Zum Inhalt der Seite

Chuparrosa

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Und hier ist der letzte Teil des Bonuskapitels zu Apnoe, das nur ein einziges Kapitel haben sollte...
Kurz: Alvaro kehrt wieder zu den Lebenden zurück und legt ohne es zu wissen gleich noch den Grundstein für seinen zukünftigen Beruf.

Vielen Dank für's Lesen! :D Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Der verschlungene Weg zurück

 

Zwischen fast abgebrannten Kerzen und den letzten glimmenden Resten holzig rauchender Kräuterstiele lag Diego auf dem Boden, lauschte in die Stille des Hauses und schwieg gedankenverloren. Sein buntes Gewand war zu einer unüberblickbaren Anhäufung Stoff und Perlen verrutscht und die harten, aber angenehm frischen Holzdielen unter ihm, auf denen er nun lag, kühlten endlich seinen völlig überhitzten Körper nach und nach runter. Eine kaum spürbare Bewegung ließ ihn das Gesicht zur Seite drehen. Alvaro, der eine Weile ebenso stumm neben ihm gelegen und Diegos Hand in seiner gehalten hatte, drehte sich zu ihm um. Auf einen Ellenbogen gestützt sah er auf Diego hinab, der den unstetigen Bewegungen der über ihn gleitenden Pupillen folgte und wartete, bis sie den Mut fanden, seinen Blicken standzuhalten.

Die Kreidezeichnung, die Diego vor gar nicht mal so langer Zeit noch so sorgsam auf den Holzboden gemalt hatte, war vollkommen verwischt, worüber er allerdings ganz und gar nicht traurig zu sein schien. Diego hatte den Kreidestaub in den Haaren und Alvaro hatte ihn an den Händen, mit denen er ihn über Diegos gesamten Körper überall dorthin verteilt hatte, wo er ihn berührt hatte. Feine lila Farbschleier zogen sich über jeden Zentimeter Haut, das Gesicht hinunter über seinen Oberkörper, die Beine, alles war damit bedeckt. Diego sah aus wie eine seiner Keramikfiguren aus dem Schrein, die mit diesem wässrigen durchsichtigen Lack lasiert waren, unter dem man noch den erdfarbenen gebrannten Ton erkennen konnte - bis auf die Tatsache, dass Diego, anders als die Figuren, eben nackt war.

Diegos Hand, die sich nun aus seiner löste, strich sachte über Alvaros gerötete Wangen, deren Hitze dieses Mal nicht vom Fieber stammte, und die unter der sich liebevoll vortastenden Berührung sofort wieder Feuer fingen. Diegos Augen folgten seinen Fingern, die über Alvaros Lippen strichen, jede Rundung nachziehend, und sich dann um sein Kinn schlossen. Sanft zog er ihn zu sich hinab, bis sich ihre Münder berührten. Seine Zunge glitt zwischen die halbgeöffneten Lippen, zwischen denen der noch etwas aufgeregte Atem warm hervorstieß.

"Hat es sich wie ein Fluch angefühlt?", fragte Diego ihn und Alvaro, noch völlig überwältigt von dem gerade Geschehenen und nicht in der Lage, auch nur ein einziges Wort bilden zu können, schüttelte stattdessen einfach nur den Kopf.

 

Der Kreidestaub flimmerte tausendfach im gedämpften Kerzenlicht, als Diego das bunte Gewand vom Boden aufhob und es mit einem kräftigen Ruck ausschüttelte. Eine Wolke aus Kreide, die bis vor einer Stunde noch Alvaros Ängste physisch auf den Boden gebannt und dort versiegelt hatte, löste sich aus dem Stoff, erhob sich in die Luft und taumelte dann in Zeitlupe zur Erde. Ihr Werk war getan. Die Magie, an der er selbst gezweifelt hatte, hatte auf ihre ganz eigene Art das Untier bezwungen und in tausend Teile zerschmettert.

Diego hielt einen Moment inne, um sich das aufgestickte Muster des Stoffs in seinen Händen anzusehen. Das erste Mal überhaupt, seit er das Gewand besaß, betrachtete er sich die grünschillernden Kolibris mit den roten Kehlen, die im Flug ihre langen filigranen Schnäbel in tiefrote Blüten senkten. Vielleicht war es ja gar kein Gewand, sondern ein Wandteppich? Und der 'Gürtel', mit dem das Stoffpäckchen damals verschnürt war, war die dazugehörige Aufhängung?

Was auch immer... Diego lachte etwas hilflos. Selbst wenn es wirklich ein Wandteppich war und kein rituelles Kleidungsstück, konnte er ihn jetzt ja wohl kaum aufhängen, als wäre es eine Trophäe. Jedes Mal, wenn er ihn zukünftig anschaute, würde ihm der Stoff sowieso entgegen schreien: Seht ihn euch an, den Stoff, aus dem zwar nicht die Träume gemacht sind, aber auf dem ein Kunde nicht nur seinen Fluch, sondern auch gleich noch seine Jungfräulichkeit dazu verloren hat! Das konnte er sich unmöglich über sein Sofa hängen...

Ohne wirklich zu wissen, was er zukünftig mit dem Stoff tun würde, faltete Diego ihn trotzdem wie sonst auch sorgfältig zu einem Rechteck zusammen und verschloss das Bündel mit dem breiten Stoffband. Was für eine Geschichte, die besser als jede Werbung für ihn und seine Arbeit hier sprach, dachte er, während er den Knoten festzog, mit dem Alvaro vor gar nicht mal so langer Zeit zu kämpfen gehabt hatte. Schade, dass er das nie irgendjemandem erzählen konnte.

 

Er fand Diego draußen auf der Veranda, wo er auf der mittleren der drei Holzstufen saß. Die Ellenbogen auf der obersten Treppenstufe abgestützt, saß er mit auf den Horizont gerichteten Blicken da und genoss den eigenartig melancholischen Frieden der hereinbrechenden Nacht, der sich anfühlte, als wäre es an jedem Abend ein neuer Abschied für immer. Sogar vom Schrein her blieb heute Abend ausnahmsweise mal alles ruhig.

Alles daran war schön, dachte Alvaro, wenn man sich die Zeit nahm, es sich anzusehen und anzuhören. Das letzte glühende Band des vergangenen Tageslichts, das von einer schwarzblauen Sternendecke hinter den Horizont gedrängt wurde, das helle ununterbrochene Zirpen der Insekten, das im Wechsel mit den dunkleren Rufen ihrer Fressfeinde erklang. Und dazwischen, als wäre es der Soundtrack zu diesem Schauspiel, die heitere Melodie eines Windspiels, welches sich im lauen Abendwind wiegte.

Unbewusst atmete Alvaro etwas tiefer ein. Die Luftfeuchtigkeit war heute Abend so hoch, dass selbst die Kreosotbüsche ihren sanften blumigen Duft bis zum Haus hinüber wehten, aber nach Regen sah es nicht aus. Am unbewölkten Himmel funkelten abertausende Sterne, von denen was wusste er wie viele schon längst nicht mehr existierten.

Alvaro steuerte auf den Platz neben Diego zu, als ihm der Gedanke kam, dass sie ja keine Fremden waren, die sich zufällig im Bus begegneten. Er machte einen schnellen Schlenker, von dem Diego nichts mitzubekommen schien und setzte sich direkt hinter ihn auf die oberste Stufe. Ohne irgendein Wort zu sagen, lehnte sich Diego mit dem Rücken gegen Alvaro und griff nach den Händen, deren vorsichtige Berührung wie ein Wasserfall über sein Schlüsselbein hinab zu seiner Brust flossen.

"Das war übrigens exklusiv - bevor du wieder fragst, ob das Standard ist", erklang Diegos ruhige Stimme, in der ein belustigtes Schmunzeln mitschwang. Er fühlte Alvaros nahezu lautloses Lachen in seinem Rücken und legte den Kopf in den Nacken, bis er ihm ins Gesicht sehen konnte. "Fährst du jetzt mit einem besseren Gefühl nach Hause? So ganz ohne Fluch im Gepäck."

Selbst im Dunkeln sah Diego, wie sich auf der Stelle ein Schleier über die gerade noch heiter glänzenden Augen legte, als Alvaro scheinbar wieder bewusst wurde, dass das alles hier auch mal zu Ende ging, genau wie diese Nacht, die unweigerlich dem neuen Anfang weichen würde. Er seufzte und dieser kurze, nicht mal besonders laute Ton beinhaltete alles, was Diego wissen musste.

"Hast du schon einen Tag mit meinem Vater ausgemacht?"

"Nein, warum? Willst du noch bleiben?" Mann, wie verzweifelt konnte man klingen? Als ob er die erschrockene Reaktion von Alvaros Vater vergessen hätte, als er ihm am Telefon gesagt hatte, dass die Genesung seines Sohns noch etwas dauern würde. Und jetzt stellte er sich Arsenios Reaktion vor, wenn er ihn ein zweites Mal um eine Verlängerung bitten würde. Der arme Mann. Und alles nur, weil sich Diego den Abschied gerade nicht vorstellen wollte...

"Wenn es dir nichts ausmacht", beantwortete Alvaro zögerlich die Frage.

Als ob, dachte Diego lächelnd. Er hob eine Hand und strich sachte über Alvaros Wange. Wenigstens war er nicht der Einzige hier, dem der Gedanke an den Abschied ein flaues Gefühl im Magen bescherte.

"Denk mal an die Hühner!", fuhr Alvaro ungewohnt eifrig fort, der Diegos Schweigen wohl als Nein interpretiert hatte. "Wir bauen einen neuen Hühnerstall!"

"Warum?", lachte Diego verblüfft von dieser unerwarteten Wendung auf, doch Alvaro kam wohl gerade erst so richtig in Fahrt.

"Du hast gesagt, ich schulde dir noch was, weil du meinem Vater nichts von dem Tattoo und der Infektion erzählt hast." Gespannt wartete Alvaro auf Diegos Antwort, dessen ungläubige Blicke ihn zuerst ratlos abmaßen, ehe er schließlich in lautes Lachen ausbrach. "Also, der Stall - am besten hinters Haus? Und ohne Elektrik. Oder lieber mit?"

"Na schön, bauen wir eben einen Hühnerstall." Diegos Rippen schmerzten vor Lachen. "Aber dieses Mal erklärst du es deinem Vater selbst. Und ohne Elektrik, sonst habe ich hier bald noch einen zweiten Schrein..."

"Was du nicht willst?", alberte Alvaro.

Was schlimmeres könnte ihm gar nicht passieren, war das, was Diego gerne geantwortet hätte. "Eigentlich ist es auch egal. Machen wir uns nichts vor, ich komme hier sowieso nie wieder weg", sagte er stattdessen und versuchte den bitteren Tonfall wegzulächeln, bevor Alvaro wieder Verdacht schöpfen und nachhaken konnte.

Mehr als widerwillig löste sich Diego aus der Umarmung mitsamt den warmen Lippen, die zuerst seinen Nacken und dann seine Halsseite entlang strichen. Und noch widerwilliger musste er sich von dem Effekt losreißen, den die weiter nach unten wandernden Finger gerade hatten, aber er konnte den Gedanken nicht ertragen, wie schnell das alles wieder vorüber sein würde. Dass, selbst wenn sie hier noch eine halbe Stadt bauen würden, irgendwann wieder der Alltag zurückkehrte und die Berührungen der Hände fehlen würden, die in ihrer nicht mehr ganz so schüchternen Neugierde seinen Körper erkundeten.

Für Alvaro hatte er mit der Zeremonie und allem was danach gekommen war ein Tor geöffnet, aus dem er endlich in die Freiheit kam und für sich selbst hatte er eins geschlossen... Diego erhob sich von seinem Sitzplatz und mit müden Schritten, die sich plötzlich tonnenschwer anfühlten, stieg er die drei Stufen zur Veranda hoch. Oben wandte er sich zu Alvaro um, der ihm abwartend und ein bisschen verwirrt wegen des abrupten Manövers nachsah.

Vielleicht hatte er sich eben ja so dämlich angestellt, dass Diego das nicht wiederholen wollte, dachte Alvaro und spürte kurz die verlegene Hitze, die sich in seinen Wangen zu stauen begann. Und was sagte man überhaupt in so einer Situation?

Alvaros betretener Blick ließ Diego beschämt innehalten. Was tat er hier eigentlich? Abgesehen davon, eine Rolle zu spielen, in die er sich ja selbst hat lenken lassen? Er vergeudete Zeit, darüber nachzudenken, was irgendwann mal kam, anstatt die zu nutzen, die sie gerade hatten.

Erleichtert ergriff Alvaro Diegos Hand, die sich ihm nun versöhnlich entgegenstreckte und ließ sich auf die Füße ziehen.

"Erinnerst du dich noch an das Gewand mit den Perlen, das ich eben bei der Zeremonie trug?"

"Und ob..." Alvaro lachte leise. Natürlich erinnerte er sich daran. Vor allem an die Überraschung darunter.

"Lustige Geschichte", begann Diego und zog Alvaro mit sich ins Haus.

 

 

"Du weißt, dass du hier jederzeit willkommen bist, hier beim Hühner-Schamanen." Wie um Diegos Worte zu unterstreichen, rannten die sechs Hühner, die jetzt hier lebten, hinter ihm kreischend über den Hof und begannen aufgeregt damit, sämtliche Steine umzudrehen und ein paar trockene Grashalme aus dem Sand zu ziehen.

"Ab jetzt sogar mit Hühnern", witzelte Alvaro und zog Diego an sich.

"Wer weiß, was dich beim nächsten Mal hier erwartet." Diego erwiderte den Kuss und schob dann Alvaro vor sich aus dem rostigen Tor hinaus, das er hektisch hinter ihnen schloss, bevor ihnen die Hühner folgen konnten. "Ich überlege, mein Angebot zu erweitern. Was hältst du von Akupunktur?"

"Oh, Nadeln - klingt ja toll...", entgegnete Alvaro wenig begeistert und brachte Diego damit zum Grinsen.

"Was wurde damals eigentlich aus dem Skorpion, von dem du gestochen wurdest? Hat er überlebt?"

Die Erinnerung an das Ende des armen Tiers ließ Alvaro kurz erschauern. Mehr als deutlich sah er wieder den zertretenen Skorpion vor sich und seinen vom Rest des Körpers gerissenen Fangarm, der neben der Rubinroten Pfütze seines Bluts im Sand gelegen hatte. Stumm schüttelte Alvaro den Kopf und beobachtete Diegos Reaktion darauf, dessen Augen sich minimal erschrocken weiteten.

"Dann kann ich deinen Vater verstehen, warum er dachte, dass du verflucht bist."

Vergeblich versuchte Alvaro den Zusammenhang zu verstehen. "Und warum?", hakte er nach, als es ihm nicht gelang.

Diego, der sich mit dem Rücken gegen die warme Mauer lehnte, sah an Alvaro vorbei. "Man sagt, wenn man von einem Skorpion gestochen wird und stirbt, dass man ein reines Herz besessen hat. Aber wenn man überlebt und stattdessen der Skorpion stirbt, heißt das, dass das Herz des Gestochenen vergifteter war, als der Skorpion selbst."

"Aber er hätte ja überlebt, wenn mein Vater ihn nicht zertreten hätte", wandte Alvaro ein, doch Diegos schockierte Blicke ließen ihn direkt schweigen.

"Noch schlimmer", murmelte Diego so leise, dass Alvaro kaum was hören konnte.

"Weil er ein schlechtes Gewissen wegen eines toten Skorpions hatte?"

"Doch nicht wegen des Skorpions. Wegen dir!" Diego sah Alvaro ruhig an. Das Erschrockene war aus seinem Blick verschwunden. "Er dachte, dass er ab jetzt dafür verantwortlich ist, wenn dir irgendwas Schlimmes passiert, verstehst du?"

Alvaro schüttelte stumm den Kopf.

"Er dachte, dass er dein Schicksal durch seine Tat vorherbestimmt hat", erklärte Diego weiter. "Und jedes Mal, wenn danach etwas vorfiel, egal wie unwichtig, gab er sich die Schuld daran."

Ein eiskalter Schauer überlief Alvaros Arme, als er das erste Mal überhaupt verstand, was seinen Vater die letzten zehn Jahre geplagt hatte. Abgesehen von dem Schock darüber, beinahe sein einziges Kind zu verlieren, musste er durch die Hölle gegangen sein und seine einzige Lösung hatte logischerweise darin bestanden, jeden Schritt, den sein Sohn tat, mit Argusaugen zu überwachen.

"Ich schätze, ihr habt ein bisschen was zu klären, wenn ihr nach Hause fahrt." Diego hielt Alvaro einen Briefumschlag vor die Nase. "Das ist für deinen Vater. Wag dich nicht, reinzuschauen. Briefgeheimnis und so. Verstanden?"

"Verstanden..." Alvaro verdrehte die Augen und nahm den Umschlag entgegen. "Und was ist drin?"

Diego lachte auf. "Deine Urkunde darüber, dass du geheilt bist natürlich! Die kannst du dir zuhause an die Wand hängen."

"Am besten direkt über mein Bett", zog ihn Alvaro lachend auf und griff nach Diegos Händen. Sachte zog er ihn in die wahrscheinlich letzte Umarmung für einige Zeit.

Diegos Hände strichen unruhig über seinen Rücken, als ob sie alles noch mal schnell abspeichern mussten. Er hatte das beschissene Gefühl, dass sie sich nicht mehr wieder sehen würden, warum auch immer. Wehmütig löste er sich aus der Umarmung, klemmte sich die Schneiderpuppe unter den Arm, die seit Alvaros Ankunft draußen an der Mauer gestanden hatte, und trat zurück hinter das Eisentor.

Das schief in den Angeln hängende Tor schabte geräuschvoll über den Sandboden. Das Schloss schnappte zu und damit war der Abschied endgültig besiegelt. Sie atmeten die gleiche Luft und spürten den gleichen Wind auf ihrer Haut, aber die Barriere, die jetzt wieder zwischen ihnen stand, wirkte unüberwindbar.

Alvaro trat so nah es ging an das Tor. Er griff zwischen den Metallstäben hindurch und zog Diego zu sich. Stirn an Stirn standen sie da. Diego hatte die traurigen Blicke gesenkt und Alvaro fiel kein einziger wirklicher Trost ein. Doch!

"Jetzt wo ich ja vom 'Fluch' erlöst bin, bekomme ich meinen Vater sicher dazu, dass er mir mal sein Auto ausleiht und dann sehen wir uns, versprochen."

"Machen wir", murmelte Diego mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen. Und bevor es noch unerträglicher wurde, drehte er sich um und ging, ohne Alvaro noch einen Blick zuzuwerfen, zum Haus zurück. Er wollte nicht sehen, wie er wegfuhr, sondern wie er wieder zurückkam.

 

Alvaro ließ seinen Rucksack von der Schulter zu Boden gleiten. Mit einem Seufzen setzte er sich drauf und wartete, bis er hoffentlich bald die Sandwolken am Horizont sehen konnte, die der sich nähernde Wagen seines Vaters aufwirbelte.

Diegos Worte über die Schuld, die sich sein Vater gab, ließen ihn nicht mehr los. Er hatte nie darüber nachgedacht, wie sein Vater all das verarbeitet hatte. Wahrscheinlich so, wie er ihn kannte: nachts in seinem Taxi auf der Straße, wenn er wusste, dass sein Sohn sicher Zuhause war und wo er selbst mit seinen Schuldgefühlen alleine war.

Sein Vater redete nie viel darüber, was er so alles in seinem Beruf erlebte; weder über das Positive, noch über das Negative. Das Einzige, was er jedem, der es hören wollte, voller Stolz erzählt hatte, war, dass er der einzige Taxifahrer ihrer Stadt war, der in 30 Jahren noch nie überfallen wurde. Was jedem, der zu ihm in den Wagen stieg, auch automatisch verging, wenn sie seine Körpergröße und Fülle sahen, die beinahe den gesamten Fahrerbereich ausfüllte. Dabei war er der sanftmütigste Mann, den Alvaro kannte, der am liebsten nachts in der Zeit zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang arbeitete, weil da - laut Arsenios eigenen Worten - die Menschen am verletzlichsten waren und es gerade dann wichtig war, dass sie sicher nach Hause kamen. Jeder hatte es in seinen Augen verdient, gesund nach Hause zu kommen.

Alvaros nachdenkliche Blicke gingen zum Schrein, vor dessen Eingang wie immer die bunten Tücher im Wind flatterten.

Vielleicht, wenn er es richtig anging und natürlich erst nachdem sein Vater sich sicher war, dass Alvaro auch wirklich von seinem Fluch befreit war, schaffte er es, ihn danach zu fragen, ob er was dagegen hätte, wenn Alvaro mal mit ihm fuhr und er ihm zeigte, was man als Taxifahrer wissen musste. Nicht nachts! Da kannte er die Antwort schon. Aber tagsüber sollte das doch machbar sein...

Alvaro stand auf, klopfte sich den Sand von der Hose und ging dann seelenruhig auf den Schrein zu. Drinnen war alles wie immer, außer dass sich die Anzahl der Statuen und Geschenke wieder vermehrt hatte. Der Kühlschrank summte leise unter dem Altar und die Lichterketten blinkten wie immer fröhlich grell hinter der Großen Dame. Er hatte sich geirrt, was den Kurzschluss anging, dachte er amüsiert.

Alvaro öffnete die Holzkiste mit den frischen Kerzen und schob die bunten Wachsstangen hin und her, bis er die richtige gefunden hatte. Er entzündete seine weiße Kerze an einer bereits brennenden und stellte sie zu Füßen der Großen Dame. Ein letztes Mal glitt seine Hand über die kühlen skelettierten Finger, in denen die Erdkugel im Licht schimmerte und das Danke, von dem nur er und die Große Dame wussten, musste nicht mal seine Lippen verlassen, sondern pochte unaufhörlich tief in ihm drinnen in seiner Brust, bis zu seinem allerletzten Schlag.

Zum vorerst letzten Mal glitten Alvaros Blicke über das bunte Sammelsurium der Opfergaben vor sich. Durch die ganzen neuen Dinge hatte sich zwar alles ein bisschen verschoben und zusammengedrängt, doch er wusste sehr gut, wonach er Ausschau halten musste: zwei kreisrunde, schwarze Ohren und ein breites Grinsen. Ohne großartig darüber nachzudenken griff seine Hand beim Rausgehen in eine ganz bestimmte Richtung und noch ehe er den Gedanken vollendet hatte, hielt er auch schon die kleine Mickey Maus-Figur in seiner Hand und steckte sie einfach ein.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück