Zum Inhalt der Seite

Samhain - Der Feind meines Feindes

Magister Magicae 10
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Der "verbotene See", unterirdisch in Victors Berg, war schon öfter mal erwähnt und thematisiert worden. Ich wollte endlich mal festhalten, was es damit nun wirklich auf sich hat. :) Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Der verbotene See

"Wie willst du Vladislav finden?"

"Muss ich gar nicht. Ich muss nur dafür sorgen, dass er mich findet. Möglichst in einer Umgebung, die es ihm nicht erlaubt, einfach die Pistole zu ziehen und mich abzuknallen. Wobei ich aber auch gar nicht glaube, dass er das tun würde. So schnell und schmerzlos wird er mir den Tod nicht machen wollen."

"Warte mal ... Versteh ich das richtig? Du willst ihn nicht einfach bloß aus einem Hinterhalt heraus abschießen, sondern willst dich von ihm fangen lassen?"

"Ja!", machte Victor voller Überzeugung, als wäre das ein ganz ausgezeichneter und wasserdichter Plan, bei dem absolut nichts schiefgehen konnte.

"Siehst du noch klare Bilder!?", begehrte Urnue fassungslos auf.

"Ich kann ihn nicht einfach mit einem Scharfschützengewehr aus der Ferne abknipsen. Ich muss nochmal mit ihm reden. Zwischen uns ist viel zu viel ungesagt geblieben. Wir haben beide ein Recht darauf, das noch zu klären."

"Warum hast du ihn nicht im Gefängnis besucht, als du noch die Chance dazu hattest!?"

Victor gab sich belustigt. "Glaubst du wirklich, wenn ich ein Gefängnis betreten hätte, dass sie mich jemals wieder rausgelassen hätten?"

"Du hättest Seiji Kami als Begleitung mitnehmen können! Der hätte schon dafür gesorgt, dass du da drin nicht gleich festgesetzt wirst!"

"Die FABELS werden sich hüten, mich so offensichtlich zu schützen."

"Hast du sie denn jemals gefragt?", wollte Urnue uneinsichtig wissen.

Victor schenkte ihm ein zugetanes Lächeln. "Ach, U. ... Du bist so rechtschaffen und unverdorben. Du versuchst immer alles im Guten und auf legalem Wege zu klären. Genau darum mag ich dich so. Ich bin wirklich froh, dass du bei mir bist."

Der Wiesel-Genius verschränkte die Arme und wusste plötzlich nicht mehr, was er sagen sollte. Er konnte sich nicht ganz entscheiden, ob er beleidigt oder geschmeichelt sein sollte. Er wusste um die Psychologie, konnte sich ihrer deshalb aber trotzdem nicht erwehren: Es war schwer, sich zu beschweren, wenn man gerade gelobt wurde. "Sehr rührend. Es wäre aber ganz cool, wenn du auch ab und zu mal auf mich hören würdest", gab er daher lediglich zu Protokoll. Er beobachtete Victor eine Weile schweigend beim Durchwühlen einer Truhe und Herauskramen verschiedener Sachen. "Was zur Hölle tust du da eigentlich?"

"Es wird Zeit, auf den Grund des verbotenen Sees zu tauchen."

"Klingt irgendwie als wäre das ... verboten!?", meinte Urnue skeptisch.

"Sehr gut kombiniert. Darum heißt er 'verbotener See'."

"Du hast mir immer untersagt, da drin zu tauchen."

"Stimmt nicht. Ich sagte: WENN du tauchst, dann hol nichts vom Grund des Sees mit hoch. Alles was darin versenkt wurde, liegt nicht grundlos da unten."

"Oder das!", gab Urnue zu, als er sich erinnerte.

Victor schmunzelte ihn verschwörerisch an. "Bist du denn jemals drin getaucht?"

Der Wiesel-Genius schüttelte den Kopf. "So oder so hatte ich den Eindruck, als hätte ich dort unten nichts verloren."

"Schade. Dann solltest du mitkommen, sonst verpasst du echt was. ... Keine Angst, es ist nicht gefährlich. Nur sehr imposant anzusehen", versicherte er auf Urnues zweifelnden Gesichtsausdruck hin und hielt ihm ein Mundstück hin.

Erst da wurde Urnue klar, dass der unförmige, verbeulte Blech-Kanister tatsächlich eine Sauerstoff-Flasche darstellen sollte.

Der schwarzhaarige Russe klappte an dem Sauerstoffgefäß eine Abdeckung herunter und musterte die unerwartet modernen Anzeigen, die darunter zum Vorschein kamen, und das Ding gleich um einiges vertrauenerweckender machten. "Hm, der ist schon ganz schön leer." Er schaute wieder Urnue fragend an. "Also? Wie steht´s? Kommst du mit? Dann sollte ich ihn vorher lieber nochmal auffüllen. Ich will da kein Risiko eingehen, auch wenn die Luft vermutlich trotzdem für uns beide reichen sollte."

"Ach, was soll´s. Wenn du schon so fragst, komm ich mit, ja."

Victor hielt ihm mit einem zustimmenden Lächeln eine Taucherbrille hin.

"Brauch ich nicht. Ohne komm ich besser klar."

"Trag sie lieber. Im See gibt es kalkhaltige Zonen. Ist nicht gut für die Augen."

"Das sagst du mir jetzt? Was, wenn ich schon früher drin getaucht wäre?"

"Dann hättest du das selber gemerkt und hättest die Kalksenken freiwillig gemieden", tat Victor mit einem Schulterzucken ab. "Aber diesmal müssen wir da leider rein."
 

Eine halbe Stunde später standen sie beide in der großen Höhle, tief im Bauch des Berges Predanje. Das gigantische Gewölbe mit dem stillen See schien das Zentrum des weit verzweigten, komplexen Höhlen- und Tunnelsystems zu sein, in dem Victor sich eingenistet hatte. Vieles davon war natürlichen Ursprungs, manches hatte Victor selbst ausgebaut und bewohnbar gemacht. Victor behauptete immer, dass vor ihm andere hier gewohnt haben mussten. Er konnte nicht sagen, wer sie waren, oder wohin sie verschwunden waren, aber er meinte, es müsse lange her gewesen sein. Urnue hatte bisher nichts entdeckt, was diese Behauptung stützte. Es gab hier keine Höhlenmalereien oder andere Beweise für die Existenz von früheren Bewohnern. Alle Stellen an den Gesteinswänden, die wie von Menschen- oder Magierhand bearbeitet aussahen, gingen auf Victors Konto, soweit Urnue das nachprüfen konnte.

Urnue trat an den Wasserrand - als Ufer konnte man das ja schwerlich bezeichnen - und schaute in den See. Das Wasser war glasklar. Man erkannte, dass der felsige Boden noch zwei, drei Meter weit flach ins Wasser hinein verlief und dann unvermittelt steil abfiel. Dennoch hatte Urnue nicht den Eindruck, dass dieser See sehr tief sein konnte. Wie tief sollte eine mit Wasser vollgelaufene Felsspalte schon seit? Der See maß ja im Durchmesser keine 20 Meter. Er musterte Victor neben sich. "Du bist ganz schön dünn angezogen. Ist so ein unterirdischer Bergsee nicht eiskalt?", kam er nicht umhin zu bemerken.

Victor trug nur ein kurzärmliges T-Shirt, das ihm zum Tauchen nicht zu schade war. Dass er seinen Ledermantel nicht mit runter in einen Kalksee nahm, war verständlich. "Nein, der See ist erstaunlich warm. Ich kann dir nicht sagen, warum. Vulkanische Aktivitäten vielleicht", meinte er abgelenkt, während er gerade sorgfältig und akkurat die zwei Atemschläuche am Luftkanister befestigte. Keiner von ihnen beiden brachte es über sich, diese Box wirklich als Sauerstoff-Flasche zu bezeichnen, also nannten sie es eben einen Kanister. Da sie nur den einen Kanister hatten, würden sie sich unter Wasser nicht trennen können, sondern mussten immer so dicht zusammen bleiben, wie die Reichweite der Schläuche es eben hergab. Aber das störte sie beide nicht. Victor war es ohnehin lieber, wenn Urnue in der Nähe blieb, und Urnue selbst sah das sehr ähnlich. Als Victor fertig war, schaute er seinen Begleiter nochmal rückversichernd an. "Gut, wenn noch irgendwelche Fragen sind, dann jetzt raus damit. Unter Wasser können wir nicht mehr reden."

Urnue ging in Gedanken nochmal schnell die paar Handzeichen durch, auf die er sich mit Victor geeinigt hatte, um sicher zu sein, dass er keins wieder vergessen hatte. "Haben wir eigentlich auch ein Handzeichen für <wir müssen sofort wieder auftauchen>?"

"Meinst du, das werden wir brauchen?", gab Victor amüsiert zurück. "Da unten gibt es keine Monster, die eine sofortige Flucht erforderlich machen würden."

"Was weiß ich. Vielleicht entwickelt einer von uns da unten eine Klaustrophobie und kriegt unerwartet einen Panikanfall. Man weiß nie."

"Nagut, nehmen wir das hier ...", schlug Victor vor und zeigte mit dem Daumen nach oben. Es war der logische Gegenpart zum Daumen nach unten, der für 'tiefer tauchen' stand, und ließ wohl keine Verwechslungen mit dem OK-Zeichen erwarten, das aus ringförmig zusammengeführtem Daumen und Zeigefinger bestand.

Damit gab der Wiesel-Genius sich zufrieden, stopfte sich das Mundstück des Atemgeräts zwischen die Zähne und drückte sich die daran angekoppelte Nasenklammer fest, die offenbar verhindern sollte, dass man unter Wasser versehentlich durch die Nase zu atmen versuchte. Urnue nahm ein paar Atemzüge aus dem Gerät, um zu testen wie es ihm bekommen würde. Die Luft wurde ihm förmlich entgegengedrückt, aber das konnte unter Wasser nur nützlich sein, wenn der Wasserdruck auf dem Brustkorb lastete und das eigenverantwortliche Luftholen erschwerte. Schließlich gab er Victor mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass es losgehen konnte. Sie schnappten sich beide je einen Griff des Luftkanisters und wateten ins Wasser.
 

Die ersten Momente war Urnue noch damit beschäftigt, skeptisch auf seine Taucherbrille zu achten. Er rechnete immer noch damit, dass Wasser reinlaufen würde und er alles in die Augen bekam. Aber nichts dergleichen geschah. Das Ding saß echt wie Bombe und hielt dicht. Also nahm er irgendwann zufrieden seine Umgebung in Augenschein. Er hatte sich einfach am Luftkanister festgehalten und sich von Victor mitziehen lassen, so dass sie bereits drei, vier Meter tief getaucht waren. Es wurde zunehmend dunkel. Von der lediglich mit Fackeln erleuchteten Höhle oben drang nur wenig Licht herunter. Urnue fragte sich gerade, ob nicht eine Taschenlampe sinnvoll gewesen wäre. Oder wollte Victor mit Magie für Licht sorgen? Konnte man unter Wasser Magie wirken? Interessiert hob Urnue eine Hand und versuchte einen simplen Bannmagie-Schutzschild vor sich zu erzeugen. Er verpuffte zwar sofort schwach und wirkungslos, aber grundsätzlich hatte es funktioniert. Victor schaute ihn mit amüsierten Augen an und wartete geduldig auf ihn. Also versuchte Urnue gleich nochmal einen weiteren, in den er mehr Kraft hineinlegte. Dieser hielt immerhin ein paar Sekunden, bevor auch er wieder zerfiel wie ein Schneeball. Das Wasser schien die Magie buchstäblich zu verdünnen.

Victor griff in seine Hosentasche, holten einen Edelstein heraus, den er offenbar rein zufällig noch mit sich herumschleppte, zeigte ihn Urnue und schloss ihn dann fest in die Faust. Als er die Faust mit dem Edelstein nach vorn streckte, entstand davor ein magischer Schutzschild, der sehr viel länger und stabiler war.

Die Botschaft war für Urnue klar. Unter Wasser war es mit Hilfsmitteln leichter, Magie zu wirken. Er nickte verstehend. Als Victor ihm daraufhin einladend den Edelstein hinhielt, versuchte er sein Glück aber trotzdem nochmal selber, um sicher zu gehen - mit Erfolg.

Auch wenn Victor mit dem Mundstück nicht wirklich lächeln konnte, erreichte das Lächeln doch wenigstens seine Augen, bevor er sich geruhsam umwandte und weiterschwamm, ohne seinen Stein zurückzufordern.
 

Auch hier unter Wasser schien es weitere, verzweigte Höhlensysteme zu geben, kaum zehn Meter unter der Oberfläche des Sees. Vor ihnen erstreckten sich zwei Schächte, die so geräumig wie U-Bahn-Röhren waren. Der rechte verschwand in der Dunkelheit. Der linke hingegen schien nach wenigen Metern schon wieder in eine größere Höhle zu münden. Auf diese hielt Victor auch direkt zielstrebig zu.

