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Why can't I just love?

von

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23. Juni

Ich habe es gestern nicht mehr geschafft, einen Tagebucheintrag zu schreiben. Was schließen wir daraus? Ich war beschäftigt. Und nicht mit meiner Mutter, Aksel, Melanie oder sonstigen Problemen, sondern mit einem ganz normalen Menschen! Aber mal von Anfang an. Also gestern.

Schon, als ich an der Bushaltestelle ankam, dachte ich mir: Was für ein Scheißtag. Nico und seine Clique waren natürlich da, bereit, mich fertigzumachen. Ich hingegen war ganz und gar nicht vorbereitet. Ganz im Gegenteil, ich war froh, dass ich noch halbwegs ohne Probleme gehen konnte. Und da sollte ich mich gegen diese Typen wehren? Na gut, das habe ich sowieso nie getan. Immer alles über mich ergehen lassen. Was könnte ich denn schon gegen solche Kerle ausrichten?

Mit genau diesen Gedanken näherte ich mich der Haltestelle. Meine Beine zitterten vor Angst, als ich mir in Gedanken ausmalte, was sie mit mir anstellen könnten. Und wie wehrlos ich sein würde. Dass es Freitag war, gab mir wenig Hoffnung. Aber da wusste ich noch nicht, was für ein tolles Wochenende es werden würde. Vielleicht sogar das beste meines Lebens. Als ich schließlich fast Schutz hinter dem großen Baum neben dem mit Graffiti beschmierten Glashaus gefunden hatte, drehte Nico seinen Kopf in meine Richtung. Perfektes Timing.

»Hey, Schwuchtel! Hast es gestern Nacht wohl etwas übertrieben, was?«

»Darauf fährt er also ab!«

Grölendes Gelächter. Ich kaute auf meiner Unterlippe herum und versuchte, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. Diese Angst ist schrecklich. Sie ist wie eine dunkle Gestalt, die dich von hinten packt, die du einfach nicht loswerden kannst. Vielleicht kannst du sie kurz abschütteln – doch sie kommt wieder. Du hast das Gefühl, dass die Gestalt wächst und wächst, bis sie deinen Körper vollständig unter Kontrolle hat und ihn nie wieder loslässt. Bei mir ist es, denke ich, fast so weit. Bald bin ich komplett eingehüllt.

Irgendwie ertrug ich die Busfahrt und war schließlich bei der Schule angekommen. Auch die Lehrer sprachen mich auf meine Verletzungen an und fragten, ob denn alles in Ordnung wäre. Ich konnte mir schon denken, worauf sie hinaus wollten. Am liebsten hätte ich allen ins Gesicht geschrien »Nein, es ist nicht in Ordnung! Ich werde verdammt noch mal von allen auf der Welt gehasst und Sie fragen doch auch nur, weil es Ihr scheiß Beruf ist!« aber ich nickte einfach nur. Alles okay. Ich würde nur gerade gerne sterben. Aber sonst geht’s mir gut, danke.

Es klingelte zur ersten großen Pause. Ich hörte einige meiner Mitschüler wild umherschreien, dass wir bereits nach der vierten Stunde Schulschluss hätten. Toll, dachte ich mir, fühlte aber nichts dabei. Ich nahm meine Sachen und stand auf. Sogar dies tat höllisch weh. Wir hatten nun Biologie (bei Herr Wener, der es wie bekannt immer fertig bringt, meinen Tag noch ein bisschen mehr zu vermiesen) und ich musste mich irgendwie die Treppen hochquälen. Die ersten Schritte gingen noch ganz gut – doch dann stolperte ich über irgendetwas und schlug mit meiner Nase gegen die Treppenkante, wobei ein unbeschreiblich widerliches Knackgeräusch erklang.

»Scheiße...« fluchte ich und hielt meine Hand unter die Nase, aus der Blut schwallte. Die Schmerzen versuche ich gar nicht erst, zu beschreiben.

Hinter mir hörte ich Gelächter. Dann ging Nico an mir vorbei. Er sah noch einmal zu mir herunter und spreitze seinen Daumen und Zeigefinger zu einem L, dass er sich an die Stirn hielt. Looser. Genau das bin ich.

Ich setzte mich auf die Treppe und ließ das Blut einfach fließen. Ich war wie betäubt. Die rote Flüssigkeit tropfte in beinahe regelmäßigen Abständen auf den Boden und ich sah dabei zu, fast schon fasziniert. Ich fand, dass es relativ viel Blut war, im Vergleich dazu, dass es nur aus einer kleinen Nase kam. Wie viel Blut würde wohl aus einem zerschnittenen Arm herausfließen?, fragte ich mich kurz und musste fast grinsen. So weit bin ich also schon, stellte ich kopfschüttelnd fest. Ich erbärmliche, kleine Schwuchtel...

