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Sturmgeister

von

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Manchmal bereute Rei es, höflich zu sein - und dieses Mal ereilte die Reue sie beinahe unverzüglich. 

Zu spät war es dennoch. 

Zu spät, den Blick zurück auf ihre Zeichnung zu senken und so zu tun, als habe sie Naru-sans Frage schlicht nicht gehört. Zu spät auch, um ihre Antwort zurückzunehmen.

Einen Moment lang richtete Naru-san den Blick zur Decke. Ihre Mutter hielt es für unschicklich, wenn sie die Monate des gregorianischen Kalenders an ihren Fingern abzählte und so zählte Naru-san die Daten stattdessen anhand der Deckenpanele des Bahnwaggons, in dem sie seit drei Tagen festsaßen. Es war zugegebenermaßen ein sehr schöner Bahnwaggon. Mehr als das. Er war so exquisit gearbeitet, dass er die erste Klasse der Tokyo-Yokohama-Linie wie einen Arbeiterwaggon erschienen ließ. Stuck zierte die Decke und die Sitzbänke waren mit dicken, weichen Polstern bezogen, in denen man versank. Das Essen wurde am Platz serviert. Die hervorragende Aussicht war selbstredend inklusive. Und doch. Und doch.

Es war dennoch nur ein Bahnwaggon. 

Es ruckelte. 

Es war laut. 

Und es gab kein Entkommen.

Nicht vor Osaka-donos Meinungen zu allem und jedem. Nicht vor Mister Holdenfords fragwürdigen Komplimenten. Nicht vor den Blicken der anwesenden amerikanischen High Society. 

Und leider auch nicht vor Naru-sans neuestem Hobby. 

Rei wünschte sich nach wie vor, ihre Reisebegleitung wäre bei Jules Verne geblieben. Stattdessen - und für Reis Geschmack viel zu früh - senkte die junge Frau den Blick wieder, neuer Eifer in ihrem Blick. Einmal mehr fiel ihr diese eine rote Locke in die Stirn. Das widerspenstige Ding hatte sich bislang noch aus jeder westlichen Steckfrisur zu stehlen gewusst - oft genug, dass Rei mittlerweile glaubte, sie sei Naru-sans Antwort auf die strikten Kleidungsvorschriften ihrer Mutter. Entschlossen strich Naru-san sie sich wieder hinter das Ohr. Die Zunge zwischen den Lippen begann sie damit, durch das Magazin zu blättern.

Rei erhaschte Blicke auf das Inhaltsverzeichnis und komplexe Sternenkarten. Die Bilder zogen zu schnell hinweg, als dass sie sie hätte deuten können. Nicht, dass sie von der Art, wie Amerikaner die Zukunft weissagen wollten, viel hielt.

Sie zweifelte nicht daran, dass es Amerikaner gab, die diese Kunst tatsächlich beherrschten. Doch die Magazine, die Naru-san in San Francisco erworben hatte, gehörten sicher nicht dazu. Zu seltsam war der Prozess, komplett ohne die Konsultation von Geistern und gänzlich ohne spirituelle Führung. Nur Karten und Listen mit einem ausgeprägten Fokus auf die Suche nach dem perfekten Ehemann. 

“Aries”, verkündete Naru-san triumphierend, den Finger zwischen den Seiten. “Am 27. April tritt der Planet Venus in das Sternzeichen des Aries ein. Mit der Leidenschaft der römischen Göttin der Liebe und des Wohlstandes wird die Venus in diesen Tagen das Leben der Aries-Geborenen erfassen. Stürmische Zeiten warten auf Sie.”

