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Samhain - Der Feind meines Feindes

Magister Magicae 10
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ja, da diese Story das "offizielle" Finale und Höhepunkt der Magister Magicae Chroniken darstellt, wollte ich nochmal vieles geklärt wissen. Wer von euch glaubt, meinen Victor schon gut zu kennen, sei gewarnt. :-b Komplett anzeigen

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Die leidliche Vergangenheit

Victor hatte längst seinen kleinen Stromgenerator anwerfen müssen, um überhaupt noch Energie für das technische Gerät zu haben. Es war bereits später Abend, als sie immer noch am Laptop saßen und Fotos durchsahen. Alleine hätte Victor das beileibe schneller geschafft, aber Urnues Neugier verzögerte die Sache doch erheblich. Der wollte zu jedem Gesicht, das er interessant fand, wissen, wer das war, was der verbrochen hatte, und was aus dem geworden war. Also am besten die ganze Geschichte. Sein Interesse an Shaban schien inzwischen regelrecht in den Hintergrund gerückt zu sein. Um so erleichterter war Victor, als er endlich ein Foto des Gesuchten fand, um diese mühsame Prozedur endlich beenden zu können.

"Sieh an. Da ist er ja", kommentierte der Russe und ließ sich müde gegen die Rückenlehne fallen, um sich die Augen zu reiben. "Der Gorilla da links im Hintergrund."

Hellauf begeistert zog sich Urnue den Laptop heran und studierte die Aufnahme, die auf irgendeiner Versammlung des britischen Motus-Clusters entstanden war. Im Vordergrund des Fotos war jedenfalls der britische Cluster-Chef zu sehen. Urnue verschob und vergrößerte das Foto, bis nur noch der Kerl schräg hinter ihm zu sehen war: ein großer, muskelbepackter Bodybuilder-Typ mit erstaunlich freundlichem Gesicht, großen, sanften Augen, und vollen, geschwungenen Lippen. Er trug Unmengen langer, schwarzer Rastazöpfe, die er auf der linken Seite nach hinten gesteckt hatte. Rechts hingen sie ihm dagegen ins Gesicht und verdeckten ein wenig die Tatsache, dass seine rechte Gesichtshälfte über und über mit Runen volltätowiert war. Nicht gerade unauffällig. Urnue lachte leise auf. "Den Wichser kenn ich!", stellte er kichernd fest.

"Du kennst ihn?" Sofort schnellte Victor wieder in eine aufrechte Sitzhaltung hoch.

"Ruppert und ich waren auch auf dieser Versammlung. Der Kerl ist als Vertreter der Spionageabwehr-Abteilung angereist. Die Pfeifen, die uns die Polizei und sowas vom Hals halten sollten. Ich weiß noch, wie ich die ganze Zeit dachte, dass der bei den Headhuntern besser aufgehoben wäre." Urnue vergrößerte das Foto noch weiter. Langsam wurde es unscharf. Trotzdem sah man, worauf er hinaus wollte. Eine Narbe am Hals. "Sieht aus, als hätte mal jemand versucht, ihm die Kehle durchzuschneiden."

"Das hat bei Shaban nichts zu sagen. Er hat am ganzen Körper solche Narben. Die hat er sich als Cuttings verpassen lassen. Also Dekoration, oder Bodymodding. Er hat auch jede Menge Tattoos und Brandings. Um trotz seiner harmlosen Visage gefährlicher auszusehen, schätze ich."

"Nein." Urnue schüttelte überzeugt den Kopf "Ich vermute, die hat er um von genau dieser Narbe da abzulenken." Er klopfte mit der Fingerspitze gegen den Bildschirm. "Die wäre für sich allein genommen nämlich zu auffällig gewesen. Gib mir mal ein Genii-Lexikon."

Nickend quälte sich Victor hoch, etwas steif vom langen Sitzen, und stöberte in seinem Bücherregal herum. "Was hast du von dem Kerl damals sehen können, als du auf der Versammlung warst?"