»Hey, ist alles in Ordnung mit dir?!«, ertönte eine männliche Stimme, die mir nicht bekannt war. Irgendwie logisch. Keiner, den ich kenne, würde sich darum kümmern, wie es mir geht.

Als ich meinen Kopf langsam nach oben bewegte, sah ich zuerst einen Rock. Ich kombinierte kurz: Rock plus männliche Stimme ergibt...

»David?« fragte ich. Meine Stimme klang erschreckend leblos und rau.

Ich blickte in ein Gesicht mit feinen Zügen und klaren, grünen Augen, die besorgt aussahen. Ein paar braune Strähnen fielen über diese. Der Rest seiner Haare bedeckte die Ohren. Ich würde es als ›Pottschnitt‹ bezeichnen, würde es ihm nicht so gut stehen. David sah allgemein so aus, wie ich ihn mir ungefähr vorgestellt hatte. Sehr sanfte Züge, fast schon weiblich. Auch seine Beine sahen wie die einer Frau aus. Obwohl seine Haare auf dem Kopf relativ dunkel waren, die Haare auf seinen Beinen waren blond, kaum zu sehen. Und dazu noch die zierliche Figur. Er könnte ohne Probleme als Mädchen durchgehen.

»Du siehst schlimm aus. Soll ich dich zum Krankenzimmer bringen?«

Er bestätigte nicht, dass er David war. Er wusste wahrscheinlich, dass es mehr eine rhetorische Frage war. Und er fragte auch nicht nach meinem Namen. Alles was er wollte, war wissen, wie es mir geht.

Ich schüttelte den Kopf. Irgendwie fehlte mir die Kraft, zu sprechen. Und zum Krankenzimmer wollte ich auch nicht. Ich wollte nur sitzen bleiben und verbluten, auch wenn ich da sehr lange hätte warten können. David tat nichts. Wahrscheinlich wird er gleich abhauen und mich meinem Schicksal überlassen, dachte ich. Doch im Gegenteil, er blieb.

»Na gut, dann werde ich...«

Er kramte ein bisschen in seiner Tasche herum und holte eine Packung Taschentücher heraus.

»Ich wische das Blut weg, okay?«

Verwundert blinzelte ich ein paar mal. Warum tat er das?

»O-okay...«, brachte ich schließlich doch heraus.

Er legte eine Hand unter mein Kind und drückte meinen Kopf sanft nach oben. Genauso vorsichtig bewegte er das Taschentuch. Mein Herzschlag wurde schneller, doch gleichzeitig schien alles irgendwie in Zeitlupe abzulaufen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit er schweigend damit verbrachte, das weiterhin fließende Blut abzuwischen. Jegliches Zeitgefühl war mir verloren gegangen. Irgendwann schien er jedoch fertig zu sein und brachte das Taschentuch, dass sich stark rot verfärbt hatte, zu einem Abfalleimer, und reichte mir ein sauberes.

»Du blutest immer noch ein bisschen. Halt dir das lieber unter die Nase«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln. Doch auf einmal fiel das Lächeln, sein besorgter Blick war wieder da. »Ich hab gesehen, wie dieser Typ dir ein Bein gestellt hat. Nico, oder so. So habe ich ihn gar nicht eingeschätzt. Er ist anfangs auch nicht gerade nett zu mir gewesen, aber dass er so weit geht, dass hätte ich nicht erwartet.« David stand auf. »Ich weiß, du willst nicht, aber du solltest damit wirklich zum Arzt gehen. Sieht ziemlich schlimm aus.«

Ich nickte, war völlig überwältigt von so viel Nettigkeit. Auf einmal hielt David mir seine Hand hin. Ich zögerte und sah ihn einfach nur an. Er lächelte geduldig, und so nahm ich seine Hilfe schließlich an und stand auf. In meinem Kopf schwirrten hunderte Fragen. Es gab so unendlich viel, was mich an ihm verwirrte.

»W-warum?«, brachte ich schließlich besonders geistreich raus.

»Was, warum?«, fragte er verwundert zurück. »Damit ist nicht zu spaßen, du solltest wirklich zum Ar-«

»Nein, nein«, unterbrach ich ihn. »Warum bist du...so nett zu mir?«

Er blinzelte ein paar Mal verwundert, doch dann lächelte er wieder. Für ihn schien das Antwort genug zu sein, denn er sagte bezüglich meiner Frage nichts mehr. Auf einmal fragte er mich etwas.

»Willst du nach der Schule vielleicht noch in die Stadt gehen?«

»Öh, also, eigentlich brauche ich nichts... und du?«, druckste ich nervös herum. Warum fragte er mich auf einmal so etwas?

Er lachte. »Ich doch auch nicht...«

Hä?, dachte ich verwundert. Hat die Sonne ihm zu stark auf den Kopf geschien? »Warum fragst du dann, ob ich in die Stadt gehe?«

»Ob wir in die Stadt gehen wollen. Zusammen«, erklärte er schließlich geduldig.

