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Samhain - Der Feind meines Feindes

Magister Magicae 10
von

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Die undefinierbare Ungewissheit

Urnue lag auf seiner Pritsche, die Hände im Genick verschränkt, und starrte zur Decke hinauf. Er war nicht müde. Und selbst wenn er müde gewesen wäre, hätte er nicht schlafen können, das wusste er genau. Es war eine sonderbare, gegenstandslos Sorge, die ihn befallen hatte. Er konnte nichtmal sagen, wovor genau er Angst hatte. Victor wollte zu Vladislav gehen und von Angesicht zu Angesicht alles klären, was er noch klären zu müssen glaubte. Das alleine bereitete Urnue kein Unbehagen. Er traute Victor durchaus zu, da lebend wieder raus zu kommen. Victor war dem Kerl in einfach allem überlegen. Es gab schlicht und ergreifend nichts, was Vladislav ihm hätte entgegensetzen können.

Trotzdem hatte Urnue das unbehagliche Gefühl, dass danach irgendwas nicht mehr so sein würde wie vorher. Victor würde nicht mehr so sein wie vorher. Mit diesem Duell würde eine Ära zu Ende gehen. Ein Lebenswerk. Victor hatte sich immer noch nicht entschieden, ob er nach diesem Tag weiter ehemalige Motus-Mitglieder jagen würde oder nicht. Aber selbst wenn doch - Urnue war sich nicht sicher, was Vladislavs Ende mit Victor machen würde. Wenn Vladislav weg war, kam das einem Zirkelschluss gleich. Dann hatte Victor streng genommen alles erreicht, was er erreichen konnte und wollte. Ob er danach in der Jagd auf andere Motus-Anhänger immer noch Erfüllung finden würde, ob er eine neue Lebensaufgabe finde würde, oder ob das auch Victors eigenes Ende war - und sei es nur sein psychisches Ende - konnte Urnue nicht einschätzen.

Unter´m Strich, so entschied Urnue, hatte er wohl einfach Angst vor der Zukunft. Sorge davor, was kommen mochte.
 

Der Wiesel-Genius wandte fragend den Kopf, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung registrierte.

Victor war im Höhleneingang erschienen und lehnte sich mit der Schulter in den Steinbogen, ein müdes Lächeln auf den Lippen. "Hey. Du kannst auch nicht schlafen, wie ich sehe!?"

"Und selber?", hielt Urnue vielsagend dagegen.

"Ich weiß nicht ...", hauchte Victor ungewohnt besorgt und schaute kurz auf seine Fingernägel, um das zu überspielen. "Irgendwie treibt mich eine innere Unruhe um. Und ich glaub nicht, dass das an diesem Doping-Gebräu liegt, das wir bei Shaban getrunken haben."

"Was macht dir Kopfzerbrechen?"

"Shaban hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht."

Urnue zog verwundert die Stirn kraus. "Der tut uns doch gar nichts mehr. Im Gegenteil, er ist sowas wie unser Verbündeter."

"Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich, wie eine Klinge in deinem Herzen versenkt wird, Urnue."

"Ach herrje~", machte der Wiesel-Tiergeist ungewollt amüsiert und konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. "Wenn das deine ganze Sorge ist, ist ja alles gut. Um mich musst du keine Angst haben. Mach dir lieber Gedanken um dich selber und um Vladislav, hm?"

"Ich weiß ...", seufzte der Russe sentimental. "Trotzdem werde ich dieses Bild einfach nicht mehr los. Es verfolgt mich wie eine Vision."

"Es hat dich offenbar schockiert, dass er mich von der Astralebene zerren konnte. Damit hattest du nicht gerechnet. Sowas hast du vorher noch nie gesehen und wusstest gar nicht, dass das geht. Dieses Erlebnis hat dein Sicherheitsgefühl erschüttert, das ist alles. In ein, zwei Tagen bist du drüber weg. Das wird dir nicht ewig Albträume bereiten, glaub mir."

Victor nickte leicht vor sich hin, wirkte aber immer noch nicht überzeugt. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, er bereue es, sich einen Mitstreiter an Land gezogen zu haben, der ihm tatsächlich etwas bedeutete, und um dessen Sicherheit er besorgt sein musste. Als wäre ihm gerade erst bewusst geworden, dass er nicht mehr nur für sich selber verantwortlich war, und - was noch schlimmer war - als hätte er ein Problem damit.

Mit einem schweren Seufzen raffte sich Urnue von seinem Liegeplatz auf und winkte Victor mit einer fordernden Handbewegung näher. "Leg dich her, komm, ich will dir was zeigen."

"In deinem Bett?", rückversicherte der sich, mehrdeutig grinsend.

"Mach dir keine falschen Hoffnungen. Da wirst du enttäuscht werden", scherzte Urnue ebenso anzüglich zurück.

Der Gestaltwandler löste sich bereitwillig aus dem Eingang und kam ganz in Urnues Zimmer herein. Schwungvoll setzte er sich auf die Bettkante und schaute seinen Kameraden erwartungsvoll an, was der vorhatte.

