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Never let me go

von

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More than just a leitmotif – More chaotic, no relief

More than just a leitmotif

More chaotic, no relief“

 

Placebo, „Special K“

 

„Das Büro der besoffenen Detektive.“

„GANZ SICHER NICHT!“

Der entrüstete Ausruf hallte aus der ehemaligen Apotheke, in der sich die beiden diskutierenden Männer befanden, weit hinaus über das dichte Blattwerk des idyllischen Merrion Square Parks und, in die andere Richtung, weit, weit über die altehrwürdigen Mauern des Trinity Colleges bis hin zu den sehr stattlichen Überresten der hiesigen Burg in weiterer Entfernung.

Die alte Apotheke mit ihrer weißen Fassade und ihren großen Fenstern war erst seit kurzem von den beiden stark unterschiedlichen Männern gepachtet worden. Sie hatten viel damit vor - und bisher hatte noch nichts so wirklich reibungslos funktioniert. Dabei wussten die beiden Männer genau, was ihnen vorschwebte, denn sie hatten im fernen Japan eine Firma kennengelernt, nach der sie ihre nun modellieren wollten. In der Theorie hatte dies alles ganz einfach geklungen. Sie hatten sich direkt nach ihrer Rückkehr aus Japan tatenfroh in die Arbeit gestürzt; nur um festzustellen, dass keiner von ihnen ein Händchen für bürokratische Aufgaben hatte.

Tatsächlich war einer von beiden vom bloßen Wort „Bürokratie“ so angewidert, dass er seinem Gefährten alle administrativen Tätigkeiten überlassen hatte – was nicht die klügste Entscheidung gewesen war.

Denn – so hatte der grundsätzlich vor sämtlichen Verwaltungsaufgaben flüchtende Oscar Wilde es zähneknirschend erfahren müssen – obwohl sein Kompagnon so akribisch und beflissen war … James Joyce war eine Katastrophe, wenn es um das Beschaffen und Ausfüllen wichtiger Dokumente ging. Der sonst überkorrekte Ire mit den kurzen, sandig blonden Haaren und der (nicht selten vor Wut beschlagenden) Brille wurde regelmäßig zum nervösen Wrack, wenn sie zum Amt für übernatürliche Fähigkeiten in Dublin trabten. Wilde fand das irgendwie süß – und sah trotzdem nicht ein, dass er dem spürbar überforderten Freund die lästige Arbeit abnehmen sollte. Er hatte dabei natürlich nur das Beste für seinen langjährigen Kollegen im Sinn: Joyce musste lernen, mit allen Schwierigkeiten selbst fertig zu werden und dabei die Ruhe zu behalten. Zum Glück schaffte Wilde es jedes Mal, wenn Joyce auf dem Amt einen Tobsuchtsanfall bekommen hatte, die zuständigen Beamten wieder zu besänftigen und einzulullen, so dass sie ständig Aufschub für viel zu schnell nahende Fristen gewährt bekamen.

Die Eröffnung ihrer eigenen Firma nach dem Vorbild dieser gewissen japanischen Firma hatte sich so immer und immer weiter verzögert. Himmel, hätte er gewusst, was da alles auf sie zukäme, hätte er es sich vielleicht anders überlegt … nein. Hätte er nicht. Wilde musste innerlich gequält lächeln, wenn er daran dachte. Dies war seine Berufung. Dies war das, wonach er so lange gesucht und sich gesehnt hatte. Dies war die Wiedergutmachung für alle Sünden, die er je begangen hatte.

Die Eröffnung eines eigenen Detektivbüros.

Und endlich waren sie in den Besitz einer eigenen Befähigtenlizenz gekommen. Nun hatten sie die Räumlichkeiten, die Lizenz und einen Eröffnungstermin, es fehlte nur noch der Name für ihre Detektei.

„Was ist falsch an dem Namen?“ Wilde grinste vergnügt, obwohl sein letzter Vorschlag so lautstark abgelehnt worden war. „Ich finde, der hat etwas. Er bleibt auf jeden Fall im Kopf.“

„Ja, aber nur so lange, bis wir wegen des bescheuerten Namens pleite gehen“, konterte Joyce umgehend.