Endlich verstand ich, was er meinte. Er wollte mit mir, Tobias Gerst, zusammen in die Stadt gehen. Kurz überlegte ich. Das konnte doch nicht sein. Warum sollte so ein netter Kerl sich mit mir abgeben, auch noch freiwillig? Oder ist er doch einfach nur der netteste Mensch auf der Welt?

»Hat Nico dich zu irgendwas angeheuert?«, fragte ich. Mein Kopf drehte sich etwas vom vielen hin- und herdenken.

David sah mich überrascht an und sein Lächeln fiel. Wusste ich es doch, dachte ich mir schon, als er auf einmal meine Hände in seine nahm. Zuerst reagierte ich gar nicht, was da vor sich ging, aber nach der Erkenntnis schlug mein Hals mir bis zum Hals und ich bekam kein Wort mehr heraus.

»Ich wusste ja, dass du hier nicht besonders beliebt bist, aber das hätte ich nicht erwartet“, gab er zu. Es schien ihm ziemlich peinlich zu sein. „Du scheinst nette Worte ja überhaupt nicht zu kennen. Wie kannst du denn leben, wenn du keine Freunde hast? Noch nicht mal ansatzweise das Gefühl von Geborgenheit kennst?«

Gar nicht, schoss es mir durch den Kopf. Wann habe ich jemals wirklich in diesen sechzehn Jahren gelebt? Von Herzen gelacht oder mich wohl gefühlt?

David erwartete keine Antwort von mir, er wusste wahrscheinlich, dass ich zu verwirrt dafür war. Also zog er mich einfach mit und sagte: „Wir gehen jetzt in die Stadt! Keine Widerrede!“

Zusammen mit jemandem in die Stadt zu gehen, einfach so aus Spaß, war eine ganz neue, unglaubliche Erfahrung. Und es war, glaube ich, das erste Mal, dass mich jemand lachen gehört hat. Den Rest des Tages habe ich nur herumgesessen und gestarrt. Als ich im Bett gelegen habe, habe ich dann herumgelegen und gestarrt. Dieses Gefühl ist unbeschreiblich. Als Erinnerung habe ich mir eine weiße Tasse gekauft und darauf geschrieben: »Es war kein Traum.« Und an die Tür habe ich auch nochmal einen Zettel mit der Aufschrift »Das ist wirklich passiert« geklebt. An mein Regal, den Spiegel im Badezimmer und meine Schultasche auch. Sicher ist sicher.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Ayalaana
2014-05-12T18:37:54+00:00 12.05.2014 20:37
Ein wirklich wundervolles Kapitel. Die Szene auf der Treppe hat mich fast zu Tränen gerührt. Du hast das ganz toll geschrieben.
Mit David scheint Tobi endlich einmal Glück zu haben. Ich bete dafür, dass das nicht nur eine Eintagsfliege ist.
Antwort von:  o0_Hidan_0o
12.05.2014 20:50
Du bist so lieb! Danke, danke, danke :)
Hab' mich total gewundert, und mich gefragt, ob dass irgendwie ein Fehler ist, dass ich auf einmal fast 20 Kommentare mehr habe (oder ob ich erblinde) aber damit hab ich echt nicht gerechnet! Danke für deine Zeit und Mühe, freue mich wirklich wahnsinnig.
Von:  JamieLinder
2012-01-20T20:32:08+00:00 20.01.2012 21:32
Ich bin "grade", was bedeutet vor ca. 1 - 2 Stunden, auf deine FF gestoßen. Zu Erst dachte ich ja nur, hm... Kein InfoText, nur Daten als Kapitel, sieht interessant aus.
UND SO WAR ES AUCH. Intressant.!
Mir gefällt deine Art zu schreiben total, der TagebuchStyle gefällt mir auch riesig. Und ich mag den Hauptchara. Er ist einfach ein normaler Junge, finde ich.
Die Idee am Ende dieses Kapitel, mit den Zettelchen, finde ich so extrem süß und einfach wunderbar.
Vorallem, als ich mal soetwas hatte, musste ich mir auch über all Zettel rankleben, um am nächsten Tag wirklich noch zu glauben, es war kein Traum....=3

Ich hoffe du schreibst schnell weiter. <3

Von:  Inan
2012-01-18T20:52:04+00:00 18.01.2012 21:52
Irgendwie hänge ich gerade irgendwo zwischen einem Mitleids- und einem Ach-gottchen-ist-das-süß-awww x3
Ich mein, man liest ja ansonsten nicht sofort raus, wie er sich wirklich fühlt und der ganze tiefsinnige Mist, aber so fällt ja mal richtig auf, wie...alleine er ist? Keine Ahnung, David ist auf jeden Fall voll toll :D
Auf jeden Fall ein sehr tolles Kapitel <3


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