"Ich sagte, du musst dich hinlegen", erinnerte Urnue ihn belustigt.

"Ernsthaft?"

"Ernsthaft."

Victor seufzte leise. "Von mir aus ..." Hinnehmend warf er sich der Länge nach auf Urnues Pritsche, ohne die Schuhe auszuziehen.

Urnue setzte sich wieder mit zu ihm auf die Bettkante und legte ihm eine Hand auf den Bauch.

"Was soll'n das werden?", verlangte Victor - plötzlich gar nicht mehr so gleichgültig - zu wissen.

"Halt still."

"U.!?"

"Ich muss erstmal die richtige Stelle bei dir finden ..."

Mit einem Schlag spürte Victor sämtliche Anspannung aus seinen Gliedern fahren und auch sein Kopf wurde übergangslos völlig ruhig und schläfrig. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt und ihn zwangsweise tiefenentspannt. Alle Probleme und Ängste waren vorerst vergessen. "Woah ... was war das denn?", murmelte er matt.

"Weiß ich auch nicht so genau. Nyu hat mir das mal gezeigt. Ich denke, es ist eine Art Akupressur."

Victor nickte müde. Ihm fielen langsam die Augen zu.

"Rupperts Sohn Josh hat diese Entspannungstechnik geliebt, wenn er Prüfungsstress hatte. Da konnte er nämlich auch immer nicht schlafen", fuhr Urnue fort und beobachtete noch eine Weile das Gesicht seines Kollegen. "Ich hoffe, jetzt kannst du schlafen", murmelte er leise, als er sicher war, dass Victor endgültig weggedämmert war. Dann stand er vom Bett auf, ließ ihn schlummern, und ging. Er bedauerte es ein wenig, dass solche Techniken bei ihm selbst nicht wirkten. Er hätte auch gern geschlafen. Aber er konnte es halt nicht erzwingen. Vielleicht fand er in Victors Bibliothek noch irgendwas, womit er sich inzwischen die Zeit vertreiben konnte. Russische Bücher zu lesen, war das eine; russische Fachbücher hingegen etwas völlig anderes. Stattdessen begann er schon wieder seinen Sorgen über eine ungewisse Zukunft nachzuhängen, und fragte sich einmal mehr, was er Victor als Alternative vorschlagen könnte. Vielleicht sollten sie weiter Motus-Aktivisten jagen, sie aber lebend der Gerichtsbarkeit überlassen. Damit hätte Urnue auch selber viel besser leben können. Er war nämlich genau so wenig ein Fan von toten Verbrechern wie die FABELS. Und Shaban hatte immerhin nur verlangt, dass es keine Toten mehr gab. Davon, dass Victor ganz aufhören sollte, hatte er nichts gesagt. ... Vielleicht konnte Victor sich künftig auch mehr aufs Unterrichten an der Uni konzentrieren. Man konnte schließlich viel von ihm lernen.
 

Am nächsten Tag standen Victor und Urnue auf dem obersten Deck eines Parkhauses und schauten über die Dächer Moskaus. Sie wirkten beide ein wenig ratlos. "Die Stadt ist so riesig ... Wo willst du bitte mit der Suche anfangen, Dragomir?", fragte Urnue etwas lustlos.

"Ich weiß es noch nicht so richtig. Früher hätte ich ziemlich genau gewusst, an welchen Orten ich Vladislav suchen muss. Aber ein paar Jahre Knast könnten seine Gewohnheiten und Interessen sehr verändert haben."

Beide ließen unschlüssig den Blick über das Häusermeer schweifen. Dann unterbrach plötzlich eine Handymelodie die allgemeine Ideenlosigkeit. Urnue zog sein Telefon aus der Jacke und warf einen Blick darauf. Wie befürchtet handelte es sich um einen Anruf mit unterdrückter Nummer. Auf einen Verdacht hin ging er trotzdem ran. "Ja?", sagte er ins Handy, mehr nicht.

"Urnue? Ich bin´s!", meldete sich eine inzwischen vertraute, dunkle Reibeisen-Stimme.

"Oh. Hi."

"Seid ihr gerade in Moskau?"

"Ja."

"Wenn ihr Vladislav finden wollt, dann schwingt eure Hintern nach Otradnoje rüber. Ich melde mich wieder, wenn ich den Standort genauer eingegrenzt habe", trug Shaban ihnen ohne Umschweife auf.

Urnue musste das vor Überraschung erst eine Sekunde lang verarbeiten, bevor er langsam in sich hinein nickte. "Okay, ist gut. Danke."

Shaban unterbrach das Gespräch, bevor Urnue es selbst tun musste.

Victor schaute ihn mit großen, fragenden Augen an. Da Urnue diesmal mit dem Hörer am Ohr und nicht auf Lautsprecher telefoniert hatte, hatte er nicht mithören können.

"Das war Shaban", klärte der Wiesel-Genius ihn auf.