Ehe Urnue sich fragen konnte, wieso er hier unten überhaupt noch irgendwas erkennen konnte, hatte der Russe ihn bereits in diese Unterwasser-Welt hinaus gezogen. Hier herrschte ein blaues Licht, dessen Ursprung Urnue auf den ersten Blick nicht ergründen konnte. Mangels besserer Ideen tippte er auf Biolumineszenz. Leuchtendes Plankton vielleicht, das kannte man ja aus dem Ozean auch. Und das Wasser war glasklar, so dass man bis in die entlegensten Winkel sehen konnte. Von der gewaltigen, kuppelartigen Höhlendecke hingen meterlange Stalaktiten herab, und aus dem Boden wuchsen ihnen ebenso lange Stalagmiten entgegen. Ein paar wenige waren sogar schon zusammengewachsen und wirkten wie Stützsäulen in einer großen Halle. An mehreren Stellen wucherten lange, saftig grüne Algen, gleich Feldern, die sich sanft im Wasser wiegten. An den Wänden hatten sich Korallen festgesetzt und konkurrierten in ihrer Farbenpracht um die Wette. Eine Qualle paddelte mit ihren typischen Hauruck-Bewegungen flugs an Urnue vorbei. Schnell entdeckte Urnue hier unten noch mehr Leben. Ein neugieriges, buntes Fischlein hier, ein aufgeschreckter, sich davonschlängelnder Aal da. Muscheln auf dem Grund, kleine Krebse zwischen den Felsspalten. Aber das bei weitem Abgefahrenste in dieser riesigen, überfluteten Tropfsteinhöhle, war das aus groben, grauen Natursteinen gemauerte Haus mittendrin. Es wäre wahrlich übertrieben gewesen, es als Kirche zu bezeichnen, aber der kleine Turm darauf erinnerte unwillkürlich daran. Diese Höhle konnte noch nicht immer unter Wasser gewesen sein. Sie musste irgendwann mal trocken und von außen gut zugänglich gewesen sein. Wahrscheinlich hatte ein Wassereinbruch sie erst später geflutet. Jetzt verstand Urnue plötzlich auch Victors Behauptung, dass hier früher mal jemand anders gelebt haben musste.
 

Urnue packte seinen Griff des Luftkanisters fester und zog auffordernd in Richtung des Hauses. Das musste er unbedingt sehen. Victor gab dem Drängen auch protestlos nach und schloss sich ihm an. Auf dem Weg zum Haus sahen sie verschiedenste Alltagsgegenstände aus den unterschiedlichsten Zeitepochen und den unterschiedlichsten Kulturkreisen herumliegen. Sie waren wahllos über den Höhlenboden verstreut, als wären sie achtlos weggeworfen worden. Ein Wikinger-Trinkpokal lag neben einem Samurai-Schwert, und eine kleine, ägyptische Statue unweit von einer verrosteten Indianer-Halskette. Irgendwo dazwischen ein Christen-Kreuz zum Aufstellen auf einem Altar, nebst einem herausgerissenen Autoradio und einer vermoderten Kinderpuppe. Hin und wieder Goldmünzen und wertvoll aussehende Steine. Urnue hätte gern das ein oder andere davon aufgehoben, um es sich näher anzusehen, erinnerte sich aber an Victors Warnung, dass nichts, was hier unten lag, grundlos im See versenkt wurde.

Als sie am Haus angekommen waren, gab Victor Urnue den Luftkanister gänzlich in die Hand und stemmte sich gegen die Tür, um sie mit viel Kraft und Mühe aufzuwuchten. Er war sicher, dass Urnue ohnehin in das Haus hinein wollte, und war kein Spielverderber. Er verstand Urnues Neugier. Es war ihm selbst nicht anders gegangen, als er das erste Mal hier runtergetaucht war. Wann kam man schließlich schonmal in überflutete Häuser?

Die massiven Steinmauern des Hauses hatten dem Wasser leider besser getrotzt als die zumeist hölzerne Inneneinrichtung. Im Erdgeschoss gab es nur einen einzigen Raum, den man direkt durch die Haustür betrat. Ein Flur oder Nebenzimmer existierten nicht. Man erahnte noch einen Tisch und Stühle, ein paar spartanische Schränke, aber das meiste war schon längst vermodert, grau und unter dem Eigengewicht in sich zusammengebrochen. Herumliegende Tonstücke stellten wohl die Reste von primitivem Geschirr dar. Falls es mal ein Nachtlager gegeben hatte, konnte es bestenfalls ein Strohsack gewesen sein, den die Zeit inzwischen gänzlich beseitigt hatte. In der Mitte des Raumes gab es eine noch gut erkennbare, kreisrunde Feuerstelle. An den Wänden hingen hier und da ein paar Fetzen, denen man überhaupt nicht mehr ansah, was sie mal gewesen sein mochten. Vielleicht Pelze als Wand-Deko, ähnlich wie Jagdtrophäen. Victor kannte das alles schon, ließ Urnue aber alle Zeit der Welt, sich umzusehen.

Nach einer Weile lockte er Urnue mit einem Kopfnicken zur Treppe hinüber. Sie war nicht mehr als eine hölzerne Hühnerstiege gewesen und zum größten Teil eingestürzt, was einen schwimmfähigen Besucher aber natürlich nicht aufhielt. Sie führte in das Turmzimmer hinauf.

Urnue war auch dafür sofort Feuer und Flamme und begleitete ihn nach oben. Der Turm stellte sich als Bücherzimmer heraus. Da die Bücherregale mit Metallstreben verstärkt zu sein schienen, standen sie sogar allesamt noch. Trotzdem war Urnue erstaunt, dass die noch nicht längst unter der Last der Bücher zusammengebrochen waren, denn auch Metall hielt dem Zersetzungsprozess des Wassers ja nicht ewig Stand. Andererseits war Urnue auch durchaus erstaunt, hier überhaupt Bücher zu finden. Die Steinhütte wirkte nicht, als stamme sie aus einer Zeitepoche, in der Buchbindung schon erfunden war. Neugierig griff er nach einem der Bücher, bekam aber nur eine schlammige, modrige Handvoll Pampe zu fassen, die in seiner Hand sofort zerfiel. Der größere Teil des Buches blieb im Regal zurück und trieb dort in hunderttausend Fetzen auseinander. Es war bereits komplett zersetzt und verwest. Wahrscheinlich hielt nur die Schwerelosigkeit unter Wasser diese Überreste noch irgendwie in Form.

Victor hob lediglich bedauernd die Schultern. Etwas dazu sagen konnte er mit dem Sauerstoff-Mundstück ja nicht. Aber er hatte früher bereits die gleiche, traurige Erfahrung machen müssen. Er hätte Urnue vorwarnen können.
 

Als Urnue seinem Forscherdrang vorerst genug gefrönt hatte, verließen sie die Steinhütte. Victor zog die marode, aber störrische Tür sorgsam von außen wieder zu und schwamm dann mit Urnue noch tiefer in die Höhle hinein. Das ursprungslose, blaue Leuchten, das hier unten für dämmrige Sicht sorgte, nahm weiter hinten etwas ab.

Das Gelände wurde schnell abschüssig und es kam eine Art See unter dem See in Sicht. Anders konnte man es nicht bezeichnen. Vor ihnen erstreckte sich ein klar abgegrenztes Becken, in dem das Wasser nicht mehr so glasklar war wie im Rest der Höhle, sondern geradezu trüb. Das musste eine der Kalksenken sein, von denen Victor gesprochen hatte. Das Wasser, das so kalkhaltig war, dass man besser nicht ohne Taucherbrille hineintauchte. Aber Urnue hatte keine Vorstellung davon gehabt, WIE kalkig die Brühe tatsächlich war. Er verspürte absolut keine Lust, sich da überhaupt rein zu begeben, Taucherbrille hin oder her. Da drin sah man sicher keine zwei Meter weit. Trotzdem hielt Victor entschlossen darauf zu, den Luftkanister samt Urnue konsequent hinter sich herziehend. Widerstrebend versuchte Urnue sich dagegen zu stemmen.

Mit fragendem Blick hielt der Gestaltwandler an, als er den Gegenzug bemerkte, und schaute herum, um zu erfahren, was los war.

Urnue zeigte auf das Becken, in dem sich das Kalkwasser abgesetzt hatte, und deutete fragend mit dem Daumen nach unten. [Da runter?]

Victor nickte und senkte ebenfalls den Daumen nach unten. [Ja, da runter.]

Urnue ließ den Luftkanister los und verschränkte mit einem vehementen Kopfschütteln die Arme vor der Brust. Im Leben würde er dort nicht mit runtertauchen.

Victor legte tadelnd den Kopf schief. Es war diese typische 'Mein-Gott-jetzt-sei-doch-nicht-so-ein-Mädchen"-Geste, die mehr als hundert Worte sagte.

Urnue fuchtelte fordernd mit dem Daumen nach oben, so wie sie es verabredet hatten. Er wollte gefälligst aus dieser Untersee-Höhle raus, und zwar ein bisschen plötzlich.

Aber der Russe senkte abermals humorlos den Daumen. [Runter.]

Urnue ließ geschlagen die Schultern hängen. Na schön. Victor schien ja schon da drin gewesen zu sein, und hatte es offensichtlich überlebt. Wie schlimm konnte es also sein? Mit einem innerlichen Seufzen langte er wieder nach seinem Griff am Lufttank.

Victor schwamm näher an den Kalkwasserspiegel heran, tauchte seinen ganzen Arm hinein und zog ihn - natürlich unversehrt - wieder heraus, um ihn Urnue zu zeigen. Absolut ungefährlich.

Der nickte nur hinnehmend und fügte sich.

Victor ließ den Luftkanister kurz los, um beide Arme um seinen Oberkörper schlingen zu können, als würde er frösteln. Damit wollte er Urnue vorwarnen, dass das Kalkwasser spürbar kälter sein würde als das Wasser im Rest der Tropfsteinhöhle.

Auch das quittierte Urnue mit einem lustlosen Nicken.

Also griff Victor sich ihren gemeinsamen Luftbehälter wieder und setzte sich langsam in Bewegung. Kampflos, immer nur so weit wie Urnue freiwillig mitkam, aber dennoch zielgerichtet. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Urnue Vertrauen zu der kalten, trüben Suppe gefasst hatte, aber dann folgte er Victor ohne weitere Proteste hinab. Victor blieb auch gar nicht länger als nötig. Er musste nur kurz auf dem Grund der Kalksenke herumsuchen, bis er das gelb glimmende Buch entdeckte, wegen dem er hier war, schnappte es sich und schwamm damit wieder ins klare Wasser hinauf.
 

Urnue fuhr sich zunächst durch die Haare, das Gesicht und über jedes andere Stück freiliegender Haut, als müsse er den Kalk schnellstmöglich abwaschen. Erst dann schaute er nach, was Victor da eigentlich hatte. Doch etwas erstaunt stellte er fest, dass sein Gegenüber ein Buch aufgeschlagen hatte, das offensichtlich dem Wasser trotzte. Der gelbe Schein, der das völlig unversehrte Buch umgab, war scheinbar ein Schutzzauber, der es vor der Zerstörung bewahrte. Victor hatte sich direkt darin vertieft und schmökerte ungestört in den Seiten herum.

Urnue winkte vor Victors Nase herum, um seine Aufmerksamkeit zurückzuerlangen.

Der Russe sah auch gehorsam sofort hoch.

Urnue präsentierte fragend beide Hände. [Was ist denn nun?]

Victor antwortete mit einem erhobenen Zeigefinger [Eine Sekunde.] und las entspannt weiter. Dabei musste er mit der Nase ungewohnt nah an die Seiten herangehen, um genug zu erkennen. Nach einer Weile klappte er es irgendwann wieder zu und hielt es Urnue einladend hin. Als der mit einem Kopfschütteln kein Interesse signalisierte, warf Victor das Buch in hohem Bogen in die Kalksenke zurück - was unter Wasser eines hübschen Zeitlupeneffekts nicht ganz entbehrte.

Urnue schaute fassungslos dem Buch hinterher, bis in der trüben Brühe erst seine Umrisse und schließlich auch sein gelbes Glimmen verschwanden. Hatte Victor es gerade wirklich weggeworfen, nachdem er zuvor so viel Mühe auf sich genommen hatte, es zu holen?

Victor gestikulierte unterdessen fröhlich mit dem Daumen hinauf, dass sie nun wieder auftauchen konnten. Er schien zu haben, was er wollte. Ohne auf Reaktionen zu warten, schnappte er seinen Henkel des Luftkanisters und setzte sich in Bewegung.

Urnue folgte ihm eher gezwungenermaßen, weil er halt mit seinem Luftschlauch ebenfalls an dem Atemgerät festhing, mit dem Victor gerade das Weite suchte.

Victor schwamm ohne Eile, aber auch ohne unnötiges Getrödel, aus der Tropfsteinhöhle hinaus, durch den unterseeischen Verbindungsgang und Richtung Wasseroberfläche hinauf. Auf halbem Weg hinauf zwang er Urnue nochmal einen Stopp auf, den dieser nur sehr widerwillig duldete, da er den Grund nicht verstand. Urnue wollte endlich aus dem Wasser. Erst nach 5 Minuten ließ der Gestaltwandler ihn weiter.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück