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Die heiße Welt

„Puuuh, ist das heiß hier.“

Shaolan schaute verwundert zu Fye, der sich mit einer Hand Luft zufächerte und mit der anderen an seinem Oberteil nestelte. In der Welt, in der sie vor wenigen Minuten gelandet waren, war es warm, ja, aber eher wie an einem sonnigen Frühlingstag, nicht wie an einem brütend heißen Hochsommertag. Er blickte aus dem Augenwinkel zu Kurogane, dem die Temperaturen ebenso nichts auszumachen schienen. Vielleicht lag es an den Unterschieden in den Welten, in denen sie aufgewachsen waren. Das hatten sie schon öfter gehabt. Fye mochte keine Hitze, während Kurogane über jede kältere Welt meckerte.

Sie waren mitten auf einer Straße voller Marktstände gelandet, als Mokona sie hergebracht hatte. Die Leute hatten vor Schreck geschrien und die Reisenden daher schnell zugesehen, dass sie erst einmal in einer Seitenstraße verschwanden. Die Häuser und die Straßen erinnerten ein wenig an Clow, nur dass kein Sand herumwirbelte und die Häuser eckige Formen hatten. Auch die Vegetation, auf die Shaolan einen kurzen Blick erhaschen konnte, bevor sie hatten türmen müssen, sah nicht nach einer typischen Wüstenwelt aus. Er hatte große, stämmige Bäume mit einem dichten, dunkelgrünen Blattwerk gesehen.

Vorsichtig lugte er um die Ecke auf die Hauptstraße zurück. Die Kleidung der Menschen bestand aus langen, wallenden Gewändern, die den Körper vollständig bedeckten, so wie es in einem Wüstenstaat üblich war, um sich vor der Sonne zu schützen. Das war ein wenig merkwürdig. Eventuell wurde es hier noch wärmer oder weiter außerhalb der Stadt gab es eine Wüste. Shaolan drehte sich wieder zu seinen Gefährten um. Immerhin passten seine und Fyes Kleidung recht gut in diese Welt. Aus der vorigen Dimension (einer Welt, die Nihon ähnlich war, doch in der die hiesigen Ninja auch über Zauberkräfte verfügten, was Kurogane aus irgendeinem Grund nicht gefiel) trug Fye eine lange, weite, weiße Hose mit etwas darüber, das wie eine kurze Haori-Jacke aussah. Beides war mit blauen Streifen abgesetzt. Shaolan selbst trug ein weites, grasgrünes Hemd mit einem breitem Kragen und einer langen, dunkelblauen Hose darunter. Lediglich Kurogane fiel hier ein bisschen aus dem Rahmen, denn sein ärmelloses, schwarzes Shirt mit rotem Saum und der nur dreiviertellangen, schwarzen Hose fügten sich nicht so leicht in das Stadtbild der neuen Welt ein. Und noch etwas anderes würde sich nur schwer einfügen.

„Ich spüre keine Magie. Du, Shaolan-kun?“

„Nein, ich auch nicht.“

„Dann wird es vielleicht ein wenig schwierig werden, der örtlichen Bevölkerung zu erklären, wo wir so plötzlich hergekommen sind“, gab Fye zu denken und wandte sich Mokona zu, die auf Kuroganes Kopf saß. „Und wo keine Magie, da auch keine magischen Wesen.“

„Was soll ich sein?“ Die Kreatur hüpfte energisch auf. „Baby oder Stofftier? Die Schauspielkunst gehört zu Mokonas 108 geheimen Fähigkeiten!“

„Ersteres will ich überhört haben“, grummelte Kurogane, griff mit einer Hand nach ihr und öffnete mit der anderen eine Tasche, die um seine Hüfte hing. „Kannst du fürs Erste da drin bleiben, bis wir mehr über dieses Land wissen?“

„Aye, Aye!“ Noch im Griff des dunkelhaarigen Mannes salutierte Mokona, bevor sie in die Tasche gestopft wurde.

Die drei Männer nickten sich zu und wagten sich vorsichtig auf die Hauptstraße zurück.

Das geschäftige Treiben dort war von ihrer plötzlichen Ankunft offenbar nicht weiter gestört worden. Die Händler verkauften eifrig Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände, während die Passanten neugierig die Stände inspizierten und fleißig einkauften. Möglicherweise hatten nicht allzu viele Menschen ihr Erscheinen bemerkt?

„Entschuldigung, seid ihr Dimensionsreisende?“

Die aus dem Nichts gekommene Frage ließ die drei zusammenschrecken. Sie drehten sich zu dem Fragesteller um. Es war Toya – oder vielmehr natürlich jemand, der die gleiche Seele wie Sakuras Bruder hatte. Und wie immer stand eine Version von Yukito neben ihm. Eine dunkelhaarige Version von Yukito. Das war neu. Dieser lächelte sanft, während Toya motzig die Arme verschränkte.

„Frag sie doch bitte etwas höflicher“, ermahnte Yukito ihn liebevoll.

„Ich habe 'Entschuldigung' gesagt, oder etwa nicht?“

„Wie kommst du überhaupt darauf?“, entgegnete Kurogane harsch und mit einer Aura, die jedem deutlich machen sollte, dass man sich ihm nicht zum Feind machen sollte.

„Weil ihr mitten auf der Straße erschienen seid“, gab Toya patzig zurück. „Das ist hier in Helios schon einmal zuvor vorgekommen, soweit wir wissen.“

„Es ist schon einmal vorgekommen?“, warf Shaolan schlagartig atemlos und blass ein. Es war nicht schwer zu erraten, welche Angst ihn so jäh heimsuchte. „Kam es dabei zu Zwischenfällen? Wurde etwas geraubt? Wurde jemand verletzt?“

Toya und Yukito blinzelten ihn verwundert an.

„Was stimmt denn mit dem nicht?“, sagte Toya schließlich. „Geht es ihm gut? Er sieht aus, als würde er gleich aus den Latschen kippen.“

„Shaolan-kun“, der Junge spürte Fyes Hände auf seinen Schultern, „ganz ruhig. Hol tief Luft.“

„Was war denn nun?“, hakte Kurogane ungeduldig nach und kassierte dafür einen kritischen Blick von Toya.

„Eigentlich sind wir hier die Aufseher und stellen die Fragen.“

„Aufseher, huh?“, konterte der Ninja unbeeindruckt. „Dann solltet ihr doch sehen, dass es wichtig für den Bengel ist, dass ihr ihm seine Fragen beantwortet, oder etwa nicht?“

Yukito ging dazwischen und schüttelte sacht den Kopf. „Es ist damals nichts weiter geschehen. Die beiden jungen Herren sind bei ihrer Ankunft durch eine Markise gekracht, aber es wurde niemand verletzt. Sie haben den Schaden sogar bezahlt.“

„Die beiden …?“, wiederholte Shaolan ungläubig. Das hieß … es war nicht 'Shaolan' gewesen?

„Oh!“, dämmerte es Fye. „Hatten die zwei besagten Herren dunkle Haare und waren ganz in Schwarz gekleidet?“

„Ihr kennt sie? Die Zwillinge?“ Toya klang überrascht.

„Da es in der Tat so ist, dass wir auch durch verschiedene Dimensionen reisen, haben wir bereits ihre Bekanntschaft gemacht“, antwortete der Magier.

„Sie sind aber nicht mehr hier, oder?“, warf Kurogane übellaunig ein und wirkte erst wieder entspannter, als Yukito von neuem den Kopf schüttelte. Gut, nicht noch mehr Erinnerungen an Tokyo.

„Was verschlägt euch denn hierher?“, fragte Toya und holte einen Notizblock samt Stift hervor. „Normalerweise kommen Reisende durch das Haupttor und registrieren sich dort.“

„Ha ha, Verzeihung, dafür fehlt uns die Zielgenauigkeit.“ Fye lachte entschuldigend. „Also, man muss sich registrieren, ja?“

„Wage es, Magier ...“, knurrte es neben ihm.

Shaolan, der endlich wieder durchatmen konnte und Farbe ins Gesicht bekam, musste sogar ein wenig schmunzeln. In einer anderen Welt hatten sie sich auch registrieren müssen – und Kurogane hatte in aller Öffentlichkeit Fye zu Boden gerungen, um ihm das Formular abzunehmen. Er ließ ihm mittlerweile eine Menge Spitznamen durchgehen, doch die 'Große Hündchen'-Nummer blieb ein Tabu.

„Das sind Kurogane und Fye. Mein Name ist Shaolan“, sagte er zum Erstaunen der Aufseher. „Und das ist Mokona.“ Er zeigte auf die Tasche an Kuroganes Hüfte, aus der sich zwei lange Ohren herausschälten, bis schließlich Mokonas Gesicht herauslugte. „Wir reisen umher, um verschiedene Legenden und Sagen zu studieren.“ Diese uralte Erklärung war ihre Standard-Tarnung geworden. Fye hatte Kurogane sogar extra gefragt, ob diese kleine Flunkerei in Ordnung wäre. Jedem zu erklären, warum sie tatsächlich unterwegs waren, wäre doch bei weitem zu umständlich.

„Aha, okay“, Toya kritzelte emsig auf den Notizblock. „Also, zwei Menschen und … was genau ist das da?“ Er zeigte auf Mokona, die wenig davon angetan war, „das da“ genannt zu werden.

„Mokona ist Mokona!!“

„Ein Plagegeist.“

„Mama, Papa ist gemein zu mir!“

„Ha ha.“

„Mokona ist ein magisches Wesen“, erklärte Shaolan in die wenig brauchbaren Reaktionen seiner Gefährten hinein.

„Magisches Wesen? Magie gibt es hier nicht, aber wo anders ist das wohl normal, wie? Na schön.“ Toya notierte dies stoisch. „Ist er auch eins?“ Zu ihrer Verwunderung zeigte er nun auf Fye.

„Äh, ich?“ Der Blondschopf blinzelte ihn verwirrt an. „Ich bin zwar ein Magier, aber eigentlich laufe ich auch unter der Bezeichnung 'Mensch' … oder?“

„Außer Plagegeist ist wirklich eine Kategorie“, bemerkte Kurogane trocken.

Shaolan musterte die zwei Aufseher währenddessen. Sie schienen wirklich irritiert von Fyes Antwort zu sein. Sie kannten keine Magie, warum also sortierten sie ihn in eine andere Kategorie als ihn selbst und Kurogane ein?

„Das muss daran liegen, dass sie aus einer anderen Welt kommen“, sagte Yukito letztlich schulterzuckend und Toya fuhr fort, seine Aufzeichnungen zu komplettieren.

„Habt ihr eine Unterkunft?“

„Noch nicht“, erwiderte Shaolan.

„Reich seht ihr nicht aus, also teile ich euch das günstigste Gasthaus zu.“

„O-okay?“

„Wie lange wollt ihr bleiben?“

„Das kommt darauf an ...“ Dem Jungen lief es bei Toyas strengem Blick eiskalt den Rücken hinunter. Es musste wohl eine genauere Antwort sein. „Sieben Tage? … Etwa?“

„Könnt ihr euren Lebensunterhalt bestreiten?“

„Ähm ...“ Shaolan warf Fye einen leicht verzweifelten Blick zu. Der Magier verwaltete die Haushaltskasse.

„Dürfen wir uns hier Arbeit suchen?“, fragte Fye und antwortete so auf die Frage, ohne sie zu beantworten.

„Ich fülle euch eine Arbeitserlaubnis aus. Für alle vier?“

„Für Kuro-tan und mich reicht völlig.“

„Alles klar. Dann seid ihr jetzt registriert. Benehmt euch ordentlich, sonst werdet ihr aus der Stadt entfernt. Wir bringen euch zu eurer Unterkunft.“

 

Dieser Ort warf nicht gerade wenige Fragen auf, dachte Shaolan, nachdem Toya und Yukito sie in dem zugeteilten Gasthaus abgesetzt hatten. Das Zimmer mit den drei Betten war groß genug für sie und sauber. Es gab einen Waschtisch und ein Fenster, von dem aus man auf die Hauptstraße blicken konnte. Es gab weder fließendes Wasser noch Elektrizität, doch immerhin war direkt am Haus eine Quelle, aus der man Frischwasser holen konnte. Zudem schien dieses Land friedlich und ohne größere Probleme zu sein. Ein paar Straßen weiter, das hatte Yukito ihm verraten, befand sich die Bibliothek, in der er sich so bald wie möglich umsehen wollte.

So weit, so gut.

Doch -

Warum hatte man ihnen auf dem Weg hierher so seltsame Blicke zugeworfen? Die Leute auf der Straße hatten sich teilweise sogar nach ihnen umgedreht und getuschelt. Auch der Inhaber des Gasthauses hatte sie mit großen Augen angesehen. Es waren keine böswilligen Blicke gewesen, nein, vielmehr … erstaunte? Warum sahen sie sie so an? Weil sie von weit weg kamen? Weil sie aus dem Nichts in der Straße aufgetaucht waren? Nein, irgendwie sagte sein Instinkt ihm, dass es das nicht war. Allerdings hatte Shaolan das Gefühl, irgendetwas Offensichtliches zu übersehen.

„Ist das stickig hier drin.“ Fye verzog das Gesicht und öffnete das Fenster. Er nahm einen tiefen Atemzug und fächerte sich von neuem Luft zu. „Fühlst du dich wieder besser, Shaolan-kun?“

„Das siehst du doch“, entgegnete Kurogane launisch, „er grübelt über irgendetwas nach.“

Mit einem Mal saß der Junge kerzengerade auf seinem Bett und wedelte mit den Händen. „Entschuldigt, nein, es ist nichts.“

„Gut. Denn es ist ja in der Tat nichts.“

Er wusste, dass Kurogane nur so streng klang, weil es schon wieder passiert war. Er hatte schon wieder Panik bekommen, obwohl es keinen Grund dafür gab. Sie machten sich nur Sorgen um ihn und das tat ihm von Herzen leid. Er wollte ihnen keine Sorgen bereiten.

„Also, wie wollen wir vorgehen?“, fragte Fye heiter in die Runde. „Es scheint noch ziemlich früh am Tag zu sein. Wollen wir uns gleich in der Stadt umsehen?“

„Ich würde gerne noch heute die Bibliothek aufsuchen“, antwortete Shaolan. „In Welten, in denen es keine Magie gibt, findet man in der Regel nur sehr wenig oder gar nichts, was uns weiterhelfen könnte. Wenn ich nichts Brauchbares finden kann, könnte ich ja auch etwas Geld verdienen … huh?“ Er stockte, als die Erwachsenen einen Blick austauschten. „Ist etwas?“

„Sag du es ihm“, brummte Kurogane und der Magier zuckte mit den Schultern.

„Dein Eifer in allen Ehren, Shaolan-kun, aber du würdest uns mehr helfen, wenn du die Dinge etwas langsamer angehen würdest.“

„Huh?“

„Wenn du nichts zum Recherchieren hast, okay, dann ist das so“, fuhr Kurogane mit der Belehrung fort, „aber schalte mal einen Gang runter. Du brauchst deine Kräfte noch und solltest sie mal aufladen.“

Der Junge blinzelte sie verdattert an. Er wollte doch nur helfen, war daran irgendetwas falsch? Es war wahr, dass er – wenn er konnte – seine Zeit meistens damit verbrachte, nach einer Lösung für sein Problem zu suchen (und sich mit Watanuki darüber auszutauschen, denn es war ihr Problem). Aber seiner Meinung nach hatte er bereits einen Gang heruntergeschaltet, seit Sakura mit ihm gesprochen hatte. Wirkte er immer noch wie ein Besessener? Oder … oder wollten die beiden nur verhindern, dass es wieder schlimmer mit ihm wurde?

„Shaolan-kun“, Fye setzte sich neben ihm auf das Bett, „ich weiß, dass das, was ich jetzt sage, viel verlangt ist, aber ...“ Er holte Luft. „Trotz allem, trotz der schweren Aufgabe, die wir erfüllen wollen, solltest du nicht vergessen, dein Leben zu leben. Verstehst du, was wir dir sagen wollen?“

Shaolan sah direkt in die glasklaren, blauen Augen des Magiers. Sein sanfter Blick hatte immer etwas Beruhigendes an sich. Er nickte. „Es ist in Ordnung hin und wieder auch einmal zu lächeln … nicht wahr?“

Fye stutzte kurz, schluckte, legte seine Arme um die Schultern des Jüngeren und drückte ihn an sich. „Genau das will ich damit sagen.“

Ein leichtes Gewicht ließ sich auf seinen Knien nieder und Shaolan musste nicht hinsehen, um zu wissen, wer ihm da auf die Beine gehopst war.

„Mama und Papa haben Angst, dass du nicht glücklich bist, Shaolan.“ Mokona tapste ein Bein entlang und drückte sich in einer Geste der Umarmung gegen seinen Bauch. „Eltern wollen immer, dass ihr Kind glücklich ist.“

„Ja.“ Shaolan legte eine Hand um Mokona und presste seine Lippen zusammen, um nicht zu weinen. Egal, wie viel Mühe er sich gab, so zu tun, als wäre er ganz ruhig und ausgeglichen, sie würden es immer merken, dass es nicht echt war. Damit, dass er sie nicht sorgen wollte, hatte er ihnen vermutlich noch mehr Sorgen bereitet. „Es tu-“

„Wenn du dich jetzt schon wieder entschuldigst, setzt es Hiebe.“ Kuroganes Einwurf ließ ihn schnell verstummen.

„Wir wissen, wie schrecklich es ist, dass es schon so lange dauert“, ergänzte Fye, „aber du wirst nichts dadurch beschleunigen, dich so aufzureiben.“

Für ein paar Augenblicke verharrten sie in vollkommener Stille, bis Shaolan sich aus der Umarmung des Blonden löste. Eindringlich sah er zuerst zu ihm, dann zu Kurogane.

„Ich bin nicht unglücklich. Und das ist euer Verdienst.“

Zunächst überrumpelt, dann gerührt erwiderte der Magier seinen Blick und drehte sich dann dem Ninja zu – der sein Gesicht auffällig abgewandt hatte.

„Wollten wir uns nicht in der Stadt umsehen?“ Kurogane räusperte sich verdächtig und ließ Fye damit amüsiert den Kopf schütteln.

„Du hast ihn voll erwischt, Shaolan-kun.“

„Wollknäuel, du bleibst bei dem Bengel“, sagte der Schwarzhaarige, die Bemerkung des anderen Mannes gekonnt ignorierend. „Ihr zwei seid mir zu ähnlich, deswegen wird der Klops auf dich aufpassen.“

„Das war vermutlich kein Kompliment“, lachte Fye und gab Shaolan einen Klaps auf den Rücken. „Aber Papa meint es nur gut.“

 

Gemeinsam gingen sie bis zur Bibliothek, wo sie Shaolan und Mokona absetzten und Letztere stolz schwor, ganz doll auf ihren Bruder Acht zu geben und aufzupassen, dass er sich nicht übernahm oder seine Nase zu lange in die Bücher steckte. Dann machten die beiden Männer kehrt und gingen die Straße, die sie gekommen waren, zurück.

„Ich habe dein Notizheft gefunden“, sagte Kurogane aus dem Blauen heraus und obwohl es keinen offensichtlichen Grund dafür gab, wurde Fye etwas angespannter.

„Und?“

„Du zählst die Tage, die wir seit der Abreise aus Clow damals unterwegs sind.“

Verblüfft riss der Magier die Augen auf. „Wow, Kuro-sama, wie hast du das denn geschlussfolgert?“

„Ich überschlage seither den ungefähren Zeitraum im Kopf und die Anzahl der Striche passt.“

Was für ein Pech, dass Striche in jeder Sprache zu lesen waren, dachte Fye zerknirscht und wunderte sich selber. Es war mal wieder so, dass er kein Geheimnis daraus hatte machen wollen und es dennoch vor Kurogane verborgen hatte.

„Ich … ich dachte nur … es ist für Shaolan doch eh schon schwierig zu sagen, wie alt er ist und so können wir wenigstens ab einem gewissen Datum die Jahre zählen.“

Der Ninja blieb stehen und fixierte mit seinen stechend roten Augen den Mann vor sich. „Wenn es dir darum geht, dass dem Kleinen nicht das Gleiche passiert wie dir und er sein Alter irgendwann nicht mehr weiß, dann ist das in Ordnung und kein Grund, das Heft heimlich zu führen.“

„Ich habe es nicht heimlich geführt“, wehrte sich Fye empört.

„Es hastig verschwinden zu lassen, wenn ich den Raum betrete, ist nicht heimlich?“

Verdammter Ninja mit seinem verdammten Anschleichen! Er hatte schon so eine Ahnung gehabt, dass Kurogane sich manchmal absichtlich auf leisen Sohlen näherte. Fye wollte am liebsten entrüstet sein und eine Szene machen, aber … er wusste ja, woher der Argwohn des Anderen kam. Und wer Schuld daran hatte.

Nein, er wusste, warum er es vor Kurogane verheimlicht hatte und warum er sich selbst einreden wollte, dass es nur ein Versehen war. Shaolan und er waren sich in der Tat in dieser Sache ähnlich. Das Notizheft zu verstecken, hatte wie die vernünftigere Wahl geklungen. Es war doch nur eine Kleinigkeit, hatte Fye sich immer und immer wieder selber versichert, kein richtiges Geheimnis oder gar eine Lüge. Anfangs hatte er sogar überlegt, ihm direkt davon zu erzählen, doch eine Stimme in seinem Inneren hatte ihn davon abgehalten.

Wenn er die Strichliste findet, wird er Vermutungen dazu anstellen. Er wird denken, dass es mit meiner Vergangenheit zu tun hat und sauer werden. Er wird sich Sorgen machen, obwohl ich das nicht will. Wenn er nichts von der Strichliste weiß, gibt ihm das auch keinen Anlass, sich Sorgen zu machen.

Er hatte es vermasselt. Mal wieder.

„Ich will nie wieder“, begann Fye und wandte seine Augen ab, „ich will nie wieder jegliches Zeitgefühl verlieren. So wie damals in dem … in dem Tal. Ich war mir nicht sicher, ob du das verstehen würdest. Du sollst nicht glauben, ich würde ständig daran denken, aber es kommt eben vor. Und die Strichliste beruhigt mich ein wenig.“

Er hörte den Dunkelhaarigen ausatmen. „Wenn du mich nicht andauernd von vorneherein ausschließen würdest, müssten wir solche Diskussionen auch nicht andauernd führen.“

„Ha“, der Magier lachte gequält und blickte auf, „ich wünschte, du hättest mal ein Geheimnis vor mir, dann wäre ich nicht immer der Böse.“

„Du bist nicht der Böse, du bist ein Trottel.“ Kurogane deutete ein Kopfschütteln an. „Bei der nächsten Heimlichtuerei deinerseits vergess ich mich. Verstehen wir uns da?“

„Verstanden, Kuro-tan, verstanden.“ Mehr Schelte bekam er nicht? Kurogane gab ihn doch nicht etwa auf, oder?

„Was machen wir? Teilen wir uns auf?“, wechselte der Ninja das Thema.

Fye nickte. „Ich vermute, in den Seitenstraßen befinden sich die Werkstätten, die die Waren für den Markt herstellen. Vielleicht haben wir da Glück.“

„Bis zum Abend bist du wieder in das Gasthaus zurückgekehrt. Die Leute gucken immer noch und ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“

Der Magier musste schmunzeln. „Pass du auch auf dich auf.“

Wortlos ruhten die leuchtend roten Augen einen langen Moment lang auf ihm, bevor Kurogane sich in eine Straße zu ihrer Rechten aufmachte und Fye eine in der entgegengesetzten Richtung ansteuerte.

Der Ninja war kein Mann, der seine Gefühle mit Worten ausdrückte; er würde auch keiner mehr werden. Aber dieser Blick gerade! Fye fasste sich mit einer Hand an die Brust, um sein schnell schlagendes Herz zu spüren. Er wünschte sich, dass er auch mit einem einzigen Blick ausdrücken könnte, wie viel Kurogane ihm bedeutete. Ernsthaft, wie bekam er das hin, so viel Warmherzigkeit und Leidenschaft in einen Blick zu packen? Fye hatte ganz weiche Knie bekommen. Jetzt war es ihm noch heißer als es ihm in dieser Welt sowieso schon war.

Immerhin war Kurogane demnach wohl nicht sauer auf ihn.

Wieso, wieso kostete es ihn so viel Mühe, ehrlich zu sein?? Der Magier verfluchte sich selbst in Gedanken. Die Notizheft-Angelegenheit war eigentlich eine Lappalie und rückblickend betrachtet hatte Kurogane wieder einmal Recht. Er hätte es ihm einfach sagen sollen.

Aber ich will ihn nicht beunruhigen. Ich will ihn schützen. Vor mir und meiner Unfähigkeit, mit allem fertig zu werden, hörte er abermals seine eigene Stimme in seinem Innern und Fye schüttelte wütend den Kopf. Wenn er diese Gedanken nicht abstellte, würde Kurogane irgendwann endgültig der Geduldsfaden reißen.

Ich darf ihn nicht mehr belügen. Und ich darf ihm keine Sorgen bereiten.

Wie schwer konnte es denn sein, sich daran zu halten? Konnte er nicht wenigstens einmal das hinbekommen? Warum fiel es ihm so schwer?

So in Gedanken versunken stolperte Fye über eine Unebenheit im Boden. Er geriet ins Straucheln und beim Versuch sich abzufangen, riss er ein vor einem Gebäude stehendes Schild mit um. Mit einem lauten Knall fielen beide zu Boden und er landete auf dem Rücken.

War das etwa die Antwort des Schicksals auf die Frage nach seinen Unfähigkeiten? Na, vielen Dank auch.

„Du meine Güte“, hörte er eine besorgte Stimme aus dem Haus herauseilen. „Ist dir etwas passiert?“

Diese Stimme …

Fyes Augen weiteten sich im Schock, als der Mann, zu dem die Stimme gehörte, sich über ihn beugte. Seine langen, tiefschwarzen Haare fielen dem Mann wie Strähnen aus Seide ins Gesicht und mit einer anmutigen Geste schob er sie beiseite. Er lächelte ein bezauberndes, sanftmütiges Lächeln.

„Ist alles in Ordnung? Ich helfe dir hoch.“ Er hielt dem entgeisterten Magier eine Hand hin.

Fye reagierte nicht und starrte nur unentwegt in die dunklen Augen seines Gegenübers.

„König Ashura …“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich habe auf einem tumblr-Account mit dem Namen „starlyte road“ eine Auflistung aller Spitznamen, die Fye je Kurogane gibt, gefunden. Weil ich mich selber nicht an alle erinnern kann und mal Abwechslung reinbringen wollte, habe ich diese großartige Auflistung zur Hilfe genommen. Mein Dank wird starlyte road wohl nicht erreichen, aber er ist definitiv vorhanden! Komplett anzeigen

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