„Aw, immer so pessimistisch. Wenn du jetzt schon von unserer Pleite sprichst, bringt das bestimmt Unglück.“ Wilde zwirbelte eine seiner langen, braunen Haarsträhnen um einem Finger „Bitte, ich bin offen für Gegenvorschläge.“

„Ein Gegenvorschlag?“ Joyce räusperte sich und kreuzte die Arme vor der karierten Anzugweste, die er seit neustem immer trug. Er hatte sie äußerst modisch gefunden; bis ein gewisser Wirrkopf sie mit verschmitztem Lächeln und deutlich sichtbarem Augenzwinkern „adrett“ genannt hatte. Adrett! ADRETT! Gut, vielleicht hatte er selbst ein bisschen weniger modisches Gespür als der feine Herr Wilde, der sich vermutlich im Dunkeln anziehen konnte und dennoch aussehen würde wie aus einem Hochglanzmodemagazin. Aber er selbst wickelte auch nicht jeden Verkäufer um den Finger, um einen Rabatt zu bekommen. Und er war ganz bestimmt NICHT neidisch, dass dem so war!

„Jimmy?“

Joyce zuckte zusammen, als er angesprochen wurde.

„Hat das einen Grund, dass du mein schickes Seidenhemd so anstarrst und dabei die große Vene auf deiner Stirn hervortritt?“

Er zuckte erneut zusammen. „N-nein.“

„Wenn du meinst.“ Wilde grinste wieder schelmisch. „Und der Name für unsere Detektei? Irgendeine Idee?“

„Selbstverständlich.“ Der Blonde räusperte sich, als sein Gegenüber ihn mit großen, erwartungsvollen Augen anblickte. „Detektur.“

„Häh?“

„Detektur.“

„Häh?“

„DETEKTUR! SPRECH ICH SUAHELI??“

„Ist schwer zu sagen ….“ Wilde legte den Kopf schief. „Was soll eine Detektur sein?“

„Eine Kombination aus 'Detektei' und 'Agentur' natürlich.“

„Natürlich. … Glaubst du, das versteht irgendjemand?“

„Wieso sollte man dies nicht verstehen?“ Von sich sehr überzeugt, schob Joyce seine Brille hoch. „Du wirst schon sehen, sobald wir die ersten Erfolge erzielt haben, wird dieses Wort jedem Kind, jedem Greis und selbst jedem sturzbetrunkenen Pubbesucher ein Begriff sein.“

„Ich hoffe, du beschreibst da nicht unsere zukünftige Klientel.“

„Wer ist jetzt der Pessimist?“

Der Brünette schenkte ihm ein weiteres Schmunzeln. „Immer noch du. Und damit deine Miesmuschel-Vorhersagen nicht Realität werden, lass uns bitte endlich einen Namen finden, um das dämliche Schild draußen beschriften zu können. Ist schon schlimm genug, dass wir unser Büro in einer verlassenen Apotheke einrichten müssen.“

„Beschwer dich noch. Wo sollen wir denn sonst hin?“

„Paris soll wunderschön zu dieser Jahreszeit sein.“

„PARIS IST ZU JEDER JAHRESZEIT

WUNDERSCHÖN! UND ZU JEDER JAHRESZEIT VIEL ZU TEUER!!“

„Awwww ...“ Wilde seufzte herzzerreißend, während sein Kamerad durchatmete.

„Wir hatten noch Glück, dass ich durch gute Beziehungen günstig an diese Immobilie gekommen bin. Unsere Finanzen geben momentan nicht mehr her. Die Lizenz und der gesamte Verwaltungsaufwand haben unserem Geschäftsbudget den Todesstoß verpasst. Sehen wir die Rückkehr in die Heimat als einen Neuanfang auf vertrautem Boden an. Und wir sind dem englischen Sommerregen endlich entkommen.“

„Und was ist mit dem irischen Sommerregen?“

Joyce biss sich auf die Zähne. Er war es gewohnt, dass sein Kollege an seinen Nerven sägte und ihn fast zur Weißglut brachte. Aber nach dem Tod ihres früheren Vorgesetzten (nein, Aldous Huxley war doch viel mehr als das gewesen) und ihres jüngeren Schützlings James Matthew Barrie hatten sie nur noch sich. Sie waren die einzigen, die von der einst so vielversprechenden Organisation übrig geblieben waren.

„Jimmy ...“, drang plötzlich die weitaus sanfter und beinahe traurig klingende Stimme Wildes an seine Ohren. „Wenn du so dreinschaust, dann denkst du an … die beiden, oder?“

Joyce sah mit weit aufgerissenen Augen zu seinem scheinbar alles durchschauenden Freund. Wie machte der Mann das? Wieso wusste er stets, was er dachte?

„Nein. Nein, daran habe ich gar nicht gedacht“, log er im Angesicht von Wildes nun trübsinniger Miene. „Nicht direkt.“

Sein Gefährte blickte ihn mit erhobener Augenbraue argwöhnisch an. „Nicht direkt?“

„Ich … ich dachte an … an das Büro der bewaffneten Detektive. Wie mögen die wohl auf ihren Namen gekommen sein?“

Wildes Miene hellte sich wieder auf. „Ich kann mir vorstellen, dass ihr Chef darauf gekommen ist. Man sieht ihm seinen Intellekt schließlich an. Hach~“, sein Tonfall wurde schwärmerisch. „Was die wohl gerade so treiben? Ob Fukuzawa noch Single ist?“

„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sich die letzte Frage eindeutig bejahen lässt.“ Selbst Joyces strenge Mimik zierte plötzlich ein zartes Schmunzeln, als er an die Mitglieder der Detektei zurückdachte. „Sie sind schon eine … interessante Truppe.“

„Ja, sie sind sehr süß.“

Die lächelnden Mienen der beiden Männer verfinsterten sich gleichzeitig, als sie ebenso gleichzeitig hinzufügten:

„Nur er nicht.“

Sein Name war ein Tabu. Sie sprachen niemals über oder von ihm, sie verboten sich gegenseitig, an ihn zu denken. Es war zu kurz gefasst, ihm die Schuld an dem Verlust der beiden anderen zu geben, aber dennoch war er für sie eine persona non grata. Nein, sie wollten auf keinen Fall je wieder etwas mit Osamu Dazai zu tun haben.

Das Klingeln der Türglocke riss sie aus ihren geteilten Gedanken. Die beiden Männer drehten sich erstaunt zur Eingangstüre um und blickten noch erstaunter drein, als eine hübsche und äußerst gut gekleidete junge Frau das Innere des Geschäfts betrat. Ihre glänzenden dunkelbraunen Haare waren zusammengesteckt und sie trug einen edel aussehenden Hut mit breiter Krempe, der perfekt auf ihr restliches Outfit abgestimmt war. Sichtlich ratlos blieb sie vor den Männern stehen und sah sich blinzelnd im Raum um.

„Verzeihung“, sprach sie mit klarer, heller Stimme und in akzentfreiem Englisch, „ich … ich hatte gehört, hier sollte ein Detektivbüro eröffnen, bin ich da einem Irrtum unterlegen?“

Ihre Verwirrung war mehr als verständlich. Das Innere der ehemaligen Apotheke sah aus wie … eine Apotheke. Sie hatten noch nichts baulich verändern können, denn Handwerker waren teuer und als Joyce Wilde gefragt hatte, ob dieser womöglich handwerkliches Geschick besäße, hatte der Dunkelhaarige einen mehrminütigen Lachanfall gehabt. Er war wortwörtlich Tränen lachend auf dem Boden herumgerollt, worauf Joyce trocken erwidert hatte: „Ein einfaches 'Nein' hätte auch gereicht.“

„Das ist ein Detektivbüro, hübsches Kind“, begrüßte Wilde nun die Besucherin und lehnte sich gegen den Tresen. „Dieser Einrichtungsstil ist im Ausland gerade der letzte Schrei.“

„Ach, so ist das?“ Die Dame blinzelte ihn überrascht an. „Entschuldigung, das habe ich nicht gewusst.“

Joyce schnaubte einmal missbilligend in Wildes Richtung, ehe er sich ihrem Gast zuwandte. „Bitte verzeihen Sie, wir haben noch nicht offiziell eröffnet, aber wir könnten uns durchaus schon eines Falls annehmen, wenn Sie deswegen hier sind.“

Jetzt war es an Wilde, das Verhalten seines Partner zu kommentieren. Amüsiert rollte er mit den Augen. Der Andere hätte genauso gut noch anhängen können: „Bitte seien Sie wegen eines Falls hier! Wir brauchen das Geld! Dringend!“ Aber er wollte nicht widersprechen. Außerdem war es wirklich herzallerliebst, wie er sich in die Arbeit stürzte. Mit Klienten konnte er deutlich besser umgehen als mit Verwaltungsbeamten.

„Ah, was für ein Glück, dann hatte ich das doch korrekt gehört.“ Die Besucherin atmete hörbar aus und lächelte. „Ich habe in der Tat einen Fall für Sie.“

Die beiden Männer tauschten einen schnellen, freudigen Blick aus. Sie hatten noch nicht offiziell eröffnet und trotzdem wehte die Mundpropaganda bereits die ersten Kunden in den Laden? Das lief ja viel, viel besser als erwartet! Joyce beeilte sich, der Frau einen Stuhl hinzustellen, auf den sie sich umgehend setzte.

„Wie können wir Ihnen helfen?“, fragte Wilde und versuchte, seine Vorfreude zu unterdrücken. Vielleicht war die Dame wegen irgendeines dramatischen Falls hier und da wäre es unangebracht, allzu euphorisch zu wirken.

„Ein Freund von mir ist verschwunden“, begann sie mit bedrückter Stimme. „Eigentlich komme ich aus einem kleinen Ort in England und kenne ihn daher, doch er hat ganz überstürzt das Land verlassen und ich kann ihn seitdem nicht mehr erreichen.“

„Und Sie glauben, dass er nach Dublin gekommen ist?“, hakte Joyce nach.

Sie nickte. „Er hat dies angedeutet, daher nehme ich stark an, dass er zurück in seine Heimat ist.“

„Er ist also Ire.“ Wilde legte eine Hand an sein Kinn. „Wissen Sie, ob er in irgendwelchen Schwierigkeiten steckt?“

Erneut nickte sie. „Mir sind die Details unbekannt, doch er wirkte, als würde er plötzlich um sein Leben bangen, als hätte er eine unheilvolle Nachricht bekommen.“

Abermals tauschten die beiden Männer einen Blick aus. Dieser jedoch sagte: Oh Gott, muss es gleich so ein Fall sein?

„Hat er vielleicht tatsächlich eine Nachricht bekommen?“, fragte Wilde und die Frau legte nachdenklich den Kopf schief.

„Wie ich sagte, die Details sind mir nicht bekannt. Aber als er voller Panik zu mir kam, hielt er einen Brief in der Hand. Nur den Inhalt kenne ich nicht.“ Ihr Blick wurde noch gedankenversunkener. „Er ist mir ein lieber Freund, doch über seine Vergangenheit weiß ich kaum etwas. Er erwähnte einmal, dass er früher mit zwielichtigen Personen zu tun gehabt hatte und dass seine Vergangenheit ihn vielleicht eines Tages einholen könnte …. Oh bitte!“, flehte sie mit einem Mal, „Bitte finden Sie ihn! Es wäre schrecklich, wenn ihm etwas zustoßen sollte!“

„Nun ...“, entgegnete Joyce und sah aus dem Augenwinkel, wie Wilde schulterzuckend nickte und damit seine Zustimmung gab. „Wir brauchen erst einmal ein paar grundlegende Informationen. Wie heißt ihr Freund? Haben Sie ein Foto von ihm?“

„Yay“, entfuhr es der Dame und als wäre sie selbst darüber erschrocken, entgleisten für einen kurzen Moment ihre Gesichtszüge. „Ich meine, j-a, hier ist ein Bild von ihm.“ Sie kramte in ihrer Handtasche und zog ein Foto heraus, dass sie Joyce übergab. Er musterte es auf der Stelle.

Der darauf abgebildete junge Mann war beinahe lächerlich attraktiv. Man konnte gar nicht sagen, was als erstes an ihm ins Auge sprang: Sein gelocktes, goldblondes Haar, die scharlachroten Lippen oder die tiefblauen Augen, in denen man sich verlieren konnte? Gab es wirklich Menschen, die so perfekt aussahen? Bis gerade eben hatte er gedacht, dass der Vermisste sich sicher mit irgendwelchen Kriminellen eingelassen hatte, aber jetzt, wo er das Gesicht dieses Schönlings sah …. Joyce zuckte gedanklich mit den Achseln. Der Kerl konnte trotzdem Dreck am Stecken haben. Sich mental darauf vorbereitend, dass Wilde eine ganze Menge Kommentare zu diesem Adonis vom Stapel lassen würde, hielt er ihm das Foto hin – und wunderte sich mit einem Mal zutiefst. Sein Kamerad zog hörbar die Luft ein und wurde schlagartig leichenblass im Gesicht. Was war denn nun?

„Sein Name ist Dorian Gray“, sagte die Klientin in die aufgekommene Stille hinein und Joyce kam gar nicht dazu, auf ihre Information zu reagieren, denn er konnte sehen, wie Wildes Lippen zu zittern anfingen.

„Tut mir leid“, wandte der Brünette sich hastig und mit bebender Stimme an die Dame, „wir können den Fall nicht übernehmen.“

Übertölpelt und verwirrt blinzelte sie zuerst ihn, dann Joyce an. „Sie können nicht …?“

„Nein, es geht nicht. Es tut mir sehr leid.“ Wilde spürte Joyces Blick auf sich, doch er erwiderte ihn nicht. Die Augen streng an ihm vorbei gerichtet, verließ er eiligen Schrittes den Verkaufsraum und zog sich in das Hinterzimmer zurück.

Verdattert blickten sowohl Joyce als auch die Klientin ihm hinterher.

„Entschuldigung“, bot Ersterer nach einer sprachlosen Weile räuspernd an, „wir … wir müssen noch ein paar Dinge klären, bis wir Ihnen eine Zusage geben können. Kann ich Sie irgendwie erreichen?“

Sie nickte und holte eine Visitenkarte aus ihrer Tasche.

Elizabeth Higgins stand dort geschrieben und darunter war eine Handynummer notiert.

„Ich hoffe sehr, Sie werden mir helfen.“

„Machen Sie sich keine Sorgen, Fräulein Higgins. Ich werde mich bei Ihnen melden.“

Sie verabschiedeten sich und die Frau verließ das improvisierte Detektivbüro. Den Blick auf die Visitenkarte gerichtet, massierte sich Joyce mit einer Hand die Schläfen. Was in aller Welt war in Wilde gefahren? Ein solches Verhalten war mehr als ungewöhnlich für seinen exaltierten Gefährten. Er hatte noch nie jemanden abgewiesen, der ihre Hilfe benötigte. Noch nie. Warum fing er jetzt damit an? Und so plötzlich? Kannte er diesen Gray vielleicht?

Nein.

Oder -

Doch?

Joyce dachte daran, wie ihre Besucherin erzählt hatte, dass sie kaum etwas über die Vergangenheit ihres lieben Freundes wusste. Was wusste er eigentlich über Wildes Vergangen-

„Ich weiß, dass das gerade nicht der beste Start für unser Detektivbüro war“, sagte der wieder aus dem Hinterzimmer gekommene Wilde stimmlos, „aber versprich mir, dass wir diesen Fall nicht annehmen, ja? Bitte, Jimmy, versprich es mir.“

Irritiert wandte Joyce sich zu ihm um. Sein Gegenüber hatte einen Gesichtsausdruck, von dem er sich nicht erinnern konnte, ihn je bei ihm gesehen zu haben. Wilde sah … verängstigt aus. „Warum nicht? Warum sollen wir diesen Fall nicht annehmen?“

Mit einem unguten Gefühl im Magen beobachtete Joyce, wie Wilde wortlos auf ihn zukam. Über die verängstigte Miene des Anderen hatte sich etwas Bedrohliches gelegt.

„Weil ich mich darum kümmern werde. Und dann gibt es keinen Fall.“ Er schritt an ihm vorbei.

„Moment. Was soll das heißen? Was ist hier los? Wo gehst du hin?“

Der Brünette hielt an und drehte sich ihm wieder zu. Ein schwaches, melancholisches Lächeln war auf seinen Lippen. „Du vertraust mir doch, oder, Jimmy?“

Für einige, lange Sekunden starrte Joyce seinen Partner lediglich an. In jeder anderen Situation hätte er ohne zu zögern darauf antworten können, doch was war das nur für ein beklemmendes Gefühl, das sich in seinem ganzen Körper ausbreitete? Ihm wurde richtig übel davon. „Verrätst du mir, was hier los ist, wenn du wiederkommst?“

Wildes Lächeln wurde ein wenig entspannter. „Zumindest die Details. Das große Ganze lasse ich aus.“

Der Blonde grummelte und kreuzte die Arme vor der Brust. „Mach bloß keinen Mist.“

„Ich? Jimmy, ich bitte dich. Du kennst mich doch.“ Wilde warf ihm eine Kusshand zu und trat durch die Tür ins mittlerweile dunkel gewordene Dublin.

Joyce wusste nicht, was er davon halte sollte, dass sich ihm ein unerfreulicher Gedanke aufgedrängt hatte:

Tue ich das wirklich?

 

Die Nacht war angebrochen und Wilde nicht zurückgekommen. Irgendwann hatte Joyce sich erschöpft an ihrem Behelfsschreibtisch, der neben dem Tresen stand, niedergelassen und war über die Vorstellung, dem brünetten Wirrkopf direkt bei seiner Rückkehr den Hals umzudrehen, eingeschlafen. Ein sanftes Rütteln an seiner Schulter weckte ihn. Schläfrig öffnete er die Augen, hob den Kopf und blickte in ein schelmisches Schmunzeln.

„Aww, Jimmy, sag nicht, du hast hier auf mich gewartet?“

Ein zartes, hellrotes Licht drang durch die Fenster. Es musste noch sehr früh am Morgen sein.

„Wo zur Hölle hast du gesteckt?“

Wilde ließ sich ihm gegenüber am Tisch nieder und legte seinen Kopf auf seine aufgestützten Hände ab. „Was für eine unflätige Wortwahl. Verdammt, das gehört sich doch nicht.“ Er lachte und erregte damit nur noch mehr Missmut. „Beruhige dich, Jimmy, die Vene kommt schon wieder heraus. Ich habe alles erledigt. Sag dem schönen Fräulein Higgins, dass sie nachhause fliegen kann.“

Joyce hob zweifelnd eine Augenbraue. „Alles erledigt? Das heißt …?“

„Das heißt das, was es heißt“, antwortete der Andere mit einem ominösen Lächeln im Gesicht. „Sie wird ihn vielleicht nicht so bald wiedersehen, aber es besteht kein Grund, uns zu engagieren.“

„Kannst du eigentlich noch mehr in Rätseln sprechen?“

„Sicher, könnte ich versuchen.“

Ein tiefer, lauter Seufzer hallte durch die alte Apotheke. „Habe ich dir schon einmal gesagt, dass du irgendwann mein Untergang sein wirst?“

„Weiß nicht mehr so genau.“ Wilde lachte erneut und Joyce bildete sich ein, dass es sich wie zuvor auch schrecklich gezwungen anhörte.

„Geht es dir gut?“

Die unerwartete Frage des Blonden erwischte Wilde kalt. Baff sah er ihn für einen Moment lang nur schweigend an, bevor das gekünstelte Lächeln endgültig verschwand und einer sichtbaren Schwermut Platz machte.

„Nein“, antwortete er so ehrlich, dass es fast weh tat. „Aber das Gefühl kenne ich und ich weiß, dass es nach einiger Zeit wieder besser wird.“

Sprachlos starrte Joyce ihn nach dieser Antwort an. Was sollte das bedeuten?

Ein Buch mit sieben Siegeln.

Der Mann war ein Buch mit sieben Siegeln.

„Na schön“, erwiderte Joyce schulterzuckend. „Wenn du doch irgendwann darüber reden willst, würde ich dir mehr als nur ein Ohr leihen.“

„Ah, Jimmy, es ist besser, wenn du manche Dinge nicht weißt.“

„Tolle Grundlage für eine gemeinsame Firmengründung.“ Er schüttelte den Kopf. „Den nächsten Fall nehmen wir aber an, egal, was du sagst. Und außerdem höre auf, mich ständig Jimmy zu ne-“

„POLIZEI! KEINE BEWEGUNG!“

Sein Satz wurde von einem aus dem Nichts heranrückenden Polizeisonderkommando unterbrochen. Ein Blick aus dem Schaufenster verriet ihnen, dass das Gebäude gerade umstellt wurde – von schwerbewaffneten Polizisten, die mit gezogenen Maschinengewehren in den Laden stürmten.

Sprachlos und mit erhobenen Händen starrte Joyce auf die Einsatzkräfte, die plötzlich vor ihnen standen. Das war die spezielle Eingriffstruppe, die für die Verfolgung und Festsetzung von Befähigten zuständig war.

„Das muss ein Missverständnis-“

„Oscar Wilde?“, fiel einer der Polizisten dem blonden Iren erneut barsch ins Wort und richtete seine Waffe auf Wilde. „Sie werden wegen des dringenden Tatverdachts, Dorian Gray ermordet zu haben, verhaftet. Leisten Sie keinen Widerstand, sonst sehen wir uns gezwungen, Gewalt anzuwenden.“

„Was?!“ Joyces Augen schnellten zu seinem Kollegen, der seine Hände nur lasch erhoben hatte. Wilde blickte entgeistert durch den Polizisten hindurch – als hätten ihn gerade sämtliche Lebensgeister verlassen. Seine Lippen zitterten von neuem.

„Dorian ...“, hauchte er so leise, das nur Joyce es hören konnte, „Dorian, du wolltest mir doch keinen Ärger mehr machen …. Vielleicht war es nie möglich zu entkommen. Vielleicht hattest du Recht, Dorian. Vielleicht hattest du dieses eine Mal Recht.“

Wie paralysiert beobachtete Joyce, wie Wilde, die Hände nach wie vor nur lasch gehoben, bedächtig aufstand und er, ein geradezu verzweifeltes, resigniertes Lächeln auf den Lippen, jeglichen Blickkontakt mit ihm vermied.

„Wilde …?“, war alles, was der blonde Ire fassungslos hervorbringen konnte, doch der Angesprochene reagierte nicht darauf. Wortlos ließ er sich von den Polizisten abführen, während Joyce vollkommen entgeistert und hilflos ihm hinterhersah.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Habt ihr die beiden Iren auch vermisst?
Zur Erinnerung: Oscar Wilde (1854-1900): irischer Schriftsteller. Ich gab ihm die Fähigkeit „The Happy Prince“, mit der er durch Selbstverletzung andere heilen kann.
James Joyce (1882-1941): irischer Schriftsteller. Bei mir ist seine Fähigkeit „Clay.“ Dadurch kann er mit Lehm Dinge erschaffen.
Dorian Gray ist der Name des Hauptcharakters aus Wildes Roman „The Picture of Dorian Gray.“ Ich bin bisher noch nicht dort gewesen, aber diese Apotheke gibt es wirklich. Ursprünglich in Joyce' Roman „Ulysses“ erwähnt, beherbergt sie heute ein Joyce Zentrum.
Kann ich euch noch um etwas bitten? Mein Herz hängt an der deutschen Fassung von BSD. Könnt ihr Crunchyroll wissen lassen, dass sie die Serie unbedingt weiter mit der deutschen Synchro veröffentlichen sollen? Es wäre so traurig, wenn es diese Fassung nicht mehr geben würde. Ich bin dankbar für jede Mithilfe. Komplett anzeigen

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