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Rauhnacht

von

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Kapitel I

»Hier, nimm den gleich mit.« Myra drückte ihr etwas in die Hand, als Regina bereits ein Bein aus dem Auto herausgestreckt hatte. Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie den Eiskratzer. Das grelle Neonpink reflektierte das Licht, was die Photonen hergaben, und trug so noch mehr dazu bei, wie Billigplastik auszusehen. Dieses Modell konnte nur frisch aus dem Ein-Euro-Laden stammen, was überhaupt nicht zu Myras Stil oder gar ihrem Hexendasein passte.

Myra lehnte sich über die Mittelkonsole und stupste sie mit ihren Ellbogen an. »Was ist los? Gefällt dir die Farbe nicht? Ich gebe dir auch gern meinen.« Sie hielt ihr ein graues Modell unter die Nase.

Regina drückte das pinke Ungetüm gegen ihre gefütterte Winterjacke. »Oh nein, das ist meiner. Allerdings bin ich schon etwas enttäuscht.«

Myra richtete sich kerzengerade auf. »Was? Wieso?«

»Seit Monaten beobachte ich, wie du nur die feinsten oder handgefertigten Utensilien nutzt und jetzt kommst du tatsächlich mit so einem Plastikteil.«

Myra verdrehte die Augen. »Du nun wieder. Manchmal genügt eben auch etwas Polymer.«

Regina steckte den Eisschaber in ihre Jackentasche. »Wofür brauchen wir die? Du willst mir doch nicht so durch die Blume sagen, dass das Haus nicht isoliert ist, oder?«

»Ich erkläre alles später und jetzt komm, du hast dich auf die Überraschungsfahrt eingelassen. Also lass dich auch überraschen.« Myra grinste sie übertrieben an, stieg aus und trat zum hinteren Ende ihres gelben Käfers. »Komm, wir bringen unsere Sachen erst einmal rein.«

Hinter Regina schnappte der Kofferraum auf, während ihr Blick beim Herrenhof verweilte. Sie parkten in der Mitte des Innenhofs, der sie mit alten Pflastersteinen, restauriertem Fachwerk und bis zu den Dächern reichende, blattlose Weinranken willkommen hieß.

Seltsamerweise konnte Regina noch immer nicht glauben, dass sie sich auf eine solche spontane Aktion eingelassen hatte. Nicht nur, dass Myra Übernatürliches vorhatte, auch würden sie beide Weihnachten bis Neujahr auf einem alten Herrenhof verbringen, der für Gäste nicht einmal geöffnet war. Nun, wenn man einem magischen Zirkel angehörte brachte das so seine Vorteile. Oder wie in Reginas Fall, bedurfte es nur einer guten Freundin, die sich der Hexenkunst verschworen hatte.

»Regina? Hilfst du nun oder nicht?«, rief diese, als der erste Koffer rumpelnd zu Boden ging.

Regina riss sich von dem Anblick los und half, das Gepäck ins Haus zu tragen.

Die Dorfromantik des Innenhofs floss nahtlos in die Zimmer des Haupthauses über. Der große Raum, der sie zuerst begrüßte, besaß neben der Sitzgarnitur und dem etwas moderneren Sitzbereich, der einer Bar recht nahe kam, auch einen dunkelgrünen Kachelofen, der die Dezemberkälte nach draußen verbannte.

»Sehr gut, Jannes hat Wort gehalten.« Myra setzte die Tasche ab und ließ ihren Koffer stehen. Entzückt trat sie zum Ofen und streckte ihre Hände aus, um sie in der Wärme zu baden.

Regina horchte auf. »Jannes?«, fragte sie nur und sah sich langsam weiter um und hoffte, dass Myra ihr ein paar Brotkrumen zuwarf und sie nicht zu sehr im Dunklen tappen ließ.