Mit diesen Worten verlor Naru-san sich in einer langen Rede darüber, wie Venus Reis Leben erschüttern würde. Rei blieb höflich - was in erster Linie bedeutete, dass sie lächelte und in den Atempausen angemessen nickte. Ansonsten verlor sie sich in dem tiefen Grün ihres Kleides. Ein teures Reisegewand aus Brokat, das ihr Vater ihr aus New York geschickt hatte. Erhaben flogen eingewebte Kraniche über den Stoff, während kunstvoll drapierte Rüschen sie umfassten wie ein Meer aus dunklen Wolken. Naru-sans sachte Bewegungen hauchten dem Kleid Leben ein, ließen die Vögel schweben und die Rüschenwolken vorüberziehen, dunkel und düster. Einen Augenblick lang war es Rei, als spüre sie selbst den Windhauch in ihrem Gesicht. Der Atem eines bevorstehenden Sturmes, dessen Wolken sich am Horizont nur erahnen ließen.

Rei blinzelte, unsicher, wie viel Einfluss die Worte auf ihre Sinneseindrücke hatten.

Neben ihr senkte Naru-san das Magazin. Stolz strahlte in ihrem Gesicht.

“Vielen Dank, Naru-san”, antwortete Rei, vielleicht einen Moment zu spät. “Es klingt, als würden stürmische Zeiten auf mich warten.”

Sie warf einen Blick zu den anderen Mitgliedern ihrer Reisegesellschaft. Osaka-dono hatte sich in ein Buch über die Edelsteine Nordamerikas vertieft. Sachte blätterte sie zur nächsten Seite, ohne dabei aufzusehen. Ihr Englischlehrer Mister Holdenford - ein großgewachsener Amerikaner mit zotteligem, braunem Haar und keinerlei Zurückhaltung - hingegen war Feuer und Flamme.

“Ihr Englisch wird immer besser, Miss Naru!” Enthusiastisch beugte der Mann sich so weit über den Tisch zwischen ihnen, dass sein Gesäß gerade noch so die Polster berührte. “Nicht einmal verlesen! Ich konnte Ihre Faszination während des Lesens spüren!”

Naru-san kicherte verlegen. Reis Bedürfnis, ihr beim nächsten Halt Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer zu kaufen, wurde größer. Holdenfords Interesse an hanebüchenen Orakeln leider auch.

“Wer hätte gedacht, dass ein Planet unseres Sonnensystems einen solchen Einfluss auf uns haben könnte!”

“Es ist nicht nur Venus, die einen solchen Einfluss auf uns hat”, erklärte Naru-san lächelnd. “Die Sonne und der Mond beeinflussen uns auch. Ebenso die anderen Planeten.”

“Das ist wirklich faszinierend!” Holdenford strahlte. Nur ein Blick auf Naru-sans Mutter schien ihn daran zu erinnern, dass er immer noch ihr Lehrer war. “Erinnern Sie sich noch an die Namen der acht Planeten?”

“Ich”, Naru-san warf ihr einen Blick zu, doch Rei zuckte nur mit den Schultern und senkte die Augen sehr langsam und deutlich zurück auf ihre Skizze. Rei hörte sie seufzen. “Wir bewohnen die Erde. Zwischen uns und der Sonne liegen Venus und Merkur. Und wir sind umgeben von den Göttern der Liebe und des Krieges, also ist unser anderer Nachbar … Mars? Ja, Mars! Und dahinter liegen Jupiter und Uranus und … Neptun? Oh, und Saturn!”

Neben sich hörte Rei Mister Holdenford klatschen. Er ergoss sich in mehr Lob und sie vertiefte sich weiter in ihrer Skizze. Ein Vortrag darüber, wie man Neptun vor annähernd vierzig Jahren entdeckt hatte, ging ihr zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus.

Unter ihrem Graphitstift gewannen die Wasatch Mountains an Gestalt. Mit jedem Strich, den sie tat, kehrte die Erinnerung an den morgendlichen Zwischenhalt deutlicher vor ihr inneres Auge zurück. Im Licht der goldenen Morgensonne hatten sich die Berge, deren letzte Ausläufer sie heute hinter sich ließen, mit einem besonders majestätischen Anblick verabschiedet. Und so hatte Rei noch während sich Naru-san und ihre Mutter die Beine vertraten, mit einer ersten, groben Skizze begonnen.

