veränderte. Und um die Bewegung, die etwas eingeschränkt wurde. Der Zyklus war schon etwas Besonderes.

„Tu den Spiegel weg“, forderte Acedia sie betroffen aus, „Das lässt mich so alt aussehen.“

„Du bist alt“, betonte Luxuria, „Genauso wie wir beide.“ Sie schaute zu ihm. „Findest du mich alt?“

„Alt, aber hübsch“, antwortete er aufrichtig, was ihm ein Lächeln von ihr einbrachte. Ihre Haare waren zu einem langen Zopf geflochten.

„Ich bin hübscher, oder?“, kam es sogleich von Acedia, „Ich meine – schau dir diese Falte an.“ Sie deutete auf ihre Wange. „Die muss dein Herz doch höher schlagen lassen!“

Luxuria lachte glockenhell. „Natürlich, meine Liebe.“ Und sie sagte ihren Namen. Aber der war aus seiner Erinnerung gestrichen worden. Wie aus der Erinnerung aller anderen Engel. „Natürlich …“
 

Die Jahre zogen weiter ins Land und aus den Alten wurden wieder Kinder. Und noch immer verstanden sie sich prächtig – sie liebten einander wie beste Freunde. Sie vertrauten einander. Und sie rivalisierten untereinander. Es war keinen der drei entgangen, dass sie stark waren. Stärker als andere. Stärker, als sie sein wollten.

„Langsam macht es mir Angst“, gestand Luxuria mit zitternder Stimme, „Ich meine … seht euch nur an, wo wir uns befinden!“

Sie hatte Recht. Es war gefährlich, als starker Engel in die Nähe des Turms der Ränge zu gehen. Aber sie mussten sich selbst beweisen, dass sie es schaffen konnten.

„Es ist vermutlich wirklich töricht“, stellte die kleine Acedia fest, die wieder beinahe genauso ausschaute wie vor zweihundert Jahren. Zweihundert Jahre tiefer Freundschaft. … Warum schlug Iras Herz dann so fest, wenn er sie ansah? „Aber ich muss es wissen.“ Warum wollte er sie im Arm halten und war unzufrieden damit, sie nur aus der Ferne zu betrachten?

„Warum muss eure Rivalität so ausarten?“, fragte Ira und fühlte sich wie die letzte Stimme der Vernunft. Hatten sie völlig den Verstand verloren? Auch wenn er nicht besser war. Er machte immerhin mit.

„Wer den höchsten Punkt erreicht“, legte Acedia fest, „… der ist der stärkste Engel!“

„Und wenn uns ein Rang erwischt?“, warf Ira ein, „Ich habe echt keine Lust, als Assistent zu arbeiten, während ich noch nicht einmal aus meinem Zyklus draußen bin.“

„Spielverderber“, gab Acedia zurück und zeigte ihm die Zunge.

Er schaute beleidigt weg. Aber nur, um zu kaschieren, dass er errötete. Warum reagierte er so peinlich? So … kindisch?

„Keine Panik“, beschwichtigte Luxuria ihn langsam und veralbernd, „Die fressen einen schon nicht auf! Und so stark werden wir wohl auch nicht sein.“ Sie zwinkerte ihm zu.

Er seufzte.

„Machst du also mit?“, fragte Acedia, „Derjenige, der am weitesten hoch kommt, bekommt eine megagroße Lichttorte von den Verlierern!“

„Dann fangt schon einmal an zu backen!“, riet Luxuria ihnen und startete nach weiter oben los.

Er hatte einfach schon von Anfang an das Gefühl gehabt, dass es eine schlechte Idee gewesen war, das zu tun. Und dennoch war auch er nach oben geflogen.

Und Acedia hatte gesiegt.


 


 

Heilloser Schmerz ließ Nathan aufschrecken. Sein Körper fühlte sich an, als würde er explodieren, gleichzeitig in alle Richtungen zerfallen. Als würde die Magie platzen, seine Hülle aufbrechen, sich selbst total versengen. Er starrte auf seine Hände, die zitterten, die er dadurch kaum wahrnehmen konnte, wobei es ihn dennoch überraschte, sie nicht rot aufglühen zu sehen. So heiß … diese Hitze … Und nur ein Name loderte in ihm auf: Acedia.

Was war mit ihr? Was geschah mit ihr?

Er stand in Acedias Büro, war gerade damit fertig geworden, alles aufzuräumen – und plötzlich realisierte er, dass er am Boden lag, dass er sich krümmte, alles aneinander drückte. Er musste weg. Er musste zu ihr. Sofort zu ihr. Acedia.

Wenn er jetzt nicht ging, würde er verglühen! Sein Kopf würde platzen, der Schmerz darin war kaum aushaltbar – Acedia rief jede Schmerzwelle, rief jeder Partikel seines Körpers. Wo war sie? Links? Rechts? Oben?

Oben. Ja, oben … hoch … zu ihr …

Er konnte sich nicht einmal genug koordinieren, um ein Oben feststellen zu können. Er musste sich teleportieren. Zu ihr. Jetzt.

Und als er sich auflöste, brannte noch immer alles in ihm. Erst, als er direkt vor ihr stand, hörte es auf – und als er so viele Engel sah, wie er schon lange nicht mehr gesehen hatte, konnte er endlich wieder einen klaren Gedanken fassen: eine Engelsversammlung.

„Der Magnet“, hauchte er. Wie lange hatte er gebraucht, um zu reagieren? Bestimmt keine fünf Sekunden. Und doch hatte sich dieser Schmerz ewig angefühlt. Wenn er länger gewartet hätte, hätte dieser ihm bestimmt noch das Bewusstsein geraubt.

Sofort blickte er zu Acedia, versuchte zu realisieren, was gerade vor sich ging.

Er schien auf einer riesigen Bühne zu stehen, Unmengen an Engel wanderten an ihm vorbei – und sie wirkten alle in etwa so erleichtert wie er selbst. So erleichtert, dass sie die quälenden Schmerzen losgeworden waren.

Acedia stand dort am Abgang – natürlich. Sie hatte den Magneten abgesendet, alle würden zu ihr wollen. Und von dort konnten sie hinab geleitet werden auf den großen Platz vor dem Turm der Ränge. Auf diesem stand auch eine Erhöhung, vermutlich von den Todsünden oder vom Siebten Rang gefertigt und spontan aufgestellt. Und es kamen immer mehr Engel.

Er zog seinen imaginären Hut vor jenen, die erst jetzt – oder sogar noch später – kamen. Der Magnet hatte auf jeden Engel dieselbe Auswirkung. Also musste jeder durch dieses Höllenfeuer gelaufen sein, ehe er sich entschieden hatte, hierher zu kommen. Er warf einen kurzen Blick ins Publikum, um zu überprüfen, ob einige seiner Freunde bereits da waren. Aber er konnte in dem Gewirr keinen erkennen. Und vermutlich wurden sie dazu angehalten, unten zu bleiben, um Ordnung zu bewahren.

„Auch schon da, Schlafmütze?“, neckte ihn Xenon sogleich. Was sprach er ihn jetzt plötzlich an, als wären sie Verbündete?

Nathan drehte sich zum Assistenten um. „Was ist passiert?“, wollte er kühl wissen.

„Ira ist nicht erschienen“, erklärte er, „Trotz des Schwurs an Sin.“

Nathan spürte, wie seine Augen sich weiteten. Ira war weg. Sie nahmen es als Beweis, dass Luxuria und Gula ebenfalls nicht wiederkommen würden – Acedias Gruppierung hatte gewonnen. … Nein. Acedia hatte gewonnen. Ihre Gruppierung existierte nicht mehr. Jemand hatte sie alle ausgelöscht. Er schaute zu der Todsünde, die vor all den Engeln stand. Sie wäre im Moment ungeschützt! Was auch immer das Ziel des Täters war – die Wahrscheinlichkeit, dass auch sie auf seiner Abschussliste stand, schien ihm zum Greifen nahe.

„Wir müssen Acedia beschützen!“, wies er Xenon erschrocken an, „Jemand wollte diese Engelsversammlung verhindern. Wenn Acedia sie jetzt einberufen hat, ist sie in Gefahr!“

„Das haben die anderen Todsünden schon festgestellt, Schlaumeier“, bemerkte er, „Und sie haben festgelegt, dass es in diesem Fall Nachfolger geben soll.“

Nathans Herz machte einen Satz – und schien danach stehen zu bleiben. Nachfolger. Nein. Er konnte das nicht ernst meinen. Er konnte das doch jetzt nicht wirklich ernst meinen! Plötzlich verlor es gewaltig an Bedeutung, dass Acedia ihr Leben verlieren könnte. Er kapierte nun, worauf das hinaus laufen würde.

„Sie waren nicht nur in der Fraktion für die Engelsversammlung“, erklärte Xenon gelassen, „Sie hatten auch alle keine Assistenten zur Hand.“

„Ich kann keine Todsünde werden“, mischte sich plötzlich jemand ein.

Nathan schaute zur Sprecherin – er hatte sie schon manchmal gesehen. Sie war auch eine Assistentin. Sie hatte rabenschwarzes Haar und leuchtende grüne Augen, außerdem wirkte sie ziemlich jung.

„Ich muss noch auf mein Halbengelchen aufpassen“, fuhr sie fort, „Auch wenn ich mehr Erfahrung hätte als ihr beide zusammen.“ Ihre Worte ließen ihn zusammenzucken. Halbengel. Kyrie. Verflucht! Er hatte total auf sie vergessen! Der Magnet. Kyrie würde es doch alleine hoch geschafft haben, oder?! Xenon war hier. Er konnte ihn für sie im Auge behalten. Sie brauchte keine Angst zu haben. Kurz überblickte er das Publikum, aber er nahm nicht wirklich etwas war. Kyrie … Er könnte zu einem Nachfolger werden. Er würde zu einem Nachfolger werden. Alles in ihm schien zu blockieren – er fühlte sich taub und stumm und hilflos. Herumgeschubst und klein.

Dabei fiel sein Blick auf Xenon, der bei der Bemerkung der anderen Assistentin die Augen kurz zusammenkniff. „Ich finde, das ist ein guter Grund, um doch Todsünde zu werden. Dann würdest du deine Zeit nicht mit einem nutzlosen Halbengel verschwenden.“

„Sie ist nicht nutzlos!“, fuhr die Assistentin ihn an, „Und ich bin froh, weiterhin Assistentin bleiben …“

„Nathan!“, erklang Acedias fordernde Stimme. Die Stimme durchbrach seine innere Taubheit nicht. … Nachfolger.

Er warf noch schnell einen Blick ins Publikum, nahm aber immernoch nicht wirklich etwas wahr. Kyrie würde keinem Magneten widerstehen können. Das ging doch gar nicht. Sie war hier. Hoffentlich passten die anderen auf sie auf, bis das alles vorbei war … nein. Nein, das würde nie wieder enden, wenn er heute zur Todsünde ernannt würde. Er würde keinen seiner Freunde in nächster Zeit begegnen. Sie mussten einen Todsünden-Mörder finden. Sie mussten eine Massen-Panik vermeiden. Er würde einer der mächtigsten Engel werden. Und mit Macht kam Verantwortung. Eine, die er nicht tragen konnte.

Er flog zu Acedia, ohne ein weiteres Wort, ohne sich sonderlich zu beeilen. Er würde sich irgendwann aber die Zeit nehmen, sie zu besuchen. Ihnen zu erklären, dass er das alles nicht wollte. Dass er es immernoch nicht wirklich glauben konnte. So schnell könnte sich sein Leben doch nicht einfach verändern? So ohne Vorwarnung. Von einer Sekunde zur nächsten.

Er stand vor ihr. Neben ihr standen die Engel vom vierten Rang, die die ankommenden Engel anwiesen, weiterzugehen.

„Ich bin nicht bereit, eine Todsünde zu werden!“, erklärte er ihr sofort, ruhiger, als er geglaubt hatte, „Ich kann nicht …“

„Ihr drei seid die einzige Möglichkeit, dass wir eine Chance haben“, keifte sie ihn an, „Du tust also gefälligst, was ich sage.“

„Wo sind die anderen Todsünden?“, wollte er wissen.

Sie nickte in eine Richtung. „Ich habe ihre Magie für den Magneten benötigt“, erklärte sie ihm, „Sie ruhen sich gerade aus, bis ihre Kräfte zurückkehren.“ Sie wirkte ungehalten. „Aber noch fehlen mir ziemlich viele Magiereste. Was hält diese ganzen Engel so lange auf?“

„Keine Ahnung“, sagte er, „Aber … ich … Du kannst mich doch nicht jetzt ernsthaft zu irgendeiner Todsünde ernennen!“

„Und ob ich das kann“, gab sie zurück, „Ihr werdet brav da vorne stehen. Sobald genug Engel da sind, um den anderen ihre Magie zurückzugeben, wird die Versammlung beginnen.“

„Und dann?“, fragte er, „Was soll aus mir werden?!“

„Werde doch einfach zu Ira“, fuhr sie ihn an, „Das passt dann gut.“

„Danke für den Tipp“, maulte er, „Aber ich bin echt nicht darauf vorbereitet und …“

„Was hast du erwartet?“, forderte sie genervt zu wissen, „Dass wir herausfinden, dass die Todsünden sterben und darauf warten, dass sie sich auf Null reduzieren? Wofür, glaubst du, hast du all die Zeit gekämpft?“

„Die Wahrheit!“, entgegnete er aufgebracht. Plötzlich stieg Wut in ihm auf. Wie konnte sie ihm das antun?! Sie wusste doch selbst, dass er das nicht schaffen würde! Dass er das mit dem Assistent-Sein noch immer nicht ganz drauf hatte! Dass er seine emotionalen Bindungen nicht lösen konnte, dass er noch zu gut war – das ganze würde ihn zerstören! „Dafür, dass allen Engeln mitgeteilt wird, was vor sich geht und …“

„Und doch hast du dir keine Lösung überlegt“, kritisierte sie ihn, „Also sei mit meiner einverstanden.“ Plötzlich wirkte sie erleichtert. „Es sind fast alle da … Wir können anfangen.“

„Was ist mit den Fehlenden?“, wollte Sonntag wissen. Er warf sein orange-rotes Haar zurück, das ihm dann über die Schulter fiel und musterte Acedia aus seinen silbernen Augen kritisch.

„Exekution“, antwortete sie, „Sobald sie da sind. Sie sind zu spät.“ Und damit schritt sie los. Nathan folgte ihr sofort.

„Warte, du kannst das nicht ernsthaft …“ Er fühlte sich wie in einem schlechten Film. Er konnte doch nicht so einfach zur Todsünde ernannt werden! Er wäre doch ein Acedia geworden. Er wäre jetzt noch Assistent geblieben. Er wollte jetzt keine Todsünde werden! Er hatte doch nicht das Zeug dazu! Alleine die Sache mit Kyrie bewies das! Der Umstand, dass Ira vermutlich irgendwie gestorben war, obwohl er mitten in den Ermittlungen stand …

Acedia stellte sich auf die Bühne. Wenn es vorher bereits still gewesen war, so schien es jetzt totenstill. Niemand wagte es mehr, sich zu rühren. Ihn mit eingeschlossen. Nathan stand knapp hinter ihr, badete in ihrer Autorität, die seine Gedanken scheinbar verstummen ließ. Eine Engelsversammlung …

Xenon und die anderen beiden Assistenten befanden sich neben ihm.

… Dann … dann würde sein Leben jetzt also für immer anders werden.

Sein Blick ging durchs Publikum. Dann wollte er als Nathan Joshua zumindest noch einmal sehen. Nathan … Sein Name war Nathan. Irgendwie hing er daran. Er hätte ihn sich irgendwann einmal aufschreiben sollen. Vielleicht hätte er sich dann noch daran erinnern können.

Aber es war ohnehin zu spät, noch irgendetwas auszurichten. Acedia würde sprechen, die Engel würden folgen.

„Engel“, begann Acedia ihre Rede. Wie sie alleine dort stand …

Er schaute sich um. Die drei verbliebenen Todsünden hatten sich jetzt nach hinten geschleppt. Das Publikum konnte sie in dieser geschwächten Form hoffentlich nicht sehen, sonst würde das sofort eine Panik auslösen.

Der vierte, fünfte und sechste Rang stand bei den Todsünden, schien sie schützen zu wollen. An den Seiten standen auch einige von ihnen, vermutlich, um bei einem Anschlag auf Acedia einschreiten zu können.

… Ob Sin wohl erscheinen würde, um diesen Tag mit ihnen zu verbringen?

Eher nicht. Sin war auch bei der letzten Engelsversammlung, damals, als Gula ernannt worden war, nicht erschienen. So, als ginge es ihn nichts an …

Nathan fühlte sich von der Welt im Stich gelassen. Warum durften sie einfach so über seinen Kopf hinweg Entscheidungen treffen? Warum war er gekommen? Warum hatte er sich von dem Schmerz leiten lassen … Er wollte bei seinen Freunden stehen. Er wollte keine Todsünde sein!

„Wir sind heute zusammengekommen, um euch über Begebenheiten zu informieren, die in letzter Zeit stattgefunden haben, meine Freunde …“, rief sie, als hätte sie das schon hunderte Male geprobt, „Es hat Angriffe auf die Ränge gegeben, immer wieder, in letzter Zeit immer häufiger.“

Einige Engel nickten zustimmend, doch noch immer hielten sie alle ihren Mund, um den Worten der Todsünde zu lauschen.

„Und nachdem Luxuria und Gula bereits Opfer des Angreifers geworden sind, haben sie auch Ira ausschalten können“, gab sie voller Bedauern in ihrer Stimme preis, „Doch wir werden nicht aufgeben!“ Sie faltete ihre Hände, als würde sie beten. „Wir werden uns gegen sie stellen, wir werden herausfinden, wer sie sind, was sie tun.“ Langsam schaute sie durchs ganze Publikum. „Und das werden wir tun, indem wir neue Todsünden auswählen – wir werden unsere Gebräuche abändern, um dem Problem habhaft zu werden!“

Die Engel schauten sie teils geschockt, teils erleichtert an, doch noch immer drang kein Laut hervor, der ihre Rede unterbrechen hätte können.

„Doch dafür brauchen wir euch, meine Engel“, erklärte sie, „Die Kraft der Engel ist einzigartig – und nur durch eure Energie können wir neue Todsünden ernennen. Denn euer Licht wählt uns aus. Deshalb sind wir heute hier versammelt. Um dem Todsünden-Mörder den Kampf anzusagen! Um ihm zu verdeutlichen, dass wir nicht aufgeben!“ Ihre Worte klangen hart. Wenn man es so aus ihrem Mund hörte, so direkt und unleugbar, schien es noch unwirklicher zu werden, dass das wirklich möglich sein sollte. Engel zu töten. Wie nur?

Unsicheres Nicken folgte, doch noch immer sagte niemand ein Wort. Denn jeder wusste, was so eine Entscheidung bedeutete. Alle, die hier waren, würden ihre Magie widerstandslos abgeben, denn jeder wusste, dass die Stärke der Todsünden von jedem einzelnen Engel abhing. Darum auch die Höchststrafe für ein etwaiges Nichterscheinen – weil jedes fehlende Stück Licht die neuen Todsünden für immer schwächer hielt, als sie eigentlich sein sollten.

„Alle Engel, die ihr hier anwesend seid, tut eure heilige Pflicht, verschreibt mir euer Licht, sodass ich sie ernennen können werde!“

… Sie ernennen … Sie meinte wohl eher: Ihn ernennen. Zu einer Todsünde. Und er würde sich selbst dabei helfen … Am liebsten hätte er Einspruch erhoben. Doch dazu hatte er kein Recht. Es war eine Engelsversammlung, die Engel hatten zugestimmt. Und was sonst sollten sie tun? Je mehr starke Engel die Macht der Todsünden innehatten, desto eher hatten sie eine Chance. Denn Engel waren eine Gemeinschaft, die einander half und einander beschützte.

Er war ein Engel. Und er musste jetzt seine Pflicht als Engel tun.

Also gab auch er sein Licht, genau wie Xenon und die anderen beiden Assistenten. Auch wenn er sich trotzdem noch immer wünschte, dass er sich über den Schmerz hinweggesetzt hätte, irgendwohin fliehen hätte können und jetzt nicht hier stand. Er würde das alles nicht schaffen. Das war zu groß für ihn.

Trotzdem floss sein Licht zu Acedia.
 

Kyrie glaubte, verbrennen zu müssen.

Alles in ihr schmerzte, alles an ihr schien zu verkohlen – und es hörte nicht auf, hörte einfach nicht auf, so weh zu tun. Es quälte sie. Sie konnte sich nicht bewegen.

Keine Stimme drang an ihr Ohr, nichts konnte sie mehr erkennen. So musste es sich anfühlen, wenn man starb. Wenn man plötzlich ganz alleine irgendwo war, wenn man keinen Halt mehr hatte und wenn man wusste, dass das die einzige Möglichkeit wäre, sich aus dem Schmerz zu befreien. Tot.

Nur, dass jede Schmerzwelle ihr einen Namen zurief: Acedia, rief er laut und lauter, Acedia, Acedia, Acedia. Ihr ganzer Körper jedenfalls schrie danach, in den Himmel zu gehen, dorthin zu gehen, zu Acedia. Alles in ihr wollte sie dazu bewegen, da hoch zu gehen, sich zu beeilen, um dem Schmerz ein Ende setzen zu können. Doch etwas stellte sich dem Schmerz in den Weg. Angst. Angst mit der Hoffnung, dass Nathan kommen würde, um sie abzuholen.

Er hatte es ihr sooft versprochen – er musste kommen. Er musste einfach. Er wusste ja, wo sie war. Er würde sie finden. Als könnte er auch kommen. Also könnte er sie auch beschützen. Könnte sie wieder befreien, wie er es schon einmal getan hatte …

Der Magnet … warum bewahrte er sie nicht davor?

Acedia.

Warum kam er nicht endlich, um ihr zu helfen? Er wollte doch ihr Schutzengel sein! Sie würde sich nicht rühren, bis er da war, sie würde einfach hier liegen bleiben … und dahinfristen … und hoffen, dass das aufhören würde. es sie immernoch an, Acedia! … Ira … Gula … Luxuria … Die neuen Laute gingen unter dem riesigen, betonten Acedia beinahe unter, doch sie spürte sie ganz klein und leise, wie sie den Namen unterstrichen … Was … was sollte das bedeuten? Warum …

Acedia, wies es sie hin, Acedia.

Jemand musste ihr helfen … oder etwas … Ein Wunder. Genau – ein Wunder, das war es, was sie jetzt brauchte … während sie hier so lag … und sich fühlte, als würde sie sterben.

Acedia.
 

„Kyrie!“, rief John verzweifelt, „Kyrie, bitte, wach auf!“ Seine Tochter antwortete nicht, sie hing nur noch erschlafft da. Schmerz verzerrte ihr Gesicht. Und ihre Flügel waren ausgebreitet, waren das Einzige an ihr, was sich rührte – sie schlugen wild umher, als wollten sie unbedingt nach oben in den Himmel fliegen.

Magdalena standen die Tränen in den Augen, als sie ihrer Tochter sanft durchs Haar strich, ihr Wasser brachte, mit ihr sprach … Und dabei ihre Hand mal um mal von den Flügeln geschlagen wurde. Doch sie zuckte nicht zurück, hielt stand, um ihr Kind berühren zu können.

John konnte sich einfach nicht erklären, was los war. Warum hatte sie die Flügel ausgestreckt? Was hatte der Himmel mit ihrem Zustand zu tun?! Was verursachte ihr solche Schmerzen? Und wieso konnte er nichts dagegen unternehmen?

„Wir können sie nicht ins Krankenhaus bringen!“, knurrte er verzweifelt, „Wir können rein gar nichts tun!“

„Das letzte Mal …“; brachte Magdalena besorgt hervor, „Als sie krank war … hatte das auch mit dem Himmel zu tun?“ Kyrie Kopf lagerte auf ihren Knien, die Flügel flatterten wild herum, doch Magdalena schien diese gar nicht mehr wahrzunehmen.

„Ich habe keine Ahnung!“ Alles in ihm schien platzen zu wollen. Warum tat der Himmel seiner Tochter so etwas an? Warum half er ihr nicht einfach? Warum stieg kein Engel herab, der seine Tochter in den Himmel beförderte, der ihren Flügeln half?

„Wir könnten sie nach oben tragen!“, schlug Magdalena vor, „Wir könnten sie dem Himmel näher bringen …“

Ja. Kyrie hatte ihnen einmal gesagt, dass sie nur in den Himmel steigen konnte, wenn sie ihm so nah wie möglich war. Weil sie „bloß“ ein Halbengel und damit auch schwach war. Sie sollten sie auf das Hochhaus bringen, von dem aus sie immer flog.

„Gute Idee!“, stimmte er seiner Frau zu, „Los, wir bringen sie in den Wagen!“

„Und die Flügel?“, fragte Magdalena.

Er starrte das Gefieder an. Vor lauter Herumschlagen hatte sie bereits einige Federn verloren. Und sie fielen auf. Wie sollte er das dann den Nachbarn erklären!? Aber eigentlich waren ihm die Nachbarn auch egal – er musste seine Tochter retten! Sie hatten doch ohnehin schon genug Zeit vertrödelt! Sie hatten versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen – und sie war schon dagelegen, als Magdalena sie vor einigen Minuten gefunden hatte!

Wie lange lag sie hier schon?!

Hoffentlich kamen sie jetzt nicht zu spät mit dieser Idee. Würde er allen, die es wissen wollten, eben erzählen, dass seine Tochter ein Engel war! Er würde die Konsequenzen schon tragen!

Er richtete Kyrie auf. Sitzend. Ihre Flügel schlugen weiter vor sich hin, ließen sie dadurch sogar aufgerichtet zurück – so konnte er sie einfach im Huckepack nehmen.

Er hob sie hoch – sie war nicht schwer, dadurch, dass die Flügel beinahe abhoben, wurde sie sogar noch leichter. Wenn diese etwas sinnvoller geschlagen hätten, wäre sie wohl wirklich losgeflogen. Sicherheitshalber packte er sie fest an. Die Flügel schlugen hie und da gegen seine Arme, aber es schmerzte nicht. Von hier unten würde sie es doch nie schaffen, ganz nach oben zu fliegen! In ihrem Zustand. Wie sollte das gehen?! Sie musste so nah wie möglich zum Himmel!

Bei der Tür sah er schon dem ersten Problem entgegen: Die Flügel krachten gegen den Rahmen. Er konnte seine Tochter nicht einfach so dagegen schieben! Das ging doch nicht! Er musste irgendwie durch kommen …

Es musste ihm doch irgendwie gelingen, seine Tochter zu retten!

Warum konnte er kein besserer Vater sein?


Nachwort zu diesem Kapitel:
Oh je, Klausurenzeit und ich komme wieder mit dem Terminplan nicht nach xD

Vielen Dank fürs Lesen! Noch vier Kapitel übrig!
Ich hoffe, es gefällt!!
Liebe Grüße
Bibi Komplett anzeigen

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