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Swan

von

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Warum Menschen sich verändern

Die Tage vergehen, wie zu erwarten, nur schleichend. Nathan und ich bleiben im Nachrichten-Kontakt, stellen und erst einmal auf E-Mails um, was leichter zu handhaben ist als die Nachrichten im StudiVZ, und setzen unser Gespräch fort. Aber wir reden erst einmal lange um die bestehenden Themen herum und keiner traut sich wohl so recht, eines dieser Themen abzuschließen. Vielleicht auch, weil uns immer noch ein paar Worte dazu einfallen oder weil es schwer fällt, etwas, das so persönlich umschrieben worden ist, einfach fallen zu lassen.
 

Wir schneiden auch kurz neue Themen an, kommen zum Beispiel unter anderem noch einmal auf die alte Klasse zu sprechen. Er erzählt mir von ihrem Abschlussball, den er aber von der Planung und Ausführung her selbst nicht als so großartig empfand, weil sie bei der Mitternachtseinlage technische Probleme hatten. Ich rede mit ihm noch einmal über die anderen Mitschüler, die scheinbar das Interesse an ihm verloren haben, als es ihm reichte und er meinte, er könne keine „Freunde“ brauchen, die ihm bloß alles nachsagen, und als ich darauf geschockt reagiere, meint er, er sei froh darüber – lieber gar keine Freunde als falsche Freunde, das ist seine Ansicht. Ich kenne den Vergleich nicht und bin nicht sicher, ob ich das auch so sehe – früher hätte ich sehr oft jemanden brauchen können, mit dem ich reden kann, nur um einmal den Ballast loszuwerden, den ich immer mit mir herumgeschleppt habe, selbst wenn derjenige sich dann hinter meinem Rücken über mich gelacht hätte... was ja bei Nathan niemals der Fall war. Es waren nur keine Leute, die ihn selbst und seinen Charakter mochten, sondern solche, die sich eben dachten, es wäre toll, mit ihm in Verbindung gebracht zu werden, da er gut aussah und ein toller Sportler war. Vielleicht war es aber genau das: wenn er etwas sagen wollte, musste, dann hörten sie ihm nicht richtig zu, sondern standen nur da und nickten wie Zombies.
 

Diejenigen, die er an der Uni kennen gelernt hat, scheinen zum Glück über so etwas erhaben zu sein. Sie sind mit ihm ins Gespräch gekommen, und er hat sich dann auch öfter mit ihnen getroffen, etwa abends zum Ausgehen oder nachmittags zum Sport machen. Und jetzt hat er einen richtig guten Freundeskreis. Wahrscheinlich keinen so engen, wie ich ihn habe, denn Männerfreundschaften sind einfach anders (was ich ihm aber nicht so sage).
 

Auch ich erzähle von meinen Freundinnen, und er scheint sich darüber zu freuen, dass ich jetzt einen Platz gefunden habe. Er erkundigt sich mit ehrlichem Interesse nach ihnen und scheint auch sehr besorgt darum zu sein, ob sie auch wirklich echte Freundinnen sind. Das kann ich ihm versichern, denn ich beschreibe ihm Merry, Gemma und Sammy liebevoll und ehrlich.
 

Aber auch wenn wir täglich jeweils zwei oder drei Mails schicken – die Abstände werden also nicht größer, sondern noch kleiner – kann ich es nicht erwarten, Nathan wieder wirklich zu treffen. Ihn zu sehen, seine Gesichtsausdrücke, während er redet, und was sich daran verändert hat. Was er sagen wird. Seine Stimme. Ich habe sie schon am Telefon gehört, und sie klingt anders als früher, natürlich... viel erwachsener, denn als ich ihn kannte, war er noch nicht einmal wirklich im Stimmbruch. Sie ist immer noch weich, ruhig und klar, aber er hat viel gestammelt, mehr, als ich es jemals bei ihm erlebt habe. Ist er nur am Telefon anders, oder liegt es an mir? Und nur daran, dass er mit mir so lange keinen Kontakt hatte, ganz zu schweigen davon, dass er nie wirklich mit mir geredet hat?
 

Ich bin relativ sicher, dass ich einige dieser Antworten am Mittwoch finden werde. Und der ist nun endlich gekommen. Es ist sechs Uhr dreißig am Abend, und ich komme gerade von der Dusche. Die nächste Stunde lang werde ich mir wohl überlegen müssen, was ich anziehe, wie ich mir die Haare mache, was ich sagen und tun werde. Na gut, vielleicht sollte ich mich ganz natürlich geben. Ich wollte nur nicht so typisch mädchenhaft wirken, aber es ist nun einmal von Belang, wie ich mich kleide: nicht so, dass er sich denkt „Sie trägt ja doch noch die selben unvorteilhaften Fetzen wie früher, ich dachte, es hätte sich gebessert...“, aber auch nicht, dass ein Eindruck entsteht à la: „Holla, ich wusste ja, dass sich was verändert hat, aber warum gleich so ein ‚Willst du mit mir ins Bett’-Outfit?“ Überzeichnet dargestellt natürlich. Ach du liebe Güte, es ist ja kein Date. Es kann nicht so schwer sein. Ich ziehe mich einfach so an, wie ich mich beim Ausgehen immer anziehe.
 