"Nun ... er war alleine", entschied Urnue nach kurzem Überlegen. "Also wenn er einen Schutzgeist hat, war der jedenfalls nicht so wie ich auf der Astralebene verborgen."

"Also ist er wirklich selber ein Genius?"

"Todsicher."

Victor kehrte mit zwei Nachschlagewerken zurück und hielt sie Urnue hin. "Und konntest du irgendwelche Anhaltspunkte dafür erkennen, was er ist?"

"Nein. Auf der Astralebene sehe ich von den Leuten leider auch nur die Form, die sie auf der stofflichen Ebene gerade angenommen haben." Er musterte die zwei Einbände enttäuscht. "Hast du keine englischen, sag mal?"

"Du kannst ja googeln, wenn dir das besser gefällt."

"Dann bau mir einen Sendemast vor den Eingang! Ist ja nicht so, als ob man hier irgendeine Art von Empfang hätte", hielt Urnue trotzig dagegen und entschied sich zunächst für das größere der beiden Bücher. Er überlegte kurz. Wonach sollte er in einem russischen Lexikon suchen? Wie würden die Russen dieses Ding wohl nennen, das er im Verdacht hatte? Nachdem er sich in die kyrillische Schrift wieder eingewöhnt hatte, die er so selten brauchte, kam er aber derwegen schneller voran als befürchtet. Als er im größeren Lexikon gefunden hatte, was er wollte, und mit dem Ergebnis überaus zufrieden war, schlug er auch im anderen nochmal nach, was dieses zum Thema zu sagen hatte. "Was ist ein 'pozvonochnik'? Das Wort kenn ich nicht."

"Ähm ... der Rücken ... oder eher die Wirbelsäule", erklärte Victor es ihm in anderen Worten.

Urnue nickte nur geistesabwesend und las weiter. "Eine Peitsche aus einem menschlichen Rückgrad also ... Ergibt Sinn ...", murmelte er dabei leise in sich hinein. Irgendwann atmete er tief durch und sah grübelnd wieder hoch auf den Laptop.

"Was denkst du?", wollte Victor wissen, der das verschlossene Gesicht seines Gegenübers nicht recht zu deuten wusste.

"Also ... ich sollte wohl nicht gleich dein Leben und mein eigenes darauf verwetten ... aber ich bin mir trotzdem sicher." Er hielt Victor das aufgeschlagene Buch hin. Schon allein der Kupferstich, der als Bild in der Ecke der Seite prangte, sagte alles. "Der Kerl ist ein Dullahan."

"Ein Kopfloser Reiter?", machte der Gestaltwandler in einem neutralen Tonfall, dem man nicht anhörte, was er davon hielt. Jedenfalls betrachtete er den Vorschlag nicht perse als Unsinn, sondern war zumindest bereit, darüber nachzudenken. "Die sind nicht mehr aufgetaucht, seit der Menschenopfer-Kult zu Ehren des keltischen Fruchtbarkeitsgottes Crom Dubh verboten wurde. Also de facto seit der Christianisierung."

"Ergibt doch aber trotzdem Sinn, oder? Es passt alles zusammen, was dir an Shaban Rätsel aufgibt: Zum einen ist es ganz klar eine keltische Kreatur. Zum anderen würde es erklären, warum jemand behauptet, er würde sich mit seinem Schutzgeist einen Körper teilen. Im Gegensatz zu Zentauren sind bei Dullahans die humanoiden Körperteile nicht am Pferdekörper festgewachsen, sondern Pferd, Reiter und Kopf wirken wie drei voneinander unabhängige Teile. Aber in Wahrheit ist es einfach nur ein Genius mit zwei Köpfen, genau wie du. Wenn er seine wahre Gestalt annimmt, sieht es aus, als würde er sich in Pferd und Reiter aufspalten. Darum denken die Leute einfach, das Pferd wäre was eigenständiges, nämlich sein Schutzgeist, und würde später wieder in ihn hineinfahren, wenn er in seine menschliche Gestalt zurückkehrt. - Und kugelsicher sind diese Wichser übrigens wirklich, weil sie nämlich nicht aus festem, organischem Gewebe bestehen, sondern eher aus einer schleimig-rauchartigen Substanz. Geschosse rauschen einfach durch die durch." Urnue deutete mit den Augen auf den Text, um Victor zum Lesen aufzufordern. "Das gilt natürlich nur für ihre Genius-Form. In ihrer menschlichen Tarngestalt sind sie durchaus verwundbar."

