Bittersweet
Bittersweet
"Ich bin wieder da!" rief sie mit freudigem Ton, als sie das Haus betrat und die Tür hinter sich schloss. Die Schultasche glitt zu Boden, die Schuhe wurden achtlos in die Seite geschmissen. Stille kam ihr entgegen, nichts regte sich. "Hallo? Jemand da?" Doch wieder empfing sie nur ihr eigenes Echo, welches von den eierschalenfarbenen Wänden zurück geworfen wurde. Ihr fröhliches Gemüt, sank langsam ab, bis es auf den Grund einer kleinen Depristimmung traf.
Wie konnte sie es nur vergessen. Ihr Vater war auf Dienstreise, wie immer. Aber sollte ihre Mutter nicht um diese Uhrzeit zu Hause sein? Anscheinend hatte es die Frau vorgezogen, sich anderwärtig zu beschäftigen, als ihr Beautyprogramm zu durchlaufen oder mit ihren Freundinnen aus dem Tennisclub eine Tasse Tee zu trinken.
Das Mädchen ging in das Wohnzimmer, dann in die Küche. Nichts. Leer. Man konnte wirklich denken, dass hier niemand wohnte, da alles so sauber und ordentlich wirkte. Beinahe grotesk, diese peinliche Sauberkeit, die nur von Evelyn stammen konnte. Evelyn war die Hausdame oder auch Putzfrau genannt, ihres Anwesens. Jeden zweiten Tag krempelte sie alles im Haus um und erforschte jeden Winkel aller Zimmer. Auf was sie da manchmal gestoßen war, war bestimmt nicht nur ihr unangenehm.
"Toll.." entfuhr es ihrer Kehle und sie sank auf einen mit Leder überzogenen Barhocker zusammen. Da kam man einmal mit einer guten Nachricht nach Hause und niemand war da, sie zu empfangen. Daher zückte sie ihr Handy und rief ihre Mutter an. Nachdem es ein paar mal geläutet hatte, nahm die Frau ab. " Von Valsberg hier". "Hallo Mum, sag mal wo steckst du?" "Ach hallo Schätzchen. Ich bin gerade mit Marie unterwegs, mach es bitte kurz. Was gibt's?" Für einen Moment sagte das Mädchen nichts und dachte sich ihren Teil, bis sie zu einer Antwort ansetzte: " Ich hab heut das Zeugnis bekommen. Durchschnitt 1,4." "Schön, Schätzchen, aber ich muss jetzt Schluss machen. Wir reden später darüber, okay. Also, bis dann."
Einen Augenblick überlegte sie, ob sie ihren Vater anrufen solle. Aber was sollte es bringen. Es war schon von vornherein klar, dass er nicht zugegen war. ~ Dummes Mädchen, ganz dummes Mädchen! ~ Sie fuhr sich durch die Haare und seufzte. Was sollte das alles? Sie verstand es ja, dass ihre Eltern beschäftigt waren, aber konnte man nicht einmal kurz versuchen, wenigstens begeistert zu klingen. Okay, vielleicht wollte sie einfach nur eine Bestätigung, aber waren es nicht immer ihre Eltern, die von ihr das beste wollten? Die sie immer forderten, unentwegt. Nun hatten sie ihr Ziel, und es interessierte sie nicht mehr.
Sie interessierten sich nicht für ihre Tochter. Nicht wirklich.
Anna von Valsberg war ihr Name, sie war fast 18 Jahre alt und auf dem besten Wege einer Der Abiturienten ihres Jahrgangs zu werden. Sie war hübsch, sehr vermögend und nicht gerade unwissend. Da sie die Tochter eines gutverdienenden Geschäftsmannes war, wurde ihr vieles einfach in den Schoß gelegt. Gleichzeitig wurde von ihr aber auch vieles erwartet. Anna musste einfach die perfekte Tochter mimen, sie sollte würdig sein, sich von Valsberg nennen zu dürfen. Und genau dieser Aspekt kotzte sie mehr als.
Es war der ständige Drang ihrer Eltern, perfekt zu sein. Niemand sollte ihnen das Wasser reichen. Sie waren die oberen Zehntausend. Also wurde ihre Tochter in das enge Korsett der Regeln, Verbote und Pflichten gezwängt. Es musste ja alles schön und passend aussehen. " Du musst mehr leisten. Wenn du nicht mehr an dir arbeitest, wirst du nie etwas in der Welt. Harte Arbeit zahlt sich aus. Und immer Lächeln. Lächeln Anna!" Das waren die Worte ihrer Eltern, wobei sich der Vater meist zurück hielt. Er war mehr der sanfteren Natur, aber dennoch waren bei ihm die Grundlinien dieser Ideologie durchaus zu erkennen.
~Immer Lächeln. Lächeln Anna.~
Sie hasste es. Sie hasste es jedem etwas vorzumachen. Dauernd zu strahlen wie ein Brillant. Ihr war kotzübel, wenn sie ihr weißes Lächeln den Geschäftsfreunden ihres Vaters präsentieren musste. Natürlich durfte man nur vorbildlich handeln, man durfte nicht gegen die Eltern rebellieren und brav das ein-mal-eins des "Wie werde ich die perfekte Tochter und Nachfolgerin" lernen. Am besten im kleinen Stübchen, hoch oben im Turm, wo sie niemand sah. Wo niemand erahnen konnte, dass sie alles erlernen musste. Das sie, als Persönlichkeit, eine reine Show war. Kein Makel, kein falsches Wort, keine falschen Einflüsse, Skandale.
Denn keiner aus der von Valsbergdynastie würde jemals einen Fehler begehen, ausgeschlossen. Diese Familie doch nicht, deren Weste so rein war, wie der Sand an der Hawaiiküste. Das war ein Fakt, keine Feststellung.
Jeder sollte einmal sagen, dass Anna von Valsberg ein Vorbild für die aufsteigende Elite sei.
~ Ein Stern strahlt unentwegt, auch im Augenblick seines Todes ~
Das junge Fräulein erhob sich vom Hocker und schritt zum Fenster; der Blick wanderte nach draußen. Der Garten erstrahlte zur Sommerzeit in seiner gewohnten Pracht. Die Rosen standen in voller Blüte, lockten die Insekten an. Das Licht der Sonne fiel durch die einzelnen kleinen Wolken und verlieh dem Baum, der in der Mitte des Garten stand einen einzigartigen Glanz. Lächeln.
Ihr kurz aufkeimender Frohsinn wurde durch eine Frage, die ihr prompt in den Sinn kam unterdrückt. Ein Schleier von Trauer legte sich um ihr Herz, nahm es in Beschlag. Warum hatte er sich nicht mehr gemeldet? Sie wusste, dass er irgendwo in Hamburg lebte, aber wieso vermied er strikt den Kontakt zu ihren Eltern? War denn der Streit von damals so schlimm gewesen? Nachdenklich legte sie den Kopf etwas schief. Sie vermisste ihn. Sie wusste nicht einmal, wie er jetzt aussah. Er hatte leider nur ein paar mal kurz bei ihr angerufen. Er war beschäftigt. Seine Stimme klang rau, etwas kratzig. Der sonst so weiche Ausdruck, war fast gänzlich verschwunden. Schade, das hatte ihr immer so an ihm gefallen.
Anrufen wollte sie ich nicht. Er war beschäftigt, wie jeder andere auch. Anna wollte nicht stören. Vielleicht war es besser so. Vater hatte sich damals sehr aufgeregt und das bei seiner sonst ruhigen Ader. Er hatte schlimm geschimpft. , Ich fasse es immer noch nicht! Und das ist ein Valsberg!! Eine Schande!!!' Solche Sätzen kamen damals häufig vor. Vater hatte sie damals schon mehr zu sich gemurmelt, ein inneres Gebet, damit er es wohl nie vergas, wer ihn verraten hatte.
Ihre Eltern hatten sie immer daran erinnert, niemals so zu werden, wie ihr erstes Kind. ,Anna. Du bist unsere letzte Hoffnung. Du trägst jetzt unser ganzes Vertrauen. Missbrauch es nicht wie dein Bruder!' Das war eindeutig eine Drohung, mit einer geschickten Erpressung gekoppelt. So machten es ihre Eltern immer. Geschäftsmenschen wurden irgendwann von ganz alleine so. Zu kleinen grauen Kreaturen, die nur eines im Kopf haben: Geld, Macht und Ansehen.
, Wie kann ich noch mehr aus meinen Kunden rausholen?!'
Extrawagante Wünsche, wie die einer der neusten Louis Vuitton-Taschen.
Eines war Anna klar: Jonas hatte das damals genauso gehasst wie sie. Obwohl zwischen den beiden doch ein kleiner Altersunterschied lag, waren sie sich doch sehr ähnlich. Geschwister.
Doch der Vorfall von damals, hatte sie auseinander gerissen. Jonas hatte ihr sogar angeboten, mit ihm zu kommen. Er war damals 18 und hatte einfach sein ganzes Sparbuch geplündert, was ja nicht gerade wenig bereithielt. Mit dem Geld, einer kleinen Reisetasche war er einfach geflohen. Sie wusste noch, dass ihr Bruder in dieser Nacht und Nebelaktion nach Hamburg gefahren war und bei einem Freund untergekommen war. Nun bezog er selbst eine Wohnung in der City und studierte.
Er hatte sich getraut, aus dem Käfig auszubrechen. Er wollte sie mitnehmen. Doch sie war damals noch so verblendet gewesen und hatte daran geglaubt. Zu der Zeit war sie noch so naiv. Aber mit der Zeit dämmerte ihr, dass Jonas Entscheidung richtig war. In jeder Hinsicht. Jeder muss mal erwachsen werden. Ihr Bruder hat es auf die harte Tour gemacht. Freiwillig und bestanden.
Könnte sie das auch? Einfach alles liegen lassen. Von hier auf jetzt. Einfach abzuhauen und nur einen Zettel, mit den Worten - Ich bin weg. Für immer. - zu hinterlassen. Würde sie irgendwann einmal über soviel Risikobereitschaft verfügen? Wäre sie auch bald soweit etwas völlig neues zu erleben? Ein Abenteuer?
Aber wie viel müsste sie dafür bezahlen? Hatte nicht auch Jonas ein Opfer dafür gebracht...
Die Eltern schnitten den Kontakt zwischen den beiden hermetisch ab. Rien n'alle pas, wie die Franzosen so schön sagten. Nichts ging mehr. Und dafür hasste sie ihre Eltern. Wie konnten sie nur so dreist sein und einfach ihr Band zerstören? Natürlich wussten sie davon, wie sehr es Anna weh tat. Aber es war so besser für sie.
~ .. schließe nie von dir auf andere .. es kann verheerende Folgen haben .. du wirst sehen .. ~
Der Blick der jungen Frau schwang wieder auf das Handy in ihrer Hand. Lange fixierte sie es, bis sie den Kopf zögerlich hob und ihre Augen den Zitronenbaum betrachteten. Und sie spürte es einfach .. da war es wieder.
Lange würde es nicht mehr dauern. Ihre Eltern brauchten das Korsett nur noch ein wenig enger schnüren, sie mussten nur noch einen fatalen Fehler machen, ..
.. dann würde sie soweit sein. Sie hatte es im Gefühl.
Es würde etwas passieren..
.. wenn der Zitronenbaum zu blühen begann.. .