Das Problem ist: wenn man sich ganz normal kleiden möchte, fällt einem nicht mehr ein, was überhaupt normal ist. Nach ewigem Ein- und Ausräumen meines Kleiderschrankes entscheide ich mich für ein paar Lagen, damit ich weder in der Hitze eines Lokals verlaufe noch im Freien erfriere. Ein gelbes Top, darüber ein schulterfreies, saphirblaues Langarmshirt mit gelben Punkten und ein Pullover in einem ähnlichen Blau mit einem weiten, umklappbaren Kragen. Dazu schwarzgraue Jeans. Die Haare werden simpel in einem Knoten hochgebunden. Und obwohl ich mindestens noch eine Viertelstunde so an mir herumzupfe, mich äußerst vorsichtig schminke – bloß nicht zu viel, denn sonst sehe ich fürchterlich aus –, mir die Haare wieder aufmache und erneut hochbinde, selbst das ausgewählte Paar Schuhe vor dem Gehen noch einmal wechsle, sehe ich am Ende eigentlich ziemlich natürlich aus. Mir fällt ein, dass sich Männer immer darüber wundern, dass es einen „natürlichen“ Schminklook gibt, bei dem man Ewigkeiten mit Schminke vor dem Spiegel verbringt, nur um dann ungeschminkt auszusehen. Aber man will ja „natürlich gut“ aussehen, nicht „natürlich, hab mir aber keine zwei Sekunden Zeit genommen, auch nur in den Spiegel zu schauen“. Der letzte Blick in den Spiegel macht mich sogar ein klein wenig wehmütig: früher war mir das völlig egal, ob auch ja alles passt oder nicht. Ich habe nicht einmal in den Spiegel gesehen. Und Nathan hätte damals trotzdem mit mir gesprochen. Ich hätte ganz sicher zumindest seine Freundschaft gewinnen können und hätte dazu nicht einmal etwas tun müssen, außer auf seine Fragen zu antworten und auf ein Gespräch einzugehen. Dem Problem, vor dem die meisten wohl Angst haben, den ersten Schritt zu machen, hätte ich mich gar nicht stellen müssen. Ich hätte nur kooperieren, ein Gespräch passieren lassen müssen.
 

Als ich das Haus verlasse, spüre ich den kalten Wind auf meinem Gesicht und Schneeflocken fliegen mir ins Gesicht. Ich schlüpfe in die Handschuhe, rücke den Schal zurecht, ziehe den Reißverschluss des Mantels etwas höher und rutsche mir die Mütze tiefer über die Ohren. Es ist wirklich verdammt kalt.
 

Ich beeile mich zur Bushaltestelle, weil ich nicht weiß, ob meine Uhr genau geht. Laut ihr wird der Bus in vier Minuten abfahren, aber ich will ihn keinesfalls verpassen. Nicht nur, weil ich dann eine halbe Stunde auf den nächsten Bus warten müsste und bis dahin höchst wahrscheinlich hier draußen erfrieren würde. Wir haben kein Date, ein Treffen in einem Lokal ist bei Weitem nicht so verbindlich oder ernst, aber zu spät möchte ich trotzdem nicht kommen. Ich halte überhaupt nichts von diesen Tricks wie „sich rar machen“ oder „den anderen eifersüchtig machen“. Sie wecken höchstens den menschlichen (oder nur den männlichen?) Spieltrieb und regen dazu an, zu kämpfen. Aber ich glaube, dass ich auch heute kein Mädchen bin, um das man kämpft. Das sage ich gar nicht nur aus mangelndem Selbstbewusstsein. Ich bin mindestens durchschnittlich hübsch, mit dem Unterschied, dass ich keine Mode-Mitläuferin bin und nicht das typische Outfit der Mädchen in meinem Alter trage (wobei es bei den Studenten ja nicht ganz so schlimm ist wie bei den Jugendlichen mit ihren Must-Marken und Accessoires), und ich bin nicht sicher, ob die Allgemeinheit das eher als Minus- oder Pluspunkt sieht. Ich gehe oft genug aus, verstehe mich einigermaßen schnell mit neuen Personen. Aber ich bin keines dieser Mädchen, denen alle männlichen Wesen nachrennen. Und genauso wenig bin ich besonders selbstbewusst, wenn es ums Flirten oder den ersten Schritt im Allgemeinen geht. Bis jetzt hatte ich einfach eher das richtige Maß an Glück. Und überhaupt – um jemanden kämpfen, kommt das in der Wirklichkeit auch vor oder doch nur im Film?
 

Auf jeden Fall bemerke ich ein paar Minuten später, dass meine Uhr tatsächlich richtig zu gehen scheint, und warte weitere zwei Minuten in der Kälte auf den Bus. Als ich einsteige, bin ich sehr froh darüber, dass er gut geheizt ist. Ich würde während der zwanzigminütigen Fahrt eigentlich gerne etwas machen, aber als ich Musik einschalte, klicke ich erst mich einmal durch ein Dutzend der durch Zufall ausgewählten Lieder, bis ich resignierend zur Kenntnis nehme, dass ich gerade auf gar nichts so richtig Lust habe. Liebeslieder lösen eine gewisse Wehmut aus, denn ich weiß, selbst wenn ich Nathan auch im direkten Treffen noch so toll finde und wir uns auch entsprechend gut verstehen, wir noch lange nicht zusammen sind. Trennungslieder kommen mir äußerst pessimistisch vor, und dann gibt es noch die Handvoll Lieder auf meinem iPod, die nichts mit Liebe zu tun haben, die mir im Moment entweder zu deprimierend sind oder so fröhlich, dass ich davon ungeduldig werde, am liebsten herumspringen würde, und das werde ich hier jetzt mit Sicherheit nicht anfangen. Darum schalte ich den iPod wieder aus und räume ihn wieder in meine Tasche. Stattdessen schaue ich aus dem Fenster, obwohl es natürlich so dunkel draußen ist, dass ich kaum etwas ausmachen kann und nur die hellen Schneeflocken vorbeiziehen und ab und zu ein paar Straßenlaternen leuchten sehe. Aber trotzdem erkenne ich die Gegend, auch wenn sie im Dunkel der Nacht liegt, noch genau. In mir bricht dieses nostalgische Gefühl aus, das an die Kindheit erinnert und an ein paar Jahre meiner Jugend, aber das ist bei mir niemals mit ausschließlich positiven Gefühlen verbunden. Darum denke ich lieber an Nathan, den ich ja so oder so gleich treffen werde.
 

Ein oder zwei Stationen, bevor ich aussteigen muss, werde ich langsam, aber sicher nervös. Ich treffe Nat wieder, den damals zumindest scheinbar unerreichbaren Nathan Grean, und ich habe keine Ahnung, ob ich mich in seiner Gegenwart nicht vielleicht doch wieder in das kleine, schüchterne Mädchen verwandeln werde, das höchstens noch ein Nicken oder Kopfschütteln zustande bringt, scheu den Kopf einzieht und sich unsicher auf die Unterlippe beißt. Ich weiß nicht, ob sich Liv wieder zurückzieht, wenn sie mit Nathan reden soll, auch wenn auch er sich inzwischen auch verändert hat, vielleicht nicht äußerlich so wie ich, aber unter der Oberfläche.
 

Der Bus hält, ich drücke auf den Knopf, der die Türen öffnen lässt, und steige aus. Nur mehr ein paar Schritte bis zum „Chilli“. Nur mehr ein paar Schritte zu Nathan. Nur mehr ein paar Schritte zu einer Zeitreise? Ich hoffe es nicht. Wirklich nicht. Denn das würde bedeuten, dass gar nichts mehr geht.
 

Ich atme tief durch. Um Zeit zu schinden, noch einmal. Am liebsten würde ich anfangen, noch ein paar Yoga-Übungen zu machen, auch wenn es hier draußen wirklich kalt ist (wie bereits mehrmals erwähnt), nur um mich noch nicht dem Wiedersehen stellen zu müssen. Die ganze Woche lang habe ich mich so darauf gefreut und konnte es kaum erwarten, und jetzt bricht wieder die alte Devise durch, den Kopf in den Sand zu stecken: wenn ich gar nichts mache, kann ich auch nichts falsch machen. Und weil ich daran denke, was für ein schlechtes Lebensmotto das ist, dass es einfach zu gar nichts führt außer Unglück und Frustration, und weil die Wiederaufnahme dieser Einstellung außerdem der erste Schritt dazu ist, wieder zur ängstlichen Olivia zu werden, gebe ich mir einen Ruck, überwinde ich und gehe weiter.
 

Ich muss nur die Straße entlang, Nathan hat es mir erklärt, aber ich hätte es auch so gefunden, denn das große Schild mit dem Schriftzug „Chilli“ mit einer großen Chili-Schote auf dem Logo, das mir schon von weitem in Rot und Grün entgegenleuchtet, ist kaum zu übersehen. Meine Schuhsohlen knirschen im frischen Schnee, mein Puls beschleunigt sich mit jedem Schritt. Meine Knie werden zunehmend weicher und mein Gang umso wackliger, ich drohe mit meinen hochhackigen Stiefeln beinahe umzuknicken. Himmel, ich muss mich beruhigen. Ich weiß genau, dass ein leichtes Zittern in meiner Stimme liegen wird, aber hoffentlich wird es sich, nachdem wir ein paar Worte gewechselt haben, legen. Hoffentlich.
 

Ich bin vor dem Lokal angekommen. Eine Minute lehne ich mich noch an die Hauswand, sehe kurz auf die Uhr. Es ist fünf nach acht. Vielleicht sollte ich hineingehen. Ja, natürlich sollte ich hineingehen.
 

Endlich überwinde ich mich. Ich gehe die zwei Stufen zur Tür hinauf und drücke sie auf. Natürlich schlägt mir als erstes stickige, nikotinschwangere Luft entgegen und die gesamte Gegend ist vernebelt wie in einem Dampfbad, aber ich kann Nathan allein wegen dieser Tatsache die Wahl des Lokals nicht verdenken, denn man findet kaum eines, in dem man ungehindert wirklich atmen kann. Die Musik ist in Ordnung und auch nicht zu laut, so dass man noch die Möglichkeit hat, sich zu unterhalten, ohne dass man heiser wird (das heißt, wenn der Zigarettenqualm nicht schon sein Übriges tut).
 

Ist schlüpfe erst einmal aus dem Mantel, da es hier angesichts der vielen Menschen auf kleinem Raum recht warm ist – was mich aber nicht stört, es ist ziemlich angenehm, wenn man aus der Kälte hier hereinkommt – und stelle mich dann meinem Problem oder meinem Glück, vielleicht auch beides, wie auch immer man es sehen möchte. Ich schaue mich nach Nathan um. Für eine Weile hat mein Herzschlag sich normalisiert, aber das ist die Ruhe vor dem Sturm, wie ich weiß. Sobald ich Nathan sehe, beginnt er mit Sicherheit wieder zu rasen. Ein Blick nach links, einer nach rechts, ich drehe mich rundherum – und erblicke ihn dann, wie er alleine irgendwo an der Wand lehnt, mit einem Glas in der Hand. Es sieht aus wie Cola, und das ist gut so. Ich hoffe nicht, dass er sich betrinken muss, um sich mit mir zu unterhalten, und umgekehrt will ich auch nicht mit jemandem reden, der vollkommen zu ist. Er hat auch nicht ein halbes Dutzend Freunde mitgebracht, und ich glaube, darüber bin ich ganz froh. Aber sobald das erste dreißigsekündige Schweigen eintritt, werde ich mir wohl eine riesige Gruppe wünschen, die das Gespräch in Gang halten könnten.
 

Bevor ich darüber nachzudenken anfange, dass mir jetzt ziemlich schlecht wird, bewege ich mich in seine Richtung. Als er hersieht, erhellt sich sein Gesicht und er richtet sich auf, kommt aber nicht mich zu, sodass ich meinen Gang ein wenig beschleunige. Er stellt sein Glas auf das Fensterbrett hinter ihm und kommt mir die letzten Schritte entgegen.
 

„Hallo“, sagt er, und „Hallo“ sage ich. Ich nehme die Hand, die er mir entgegenhält, und wir tauschen die obligatorischen Küsse auf beide Wangen aus. Er riecht gut, nicht nach Rauch, Alkohol oder auch nur einem Aftershave, sondern nach sich selbst, und ich war früher nie nahe genug an ihm dran, um diesen Geruch wahrzunehmen.
 

In dem Moment, in dem wir uns voneinander lösen, ist die Angst, dass wir nun schweigen, am größten. Es sind nur zwanzig Sekunden, in denen ich sie aushalten muss, aber alles in mir spannt sich an, bin Nathan wieder etwas sagt.
 

Er sagt nichts wie „hübsch bist du geworden“ oder auch „gut siehst du heute Abend aus“, und auch wenn ich mich dadurch natürlich geschmeichelt gefühlt hätte, hätte es nicht zu ihm gepasst. Ich weiß doch selbst, dass ich besser aussehe als früher, dass das in keinem Vergleich steht, und da er mich schon damals, wie es scheint, zumindest leiden konnte, brauche ich die Bestätigung nicht zwangsläufig.
 

Seine Augen kommen mir blauer und intensiver vor als früher, was wohl nur damit zusammenhängt, dass ich ihn so lange nicht gesehen habe. Ja, seine Gesichtszüge sind markanter, wie ich es auf dem kleinen Foto erkannt habe, und auf Wangen- und Kinnpartie sind die dunklen, aber nicht ungepflegten winzigen Stoppeln eines Ein-Tage-Bartes zu sehen. Er runzelt die Augenbrauen nicht mehr so wie früher, sieht dadurch freundlicher und vielleicht auch noch sympathischer aus.
 

„Wie geht es dir?“, fängt er unbefangen an und rückt mir einen Stuhl zurecht. Zum Glück nimmt er mir nicht auch noch den Mantel ab oder so etwas, denn ich habe etwas gegen übertriebenes Kavaliergehabe. Während ich den Mantel und meine Tasche an die Lehne hänge und mich hinsetze, nimmt er sich sein Glas mit Cola oder was auch immer und setzt sich mir gegenüber hin.
 

„Momentan sehr gut.“, antworte ich. Ich mag die Frage nicht, aber man kommt wohl kaum darum herum. „Bis zur ersten Prüfung ist es zum Glück noch eine Weile hin, also auch nicht sehr stressig. Ich genieße den Winter.“ Ich lächle ein bisschen und sehe auf den Tisch. Ich habe etwas gesagt, das ist schon einmal gut. Aber ich rede zu viel. Ich wende den Blick von der Tischplatte ab und sehe Nathan lieber ins Gesicht, was um einiges höflicher ist. „Und wie geht’s dir?“
 

„Mir geht es auch sehr gut. Hab mich auf heute Abend gefreut.“ Er erwidert das leichte Lächeln und angesichts der Aussage überlege ich mir, ob er vielleicht doch nicht so viel von seinem Selbstbewusstsein eingebüßt hat, aber dann sehe ich, dass auch er sich nicht hundertprozentig traut, mich direkt anzusehen, und seine Hände, die ein wenig nervös mit seinem Cola (oder auch nicht)-Glas spielen. Ich weiß nicht, ob ich nicht froh darüber bin. Er hat schöne Hände, beobachte ich. Gott, ja, es klingt klischeehaft. Aber es ist wahr: lange, schmale Finger, gepflegte (aber nicht zu gepflegte, manikürt sind sie nicht) Nägel. Ich habe seine Hand doch vorher berührt, fällt mir ein. Ob sie weich war, weiß ich nicht mehr. Es sieht auf jeden Fall so aus.
 

Mist, ich denke zu viel Belangloses. Ich sollte vielleicht etwas antworten. „Ja, ich mich auch.“, sage ich. Diese Direktheit bringe ich nur zustande, weil Nathan es auch getan hat. Ich fühle mich, als sollte ich dem noch etwas hinzufügen, aber ich weiß nichts. Vielleicht ist es ja okay so.
 

„Und, wie war dein Tag heute?“, wechselt er das Thema und sieht wieder auf.
 

„Ich habe nicht viel gemacht.“, gebe ich zu. „Bloß eine Vorlesung am Nachmittag. Sie war nicht sehr interessant. Sie ließ mich zweifeln, ob ich das Philosophie-Studium nicht doch abbrechen möchte.“ Ich seufze.
 

„Ich kann ehrlich gesagt nicht nachvollziehen, dass du es überhaupt gewählt hast.“, sagt Nathan mit einem freundlichen Lachen. Geschrieben hätte er das mit Sicherheit nicht, aber jetzt, wo ich an seinem Gesichtsausdruck sehen kann, dass er es nicht böse meint, traut er es sich. „Entschuldige“, fügt er aber dennoch hinzu. „Ich habe mit dem Fach noch nie viel anfangen können. Was diese Philosophen sagen, ist mir einfach nicht greifbar genug. Verschwommenes, fadenscheiniges Gerede, das eigentlich nicht viel bringt, sondern eher alles, was schon von der Menschheit, von der Wissenschaft erarbeitet wurde, in Frage stellt.“
 

Er hat das Cola (oder was auch immer)-Glas jetzt abgestellt, dreht aber stattdessen einen Ring, den er von irgendwo her gezaubert hat, zwischen den Fingern hin und her. Oh Gott, vielleicht ist er ja schon verlobt oder so. Es soll ja Leute geben, die sich schon mit achtzehn oder neunzehn binden wollen. Beängstigt sehe ich den Ring an, zwinge mich aber zum Weiterreden.
 

„Das denke ich mir mittlerweile auch fast. Bevor ich mit dem Studium begonnen habe, dachte ich mir, dass es toll ist, wie sich diese Leute mit dem Leben, der Welt und dem Denken auseinandergesetzt haben... sie haben versucht, die Dinge auf eine weniger rationale Weise zu erklären.“
 

„Nicht rational? Da bin ich aber anderer Meinung. Schließlich haben gerade die Philosophen viele Modelle und Denkmuster aufgestellt, um Handlungsweisen, Geschehnisse oder die ganze Welt logisch zu erklären. Was nicht heißt, dass sie ihr Ziel erreicht haben. Immerhin haben sie, wenn überhaupt, mit ihren Theorien alles noch komplizierter gemacht. Die meisten davon führen nur dazu, dass man so lange im Kreis denkt, dass man Kopfweh bekommt.“ Er zuckt die Schultern und lässt sich nicht nehmen, hinzuzufügen: „Ich zumindest.“
 

„Das mag schon stimmen...“, gebe ich zu. „Aber sie waren diejenigen, die sich nicht damit zufrieden gegeben haben, was sich die Menschen bereits alles aufgebaut haben. Sie waren diejenigen, die sich gedacht haben, dass man hinter allem erst einmal einen tieferen Sinn finden sollte, bevor man sich an die größeren Dinge wagt.“
 

„Bist du dir sicher? Ich glaube eher, dass es Menschen waren, deren Gerede sowieso niemand verstanden hat, und die sich dann dachten, sie könnten es wenigstens zu ihrem Beruf machen.“ Als er die Mundwinkel zu einem Grinsen verzieht, funkeln seine Augen, und das ist mindestens zu zehn Prozent der Grund dafür, dass ich zurückgrinse.
 

„Ach, verdammt. Ich füchte, damit hast du auch Recht.“
 

Einen schönen Moment an lächeln wir uns so an, doch dann wird Nathan wieder ernst. „Tut mir Leid. Ich wollte eigentlich nicht die Philosophie niedermachen. Wenn es dich interessiert, will ich es dir natürlich nicht ausreden.“ Wieder richtet er den Blick etwas verlegen auf die eigenen Hände. Er verbirgt den Ring nun in der Faust und reibt die Daumen aneinander, so dass seine Hände eine Herzform bilden. Es ist wahrscheinlich keine Absicht, sage ich mir und wende den Blick ab.
 

„Das hast du nicht. Natürlich, ich bin seit einer Weile am Überlegen, ob ich das Studium wirklich noch fortsetzen will. Nicht nur, weil es mir beruflich wahrscheinlich wenig bringt, sondern auch, weil ich mir nicht mehr sicher bin, was ich von diesen ganzen Ansichten halte. Ob sie sinnvoll sind. Ob sie nicht, wie du sagst, und mehr verwirren als in irgend einer Art und Weise weiterbringen.“ Ich hebe leicht die Schultern. „Wenn es mich wirklich noch so interessieren würde wie anfangs, würden mich deine Worte auch nicht davon abbringen.“ Ich sehe noch einmal auf und warte, bis er mich ansieht. „Außerdem weiß ich nicht, warum du dich nicht mehr traust, direkt zu sein, deine Meinung auszusprechen.“
 

Nathan hält meinem Blick stand und sieht mich ernst an. Mit diesem Gesichtsausdruck, dem leicht unordentlichen, aber auf keinen Fall ungepflegten Äußeren, den etwas ungekämmt wirkenden Haaren, von denen ihm einige schwarze Strähnen in die Stirn fallen, sieht er irgendwie... heiß aus. Ich muss fast lächeln, aber ich will nicht, dass er meint, ich mache mich über ihn lustig.
 

„Ich weiß nicht, ob du das wissen willst. Es ist eigentlich eine blöde Geschichte.“ Jetzt hat er wieder den Ring zwischen den Fingern.
 

„Warum blöd?“
 

„Es ist blöd, dass die Sache mich verändert hat. Dass ich mich von der Sache verändern lassen habe.“ Nathan lässt den Ring los, und er rollt in die Mitte des Tisches, wo er sich einige Male um sich selbst dreht, bis die Drehungen immer flacher werden und er schließlich leise scheppernd auf dem Tisch liegenbleibt.
 

Er hat sie also auch, diese Bürde. Sie ist jünger als meine, er trägt sie wahrscheinlich nicht mehr mit sich herum, sondern zieht sie nur mehr hinter sich her wie einen Klotz am Bein, und wahrscheinlich ist sie nicht ganz so tief verwurzelt wie die meine. Aber sie ist trotzdem etwas, das ihn davon abhält, einfach so zu leben und zu handeln, wie er ist, und darum finde ich es traurig.
 

„Auch meine Sache war blöd.“, erinnere ich. Ich sage es nicht drängend, zumindest lege ich es nicht darauf an. „Aber dadurch, dass ich das bemerkt habe, habe ich es geschafft, sie weitgehend hinter mir zu lassen.“ Meine Bürde läuft mir nur noch nach, und ich brauche mich bloß nach ihr umzudrehen, um mich wieder in aller Klarheit daran zu erinnern, dass es sie irgendwo immer noch gibt. Wahrscheinlich wird sie mich immer verfolgen, aber ich weiß, dass ich sie nicht mehr mit mir herumschleppen muss.
 

Nathans Ring liegt zwischen uns, als hätte er eine Bedeutung. Es ist ein schlichter Ring, vielleicht vier oder fünf Millimeter breit, glatt und versilbert, ohne jegliche Verzierung. Durchaus ein Ring, den auch ein Mann tragen kann. Selbst, wenn es sich nicht um einen Verlobungsring handelt.
 

Wie um diesen Gedanken über den Haufen zu werfen, spricht Nathan wieder. Mir fällt auf, dass wir gerade zwei oder drei Minuten lang geschwiegen haben. Aber es war keine beklemmende oder peinliche Stille, die nicht enden wollte, sondern eher eine nachdenkliche. Das ist in Ordnung. „Es war ein Mädchen.“, sagt er ziemlich leise, aber ich muss nicht nachfragen, um mir sicher zu sein, was er gesagt hat, und schon gar nicht, in welchem Zusammenhang. Ich bin nicht überrascht, der Gedanke ist schon Sekunden, bevor er es ausgesprochen hat, durch meinen Kopf gekrochen, langsam und träge wie eine Schnecke. Jetzt, wo er Substanz gewinnt, rollt er los wie eine Murmel gegen einen Haufen anderer, die sich daraufhin in Bewegung setzen.
 

Eine Beziehung, über die Nathan noch nicht hinweggekommen ist. Und ich weiß nicht, ob es mir lieber wäre, wenn sie lange zurückliegt oder wenn sie gerade erst beendet wurde. Falls sie schon seit Jahren vorbei ist, ist der Schmerz, der zurückgeblieben ist, gravierend. Dann liebt er sie noch immer, und er wird sie vielleicht ... sagen wir nicht „für immer“, denn das ist eine viel zu starke Phrase, aber mit Sicherheit noch für sehr lange Zeit lieben. Und wenn die Beziehung erst seit Kurzem beendet worden ist, ist der Schmerz noch frisch, hat ihn nach Jahren von gesundem Selbstbewusstsein ins Stolpern gebracht. Dann muss er diese Sache erst überwinden, bis er einen neuen Menschen an sich heranlässt.
 

Und in jedem Fall hasse ich sie. Nicht, weil sie Nathans Exfreundin ist, denn ich beurteile Menschen nicht nach solchen Kriterien, die nicht einmal etwas über ihre Persönlichkeit aussagen. Es sieht mir nicht ähnlich, Menschen zu hassen, besonders, wenn ich sie gar nicht kenne. Ich respektiere so gut wie jeden. Aber ich hasse sie, weil sie das mit Nathan gemacht hat. Die blöde Sache, von der er sich verändern hat lassen.
 

„Zwei Jahre...“, sagt er langsam. „Ich meine... es ist fast zwei Jahre her. Und ich habe es immer noch nicht geschafft, es hinter mir zu lassen.“
 

Ich sage nichts. Ich sehe ihn nur an und höre ihm zu.
 

„Ich weiß, dass das, was sie gemacht hat, nicht meine Schuld war. Jetzt weiß ich es schon.“ Er ändert seine Sitzposition ein wenig, ohne mich anzusehen. Ich bin ihm nicht böse. „Aber erst, nachdem so viele Gedanken in Gang gebracht werden wollten, von denen ich nichts wissen wollte.“
 

Sein Glas Cola (ich bin mir fast sicher, dass es sich um Cola handelt) ist noch fast voll. Er nimmt, wahrscheinlich nur, um nicht sofort weitersprechen zu müssen, wieder einmal einen Schluck davon. „Sie hat mich betrogen. Aber damit hat es eigentlich nur angefangen.“, sagt Nathan leise. „Ich hatte damals noch genug Selbstwertgefühl, um zu wissen, dass ich Schluss machen muss. Nicht, weil sie mit einem anderen geschlafen hat, sondern weil sie es nicht bereut hat. Sie wirkte, als wüsste sie, dass ich sie zu sehr liebe, um sie wegen ... ‚so etwas’ fallen zu lassen.“ Ein kurzes, freudloses Schnauben entfährt ihm. „Sie hat geweint, als ich Schluss gemacht habe. Ich wollte ihr nicht in die Augen sehen, aber das fand ich nicht fair. Wenn man eine so lange Beziehung beendet, eine so lange persönliche Bindung, dann muss man sie genauso persönlich zu Ende bringen.“
 

Er sagt es nicht, aber ich weiß es. Er hat damals selbst geweint. Trotzdem hat er ihr ins Gesicht gesehen. Und in diesem Augenblick erkannte sie eine Schwäche.
 

„Sie hat mir Nachrichten geschickt. Auf den Anrufbeantworter gesprochen, mir SMS und E-Mails geschickt. Das waren keine verheulten Nachrichten, in denen sie mir ... keine Ahnung, anbot, unverbindlich mit mir zu schlafen, nur um nicht einsam zu sein oder so etwas. Sie hat eher geklungen, als hätte sie eine Amnesie gehabt, als glaubte sie, immer noch mit mir zusammen zu sein. Sie fragte, ob ich mit ihr da und dorthin gehen wollte, was ich von bestimmten Sachen halte. Sie besaß sogar die Dreistigkeit, mir ein Referat zu schicken, damit ich es mir durchlese und Feedback dazu gebe.“ Nathans Augenbrauen ziehen sich wieder zusammen, und seine Mundwinkel zucken. „Ich habe ihr natürlich nicht gesagt, sie solle sich zum Teufel scheren, akzeptieren, dass ich unsere Beziehung beendet habe – na, eigentlich hat sie das ja selbst mit ihrem Verhalten – aber das habe ich natürlich nicht gemacht. Ich war ein immer noch verliebter Trottel und sie ein ignorantes Mädchen, das wollte, dass alle nach ihrer Pfeife tanzen. Und ich hab das auch noch mit mir machen lassen. Ich dachte, dass wir doch auf jeden Fall eine Freundschaft beibehalten könnten, dass ich mich dazu auch bemühen musste, wenn sie das schon tat.“ Erneut gibt Nathan dieses freudlose Lachen von sich. „Ich las mir das durch, was sie mir geschickt hat, unterschrieb die Antwortmail mit freundlichen Grüßen und solchem Blödsinn. Wahrscheinlich hat sie mich ausgelacht, nachdem sie die E-Mail erhalten hat. Und sie hat natürlich weitergemacht. So, dass ich nicht um den Gedanken herumkam, dass sie mich immer noch liebte, dass sie es vielleicht doch bereute, mich betrogen zu haben. Nachdem sie es geschafft hatte, mir diese Idee indirekt einzutrichtern, habe ich sie irgendwann ausgesprochen. Am Telefon, ich schreibe das nicht in einer SMS oder Mail. Ich habe sie gefragt, ob sie noch mit mir zusammen sein will.“
 

Ich weiß, wie es ausgeht, dazu brauche ich nicht allzu viel Fantasie. Am liebsten will ich es gar nicht hören, weil es mir so Leid tut. Nathan hat Recht, es ist blöd. Aber wenn man verliebt ist, wird man eben leichtgläubig.
 

„Sie wollte. Dann waren wir wieder zusammen.“ Er sagt das kurz, weil es nicht relevant ist, wie genau es passiert ist. „Und dann bin ich darauf gekommen, dass ich nicht der einzige war, mit dem sie zusammen war.“ Nathan greift nach dem Ring und steckt ihn in seine Hosentasche. „Es tat beim zweiten Mal noch viel mehr weh als beim ersten Mal. Weil ich wusste, dass ich so blöd war, dass ich es besser hätte wissen müssen und trotzdem darauf hereingefallen bin. Ich habe mich... ich hab mich einfach verarschen lassen.“
 

Es stimmt, er hätte es besser wissen sollen. Aber wie auch? Von Menschen, die man liebt oder auch nur solchen, die man mag, will man nur das Beste denken.
 

„Das Beste ist, dass sie sich auch dann noch keiner Schuld bewusst war.“ Zum dritten Mal höre ich das zynische Lachen, und seine Bitterkeit beunruhigt mich. Keine Traurigkeit, das würde ich sofort an seinem Gesichtsausdruck erkennen, den er niemals zu verbergen versucht, sondern wirklich Bitterkeit, wie man sie in seinem Alter noch nicht ausdrücken sollte. „Sie sagte, ich hätte nur gefragt, ob sie mit mir zusammen sein wolle. Nicht, ob sie den anderen schon fallen gelassen hätte.“
 

Ja, ich hatte Recht. Ich hasse sie, und jetzt, wo ich die Geschichte gehört habe, hasse ich sie noch mehr.
 

Vielleicht könnte man sagen, dass die beiden mit sechzehn noch jung waren, dass man sich denken könnte, dass man sich in diesem Alter sowieso noch nicht bindet und es da nicht so gravierend sein sollte, wenn die Freundin mit einem spielt. Aber ich glaube, dass genau das Gegenteil zutrifft: in einer der ersten richtigen Beziehungen (vielleicht sogar der ersten, aber das kann ich mir eigentlich auch nicht wirklich vorstellen) wurde das Vertrauen so sehr missbraucht – auf den Boden geworfen und darauf herumgetrampelt, genauer gesagt – dass es schwer ist, es neu zu gewinnen. Weil Nathan so viel mit sich machen hat lassen, nur weil er dieses Mädchen so sehr gemocht hat, weil er sich blind von ihr einwickeln hat lassen, hat er auch sein Selbstbewusstein verloren. Nicht ganz, aber vieles davon. Er traut sich selbst nicht mehr, weil er sein Vertrauen zu schnell verschenkt hat und zu großzügig damit war.
 

Ich kenne mich selbst kaum, als ich die Hand ausstrecke und auf seine lege. Es soll kein Annäherungsversuch sein, sondern nur eine tröstende Geste. Als meine Handfläche seinen Handrücken berührt, zuckt er leicht zusammen, aber er bleibt ansonsten ruhig.
 

„Ich glaube, ich weiß, warum dich all das so verändert hat.“, sage ich ruhig. „Aber du musst weitermachen. Du darfst nicht glauben, dass jeder dich so hintergehen wird. Vertrau dir selbst, dass du daraus gelernt hast und dich das nächste Mal nicht mehr einwickeln lassen wirst. Lass wieder den alten Nathan an die Oberfläche, der sich getraut hat, zu sagen, was er denkt, der ironisch und überlegen war, ohne überheblich zu sein.“
 

Nat ist keine neue, verbesserte Version von Nathan. Nat ist nur ein Bruchteil von Nathan, und der andere Teil von ihm, der so umgänglich, emotional und selbstsicher war, hat sich versteckt, weil dieses Mädchen und alles, was sie getan hat, ihn so erschreckt hat.
 

„Ich weiß“, sagt dieser Nat so leise, dass es fast ein Flüstern ist. „Ich weiß nur nicht wie. Ich habe solche Angst, wieder auf so etwas hereinzufallen.“
 

„Ich kenne das Gefühl.“ Es ist die Angst, die davor blockiert, neu anzufangen. „Früher hatte ich so furchtbare Angst davor, etwas Falsches zu sagen, dass ich einfach gar nichts gesagt habe. Ich habe gemurmelt, damit meine Aussage nicht verstanden wird, den Kopf geschüttelt oder so getan, als würde ich nicht hören, nur um nicht antworten zu müssen.“ Ich ziehe die Hand weg, aber nur ein Stückchen. Meine Finger berühren immer noch seine. „Bis ich dann darauf gekommen bin, dass es genau der falsche Weg ist, nichts zu sagen.“
 

Liv dagegen ist die bessere Olivia, weil die Ängste und Unsicherheiten, die sie umgeben haben, sich verzogen haben und Liv jetzt in Ruhe lassen.
 

„Und bei dir ist es sicher noch frustrierender, gar nichts mehr zu machen. Du kannst keine Liebe finden, wenn du es nicht zulässt.“, fahre ich fort. „Außerdem wären wir da bei einer verheerenden Denkweise, die man auf alles anwenden kann: wenn ich nicht von einem Auto angefahren werden will, bleibe ich zu Hause, dann kann das nicht passieren. Natürlich kann man Schmerz und unangenehmen Erfahrungen aus dem Weg gehen, indem man sich gar nicht die Möglichkeit dazu bietet... aber dann verpasst man dafür die Hälfte.“
 

Nat schenkt mir ein ehrliches Lächeln. „Ich weiß. Nur ist dieser Gedanke noch nicht verwurzelt genug, dass ich ihn umsetzen kann.“, erklärt er ein bisschen kläglich.
 

„Solange du es willst, funktioniert es irgendwann.“, sage ich ihm. Das ist keine bloße Aufmunterung, das weiß ich. Bei mir hat es von Gedanken bis zur Umsetzung zwei oder drei Jahre gebraucht. Also kann es bei Nathan nicht mehr so lange dauern, bis er sich aufraffen wird. Das hoffe ich. Ich werde versuchen, ihm dabei zu helfen, mit Sicherheit. Und dann kann es ja nur funktionieren. Ich habe das alles sogar noch ganz alleine geschafft.
 

„Bist du eigentlich nicht durstig?“, fragt Nathan. Obwohl, eigentlich ist er ja noch Nat. Er dreht schon wieder mit einer Hand an seinem – mittlerweile halbvollen – Glas. Er scheint zu merken, dass er eigentlich selbst nicht ganz mit seinem Getränk (bei dem es sich höchstwahrscheinlich um Cola handelt) weiterkommt, und nimmt daraufhin schnell einen Schluck.
 

Ich überlege kurz. „Ich will eigentlich nichts Alkolisches trinken. Ich möchte heute Abend einen klaren Kopf behalten.“, sage ich dann mit voller Absicht.
 

„Ist doch kein Problem. Dann nimm doch einfach ein Cola, so wie ich.“
 

Ich wusste es doch.



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