»Ihm gehört der Hof. Und da er zu Weihnachten zu seinen Eltern fährt, war er ganz glücklich ein paar Haushüter zu finden.«

»Ach, das sind wir also. Und zu unserem Dienst gehört es, die denkmalgeschützten Fenster von Eis und Frost freizukratzen?«, fragte Regina und ließ ihre Finger über das Holz des Tresens tanzen. Den Kerben nach zu urteilen, war es hier schon ordentlich feucht fröhlich zugegangen.

Myra tauchte an ihrer Seite auf. »So in etwa.« Ihre Augen funkelten, was immer ein Zeichen dafür war, dass ihr etwas auf der Zunge brannte.

»Moment, wirklich?« Als ihre Freundin den Mund für vermutlich eine weitere Vertröstung öffnete, hob Regina mahnend den Zeigefinger. »Oh nein, die Taschen können warten, raus mit der Sprache.«

»Okay, okay.« Myra schwang sich auf einen der gepolsterten Hocker mit kleiner Lehne. »Aber im Grunde liegst du nicht falsch. Nur würde ich es weniger als Kratzen bezeichnen. Unsereins nennt es Eisblumen ernten.«

Regina konnte ihr Gegenüber einen langen Moment nur anstarren. Das ›Ist das dein Ernst‹, das ihr trotz der letzten Monate noch immer durch den Verstand fegte, blieb diesmal hinter verschlossenen Lippen. Sie wusste, dass Myra sich hier keinen Spaß erlaubte.

»Aber …« Die hübschen Eismuster, die sich manchmal im Winter an Fenstern bildeten, schwebten vor ihrem inneren Auge. »… wie?«

Myra zuckte mit den Schultern. »Man schabt sie ab und bewahrt sie auf.«

Plötzlich erschien Regina der Billigkratzer noch mehr aus dem Rahmen gefallen. Sie zog das Plastikteil aus der Jackentasche. »Meine Enttäuschung kennt keine Grenzen. Du erzählst mir, wir gehen Eisblumen ernten und nehmen dafür kein … keinen selbst geschnitzten Holzspatel aus, ich weiß nicht …, Eichenholz?«

Myra verzog das Gesicht, bevor sie sich über den Tresen beugte und nach kurzer Suche zwei Gläser und eine Flasche Wasser hervorholte. »Eichenholz? Viel zu bedeutungsschwanger, das würde nur alles verderben.«

»Du weißt was ich meine«, erwiderte Regina.

»Und diesmal habe ich keine zufriedenstellende Antwort, da es hier, so wahr wie ich hier sitze, auch ein simpler Plastikkratzer tut.«

Regina drehte den Eiskratzer in der Hand. »Manchmal ist deine Hexenkunst wirklich ernüchternd.«

»Wenn es dich beruhigt: Dafür ist die morgige Nacht wichtig.«

Was war am 21. Dezember so besonders? «Hilf mir auf die Sprünge, was ist übermorgen?«

»Nur die längste Nacht des Jahres und dank der Wettervorhersage auch eine der kältesten. Mit ein wenig Glück und bis dahin etwas geheizten Zimmern, haben wir eine erntereiche Nacht vor uns.« Myra strahlte sie an, schenkte ihnen aus und schob ihr das Wasserglas zu.

»Huh … weiß denn dein Jannes, was wir hier … ernten?«

Myra schnaufte. »Mein Jannes? Er ist ein Jannes, Freund eines Freundes.«

Reginas Augenbrauen sprangen nach oben. Die Wortwahl war Myras Art, ihr durch die Blume eine Verbindung in besondere Kreise zu verraten. »Ah, also ist er auch ein … Mitglied?«

»Berufsgeheimnis. Aber solltest du dich doch noch entscheiden beizutreten, sind meine Lippen ein offenes Buch!« Myra blinzelte sie mit ihren grünen Augen überschwänglich an und strich mit Schwung den geflochtenen Zopf auf ihren Rücken. Sie wusste bereits, wie Reginas Antwort ausfallen würde.

»Danke, aber nein danke. Mir genügt die Verantwortung ein kleiner Steuerzahler zu sein. Mehr vertragen meine gebeutelten Schultern nicht.«

»Das Angebot bleibt dennoch.«

»Und ich weiß es zu schätzen, wirklich«, sagte Regina und meinte es auch so. Dabei wäre es eine Lüge, zu behaupten, sie würde nicht dann und wann darüber nachdenken, seit Myra ihr dieses Angebot im Frühling gemacht hatte. Der Beitritt in einen Zirkel, der ihr eine neue Welt offenbaren würde. Die Wahrwerdung der eigenen Fantasie in solch einer greifbaren Nähe hätte Regina damals beinahe zustimmen lassen. Doch eine Nacht Schlaf hatte die Angelegenheit in ein anderes Licht gerückt. Solch eine Macht zog ebenso viel Verantwortung nach sich. Und es war diese bestimmte Art Verantwortung, die Regina den Magen umdrehte, wenn sie nur daran dachte, was alles passieren könnte … Ein Riss in eine Zwischenwelt wäre noch ihr geringstes Problem. An derlei wollte sie selbst mit einem zehn Meter Stab nicht rütteln. Tatsächlich genügte es ihr, an den Grenzen dieser anderen Welt zu bleiben und dank Myra ein paar Blicke hinein zu erhaschen, ohne Gefahr zu laufen, in alle nur möglichen, magischen Fettnäpfe zu treten.

»Nun gut. Wie ist also unser Schlachtplan? Da du mir einen Kratzer in die Hand gedrückt hast, nehme ich an, ich darf mitmachen?«

»Ich hatte gehofft, dass ich dich dafür begeistern kann. Es ist nicht viel dabei. Zumal wir sowieso drauf warten müssen, dass überhaupt welche wachsen.«

»Macht es denn einen Unterschied, ob du oder ich die Blumen sammeln?«

»Du meinst wie bei den Keksen?«

Regina summte ein zustimmenden Laut.

»Ich weiß es nicht. In den Schriften gab es keinen Hinweis darauf. Ich werde es erst erfahren, wenn ich die Eisblumen weiterverarbeite oder anwende.«

Regina seufzte. Es wäre wohl zu viel verlangt, wenn ihr Name überall eine Zauberzutat wäre. Wie von allein blubberte die Erinnerung an den letzten Winter nach oben, als sie gemeinsam eine Ladung Kekse backten und ihre Freundin sich ihr anvertraute.

»Backen wir dieses Jahr eigentlich wieder? Also die Erinner-Dein-Kekse?«, fragte Regina, nachdem sie aus ihren Gedanken zurückgefunden hatte.

Als hätte sie Myra bei etwas ertappt, sah diese auf ihre Hände. »Ich war mir nicht sicher, ob du …« Sie schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Ich hab die Zutaten mit, wollte aber nicht einfach annehmen, dass du Lust dazu hast. Es gibt für dich ja nicht viel zu tun.«

Aufregung sammelte sich in Reginas Brust. Sie hatte gehofft, dass sie daraus eine kleine Tradition machen könnten. »Als würde ich mich um klebrige Hände reißen. Mit dem Ausstechen bin ich völlig zufrieden.«

Myras Lächeln steckte an. »Dann können die Rauhnächte ja kommen.«



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  SamAzo
2023-01-05T21:50:03+00:00 05.01.2023 22:50
Da sind sie wieder und ja, ich hätte gerne auch noch so ein paar Plätzchen. *_*

Bin aber auch der Meinung, dass irgendwie die (gefühlte) Magie flöten geht, wenn man das mit so nem läppischen Plastikeiskratzer macht. Mit dem "richtigen" Werkzeug fühlt sich sowas halt auch direkt epischer an.
Mal sehen wie es weiter geht.


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