"takoje dermo~", fluchte Victor beim Überfliegen der Seite leise in sich hinein. "Wie konnte so einer in der Motus rumlaufen, ohne dass es jemand gemerkt hat? Den hätten wir sofort kalt gemacht, wenn wir mitbekommen hätten, was er ist. Kopflose Reiter jagen Menschen."

"Ja. Wahrscheinlich dachten alle genau wie du, dass es solche Viecher heute nicht mehr gibt, und haben ihn deshalb nicht als das erkannt was er ist. Und in den eigenen Reihen hat die Motus vermutlich zu allerletzt nach Opfern gesucht, daher war er dort sicherer als irgendwo sonst. Aber ich meine ... sieh dir die Narbe an seinem Hals doch mal an! Das schreit ja förmlich nach einem Enthaupteten."

"Dullahans sind keine Enthaupteten. Das ist ein Irrglauben. Aber weil sie was für rollende Köpfe übrig haben und sich deshalb schon immer gern dort rumgetrieben haben, wo Menschenopfer enthauptet wurden, hat man sie gern mal für die Geister der enthaupteten Menschen gehalten. Das war eine sehr abergläubige Zeit damals. Was stimmt, ist, dass sie sehr viel seltener gesichtet wurden, seit man in Europa niemanden mehr enthauptet."

Urnue nickte zustimmend. "Wenn du gegen so einen kämpfen willst, dann sei dir im Klaren darüber, dass auch der mächtige, schwarze Hengst zu dem Genius dazugehört. Das Pferd ist zwar schnell und stark, aber durch seine Größe am leichtesten zu treffen. Der Reiter ist nur die halbe Miete, also ignorier ihn. Wenn du einen Dullahan töten willst, töte das Pferd."
 

Victor maß Urnue mit skeptisch verengten Augen. "Warum weißt du soviel darüber?"

Der Wiesel-Genius hielt dem Blick nicht stand und schaute stattdessen einmal mehr auf das Foto auf dem Laptop. "Mit einem Dullahan hat für mich alles begonnen. Und jetzt endet es für mich vielleicht auch mit einem, wenn wir den Kerl zur Strecke bringen. Du weißt, dass Ruppert Genii verabscheut hat. Hat er dir den Grund jemals verraten?"

Victor schüttelte langsam den Kopf. "Nein."

"Mir schon. Irgendwann mal in einem schwachen Moment und unter zuviel Alkohol. Seine Mutter wurde von einem Dullahan gejagt. Er hat sie nicht ganz erwischt, sie ist schwer verletzt entkommen. Aber sie war danach nie wieder die gleiche. Sie lag noch ein paar Jahre körperlich geschwächt und seelisch gebrochen im Bett, bevor sie letztlich gestorben ist. Ich habe sie noch kennengelernt. Sie war wirklich eine sehr liebe, aber schwer kranke Frau. Ruppert hat seinen Hass auf den Dullahan, der ihr das angetan hat, irgendwie auf alle Genii projiziert. Er war noch ein Kind, als es passiert ist, und hat nicht verstanden, dass nicht alle Genii so sind. Und diese Meinung hat er später im Erwachsenenalter auch nicht mehr abgelegt. ... Tja ... ich war letztlich der, der´s ausbaden musste." Urnue machte eine längere, nachdenkliche Pause. "Die Versammlung da war direkt in London, und alle Teilnehmer stammten von dort. Was glaubst du, wieviele Kopflose Reiter es in Rupperts Stadt gegeben haben kann? Es würde mich gar nicht wundern, wenn Shaban unser Mann wäre. Wenn er derjenige war, der Rupperts Mutter das angetan hat."

"Das dürfte heute, so viele Jahre später, schwer zu beweisen sein", gab Victor ruhig zu bedenken und entlockte Urnue damit einen erschütternd abfälligen Laut.

"Das käme jetzt eh zu spät", entschied der regelrecht verbittert. "Mich hat dieser Dullahan fast 40 Jahre meines Lebens gekostet. Und Ruppert hat bis zu seinem Tod mit diesem Hass leben müssen. Ohne diesen Dullahan hätte Ruppert sich Vladislav vermutlich nie angeschlossen. Wahrscheinlich wäre die Motus nie gegründet worden, wenn Ruppert sie nicht mit seinem horrenden Startkapital überhaupt erst möglich gemacht hätte. ... Glaub mir, VIELES wäre anders gelaufen, ohne diesen Reiter."

Victor nickte vorsichtig und überdachte das. "Glaubst du, Ruppert wusste es?"

"Dass Shaban ein Kopfloser Reiter ist? Nein. Dann wäre Shaban jetzt derjenige von den beiden, der tot unter der Erde läge. Die zwei kannten sich nicht. Du weißt das ja selber: die Motus war zu groß, man konnte gar nicht jeden belangloser Pisser kennen." Gemeinsam musterten sie eine ganze Weile schweigend das Foto des Hühnen mit dem paradox netten Gesicht. "Und warum bist DU hinter dem Kerl her?", wollte Urnue irgendwann wissen.
 

Auf Victors Lippen stahl sich ein humorvolles Schmunzeln. "Das hat nichts mit seiner Motus-Aktivität zu tun, sondern ist ausnahmsweise mal was Persönliches." Einhändig ließ er sein Lexikon zuschnappen.

"Was denn? Hat er dir ein Mädchen ausgespannt?"

"Nein. Der Sack hat versucht, mich umzubringen. Und er hat mir nie verraten, warum."

"Na und? Das gehört in der Motus doch fast zum guten Ton. Ein Haufen Leute sind hinter dir her, die dich umbringen wollen. Vladislav hat auch versucht, dich umzubringen."

"Eins nach dem anderen. Um Vladislav kümmere ich mich auch noch", schmunzelte Victor und stand geruhsam von seinem Stuhl auf, um die beiden Genii-Lexika wieder ins Bücherregal zu sortieren. "Shaban hat schon während der Motus-Zeit versucht, mich umzubringen. Nicht erst nachdem ich die Motus an die Polizei verraten hatte, was ich ja verstanden hätte. Er hat mich damals zwei Tage lang in einem Kerkerloch gefangen gehalten und mich mit seinen barbarischen, keltischen Praktiken traktiert, um mir das Geheimnis meiner wahren Identität zu entreißen. Er hat auf allen erdenklichen Wegen versucht, rauszufinden, was für eine Art Genius ich bin. Und er wollte mich töten, sobald er es rausgekriegt hat."

"Klingt, als hätte er schon vorher geahnt, dass du die Motus verraten willst."

Victor schüttelte den Kopf. "Der Kerl ist einfach nur ein Sadist, das ist alles. Welcher Genius-Art ich angehöre, hätte er einfacher klären können. Er hätte einfach nur eine Blutprobe von mir ins Labor schicken und eine Analyse anordnen müssen. Und er war selber ein Gegner der Motus, schon damals. Dass ich die Motus verraten wollte, hätte er eher unterstützt als verhindert. Shaban hätte ein wertvoller Verbündeter für mich werden können", erzählte der Russe etwas unzufrieden. "Aber nach dieser Aktion hab ich logischerweise Abstand davon genommen." Dann musste er schon wieder akut lächeln, als er in Urnues zweifelndes Gesicht sah. "Warum guckst du mich so an?", wollte er amüsiert wissen.

"Ich frag mich nur gerade, wie es jemand schaffen könnte, dich zwei Tage lang gefangen zu halten. Wie mächtig muss dieser Shaban sein?"

Victor lachte endgültig auf. "Ich bin nicht allmächtig, U. Auch ich kann besiegt werden. Es reicht schon, wenn du einfach nur schneller bist als ich, oder zufällig irgendwas machst, worauf ich nicht gefasst bin. Du weißt doch, dass ich sogar schonmal auf dem Sklavenmarkt geendet war, unter dem Joch einer Bannmarke, die ich alleine nie wieder losgeworden wäre. Shaban war weder der Erste noch der Letzte, der mich bezwungen hat."

"Denkt man gar nicht", hielt Urnue näckisch dagegen. "Muss wohl schon länger her sein. ... Hat er´s denn rausgekriegt, welcher Genius-Art du angehörst?"

"Nein. Gott sei Dank nicht. Sonst hätte ich mir nicht so viel Zeit damit lassen dürfen, ihn aus dem Weg zu räumen."
 

"Sind Silanten denn so wahnsinnig anfällig für irgendwas, dass du es wirklich keinem verraten darfst? Hast du Angst, dann sofort besiegt zu werden, sobald deine Gegner es erfahren?"

"Das nicht. Aber es gibt momentan nur einen einzigen, behördlich erfassten Silanten in ganz Russland. Der einzige bekannte, der in menschenbesiedelten Gebieten lebt. Und die Staatssicherheit sucht nach dem. Wenn jemand rauskriegt, dass ICH dieser Silant bin, hab ich sofort den Geheimdienst an der Backe. Und das kann ich echt nicht brauchen." Nein, nicht auch noch die, dachte Victor. Mit den ehemaligen Motus-Typen, der normalen Polizei und den FABELS hatte er wahrlich schon genug Probleme am Hals.

"Aber du bist doch nicht der einzige deiner Art, oder?", hielt Urnue skeptisch dagegen.

"Sagt ja auch keiner. Draußen im sibirischen Niemandsland gibt es noch mehr Population. Aber die bleiben halt wo sie sind, und kommen nicht in die Nähe von Siedlungen."

Urnue nickte verstehend.

"Ich hab dir erzählt, dass ich mal Geheimdienstler war. Damals hieß ich noch anders, deshalb finden sie mich jetzt zum Glück nicht mehr. Die haben mich als V-Mann in die Motus geschickt, bevor sie mich haben fallen lassen. Ich weiß nicht, was passieren wird, wenn ich mit denen wieder aufeinander treffe. Aber drauf anlegen werd ich´s lieber nicht."

"Und wie hat es dich als einzigen Silanten mitten ins Moskauer Zentrum hinein verschlagen, wenn Silanten der Zivilisation sonst fernbleiben?"

"Ich wurde vom staatlichen Waisen-Fundbüro aufgegriffen."

"Was!?", machte Urnue perplex. Wenn er mit allem gerechnet hatte, aber damit nicht! "Was soll DAS denn bedeuten? Hattest du keine Familie?"

„Ich weiß nichts von einer Familie.“

„Gibt es keine Eltern? Oder Geschwister?“

Victor hob kurz den Blick zur Decke, als er überlegen musste, wie er das einem Außenstehenden erklären sollte. „Weißt du, wie Schildkröten sich vermehren? Sie vergraben ihre Eier an irgendeinem Strand und dann verschwinden sie. Auf Nimmerwiedersehen. Das Gelege wird sich selbst überlassen. Keiner kümmert sich je wieder darum. Schildkröten sind auf sich allein gestellt, von dem Tag an, an dem sie das Licht der Welt erblicken. So ist das bei meiner Art auch. Wir erfahren nie, wer unsere Eltern waren. Und unsere Eltern erfahren nie, wer ihre Kinder sind. Irgendwann werden wir vielleicht versehentlich mal von einer Behörde aufgegriffen und amtlich registriert, sofern wir uns in menschenbesiedelte Gebiete verirren. Es gibt in Russland zwar eine Einrichtung, die sich darauf spezialisiert hat, solche Pseudo-Waisenkinder wie uns zu finden, von Hellsehern Ahnenforschung betreiben zu lassen, damit wir einen Vatersnamen bekommen, der in Russland so beliebt und gebräuchlich ist, und uns dem Geburtenregister zu melden. Aber draußen in den unerschlossenen Weiten Sibiriens gibt es auch mehr als genug Artbestände, von denen niemals jemand erfährt. Sie werden geboren, leben und sterben wieder, und kein Meldewesen hat jemals ihre Existenz in irgendeiner Liste verzeichnet. ... Russland ist ein großes Land. Das sind andere Verhältnisse als bei euch“, fügte Victor mit einem Schmunzeln an. Er konnte sich ausmalen, dass sowas in bürokratisch geführten Ländern wie England undenkbar war. „Wenn du mal einem Russen begegnest, der keinen Vatersnamen hat, dann kannst du sicher sein, dass er von irgendeiner Art abstammt, die keine Kinderstube kennt.“

„Wer gibt euch denn einen Namen, wenn ihr keine Eltern habt?“

„Wir selber. Oder wer halt gerade da ist“, meinte Victor schulterzuckend. „Wir kriegen ziemlich schnell mit, dass jeder einen Namen hat, nur wir nicht. Dann suchen wir uns einfach selber einen aus, der uns gefällt. Oder die Leute, denen wir begegnen, haben vorher für uns entschieden, wie sie uns ansprechen wollen. Manchmal ist es auch, wie bei mir, das Waisen-Fundbüro, das uns einen Namen gibt. Je nachdem, wie früh oder spät sie uns schnappen. Die sind zwar bemüht, einen möglichst schon aufzugreifen, bevor man überhaupt zur Welt kommt, damit sie gleich von Anfang an die Hand draufhaben und einen direkt in die Gesellschaft eingliedern können. Sie agieren so ein bisschen inoffiziell als Vormund und passen auf, dass man zur Schule geht und ein Dach über dem Kopf bekommt. Aber häufig schaffen sie es nicht, einen gleich von der Ei-Schale wegzufangen. Oft erwischen die einen erst nach Monaten oder Jahren. Oder nie."

"Irgendwie stelle ich mir das traurig vor, seine Eltern nie gekannt zu haben."

"Ich bin sicher, sie leben noch irgendwo da draußen. Damit bin ich zufrieden."

"Aber in einem Waisenhaus aufzuwachsen, in dem Wissen, dass deine echten Eltern noch existieren, muss doch auch einen fahlen Beigeschmack haben, oder? Als wärst du ein ungeliebtes Kind, das sie nicht wollten."

"Ich war nicht in einem Waisenhaus. Ich wurde von einer sehr lieben, alten Omi aufgenommen, die mir eine wirklich glückliche Kindheit geschenkt hat. Und die Frage nach leiblichen Eltern stellt sich für einen Silanten nicht. So ticken wir nicht. Es ist biologisch schon so in uns angelegt, keine Eltern und später auch keine Kinder zu haben. Wir kommen sehr gut alleine klar. Darum hatte ich auch nie ein Problem damit, nach dem Untergang der Motus als Einzelkämpfer durch die Welt zu ziehen und meinen Kampf allein zu fechten."

Urnue lächelte angetan, aber dennoch etwas traurig in sich hinein. "Danke, dass du mir das alles erzählst."



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