Längst waren aus einfachen Dreiecken ferne Bergkuppen entstanden. Eine erste, vorsichtige Schraffur deutete lichte Wälder und schroffe Felswände an, und die Gleise ihres Zuges, die in der Ferne verschwanden. Behutsam, damit das Ruckeln des Zuges ihr nicht die Linien verdarb, gab sie der Skizze Struktur. Unter dicken, dunklen Linien verloren sich die Felswände und Kiefern gleichermaßen in den Schatten.

Es war beruhigend.

Jeder Strich ließ die Diskussion darüber, ob Mars bewohnt war, mehr zu einem seichten Rauschen im Hintergrund werden, zog sie tiefer in ihr Werk, bis sie eins war mit dem Poltern der Räder und dem gelegentlichen Klirren von vornehmen Geschirr. Ihre Hand entwarf Sträucher und Gestein, wog Grashalme in einer sachten Brise. Dicke Nebelschwaden wirbelten durch die Luft, betonten die Bildkomposition mehr, als dass sie verdeckten, ließen alles andere noch klarer wirken und dunkler. 

Dunkler.

Mit jedem Strich zog sich der Himmel weiter zu. Die Brise frischte auf, unmerklich erst, dann immer stärker, bis Rei den Sturm auf ihrer Zunge schmecken konnte. Die Zweige des Beifuß’ peitschten im Wind und trugen den aromatischen Geruch zu ihr. Ihren Körper spürte sie nur noch vage, wie einen unscharfen, roten Fleck in einem viel zu teuren Zug. Die Gleise ihres Zuges schnitten auf dem Weg zu ihrem nächsten Halt durch die unberührte Landschaft. Mit jedem Schlag ihres Herzens wurden sie undeutlicher, die Steppe um sie herum prominenter, die heiße Frühlingssonne, der Geruch nach Beifuß und Sand und die dunklen, unheilvollen Wolken in der Ferne. Kaum merklich kristallisierte sich eine Anhöhe heraus und auf ihr eine einsame Gestalt - ein Reiter mit seinem Pferd. Er trug die typische Kleidung der Cowboys, von denen Rei bereits gelesen hatte: eine grobe Denimhose und dazu ein beigefarbenes Hemd und ein rotes Halstuch. Eine Hand hatte er auf die Flanke des Schimmels gelegt, mit der anderen fasste er nach seinem Hut. Sachte schob er ihn zurück, gerade weit genug, um in die Ferne blicken zu können; zu dem Zug, den Wolken und ihrem nächsten Halt, der sich darunter verbarg.

Einen Moment lang beobachteten sie beide das unwirkliche Spektakel am Horizont. Rei kannte beides - die Gewitter, die im Gebirge überraschend über Reisende hereinzubrechen neigten, und die großen Taifune, die jeden Sommer über Honshu hinwegwuschen - aber das hier war keines von beidem. Vom Wind getrieben zogen dunkle Wolken über den Himmel wie Büffel über die Prärie. Im Osten vereinte sich diese Herde zu einer einzigen, in sich zirkulierenden Front, die mit jedem Wimpernschlag breiter wurde, größer, und so dunkel, dass es unnatürlich wirkte. Das Zentrum lag über der Bahnstrecke.

Die Ahnung eines Blickes kribbelte in ihrem Nacken, doch als sie sich von den Wolken abwandte, war es nicht der Reiter, der zu ihr blickte. Es war der Schimmel. Reglos stand auf der Anhöhe, den Blick starr auf sie gerichtet. Über seine Stirn zog sich eine seltsame, gelbe Blesse in der Form einer Sichel.

Rei blinzelte.

Der Schimmel wandte sich ab und mit ihm sein Reiter.

Rei blinzelte erneut.

