Zum Inhalt der Seite

Never let me go

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

I got a body to hide, I got a body on show

I got a body to hide, I got a body on show“

 

Placebo, „Scene of the crime“

 

Fukuzawa seufzte innerlich.

Obwohl die Detektei nun voller Menschen war, war es trotzdem totenstill darin. Er ließ seinen Blick über alle schweifen, als sie mutlos und schwermütig durch die Tür kamen und zu ihren Plätzen zurückkehrten. Sein Blick traf den Dazais und er hoffte inständig, dass er ihm nicht ansah, was genau in der Zwischenzeit in der Detektei vorgefallen war. Oder vielmehr: Er hoffte, dass Dazai ihm nicht ansah, was er dachte, nachdem Mansfield ihm ihre Geschichte erzählt hatte. Bis jetzt hatte er den anderen verschwiegen, weswegen Mansfield hier gewesen war. Es war falsch, Dazai sofort für schuldig zu erklären, denn vielleicht entsprach die Geschichte der Frau nicht der Wahrheit. Aber nichtsdestotrotz würde Fukuzawa dies mit ihm besprechen müssen – und davor graute ihm.

Der Chef stutzte, als Dazai seinen Blick erwiderte und dabei umgehend seine Gedanken zu lesen schien. Die Miene des Brünetten wurde für einen flüchtigen Moment fragend und dann fast ein wenig resigniert. Als einziger kehrte er nicht zu seinem Schreibtisch zurück, sondern blieb auf Höhe des Separees neben Joyce stehen. Fukuzawa riss seinen Blick von ihm los und wandte sich den anderen zu. Haruno hatte Yosanos leeren Stuhl neben Naomi gerollt, um der nach wie vor schluchzenden Schülerin Beistand zu leisten. Atsushis erschütterte Miene landete erst auf ihr, dann auf den unbesetzten Plätzen von Kenji und Tanizaki. Kyoka hatte ihre Hände zu Fäusten geballt und starrte wütend Löcher in die Luft, während Kunikida mit hängendem Kopf den Fußboden fixierte. Ranpo saß mit nachdenklichem Blick mucksmäuschenstill an seinem Platz und sah an den anderen vorbei zum Eingang. Fukuzawa hatte sie alle zurückbeordert, damit die Lebensform-Fähigkeit nicht erneut an einem Ort angriff, an dem auch Unbeteiligte in Gefahr geraten konnten.

Die Auseinandersetzung mit Eliza hatte zumindest Tanizaki nicht weiter gefährdet, doch Yosano und Kenji, die das unbekannte Gas eingeatmet hatten, waren nun beide in einem Koma. Was auch immer der Feind dort freigesetzt hatte, wirkte wie ein Nervengift, durch das die zwei nicht einmal mehr in der Lage waren, selbstständig zu atmen. Hätte Dazai – der Entfernung zum Trotz - nicht den Schrei der Fähigkeit gehört und wäre ihnen nicht mit den anderen zu Hilfe gekommen, Yosano und Kenji wären an Ort und Stelle einen qualvollen Tod gestorben. Was sollten sie jetzt tun? Wie sollten sie sie aufhalten? Eliza wollte sie alle, bis auf einen, töten und sie konnte jederzeit überall auftauchen. Fukuzawa fühlte sich erbärmlich und hilflos. Die Lage schien hoffnungslos und doch durfte er dies weder sagen noch zeigen.

„Diese Eliza ist offensichtlich außer Kontrolle“, äußerte Dazai unvermittelt in die bedrückende Stille hinein. „Ihr Anwender kann sie zwar zurückpfeifen, aber das scheint sie nicht davon abzuhalten, von neuem auf uns loszugehen.“

„Ich will nur noch einmal sichergehen, dass ich dies richtig verstanden habe“, sagte Joyce und rieb sich angestrengt mit einer Hand über die Schläfen. „Dieser Shaw sucht ein Teil, das zu einem Apparat gehört, mit dem man sich praktisch unsterblich machen kann – was auch immer das heißen mag - und der von einem Freund von Wilde erfunden worden sein soll?“

Fukuzawa nickte. „Frau Mansfield hatte keinen Grund mich in dieser Sache anzulügen, also können wir davon ausgehen, dass dies der Wahrheit entspricht.“

„Ich verstehe die Welt nicht mehr. Woher sollte Wilde diesen Kerl kennen und wenn es einen Apparat gäbe, der dies tatsächlich könnte, wieso hören wir dann zum ersten Mal davon?“ Joyce' Hand war dazu übergegangen, sich seine Haare zu raufen, woraufhin Kyoka aufstand und ihm ihren Stuhl anbot. Er hielt in seinen Bewegungen inne und wirkte ein wenig gerührt, als er das Angebot annahm. „Danke.“

Kyoka nickte ihm bekräftigend zu.

„Solche Erfindungen, die von befähigten Entwicklern stammen“, begann Atsushi zaghaft, „sie … sie können großen Schaden anrichten, wenn sie in die falschen Hände geraten.“ Er schluckte schwer bei der Erinnerung an die Geschehnisse auf Standard Island.

„Die falschen Hände wären in diesem Fall ganz sicher die von diesem Shaw.“ Kunikida blickte auf. „Wer auch immer dieses Ding erfunden hat, war sich dessen bewusst, was Atsushi gerade eingewandt hat und hat es vermutlich deswegen zerstört.“

„Wenn es in seine Einzelteile zerlegt und an verschiedenen Orten verteilt wurde“, warf Kyoka ein, „dann können nur Leute, die von dem Erfinder eingeweiht wurden, überhaupt von seiner Existenz und seiner Funktionsweise wissen, oder?“

Joyce stutzte merklich, als er dies hörte. „Das hieße ja dann ...“

Dazai lächelte selbstgefällig. „Ich will wirklich nicht schon wieder der Überbringer schlechter Nachrichten sein, aber, ja, genau das hieße das. Der mysteriöse Erfinder, Wilde und Shaw kennen sich demnach wahrscheinlich.“

Der Ire schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Wilde je mit jemandem zu tun gehabt haben soll, der einen solch wahnsinnigen Plan verfolgt.“

„Chef“, meldete Naomi sich mit wieder energischerer Stimme aus dem Hintergrund zu Wort. Ihre Augen waren noch gerötet, aber ihre Tränen versiegt. Stattdessen konnte man nun eine überwältigende Entschlossenheit in ihrem Gesicht ausmachen. Gemeinsam mit Haruno hatte sie in der Zwischenzeit eifrig Eingaben in den Computer gemacht – und mit den besonderen Zugriffserlaubnissen, die die Detektei sich im Laufe der Jahre erkämpft hatte, offensichtlich einen Treffer gelandet. „In der Datenbank der Regierung gibt es einen Eintrag zu diesem Shaw. Er war während des Kriegs wohl in Yokohama als Spion und Kriegsverbrecher festgenommen worden und hat mehrere Jahre in Kriegsgefangenschaft verbracht. Aus dieser ist er jedoch geflohen.“

Ein Raunen ging durch das gesamte Büro, als alle Anwesenden aufmerksam zu den beiden Bürokräften blickten.

„Gibt es noch weitere Informationen über ihn?“, hakte Fukuzawa nach und Haruno nickte.

„Er hat damals ausgesagt, dass er zu einer Gruppe gehörte, die in verschiedenen Ländern Sabotageakte durchgeführt hat. Teile der Akte sind geschwärzt, doch ein paar Namen der Mitglieder dieser Truppe sind noch einsehbar.“

Joyce krallte seine Finger mittlerweile in den Stoff seiner Hose. „Welche Namen?“

„Ein Engländer namens Basil Hallward, ein weiterer namens Henry Wotton und noch ein Mann namens … oh.“ Verunsichert hielt Haruno inne, sodass Naomi übernahm.

„Dorian Gray.“

„Dorian Gray??“, entfuhr es Atsushi. „Aber das ist doch …!“

„Der Name, der in der Akte geschwärzt wurde, ist dann wahrscheinlich ...“ Kyoka brach ab und schaute zu Joyce, der aussah, als wäre er den Tränen nahe.

„Spione?“, hauchte Joyce tonlos. „Saboteure? Kriegsverbrecher?“

„Steht da etwas über diese Männer?“, sagte Fukuzawa schnell und doch beherrscht.

„Hm“, machte Naomi unzufrieden. „Nichts, was wirklich hilfreich erscheint. Dieser Henry Wotton ist während des Krieges bei einer Mission getötet worden und der andere ist vor mehreren Monaten gestorben. Wohl keines natürlichen Todes, aber mehr steht da nicht.“

„Und Gray vor kurzem“, ergänzte Kunikida missmutig. „Das hilft uns wirklich nicht weiter.“

„Tsk, tsk, tsk.“ Dazai wackelte widersprechend mit einem Finger. „Zieht eure Köpfe aus dem Sand. Wir haben unseren befähigten Entwickler.“

„H-haben wir?“ Atsushi dachte fieberhaft nach, doch er konnte nicht nachvollziehen, wie Dazai darauf gekommen sein sollte.

