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Why can't I just love?

von

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12. Juli

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Es ist etwas passiert. Etwas, dass sich auf mein ganzes Leben aufwirken wird. Etwas, dass ich immer noch nicht ganz begreifen kann. Meine Hand zittert, während ich hier schreibe, ich weiß gar nicht so wirklich, was los ist. Da sind gerade so viele Gedanken und Fragen in meinem Kopf. Dabei hatte alles eigentlich ganz normal angefangen...

»Soll ich es ihm sagen?«

Ich bekam als Antwort einen verwirrten Blick von Sören. »Wem was sagen?«

»Ich meine... es steht so viel auf dem Spiel!«

Sören starrte mich verwirrt an, während ich weiter plapperte, schien nach einiger Zeit jedoch zu akzeptieren, dass ich einfach nur laut mit mir selbst sprach. Ihn schien nichts mehr zu überraschen. Während Sören kopfschüttelnd den Raum verließ, grübelte ich weiter. Das mit Aksel hatte mich auch die ganze Nacht hindurch beschäftigt. Als meine Überlegungen mich auch nach weiteren zwei Stunden nicht zu einem Ergebnis bringen konnten, ging ich zum Mittagessen. Das ständige im Kreis laufen und nachdenken hatte mich hungrig gemacht. Ich hätte sogar diesen noch nicht ganz toten Breihaufen gegessen!
 

Skeptisch beäugte ich die Ansammlung von...äh...Lebensmitteln auf meinem Teller. Da war ein Schnitzel, etwas Gemüse und Reis. Zumindest auf den ersten Blick. Nach näherem Betrachten schien es doch etwas Erbrochenem ähnlicher zu sein. Da will ich aber nicht näher drauf eingehen. Ich piekste mit der Gabel in jeden Haufen, der auf meinem Teller lag. Gut, schien tot zu sein. Mir gingen trotzdem einige Fragen durch den Kopf.

War das Schnitzel oder der Teller härter?

War das Gemüse aus Plastik?

War der Reis überhaupt aufgetaut worden?

Würden meine Zähne so etwas überleben?

Ich seufzte und schob den Teller weg von mir. Sören, der mir gegenüber saß, hatte mit dem Essen natürlich keine Probleme. Aber der war ja auch mit Metall ausgestattet. Ich suchte die Cafeteria noch nach etwas Essbarem ab, um nicht verhungern zu müssen. Alles was ich erspähen konnte, war ein Apfel, den ich sofort mitnahm. Super, mein Überleben war schon mal gesichert. Kurz überlegte ich. Wollte ich an einem Ort wie diesem überhaupt mein Überleben sichern?

Ich beschloss nach einigem hin und her, doch noch etwas auf den Zeitpunkt meines Ablebens zu warten, anstatt ihn zu provozieren. Also aß ich den Apfel und freute mich, etwas halbwegs normales zu mir nehmen zu können.

Auf einmal hörte ich jemanden zwei Mal klatschen. Ich drehte mich um und sah Frau Lehning, die um die Aufmerksamkeit der Schüler bat. »Es kommen bitte alle in ihren Zimmergruppen zu mir und nehmen sich einen Zettel! Wir haben heute Abend etwas vor!«

Oh nein. Wenn Lehrer eine Idee hatten, war es immer etwas, wobei wir Schüler uns in irgendeiner Form lächerlich machten und sie sich köstlich amüsierten. Ich und Sören gingen zu Frau Lehning, die irgendwelche blauen Schnipsel an die Gruppen verteilte. Einige lachten, als sie die Zettel öffneten. Mein schlechtes Gefühl verstärkte sich.

»So, Tobias, ich gebe dir einfach mal irgendeinen Zettel, bevor du dich stundenlang entscheiden musst, okay?«

Ich nickte. Verdammt, Lehrer kennen einen eben doch immer besser, als man denkt. Frau Lehning drückte mir wahllos einen kleinen, zusammengefalteten Schnipsel in die Hand. Ich öffnete ihn zaghaft und Sören schaute mir neugierig über die Schulter. ›Rapunzel, Ghetto-Sprache‹ stand auf dem Zettel. Ein paar Mal las ich mir die geschriebenen Worte durch, doch sie ergaben auch nach mehrfachem Anschauen keinen Sinn.

Frau Lehning erklärte aber schließlich, was sie schreckliches mit uns vor hatte. »Also, ihr werdet das Märchen, dass auf eurem Zettel steht, heute Abend vorführen! Und wie ihr das machen sollt, steht darunter. Viel Erfolg, wir treffen uns um achtzehn im Aufenthaltsraum!«

Mit diesen Worten ging sie und ließ eine Gruppe verwirrter Jugendlicher zurück. Ich und Sören gingen auf unser Zimmer, um Rapunzel in Ghetto-Sprache zu üben. In meinem Kopf malte ich mir schon aus, wie sehr man uns beide auslachen würde. Ich und Ghetto-Sprache. Der Gedanke allein war schon verstörend. Was würde Aksel erst dazu sagen? Würde er mich auslachen? Kurz überlegte ich. Eine bessere Frage war wohl: Wer würde nicht lachen?

Sören kannte das Märchen fast auswendig und so besprachen wir, wer welche Rollen spielen musste, da wir nur zu zweit waren. Zuerst gab es die Eltern und die Hexe. Die Hexe und die Mutter übernahm Sören, ich musste den Vater spielen, der die Rapunzeln der Hexe aus dem Garten stiehlt. Dann gab es noch Rapunzel und den Prinzen. Um das hinzukriegen, mussten wir ständig Rollen tauschen. Wir lösten das Problem einfach so, dass die Hexe ein Kopftuch trug und gekrümmt ging, Rapunzel hatte ein gelbliches Handtuch auf dem Kopf, an dem weitere Handtücher befestigt waren, damit es wie ein langer Zopf aussah.

Die Zeit verging ziemlich schnell und so gingen wir zum Aufenthaltsraum. Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen, bei dem Gedanken, vor zwei Klassen so eine peinliche Show abzuziehen. Aber vielleicht hatte es andere Gruppen ja noch schlimmer erwischt? Und was musste Aksel wohl vorführen? Vielleicht war er ja eine Prinzessin oder so. Das würde dann die Blamage meinerseits wieder wettmachen.
 

Der Aufenthaltsraum des Naturfreundehauses war ziemlich klein, also saßen alle Leute sehr gequetscht um einen freien Bereich in der Ecke herum, der wohl als Bühne dienen sollte. Ich ließ meinen Blick über die große Menge schweifen und schluckte bei dem Gedanken, vor all diesen Leuten so eine Show vorführen zu müssen. Sören und ich quetschten uns zwischen ein paar Mädchen aus seiner Klasse. Es war eine von diesen typischen kichernden Mädchencliquen, die alle irgendwie gleich aussahen und alle paar Minuten anfingen, von irgendeinem Star zu schwärmen. Ich versuchte, das begeisterte Gequietsche über Brad Pitt und Co zu ignorieren und hoffte, dass bald ein Lehrer kommen würde.

Seltsamerweise wurde mein Wunsch erhört und die Tür öffnete sich. Herr Wener und die beiden anderen Lehrerinnen kamen herein. Es war noch ein männlicher Lehrer mit langen, schwarzen Haaren, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, dabei.

»Guten Abend, Schüler! Wir hoffen, ihr alle seid gut vorbereitet, denn wir ziehen jetzt direkt die erste Gruppe, die gleich vorführen darf!«, erklärte Herr Wener. Ich glaubte, etwas bösartige Vorfreude in seiner Stimme zu hören.

Lehrer hatten die Angewohnheit, immer das Wort ›darf‹ zu benutzen, wenn sie uns zu etwas zwangen, damit es nicht ganz so schlimm für Andere klang. Wir Schüler durchschauten dieses natürlich, und so herrschte im Raum bald eine Totenstille. Keiner wollte ein peinliches Märchen vor einigen wildfremden Leuten vorführen, ganz besonders ich nicht. Na gut, ich hatte vielleicht nicht gerade einen guten Ruf zu verlieren, aber Selbstbewusstsein habe ich eben auch nicht.

Wie auch immer, Frau Lehning holte einen Beutel, in dem wohl die verschiedenen Märchen waren. Herr Wener griff hinein und ich betete, dass er mir nicht immer nur Pech bringen würde. Nachdem ein Zettel gezogen wurde, las Herr Wener sich diesen zuerst still durch und grinste dann. Mein Herz zog sich zusammen, mir wurde schlecht. Er musste mich gezogen haben und sich nun darüber freuen, dass ich mich blamieren würde, als Rache für seine von mir ermordeten Spinnen!

»Schneewittchen!«, rief er durch den Raum.

Ich atmete erleichtert aus. Falscher Alarm. Einige Mädchen standen auf und gingen zu der Bühne, sie sahen überraschender Weise nicht gerade fröhlich aus. Sie spielten das Märchen eigentlich genau so, wie es auch normalerweise war. Nur, dass sie nicht ›a‹ sagten, sondern stattdessen ›ä‹. Das klang dann ungefähr so:

»Spieglein, Spieglein än der Wänd, wer ist die Schönste im gänzen Länd?«

Es kamen noch einige seltsame Vorführungen, unter anderem ein Musical oder eine Emo-Aufführung, wo der Froschkönig die ganze Zeit herumjammerte, wie erbärmlich sein Leben doch wäre. Herr Wener zog den nächsten Zettel.

»Wer hat Rapunzel?«, fragte er laut.

Meine inneren Organe schrumpften auf minimale Größe. Mir wurde schlecht. Doch trotzdem trottete ich Sören hinterher und versuchte, den Chor, der immer wieder »Go, Schwuchtel!« sang, zu ignorieren. Schließlich standen ich und Sören in der freien Ecke und etwa vierzig Leute starrten uns an. In Gedanken redete ich mir verzweifelt ein, dass alles gut werden würde. Dass diese Blamage auch nichts mehr schlimmer machen konnte. Ich meine, was sollte schon passieren? Das schlimmste, was passieren konnte, war doch nur, dass ich Aksels Zuneigung und Respekt durch einen endlos peinlichen Auftritt komplett verlor, oder?

Oh, scheiße. Daran hätte ich jetzt nicht denken sollen.

Auf einmal erspähte ich ihn unter den vielen Zuschauern. Aksel. Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe herum. Doch Aksel zwinkerte mir zu und zeigte einen Daumen nach oben. Es wird schon alles werden, wollte er mir wahrscheinlich sagen. Mit neuem Mut lächelte ich ihm zu und atmete tief durch. Dann entfernte ich mich ein bisschen und Sören stellte sich an ein imaginäres Fenster und starrte gebannt in die Ferne. Ich steckte meine Hände so lässig wie möglich in die Taschen und watschelte auf ihn, meine Frau, zu. Dieses Verhalten hatte ich bei Nico studiert.

»Ey, was glotzte denn da an?«, fragte ich und versuchte, meine Stimme möglichst tief zu bekommen.

Ich spürte förmlich, wie der ganze Raum kurz die Luft anhielt. Dann ertönte in einigen Ecken, hauptsächlich in der von Nico und seiner Clique, Gelächter. Meine Nervosität stieg an, doch ich dachte wieder an Aksel, der wohl an mich glaubte, und beruhigte mich wieder.

»Diese Rapunzeln da,«, sagte Sören in höchst professionellem Ghetto-Akzent, »die sind richtig krass, ey, die will ich haben.«

Ich war beeindruckt von Sörens Talent. »Dann geh' die klauen, juckt doch keinen.«

Sören druckste etwas herum und antwortete schließlich: »Da wohnt doch diese olle Hexen-Bitch, die is' voll gruselig. Außerdem bin ich schwanger, ich muss hier chillen, weißte?«

Ich seufzte genervt. »Boah, ey, muss ich echt?«

»Sonst kauf ich dir kein Bier mehr!«, drohte Sören mir.

Sofort machte ich mich auf den Weg und klaute ein paar Rapunzeln, die von einigen Buntstiften dargestellt wurden, und gab sie meiner Frau. Sören, mein Eheweib, aß diese sofort (er tat natürlich nur so, auch wenn er mit seinem Metall bestimmt Holz essen könnte). Doch er wollte danach noch mehr.

»Ey, Schatz, ich will noch mehr Rapunzeln.«

Ich erwiderte genervt: »Du hast doch schon welche, alter!«

»Bist du blöd?«, keifte Sören mich an, »die sind schon voll lange leer.«

Nach etwas Diskussion ging ich neue Rapunzeln holen. Wieder wollte Sören neue haben, doch beim dritten Mal wurde ich von der Hexe erwischt, als die Sören sich schnell verkleidet hatte.

»Was suchst du Penner in meinem Garten?«, fragte die Hexe angsteinflößend.

Ich erklärte mit vielen ›boahs‹ und ›eys‹, dass meine Frau die Rapunzeln unbedingt haben wollte und ich diese deswegen stehlen musste. Sören erwiderte, dass ich weitere Rapunzeln haben könnte, wenn ich ihr das neugeborene Kind aushändigen würde.

Als Antwort zuckte ich mit den Schultern. »Joa, kannste haben, denk ich mal«, nuschelte ich, »solange die alte Ruhe gibt is' mir das eh latte.«

Während das Gelächter im Publikum anscheinend gar nicht mehr aufhören wollte, spielten ich und Sören tapfer weiter. Wir waren schließlich an der Szene angelangt, wo der Prinz das erste Mal in den Turm von Rapunzel klettert.

»Ey, Rapunzel, schmeiß mal deine Frise runter!«, rief Sören romantisch hinauf.

Ich konnte diese netten Bitte natürlich nicht ablehnen und so warf ich die zusammengebundenen Handtücher von dem Tisch, auf dem ich stand, herunter und Sören kletterte hinauf. Bevor die Hexe zurück kam, floh er schnell. So ging es eine Weile weiter, doch irgendwann erfuhr die Hexe, dass ich sie betrogen hatte und sie riss meine Handtücher vom Kopf und verbannte mich in die Wüste.

Ich und Sören tauschten schnell die Rollen. Er ging weiter gekrümmt, setzte sich jedoch die Handtücher auf, da die Hexe sich als Rapunzel ausgab. Nun spielte ich den Prinzen und kletterte den Tisch hinauf. Doch die Hexe Sören stieß mich hinunter und ich landete in imaginären Dornen. Dieses veranschaulichte ich, indem ich rief »Autsch, die Dornen!« Kreativ, ich weiß. Nachdem ich eine Weile herumirrte, fand ich schließlich die echte Rapunzel und mit den Worten »Krasses Happy End, Alter!« war das Stück auch endlich zu Ende.

Zu meiner Überraschung bekamen wir lauten Applaus und als wir uns durch die Schüler drängten, rief mir einer aus meiner Klasse zu: »Geile Leistung, Schwuchtel!«

Sogar jemand aus Nicos Clique, der aussah, wie ein Skater, sagte zu mir: »Du bist echt in Ordnung, Tom!«

Das mag zwar nicht ganz mein richtiger Name gewesen sein, aber hey, der Anfangsbuchstabe war richtig! Ich war total überrascht, aber auch sehr gerührt, dass ich durch diese Blamage wohl doch irgendwie etwas Respekt entgegen gebracht bekam. Das Leben kann so selbstironisch sein.

Ich und Sören setzten uns wieder. Herr Wener zog die letzten paar Gruppen, bei denen nichts wirklich interessantes dabei war. Doch dann wurde Dornröschen ausgelost und ich sah, wie einige Jungs aus meiner Klasse aufstanden, unter ihnen Aksel. Welche brutale Aufgabe hatten sie wohl bekommen? Vielleicht musste Aksel ja singen. Das wäre auch eine interessante Erfahrung.

Die Gruppe ging nach vorne und stellte sich auf. Aksel blieb jedoch im Hintergrund, seine Rolle kam wohl später. Zwei Jungs saßen auf zwei Stühlen ganz vorn, wohl das Königspaar, und der Rest spielte ein paar Feen. Dem neugeborenen Dornröschen wurde viel Glück im Leben gewünscht, dass Übliche halt. Doch dabei tanzten alle so seltsam herum. Ich verstand überhaupt nicht mehr, was da vorne los war, als die böse Hexe kam und das Kind verfluchte, doch die eine Fee den Fluch in einen hundert Jahre dauernden Schlaf umwandelte. Es war ein unerbittlicher Kampf zwischen allen Anwesenden, nur dass sie alle herumhopsten. Stück für Stück begann ich zu verarbeiten, was ich dort sah, und bemitleidete die Jungs für diese sadistische Aufgabe, die sie da von den Lehrern bekommen hatten.

Es passierte nichts weiter interessantes (von den verstörenden Bewegungen abgesehen) und man war bereits bei der Szene, wo Dornen um die Burg von Dornröschen gewachsen waren und die Prinzen auftauchten, um sie zu retten. Die Dornen wurden von einigen aus der Gruppe dargestellt, die einfach mit ausgestrecktem Zeigefinger bösartig aussehende Balletbewegungen machten. Gefährlich, gefährlich.

Dann kam endlich Aksels Rolle. Er war der Prinz, natürlich. Vor den Dornen stehend, begann er erstmal einen Monolog, wie es eben für ihn typisch war.

»Wie soll ich diese Dornen nur überwinden? Jeder, der sie durchqueren wollte, hat bis jetzt sein Leben gelassen! Mein Schwert ist nicht fähig, sie zu zerschneiden. Was tun?«

Aksel hatte die Rolle des verzweifelten Prinzen wirklich drauf. Er hatte seine Hand an sein Herz positioniert, als würde er schreckliche Seelenqualen erleiden, und redete, als wäre er einer Seifenoper entsprungen.

»Ich weiß!«, rief Aksel hoffnungsvoll und ging leicht in die Knie.

»Ich werde sie mit meiner Tanzkunst zum Verwelken bringen!«, rief er in der schwulsten Tonlage, die ich je in meinem Leben gehört hatte, und hüpfte nach vorne, wo er beide Beine wie in einem Spagat hochstreckte. Danach drehte er einige Pirouetten und bewegte sich elegant durch die Jungs hindurch, die gerade mit seltsamen Bewegungen zu Boden gingen.

Ich konnte nicht anders, ich musste lachen. Das ganze war so unbeschreiblich lächerlich, doch es war...lustig. Komisch, wann habe ich je etwas lustig gefunden? Jedenfalls lachte ich, wie ich noch nie gelacht hatte, und ich spürte die Blicke meiner überraschten Klassenkameraden. Sie schienen langsam aber sicher zu begreifen, dass ich doch normal war. Naja, halbwegs zumindest. Sagen wir, sie akzeptierten mich als menschliches Wesen.

Nach etwas romantischem Gerede war auch das Dornröschen-Stück vorbei. Ich versuchte, diesen Moment ganz detailgenau in mein Gedächtnis zu brennen, weil ich mir sicher war, dass ich diesen Anblick von Aksel bestimmt nie wieder erleben würde. Er kehrte von der Bühne zurück und sah zu mir. Ich zwinkerte und zeigte einen Daumen nach oben, so wie er vorher. Er sah weg und ich konnte ein Lächeln auf seinem Gesicht erkennen. Ganz ehrlich, in diesem Moment hätte ich eigentlich nicht glücklicher sein können.

»Tobias?«, fragte auf einmal leise eine Frauenstimme neben mir.

Es war Frau Lehning. Sie sah mich mit einem mitleidigen Blick an, wie Lehrer es tun, wenn sie merken, dass man gerade gemobbt wird oder so. Ich kannte diesen Blick gut und wusste, wann Lehrer ihn anwandten, und jetzt war eigentlich nicht so ein Moment. Es ging mir doch wunderbar, was wollte sie? Ein unruhiges Gefühl machte sich in mir breit, da war so eine Ahnung, dass etwas passiert war. Ich konnte nur bei bestem Willen nicht sagen, was.

»Kannst du... kurz mitkommen?«, fragte Frau Lehning, immer noch mit dem Mitleids-Blick.

Ich stimmte ihr zögerlich zu. Als ich mit ihr mitging, konnte ich aus den Augenwinkeln erkennen, dass Aksels Blick mir folgte.

Wir standen schließlich im Treppenhaus und Frau Lehning setzte sich. Sie deutete mit einem Kopfnicken neben sich und zwang sich, zu lächeln. Wenn sie wollen, dass du dich setzt, dann haben sie entweder schlechte Nachrichten oder erwarten ein langes Gespräch. Im schlimmsten Fall beides. Ich setzte mich neben sie. Für eine Weile herrschte Schweigen. Sollte ich etwas sagen, oder warten, bis sie sprach? Bevor ich mich entscheiden konnte, fing Frau Lehning mit zitternder Stimme an, mir den Grund des Gespräches zu erklären. So aufgewühlt hatte ich einen Lehrer noch nie erlebt.

»Tobias, i-ich...« Ihre Stimme versagte. Sie atmete einmal durch und fing nochmal an: »Ich... habe einen Anruf bekommen.«

Ich blinzelte verwirrt. War ein Anruf jetzt so weltbewegend?

»D-deine... deine Mutter...«, erklärte Frau Lehing unsicher, »sie... sie hatte e-einen Un...fall...«

Meine Augen weiteten sich. Mein Herz schlug schneller. Tausend Fragen auf einmal schossen mir in den Kopf. Ich begann zu zittern, ohne, dass ich es wirklich merkte. Mein Körper reagierte, doch mein Geist schien das ganze noch nicht wirklich zu verstehen. War sie etwa... ?

»W-wo ist sie jetzt...?«, fragte ich in der Hoffnung, meine Vermutung stimme doch nicht.

Frau Lehning brachte keinen Satz zustande. Ohne mich anzusehen, hob sie ihre Hand, die stark zitterte. Und dann zeigte sie nach oben.

Ich verstand ihre Geste, doch irgendwie verstand ich auch nichts. Das konnte doch nicht wahr sein. In meinem Kopf spielten sich einige Erinnerungen ab.

Wie meine Mutter stolz mit einem Mädchen im Wohnzimmer stand, mit dem ich gezwungener Weise dann auf ein Date ging.

Wie sie mir sagt, dass ich nur eine Plage sei, doch trotzdem alles daran setzt, dass ich eine Freundin bekomme.

Wie sie stolz mit ihrem Freund nach Hause kommt.

Wie sie mir fröhlich erzählt, dass sie heiraten wollen.

Wie mich ihr Glück gar nicht interessiert.

Und all das soll jetzt der Vergangenheit angehören? Meine Mutter soll der Vergangenheit angehören? Einfach weg sein und nie wieder kommen? Natürlich war sie nicht gerade nett zu mir, aber war ich es denn? Ich hatte ihr nie geholfen, mich nie für sie gefreut, wenn sie eine neue Beziehung hatte. Nie hatte ich ihr zu verstehen gegeben, dass ich sie unterstützen würde, hatte ihr nie gesagt, dass sie mir wichtig ist. Und jetzt ist es zu spät. Ich habe meine Chance verpasst.

Auf einmal spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Frau Lehning zwang sich, mir zuzulächeln. Sie drückte mir ihr Beileid aus und sagte, sie ließe mich nun allein.

Frau Lehning ging und ich blieb zurück. Als nichts, als eine leere Hülle. Warum erkannte ich jetzt erst, dass ich so vieles falsch gemacht hatte, jetzt, wo es zu spät war? Es schwirrten Bilder von ihr in meinem Kopf. Ich malte mir ohne, dass ich es wollte, aus, wie sie gestorben war. Hatte sie Schmerzen gehabt? Hat sie in dem Moment vielleicht an mich gedacht? Hat sie ähnlich gedacht wie ich oder hatte sie nur schlechte Erinnerungen von mir?

Ich biss mir auf die Unterlippe. Sie wollte doch heiraten. Sie war doch so glücklich. Warum jetzt? Warum sie? Auch, wenn ich mich so schrecklich fühlte, ich brachte es nicht fertig, zu weinen. Es war einfach zu viel, ich konnte das ganze gar nicht wirklich begreifen oder verarbeiten. Weinen erschien mir als so eine lächerliche, unpassende Reaktion. Ich war nicht einfach nur traurig oder verzweifelt, meine Welt war praktisch zusammengebrochen, mein Leben hatte sich komplett gewendet. Erst jetzt merkte ich, wie wichtig mir meine Mutter doch war, wie viel Platz sie in meinem Herzen einnahm.

Ich hörte einige Stimmen näher kommen. Schnell verschwand ich durch den Notausgang und ging Richtung Wald. Ich hätte mich auch in einer Toilette einschließen können, aber wenn man mein Fehlen bemerkte, würde man dort als erstes suchen. Und ich wollte nur allein sein. Einfach verschwinden und nie wieder gefunden werden.
 

Stundenlang irrte ich allein durch den Wald. Es war bereits spät in der Nacht, und mein Körper zitterte, doch ich spürte keine Kälte mehr. Ich war in meiner Eile im T-Shirt nach draußen gerannt und meine Arme hatten bereits einen bläulichen Ton angenommen. Nachdem ich ein bisschen weitergegangen war, sah ich ein Gebäude vor mir stehen. Ich las die Aufschrift ›Naturfreundehaus‹. Es wäre mir auch egal gewesen, wenn ich mich im dunklen, kalten Wald verirrt hätte, aber ich sollte wohl zurück zur Jugendherberge finden.

Es waren bereits alle Lichter gelöscht. Wie spät war es überhaupt genau? Ich schaltete mein Handy ein und bekam die Meldung von dreizig verpassten Anrufen. Alle von der selben Nummer. Eine SMS hatte ich auch, die gleiche Nummer wie die der Anrufe.

»Ich bin es, Aksel. Geh ran!«

Aksel hatte mich dreizig Mal angerufen? Machte er sich etwa Sorgen? Ich überlegte, ob ich ihm Bescheid sagen sollte, dass ich mehr oder weniger in Ordnung war. Ein Blick auf meine Handyuhr verriet mir, dass wir es halb vier Uhr morgens hatten. Durfte ich ihn um diese Zeit noch stören? Er hatte mir doch irgendwie schon gesagt, dass ich ihm wichtig war, oder nicht?

Auch, wenn ich mir unsicher war, ich wollte ihn unbedingt sehen. Ich brauchte ihn. Er war der Einzige, der mir jetzt Halt geben konnte, wo alles andere fort war.

Ich schleichte mich bis zu seinem Zimmer. Nun stand ich vor seiner Tür und wusste nicht, ob ich diese wirklich öffnen sollte. Doch ich nahm all meinen Mut zusammen und drückte die Klinke herunter. Als meine Augen sich schließlich an die Dunkelheit gewohnt hatten, konnte ich schwache Konturen erkennen. Ich sah drei Betten. Zwei davon waren leer. Erst wunderte ich mich darüber, doch dann fiel mir ein, dass alle etwas trinken gehen wollten, weil es die letzte Nacht in der Jugendherberge war. Aber wieso war einer hier geblieben?

Die Tür fiel zu und klackte leise. Die Person, die im Bett lag, setzte sich auf. Ich bezweifelte, dass das Knacken sie geweckt hatte. Wer auch immer dort lag, er war schon die ganze Zeit wach gewesen.

»Schwuchtel?«

Es war Aksel! Mir fiel ein Stein vom Herzen. Zögernd ging ich auf sein Bett zu. Eine Weile stand ich einfach dort und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich traute mich nicht einmal, ihn anzusehen. Doch da hörte ich seine Decke rascheln und die Matratze quietschen. Mit etwas Anstrengung konnte ich schließlich erkennen, dass er bis zu der Wand gerückt war und die Decke hochhielt.

Zuerst zögerte ich und rührte mich nicht. Doch schließlich setzte ich mich ganz langsam auf das Bett. Es kostete mich viel Überwindung, bis ich es dann endlich geschafft hatte, mich hinzulegen. Aksel ließ die Bettdecke auf uns beide herabsinken und die wohlige Wärme, die von ihr ausging, umhüllte mich. Das Gefühl, endlich raus aus der Kälte zu sein, war schön. Doch trotzdem zitterte ich immer noch, ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte.

Aksel bemerkte es natürlich und legte einen Arm um meinen Rücken. Fast automatisch bewegte ich mich näher zu ihm hin. Es tat so gut, Aksels Halt zu spüren, doch ich traute mich noch immer nicht, mich ihm ganz hinzugeben. Da war noch so viel Unsicherheit in mir. Ich vertraute der ganzen Sache nicht, es war mir anscheinend nie erlaubt, glücklich zu sein, ohne danach einen Rückschlag zu erleiden, der mich mindestens um das doppelte zurückwarf. Als könnte Aksel meine Gedanken hören, legte seine andere Hand auf meinen Hinterkopf. Ganz sanft, aber bestimmt, drückte er mich an sich.

»Du bist echt anstrengend, weißt du das?«, flüsterte er mir zu.

Ich hörte das Zittern in seiner Stimme und mir wurde klar, wie sehr er sich Sorgen gemacht haben musste.

»Hast du es schon gehört?«, fragte ich ihn.

Sein Griff wurde fester. »Natürlich habe ich das...«

Ich vernahm ein ganz leises, schwaches Wimmern in seiner Stimme. Nun schloß auch ich ihn meine Arme. In meinem Leben war es schon immer so gewesen: es gab diese seltenen Momente, in denen ich glücklich war, und immer wurden sie zunichte gemacht. Danach war meistens alles noch schlimmer, als es vorher war. Ich bin mir auch sicher, dass sich das niemals ändern wird. Doch in diesem Augenblick fühlte ich mich nicht mehr allein. Die Person, die ich über alles liebte, war bei mir. Und alleine das machte mich zum glücklichsten Menschen der Welt. Selbst, wenn auch dieses Glück nicht lange währen sollte, die Erinnerung konnte mir niemand mehr nehmen.

Ich fing an zu weinen. Ganz plötzlich, ohne, dass ich es wirklich merkte, liefen mir Tränen die Wangen hinunter. Das Glück hatte eben immer eine Kehrseite. Bei mir speziell war es die Angst. Ich hatte schreckliche Angst davor, Aksel verlieren zu können. Jetzt, wo ich dieses vollkommene Glück kannte, wie sollte ich so weiterleben können wie bisher? Ich kann mir nicht einmal mehr vorstellen, ohne Aksel zu sein. Ich schmiegte mich an ihn, als hätte ich Angst, er könnte in der nächsten Sekunde wieder verschwunden sein.

Während ich mich still an Aksels Brust ausweinte, strich er mir über den Kopf. Ich spürte die sanfte Bewegung seiner Hand auch noch, als ich endlich einschlief.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Ayalaana
2014-05-12T21:27:23+00:00 12.05.2014 23:27
Wow... *aufsteh* *klatsch* Für dieses Kapitel bekommst du von mir Standing Ovationes. Einfach großartig dieses Kapitel. Du hast mich total mitgerissen. Diese Dramaturgie von Glückseligkeit und tiefer Trauer ist einfach super. Ich liebe das. Bin total geflasht.
Und auch Aksel versetzt mir dieses mal keinen Stich. Ich muss wohl akzeptieren, dass das Wort Schwuchtel eine Art Kosename für Tobi geworden ist.
Ich muss gestehen, dass mir der Tod der Mutter nicht so nahe geht. Eigentlich hoffe ich, dass dieses Ereignis für Tobi neue Horizonte öffnet. Auch wenn es für ihn natürlich ein Schock ist. Er ist ja erst 16. Wo soll er hin? Allein leben geht jawohl schlecht. Er kann ja kaum auf sich selbst aufpassen. Doch nicht etwa nach Schottland?! OMG...
Von:  Inan
2012-03-12T18:15:02+00:00 12.03.2012 19:15
Aksel ist schon süß, er tröstet Tobi und ist mittlerweile auch sonst total nett zu ihm, nennt ihn aber immernoch Schwuchtel xD
Es ist aber verdammt traurig, dass Tobis Mutter ausgerechnet jetzt stirbt, als hätte der Kleine es nicht schwer genug...dass sie sowieso nicht nett zu ihm war, macht es wohl nicht wirklich besser ._.
Super Kapitel :)


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