Sie konnte noch sehen, wie sich der Reiter in den Sattel schwang, doch das Bild entglitt ihr. Die roten Ärmel ihres Kleides kehrten zurück. Goldene Kraniche und grüne Wolken wischten den Reiter und den Beifuß fort. Viel zu klar brannten sich die Stickereien in ihre Netzhaut. Nur verspätet realisierte Rei, dass sie auf andere Kraniche starrte als zuvor. Statt in ihren Horoskopen zu blättern, hatte Naru-san sich dem Fenster zugewandt, das Magazin lag unbeachtet auf ihrem Schoß.

Sie blickte zurück auf ihre Zeichnung. Die schroffen Felswände, die Kiefern und das Hochlandgras war wieder so, wie sie es entworfen hatte, die Schraffuren noch uneben und unfertig. Neu war nur ein dicker, dunkler Streifen, der sich quer über das Blatt zog. Er begann bei einem Grasbüschel, von dem sie sich nur noch vage entsinnen konnte, es gezeichnet zu haben, und endete unter der Spitze ihres Graphitstiftes. Eilig ließ sie den Stift sinken. Bedächtig sah sie zu den anderen Mitgliedern ihrer Reisegesellschaft auf. Osaka-dono war weiter in ihrem Buch vertieft und Mister Holdenford blickte wie Naru-san zum Fenster. Keiner schien ihre … Abwesenheit bemerkt zu haben.

“Sind wir bald in Green River?”, fragte Holdenford. 

“Ich-” Naru legte den Kopf schief. “Ich weiß nicht. Es ist so dunkel.”

Rei folgte ihrem Blick und sah zum Fenster. Es war dunkel. Die Sonne, die noch vor wenigen Minuten in den Wagen geschienen hatte, war vollkommen hinter dichten, schwarzen Wolken verschwunden. Rei kannte die Wolken.

“Es ist wirklich dunkel”, stimmte sie zu, doch ihre Stimme ging fast gänzlich in dem schrillen, metallenen Kreischen der Bremsen unter.

Um sie herum wurden Stimmen laut. Eine der drei Frauenrechtlerinnen hinter ihnen, mit denen Rei sich am Abend zuvor angeregt unterhalten hatte, rief nach dem Zugpersonal. Auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges pressten zwei Jugendliche ihre Hände gegen das Glas und starrten aus dem Fenster, während ihr Vater irritiert an ihnen vorbei sah. In der Sitzreihe dahinter redete ein blasser Mann hektisch auf seine Ehefrau ein und ließ sich auch mit unwirschen Handgesten nicht zur Ruhe bringen. Weiter hinten im Abteil sprang ein alter, graubärtiger Gentleman sogar auf. Keines der Worte, die er lautstark verkündete, gehörte der angloamerikanischen Sprache an, doch Rei bezweifelte, dass auch nur eines davon sonderlich gentlemanhaft war. 

Dann fiel Rei auf, dass Osaka-san in den letzten Minuten nicht eine Seite umgeblättert hatte. 

“Osaka-dono?”

Sie sah nicht von ihrem Buch auf. Einen Moment bewegte sie sich gar nicht - dann sackte sie nach vorn.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  CharleyQueens
2022-09-19T19:21:06+00:00 19.09.2022 21:21
Oooooh, ich mag den Anfang! Sailor Moon im wilden Westen, da bin ich sehr gespannt drauf, was du aus dem AU machst! ^.^
Von:  _Delacroix_
2022-09-19T18:57:01+00:00 19.09.2022 20:57
Meine Feststellung des Tages: Yuichiro ist echt in jeder Form über, aber ich finde Naru toll. Schon weil sie sonst fast immer unter den Tisch fällt und hier darf sie mal wieder etwas wichtiger sein und zwar ohne dabei zum billigen Opfer zu werden. Das finde ich wirklich schön.
Ansonsten, klar, ich mag auch Rei. Sie passt wirklich gut in dieses AU, auch wenn ich fürchte, lange macht ihr Temperament das alles nimmer mit. Dann wird sie hochgehen wie ne Stange Dynamit. Hoffentlich erwischt sie dabei dann auch den Richtigen.^^


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