„Basil Hallward. Und es ist gar nicht schwer, das zu schlussfolgern. Gibst du mir da Recht, Ranpo?“

Alle Augen wanderten zu dem bisher merkwürdig schweigsamen Meisterdetektiv, der immer noch die Eingangstür anstarrte. „Ja ja, der ist es“, entgegnete er beiläufig und beinahe ungeduldig. „Vereinfacht gesagt: kein natürlicher Tod. Jemand hat ihn umgebracht. Jemand, der hinter dieser Erfindung her ist. Hallward ist also derjenige mit einer Verbindung nach Yokohama.“

„Aber ...“, angesichts Ranpos Laune traute Atsushi sich kaum, etwas nachzuhaken, „welche?“

„Darauf warte ich noch.“

„Äh, o-okay?“ Der silberhaarige Junge blickte überfordert zu den anderen.

„Du hast eine Spur?“, deutete Fukuzawa das rätselhafte Gerede seines Schützlings.

„Das, was Dazai mir über die Plakate des Kunstmuseums erzählt hat.“

Fukuzawa nickte. „Dann sage uns bitte Bescheid, sobald du mehr weißt.“

„Ah!“ Atsushi hatte plötzlich eine Eingebung und wandte sich aufgeregt an Joyce. „Vielleicht wurde Wildes Name aus der Akte entfernt, weil er doch nichts mit dieser Truppe zu tun hatte und unschuldig war!“

„Tut mir leid“, bremste Kunikida seinen Enthusiasmus sogleich, „dann gäbe es dazu einen Vermerk. Eine Schwärzung heißt, dass jemand irgendwie Einfluss auf diese Akte genommen hat.“

Atsushis Schultern sackten niedergeschlagen herab. „Oh.“

Sacht schüttelte Joyce den Kopf. „Trotzdem danke für den Versuch, Junge.“

„Ich sagte doch, das wird unschön.“ Dazai zuckte mit den Achseln. „Apropos“, er wandte sich dem Chef zu, „weswegen war Mansfield in Wahrheit hier?“

Dem Angesprochenen entglitten für den Bruchteil einer Sekunde die Gesichtszüge. „Du weißt es?“

Dazai lächelte süffisant. „Nicht im Detail. Sie sagten, dass sie einen Deal mit Ihnen hatte machen wollen. Sie will also irgendetwas - oder eher: irgendjemanden, nicht wahr?“

Atsushi wurde hellhörig. „Die Fähigkeit sprach doch davon, dass sie einen von uns brauchen.“

„Ja, das auch, aber Eliza und Shaw wollen Ranpo, Mansfield allerdings verfolgt andere Pläne, sonst wäre sie nicht hier aufgetaucht“, gab Dazai zurück.

„R-ranpo?“ Der junge Detektiv blickte erschrocken zu dem Erwähnten, der daraufhin nur grummelte.

Kunikida, der genauso entsetzt zu ihm starrte, begriff es zügiger. „Um das Rätsel aus dem Brief zu lösen.“

Ranpo machte ein langes Gesicht. „In diesem Fall wäre es mir lieber, mein guter Ruf würde mir nicht vorauseilen.“

„Chef?“, forderte Dazai seinen Vorgesetzten erneut auf.

„Sie sucht den Mörder ihrer Eltern“, antwortete Fukuzawa widerwillig. „Und ihren verschwundenen Bruder.“

„Ah~, ich verstehe.“ Dazais Lächeln fror für eine Sekunde ein und wurde dann schlagartig gekünstelter. „Chef, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen: Sie sind nicht gut darin, aus Fehlern zu lernen.“

„Ich bin mir keines Fehlers bewusst“, erwiderte Fukuzawa trocken.

Bei den anderen (mit Ausnahme von Ranpo) hatten sich, während sie der Unterhaltung gelauscht hatten, mehr und mehr Fragezeichen über ihren Köpfen gebildet. Ohne dass er es sich erklären konnte, ergriff ein kaltes Gefühl Besitz von Atsushi. Wie ein Schauer, der aus seinem Inneren kam. Was hatte das zu bedeuten? Nervös legte er eine Hand auf sein plötzlich rasendes Herz. Warum sah Kyoka nun mit aufgerissenen Augen zu Dazai? Was beunruhigte sie? Auch Joyce sah aus dem Augenwinkel zu Dazai und schüttelte dabei angewidert den Kopf. Letztlich bemerkte er, wie Kunikidas Miene allmählich zornig wurde.

„Warst du es?“, fragte der Idealist in Dazais Richtung.

War er … was?

„Keine Ahnung. Gut möglich. Wenn Mansfield meinen Kopf will, wird sie wohl Beweise dafür haben.“

Beweise? Wofür?

Atsushis Augen verrieten seine innere Unruhe, deren Grund er selbst nicht wahrhaben wollte.

„Deswegen hat Shaw sie für seine Sache gewinnen können?“ Dazai wandte sich wieder an Fukuzawa.

„So hat sie es dargestellt.“

„Ha“, der Brünette lachte, ohne dass es wie ein Lachen klang. „Das ist interessant.“

Darüber reden wir später.“ Kunikida löste seinen erbosten Blick von seinem Partner und richtete das Wort an den Chef. „Wir sollten zuerst Shaw finden, damit Eliza uns nicht mehr gefährlich werden kann.“

Obwohl Atsushi genauso sehr wusste, dass dies Priorität hatte, konnte er nicht anders als unverhohlen zu Dazai zu blicken. Sein Mentor schaute zu den anderen, doch Atsushi hatte das Gefühl, dass er vielmehr durch sie hindurch sah. Sein krampfhaftes Lächeln wich langsam einer ausdruckslosen Miene und erneut ergriff ein Gefühl von Angst und böser Vorahnung Besitz von dem Jungen. Die Situation glich erschreckend genau dem Vorfall damals, als Barrie und Huxley hinter Dazai her gewesen waren und das Detektivbüro erst in Frieden hatten lassen wollten, wenn sie ihnen Dazai ausgeliefert hätten. Würde Mansfield sie auch angreifen? Sie machte gemeinsame Sache mit Shaw, nur um sich an Dazai rächen zu können?

Atsushis Magen drehte sich.

Alles Leugnen half nichts mehr.

Und doch wollte er nicht akzeptieren, dass sein Mentor auch diese Leute ermordet hatte. Atsushi kam sich erbärmlich vor. Fiel es ihm etwa immer noch schwer zu akzeptieren, dass sich die Vergangenheit nicht ändern ließ? Er stockte bei diesem Gedanken. Nein. Das war gar nicht das Problem. Das Problem war, dass er sich in dieser Situation so hilflos vorkam. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte, um den jetzigen Dazai und all seine Kollegen vor den Konsequenzen des Taten des früheren Dazais zu schützen.

Er schreckte zusammen, als Dazais Blick seinen eigenen traf. Seine Miene war zunächst fragend, ehe ein weitaus weniger gezwungenes Lächeln sich auf dem Gesicht des Brünetten bildete – beinahe, als wollte er sagen: Mach dir keine Sorgen, Atsushi.

Der Junge nickte und ballte unter seinem Tisch seine Hände zu Fäusten. Er hatte Dazai so viel zu verdanken und er würde noch sehr lange brauchen, um ihm auch nur einen Bruchteil von dem zurückzuzahlen, was der Ältere ihm gegeben hatte. Atsushi drängte die Erinnerung an das, was er damals in dem Garten des verfallenen Anwesens der Familie Barrie hatte mitansehen müssen, mit schierer Willenskraft zurück. Dieses Mal würde es anders laufen. Dieses Mal würde es nicht so weit kommen.

Inmitten seines Schwurs und der Strategiebesprechung der anderen zuckte Ranpo kaum merklich zusammen.

„Na endlich!“, plärrte er die Eingangstür an. „Wieso hat das denn so lange gedauert?!“

Verdattert guckten alle zur Tür, die sich vorsichtig öffnete und durch die jemand hineinkam. Jemand mit einem Waschbären auf der Schulter.

„Entschuldige, Ranpo“, trat Poe scheu ein, „es war nicht so leicht, dem Museum zu erklären, was ich von ihnen wollte und deine Nachricht war ja auch recht knapp formuliert gewesen.“

„Ja ja“, Ranpo winkte ihn ungeduldig heran, „ich hoffe sehr, du enttäuschst mich nicht.“

„Ich darf doch sehr bitten“, gab Poe umgehend in seinem Stolz gekränkt zurück. „Was denkst du denn von mir?“

„Du hast Poe um Hilfe gebeten?“ Fukuzawas Tonfall verriet, dass er nicht glücklich mit Ranpos eigenmächtiger Aktion war. Sie durften nicht noch mehr Menschen in diese Sache hineinziehen und damit in Gefahr bringen.

„Die verrückte Fähigkeit würde uns auflauern, sobald wir eine Spur verfolgen“, erwiderte der Meisterdetektiv, „aber sie interessiert sich mit Sicherheit nicht für unseren amerikanischen Freund hier.“

Bei den Worten des Schwarzhaarigen stand Poe plötzlich ein wenig aufrechter und begann, glückselig zu grinsen – bis Ranpo nüchtern hinzufügte:

„Was mehr als verständlich ist.“

„Ist das ein Mitarbeiter der Detektei?“, fragte Joyce Kunikida und dieser überlegte kurz, bis er den Kopf schüttelte.