"Ach, hat er sich doch entschlossen, uns zu helfen? Obwohl er noch gar keine verbindliche Zusage von mir hat, dass ich danach niemanden mehr meucheln werde?"

"Er sagt, wir sollen nach Otradnoje. Dort würden wir Vladislav finden."

Victor nickte schon einverstanden, obwohl er noch überlegte. "Der Stadtteil liegt im nördlichen Verwaltungsbezirk von Moskau, oder?"

"Ja. Ist gar nicht mal so weit dort hin."

"Na dann los!", entschied Victor euphorisch und marschierte zu dem Leihwagen zurück, mit dem er heute ein bisschen auf gut Glück in Moskau hatte herumkutschieren wollen, um sich die eine oder andere Lokalität anzusehen und vielleicht ein paar Erkundigungen einzuholen.

"Wenn das hier vorbei ist, muss ich die Handynummer wechseln ...", seufzte Urnue und folgte ihm. Dabei machte ihm die Rückverfolgbarkeit seiner Handynummer gerade wirklich die geringsten Sorgen.
 

Trotz des grundsätzlich und zu jeder Tageszeit grauenhaften Verkehrs hatten sie den Moskauer Stadtteil Otradnoje schon eine gute Stunde später erreicht. Victor hatte sich entschieden, sich abermals ein halbwegs zentral gelegenes Parkhaus zu suchen, und zu warten. Da weder er noch Urnue sich in diesem Teil der Hauptstadt auskannten, wussten sie zumindest keine lohnenden Ziele, wo man Vladislav auf Verdacht hätte suchen können.

Shaban ließ sie auch gar nicht lange hängen. Urnues Handy klingelte schon wieder, kaum dass sie sich eine Parklücke gesucht hatten. Diesmal nahm Urnue den Anruf auf Lautsprecher an, damit Victor mithören konnte.

"Hey, seid ihr schon vor Ort?", wollte Shaban geradeheraus wissen.

"Mitten drin statt nur dabei", bestätigte Urnue scherzhaft.

"Wie schnell könnt ihr am Altufievsky sein?"

"Ist Vladislav dort?", hakte der Wiesel-Genius nach, während Victor neben ihm das Schlagwort bereits stirnrunzelnd ins Navi eingab.

"Nein, noch nicht. Er ist gerade irgendwo im Otrada-Park. Aber von der Bewegungsrichtung her tippe ich schwer drauf, dass er dort hin will. Ist eigentlich das einzige, wo er hin kann. Was anderes gibt´s dort nicht. Außer er besucht nen alten Freund, der zufällig da wohnt."

"Otrada ist ein verdammt großer Park", merkte Victor unglücklich an.

"Ja, und das Altufievsky ist ein verdammt großes Shopping-Center. Dort drin wird er vor lauter Menschen nur noch schwer zu finden sein. Vor allem gibt es auch viele Zeugen und so. Ich würde euch raten, ihn vorher abzufangen. Aber die eigentliche Frage ist, ob ihr´s überhaupt dort hin schafft, bevor Vladislav wieder weg ist."

Victor sah sich das Gebiet nachdenklich auf dem Navi-Display an. "Gib mir 20 Minuten", entschied er.

"Ist gut. Wir bleiben dran", versprach Shaban und legte einfach auf. Ohne Verabschiedung. Eine nervige und unhöfliche Marotte, wie Urnue fand.

Victor musterte noch eine Weile das Handy in Urnues Hand und grübelte düster vor sich hin, statt sofort den Motor zu starten.

Urnue beobachte ihn seinerseits genau von der Seite. "Dir gefällt an der Sache irgendwas nicht, hm?"

"Ich weiß nicht ... Vertraust du Shaban?", wollte Victor wissen. "Also so richtig? Selbst wenn dein Leben davon abhinge?"

"Letztes Mal schien er doch sehr umgänglich. Siehst du Gründe, ihm nicht zu trauen?"

"Er lotst uns zu einer genau bestimmbaren Zeit an einen ganz konkreten Ort. Und wir haben nichts als sein Wort, dass wir dort Vladislav finden werden, wenn wir ankommen - und nicht etwa eine Hundertschaft Polizisten, die uns schon erwarten."

"Da magst du Recht haben", gab Urnue ruhig und sachlich zu.

"Warum tut er das, U.? Wieso sollte Shaban uns helfen? Ich habe ihm nichtmal zugesichert, dass ich auf seine Bedingungen überhaupt eingehen werde."

"Er erhofft sich davon, dass du - auch ohne ausdrückliche Zusage - aufhörst, Leuten Kugeln in den Schädel zu pusten, nur weil du sie nicht leiden kannst."

"Das ist jetzt aber doch etwas ungerecht formuliert. Ein bisschen komplexer sind meine Auswahlkriterien schon", hielt Victor dagegen und zog eine Flunsch.

"Deine Skepsis kommt jedenfalls reichlich spät, findest du nicht?"

"Ja ..." Victor rieb sich beiläufig mit dem Fingerknöchel ein Auge, dann griff er zum Zündschlüssel und warf das Auto an. "Lass uns vorsichtig sein."



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