„Es ist schwer zu erklären, was er ist.“

„Also, Assistent!“, ergriff Ranpo energisch das Wort. „Was hast du herausgefunden?“

„A-assistent?“ Poe blinzelte mit seinem sichtbaren Auge Ranpo kurz überrumpelt an (und die anderen hätten schwören können, dass Karl der Waschbär mit den Schultern gezuckt hatte), bevor er einen Notizblock aufschlug und daraus vorlas. „Meine Recherche hat ergeben, dass die Plakate, die letztes Jahr an der besagten Stelle aufgehangen waren, eine Ausstellung über Werke zu einem alten Bühnenstück bewarben. Eine tragische Liebesgeschichte, um genau zu sein.“ Als er wieder hochblickte, konnte man ihm ansehen, dass er hoffte, für seine Ergebnisse eine positive Rückmeldung von Ranpo zu erhalten, doch dieser verzog schmollend den Mund.

„Eine tragische Liebesgeschichte? Mehr hast du nicht?“

„Äh, na ja, der Kurator sagte mir noch, dass dieses Stück bis vor einigen Jahren zum regulären Spielplan eines Theaters in der Stadt gehört hatte, aber jetzt schon seit längerer Zeit ausgesetzt würde.“

„Weswegen?“

„Das konnte er mir nicht sagen.“

„Hm.“ Ranpo kreuzte nachdenklich die Arme vor der Brust.

„Tut mir leid, Ranpo“, entschuldigte Poe sich, „hilft dir das nicht weiter?“

„Shht! Ich denke nach!“

Die Augen der anderen klebten förmlich auf der grübelnden Gestalt des Meisterdetektivs … dessen grüne Augen plötzlich aufleuchteten.

„Chef, ich würde mir gerne dieses Theater ansehen und Atsushi und Kyoka mitnehmen. Wenn die durchgeknallte Fähigkeit auftaucht, kann ich sie vielleicht davon überzeugen, dass ich die beiden brauche, um das fehlende Teil zu finden. Der Rest sollte sich ebenso in Bewegung setzen und vortäuschen, dieses Ding zu suchen. Eliza ist zwar stark, aber sie scheint nicht unbedingt die hellste Kerze auf der Torte zu sein.“

Fukuzawa wirkte nicht allzu erfreut über diesen Plan. „Sobald du tatsächlich etwas findest, bist auch du wahrscheinlich nicht mehr vor ihr sicher.“

Ranpo stand auf und setzte sich seine Mütze auf. „Das ist mir bewusst. Aber ...“ Sein Blick wurde ungewohnt ernst und bitter. „Aber das ist das einzige, was ich tun kann. Deswegen frage ich Sie auch nicht um Erlaubnis, ich setze Sie nur in Kenntnis. Bevor noch jemand verletzt oder sogar getötet wird, müssen wir Shaw finden und aufhalten.“

Fukuzawa atmete kurz durch. „In Ordnung. Wenn du einen Plan hast, Ranpo, dann werden wir dir vertrauen.“

Ranpo stutzte verwundert, dann lächelte er flüchtig, ehe … seine sauertöpfische Miene zurückkehrte. „Ich gebe euch natürlich noch die Details meines Plans durch, aber ich bin mir nicht sicher, was das angeht, das er vorhat.“

Er?

Die Detektive blinzelten sich untereinander an, bevor Atsushi instinktiv zu der Stelle schaute, an der Dazai bis eben gestanden hatte.

Dazai war auf und davon.

 

„CHUU~YA~!“

„WAS ZUR HÖLLE?!“

Der Mond schien strahlend hell vom Nachthimmel über den alten Lagerhäusern in diesem abgelegenen Teil der Speicherstadt auf die zwei Männer, die sich hier fernab des Hafens alles andere als zufällig begegnet waren. Das war Chuuya Nakahara umgehend klar und umso mehr brachte es sein Blut zum Kochen. Das konnte nichts Gutes zu bedeuten haben, dass er ausgerechnet hier und jetzt der schlimmsten Person über den Weg lief, der man nur über den Weg laufen konnte.

„Was willst du, Dazai?“

„Du klingst aber feindselig für jemanden, der gerade einem teuren, alten Freund begegnet.“

„WO SOLL SO JEMAND SEIN?! ICH SEH HIER NUR EINEN NERVTÖTENDEN, GESTÖRTEN SPINNER, DER TODESSEHNSUCHT HAT!!“

„Ha ha“, Dazai hatte den Nerv, über das ganze Gesicht zu grinsen, „du bist witzig wie eh und je, Chuuya.“

Das hatte keinen Sinn. Er konnte ihn anschreien, so viel er wollte. Bei dem Wirrkopf ging sowieso alles zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Und dazwischen passierten die Schreie eine gähnende Leere.

„Hast du nichts Besseres zu tun?“ Chuuya senkte seine Stimme, aber blickte nach wie vor vollkommen entnervt drein. „Ich habe gehört, ihr hattet heute ziemlich viel Ärger im Paradies.“

„Hm?“ Dazai gab sich völlig gleichgültig. „Oh, ja, das. Sehr unerfreulich. Es überrascht mich nicht, dass die Hafen-Mafia mal wieder ganz im Bilde ist.“

Der kleinere der beiden Männer lächelte überheblich. „Dem Boss ist es lieber, stets zu wissen, was unsere Todfeinde so machen.“

„Apropos“, flötete der Braunschopf nun enthusiastisch, „weiß Mori denn schon, wer letztens seine Leute am Hafen in die Luft gejagt hat?“

Chuuyas Lächeln gefror augenblicklich und ein heftiges Stirnrunzeln trat an seine Stelle. „Woher weißt du nun schon wieder davon?“

Ein arrogantes und boshaftes Grinsen formte sich auf Dazais Gesicht. „Deswegen bist du doch hier, nicht wahr? Und Akutagawa streunt ein paar Straßen weiter herum. Man muss euch schon lassen, dass ihr gut darin seid, eure Feinde aufzuspüren, aber … wir waren ein bisschen schneller.“

„Häh?“

„Eine übernatürliche junge Dame namens Eliza möchte Mori ans Leder.“ Dazai nahm eine seiner Hände aus seinen Manteltaschen und deutete mit ihr das Aufschlitzen seines Halses an. „Ihr seid doch auf der Suche nach ihr und ihrem Anwender. Frag Mori doch einmal nach einem alten Weggefährten, der auf den Namen 'Shaw' hört. Ich bin mir sicher, seine Reaktion wird höchst amüsant ausfallen.“

Skeptisch hob Chuuya eine Augenbraue. „Warte, was ist los? Eine übernatürliche junge Dame? Und wer will Mori ans Leder?“

„Du musst besser aufpassen, Chuuya“, tadelte Dazai ihn. „Kein Wunder, dass du in deiner Klasse nicht der Primus bist.“

„WIESO BIN ICH PLÖTZLICH EIN SCHULJUNGE?!“ Der Rothaarige schnaufte durch. Ganz ruhig. Er musste ruhig bleiben, sonst würde er nur wieder zum Spielball für die Launen dieses Verrückten werden. „Warum willst ausgerechnet du Mori warnen?“

„Huh?“ Sein Gegenüber lachte laut. „Warnen? Oh nein, nein, das verstehst du ganz falsch.“ Mit einem Mal schimmerte deutlicher Wahnsinn auf Dazais Miene durch. „Ich will, dass du ihn auf einen grausamen Tod vorbereitest. Denn genau den wird er sterben.“

Achtsam machte der Mafioso einen Schritt zurück. Von seinem ehemaligen Partner ging plötzlich eine Kälte aus, die selbst ihm zu unheimlich war. „Du weißt selbst, dass man den Boss der Hafen-Mafia nicht so einfach töten kann.“

„Mit ein bisschen Hilfe würde die gute Eliza das bestimmt schaffen.“ Dazai klang, als würde ihn allein der Gedanke an Moris Ableben berauschen. „Und ich würde ihr zu gerne dabei helfen. Das ist eine Chance, die ich so wahrscheinlich nur ein einziges Mal bekommen werde.“

„Drehst du jetzt endgültig durch?“

Dazai grinste befremdlich. „Vielleicht. Wer kann das schon so genau sagen?“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Freunde aus der Detektei damit einverstanden sind.“

„Die müssen nicht über alles, was ich tue, Bescheid wissen. Nein, es ist sogar besser, wenn sie nicht alles wissen. Der Chef würde es nicht gutheißen, wenn er wüsste, dass ich davon träume, Mori die Eingeweide einzeln herrauszureißen.“

Beunruhigt und doch um Ruhe bemüht, schüttelte Chuuya den Kopf. „Ich dachte, du wärst an dem Gleichgewicht in der Stadt interessiert. Wenn Mori sterben sollte, ist niemand mehr da, der die Hafen-Mafia vor dem Zusammenbruch bewahrt. Hast du daran etwa nicht gedacht?“ Es trieb ihm tiefe Sorgenfalten ins Gesicht, als Dazais Mimik jäh berechnend und eiskalt wurde.

„Niemand mehr? So einen kleinen Familienbetrieb wie die Hafen-Mafia könnte ich ohne Probleme nebenbei führen. Findest du nicht auch, dass ich praktisch dafür geboren bin?“

„Du bist endgültig durchgedreht.“

„Keine Sorge, ich würde dich nicht feuern“, schwadronierte Dazai unbeeindruckt weiter, „du wirst mein Assistent. Ja, das klingt gut. Assistent Chuuya Nakahara. Wenn du dir Mühe gibst, kannst du vielleicht zum leitenden Assistenten aufsteigen.“

Chuuya starrte ihn einfach nur noch mit ungläubiger und fast entsetzter Miene an. Es war lange her, seit er Dazai das letzte Mal so wirr hatte reden hören. War noch etwas in dem dämlichen Detektivbüro vorgefallen, das dazu geführt hatte, dass Dazai geistig so abdriftete? Wussten die anderen Detektive, dass er hier herumlief und davon fantasierte Mori zu töten?

Irgendetwas sagte ihm, dass das unwahrscheinlich war.

„Wie wäre es, wenn ich dich hier und jetzt töte, damit du deine Träume von der Übernahme der Hafen-Mafia begraben kannst?“

„Das wäre dumm, Chuuya, äußerst dumm.“ Ein finsteres Grinsen huschte erneut über Dazais Gesicht. „Denn die gute Eliza ist ja immer noch da. Und Mori hat irgendetwas getan, was sie sehr verstimmt hat. An deiner Stelle würde ich loslaufen und ihn tatsächlich warnen. Er sollte sich ganz schnell in irgendein dunkles Loch verkriechen, sonst war es das für ihn.“

Der Mafioso knarzte mit den Zähnen. Es stimmte, dass Mori seit dem Auftauchen der Unbekannten seltsam nervös wirkte. Als würde er in der Tat fürchten, dass sie hinter ihm her waren. Und wenn es der Wahrheit entsprach, dass die Frau von dem Vorfall am Hafen eine übernatürliche Fähigkeit war, dann würde das nicht nur viel erklären, sondern auch weitaus größere Probleme nach sich ziehen. Er hatte keine Erklärung für Dazais widersprüchliches Verhalten, aber vielleicht war das nun gar nicht so wichtig. Vielleicht war es wirklich wichtiger Mori zu warnen.

„Mistkerl“, zischte Chuuya, bevor er losrannte und im Laufen sein Handy herausholte.

Mit einem ominösen Lächeln im Gesicht sah Dazai ihm hinterher – und verzog auch keine Miene, als er hinter sich plötzlich einen eiskalten Hauch spürte.

„Willst du Mori auch töten?“, ertönte Elizas Stimme zögerlich.

Der Detektiv drehte sich zu ihr um und erblickte sie zum ersten Mal persönlich. Was er sah, unterschied sich von den Beschreibungen, die Joyce und Ranpo ihm gegeben hatten. Keine edle Dame stand dort, sondern eine junge Frau mit matten Haaren und abgetragener, teils unsauberer Kleidung. Trotzdem gab es keinen Zweifel, dass sie es war.

„Oh ja“, erwiderte Dazai genüsslich, „sehr gerne sogar.“

„Aber du bist einer der Detektive“, wandte sie ein und Dazai war überrascht, wie friedlich sie wirkte und klang. Ganz anders als die Furie, die er über das Telefon gehört hatte.

„Ich bin sehr viel.“

Man konnte ihr ansehen, dass sie mit dieser Aussage überfordert war. Merklich mit sich hadernd, beäugte sie ihn und kaute auf ihrer Lippe herum.

„Darf ich dich etwas fragen?“, fuhr er höflich fort und verwirrte sie damit noch mehr.

„Was?“

„Warum hast du uns schon mehrmals angegriffen, aber Mori noch gar nicht?“

Eliza blickte beschämt zur Seite. „Weil das nicht so einfach geht.“

„Woran hakt es denn?“

„Ich weiß nicht, wie er aussieht und George kann sich nicht an sein Gesicht erinnern.“ Sie klang beinahe traurig, als sie dies sagte.

„Ah, ich verstehe. Du musst also wissen, wie jemand aussieht, damit du vor dieser Person erscheinen kannst?“

Die Fähigkeit verschränkte bockig ihre Arme vor der Brust. „Dazu sage ich nichts.“

„Eine so hübsche junge Dame würde ich auch zu nichts zwingen.“ Dazais Lächeln war gänzlich unlesbar geworden. „Auch wenn es mich interessieren würde, woher sie mich und die anderen Detektive überhaupt kennt.“

„Von den Infos“, gab sie knapp zurück.

Dazai ließ ein paar Sekunden verstreichen, ehe er weitersprach: „Ich weiß, wie Mori aussieht.“

Eliza riss hoffnungsvoll ihre Augen auf. „Wie? Wie sieht er aus??“

„Das verrate ich dir, wenn du mich mit Shaw reden lässt.“

„Ist das eine Falle?“

„Wo denkst du hin?“ Dazai legte den Kopf in den Nacken und sah mit verträumten Blick in den Nachthimmel hinauf. „Es ist ein Deal. Lebend bin ich euch nämlich viel nützlicher als tot. Sag ihm einfach, dass ich mich sehr für diese Erfindung von Hallward interessiere.“

Die übernatürliche Frau musterte ihn noch einen Moment lang grübelnd, bevor sie ins Nichts verschwand.

 

„Wieso … wieso ist er weg? Wo ist er hin??“ Atsushi war aufgesprungen und wie getrieben bis in den Flur gelaufen. Doch Dazai war längst über alle Berge.

„Dieser Idiot muss sich rausgeschlichen haben, während wir Ranpo zugehört haben“, hörte er Kunikida zähneknirschend sagen, als er wieder hereinkam.

„Verfolgt er einen eigenen Plan?“, fragte Joyce deutlich sorgenvoll „So wie damals? Als er auch alleine losgezogen ist?“

„Es ist bei ihm niemals so leicht zu sagen, was in seinem Kopf vorgeht“, entgegnete Kunikida erbost.

„Das ist unsinnig.“ Joyce schüttelte den Kopf. „Wenn er wirklich so klug wäre, müsste ihm doch klar sein, dass es schlauer wäre, Herrn Edogawas Plan zu verfolgen und nicht irgendwelche Alleingänge zu starten. Außer ...“ Er atmete aus. „Außer es geht ihm um diese Sache mit Mansfield.“

Atsushi zuckte zusammen, als er dies hörte und während er Dazais Nummer auf seinem Handy wählte. Wie wollte sein Mentor die Angelegenheit mit Mansfield klären? Sie war offensichtlich davon besessen, Rache für ihre getötete Familie zu nehmen; er würde sie bestimmt nicht dazu überreden können, davon abzulassen. Atsushi schluckte. Würde Dazai sich ihr ausliefern? Oder würde er auch Mansfield … nein. Oder? Nein. Aber …. Der Junge wusste nicht mehr, was er denken sollte. Zu allem Überfluss fischte Kyoka Dazais klingelndes Handy aus einem der Papierkörbe.

„Er will nicht, dass wir ihn finden.“

„Mist!“, entfuhr es Atsushi wütend.

Ja, das war das einzige, dessen er sich noch sicher war. Er war sauer auf Dazai. Stinksauer. Und damit war er nicht allein.

„Wir haben keine Zeit für ihn“, warf Kunikida mit einem gleichermaßen enttäuschten wie zornigen Unterton ein. „Inzwischen ist es mir egal, was er tut oder getan hat oder noch tun wird. Wenn er jetzt eine falsche Entscheidung trifft, werden wir ihm nicht mehr helfen. Wir haben genug eigene Probleme.“

Kunikidas harte Worte überraschten Atsushi dann doch. Er sprach ja fast so, als würde er Dazai nicht mehr als einen Teil der Detektei betrachten.

Fukuzawa war derweil in sich gegangen. Er hatte mit dem gleichen Entsetzen wie die anderen Dazais Fehlen bemerkt und musste sich nun zusammennehmen, nicht lauthals über sein Sorgenkind zu schimpfen.

Es war nicht einmal mehr wichtig, welchen Plan Dazai wohl verfolgte. Warum konnte er ihnen seine Überlegungen nicht mitteilen? Verheimlichte er noch mehr? Verfolgte er etwas ganz anderes?

Wie auch immer es war, eins stand fest:

Dazai war zu weit gegangen.

„Wir halten uns an Ranpos Plan“, verkündete der Chef mit fester Stimme. „Teilen wir uns auf.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Atsushi macht hier eine Anspielung auf die Light Novel „55 Minutes.“
Ich bin so froh, dass ich endlich mal Poe unterkriegen konnte! Ich mag ihn so sehr! Und ich vermute, der ein oder andere freut sich über das Auftauchen eines gewissen Hut tragenden Mafiosos. Wieso nur macht es so viel Spaß, Chuuya zu ärgern? Das nächste Mal gibt es wieder eine Rückblende – und vielleicht habt ihr schon eine Ahnung, wer da im Mittelpunkt stehen wird. Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück