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Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht

von

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Vergangenheit – 04. Januar – Wenn du in einen Abgrund schaust, schaut der nicht nur zurück, sondern beißt auch noch

 

Stirnrunzelnd sieht sich Hijikata in dem Besprechungsraum um. Die Wände und Decke schimmern in dunklem Mahagoni, der Tisch scheint massive Eiche zu sein. Es ist ein westlicher, runder, hoher Tisch und die Stühle, auf denen sie sitzen, sind gepolstert. Mit bestickten Samtbezügen. So etwas kennt er nur aus dem Palast des Shoguns. Und dieser riesige, in die Wand eingebaute Bildschirm... Von den professionell gebundenen, auf Hochglanzpapier bedruckten Berichten, von denen je einer an sie ausgeteilt wurde, mal ganz zu schweigen. Die Mimawarigumi verfügt wirklich über ein nahezu unbegrenztes Budget - und trotzdem brauchen sie jetzt die Hilfe der Aschenbrödel von der Shinsengumi? Die Ironie gefällt ihm.

Er richtet seine Aufmerksamkeit auf Sasaki, den Kommandanten der Mimawarigumi, der seinem Blick arrogant wie immer entgegnet. Hijikata würde ihm nur zu gerne diese Hochnäsigkeit aus dem Gesicht schneiden. Er ist immer noch wütend auf ihn. Darauf, dass er bei dieser Jahresendfeier Yamazaki mit Sake fortgeschickt hat. Dass seine Männer dann mit Yamazaki in Streit gerieten und sein Spion danach wie ausgewechselt war. Dass Yamazaki seitdem Panikanfälle bekommt, wenn er die weiße Uniform der Mimawarigumi auch nur von Weitem sieht. Unwillkürlich wandert sein Blick weiter zu besagtem Spion zu seiner Rechten. Eigentlich wollte er ihn gar nicht mitnehmen, aber Polizeichef Matsudaira verlangte nach ihrem besten Ermittler mit dem größten Netzwerk an Informanten und da gibt es nur einen in der Shinsengumi.

Und so, wie Yamazaki jetzt schon die Berichte quasi verschlingt, kann Hijikata förmlich zusehen, wie es hinter dieser intelligenten Stirn zu rattern begonnen hat. Darüber scheint er seine Probleme mit der Mimawarigumi glatt vergessen zu haben. Er ist immer noch zu blaß, aber seine Hände haben aufgehört zu zittern, sobald Sasaki mit seinem Anliegen herausrückte. Hijikata zuckt es in den Fingern, Yamazaki beruhigend über den Ärmel seines schwarzen Wollpullovers zu streichen, doch er beherrscht sich.

Er beherrscht sich viel in letzter Zeit. Normalerweise regt es ihn auf, wenn sein Spion nicht in seiner Uniform erscheint, aber immerhin trägt er die vorgeschriebene Hose und der Wollpullover ist auch schwarz mit dem Shinsengumi-Emblem auf Brust und Ärmel. Er wird selten getragen, aber er gehört durchaus zur Uniform dazu und er ist warm und Yamazaki sieht verfroren aus, außerdem will Hijikata ihre Freundschaft nicht durch so etwas Banales belasten. Er ist froh, dass Yamazaki langsam wieder er selbst wird.

Neben Sasaki sitzt Polizeichef Matsudaira in voller, medaillenbestückter Uniform mit einer ernsten, aber auch auffordernden Miene. Es ist eindeutig, dass er gar nicht damit rechnet, dass sie widersprechen würden.

Natürlich werden sie das nicht, Befehl ist Befehl, aber das heißt nicht, dass sie gehorchen, ohne Spitzen auszuteilen.

„Also, ich fasse mal kurz zusammen", beginnt Kondō links neben Hijikata in einem Tonfall, der sachlich und geschäftsmäßig klingt, aber unter dem jeder seiner Freunde den schwelenden Missmut heraushört. „Da werden also fünf Mimawarigumi-Offiziere innerhalb von 36 Stunden ermordet. Zwei in ihrem Bett, drei im Yoshiwara-Bezirk, davon zwei in einem Love Hotel. Das alles wurde streng geheim eingestuft und so gut verheimlicht, so dass nicht einmal die Presse davon Wind bekam. Und jetzt, nach vier Tagen, holt ihr uns ins Boot? Was ist mit der Polizei?"

Sasaki mustert ihn kühl.

„Die Sache muss weiterhin diskret behandelt werden."

„Ist euer Ruf wichtiger als den oder die Mörder zu fangen?" fragt Hijikata spitz zurück. Es ist eine rein rhetorische Frage, aber die Antwort interessiert ihn trotzdem.

Sasakis Blick und Miene werden noch um einige Grad kälter.

„Die Ehre der Familien der Opfer steht auf dem Spiel."

Hijikata wechselt einen schnellen Blick mit Kondō. Sie denken beide dasselbe, aber sie behalten es für sich. Sie haben der Berichte vor ihnen überflogen, und natürlich will niemand aus den Reihen der Adligen, dass solche pikanten Details bekannt werden.

„Sind das alle Informationen?" will Sōgo wissen, der zwischen Yamazaki und Matsudaira sitzt und sich genau wie Yamazaki durch die Formulare vor sich blättert, wenn auch wesentlich gelangweilter.

„Ja." Es ist immer wieder erstaunlich, wieviel Verachtung Sasaki in eine einzige, kleine Silbe packen kann.

Hijikata sieht, wie Yamazaki neben ihm kurz zusammenzuckt und nun legt er ihm doch eine Hand auf den Unterarm. Als sich ihre Blicke kreuzen, schenkt ihm Hijikata ein kurzes, aufmunterndes Lächeln.

Sōgo erhebt wieder die Stimme und lenkt damit alle Aufmerksamkeit auf sich.

„Drei von ihnen wurden also zuletzt in Begleitung einer Frau gesehen? Die ihr trotz all eurer hochmodernen Ermittlungsmethoden nicht finden konntet?"

„Irgend welche Huren interessieren uns nicht", erwidert Sasaki. „Uns interessiert nur der Mörder."

„Sie wurden post mortem kastriert", um Sōgos Mundwinkel spielt ein nahezu unsichtbares Grinsen. „Ist dieses kleine Detail der Grund für diese Geheimniskrämerei?" Die Art, wie er das Wort „Detail" betont, lässt Sasaki den Mund zu einem schmalen Strich zusammenkneifen, aber er verzichtet auf eine Antwort.

„Ich finde hier nichts über Spuren, die auf den Täter hindeuten", meldet sich da Yamazaki plötzlich zu Wort. „Wurde nichts gefunden?"

„Nein."

„Wenn die einzige Spur die Frauen sind, mit denen die letzten drei", suchend blättert Yamazaki in den Papieren, „also Tanaka, Nakamura und Suzuki, zuletzt gesehen wurden, wieso sucht ihr sie dann nicht? Vielleicht ist ihnen ja etwas aufgefallen?"

„Wo bestünde da die Verbindung? Fujiwara und Murata lagen allein in ihrem Bett, als sie ermordet wurden."

Yamazaki blinzelt erstaunt.

„Ihr seht da keine Verbindung?"

„Nein."

„Ich würde gerne in diese Richtung ermitteln."

„Nein."

„Was ist mit den Sachen, die sie bei sich trugen? Ihre Telefone zum Beispiel? Darf ich mir die ansehen?"

„Nein."

„Darf ich andere Zeugen befragen? Den Besitzer des Love Hotels vielleicht?"

„Nein."

Was darf ich dann noch ermitteln?"

„Ihr sollt den Mörder finden."

„Das kann ich doch nicht ohne ordentliche Ermittlung."

„Jemand hat es eindeutig auf meine Offiziere abgesehen. Auf der letzten Seite stehen unsere Verdächtigen. Einer von ihnen muss gestehen."

Lautstark klappt Yamazaki die Akte wieder zu.

„Das ist keine Mordermittlung, das ist eine Farce."

„Deshalb", ergreift Matsudaira das Wort, „übernimmt die Shinsengumi ab sofort die Ermittlungen. Und ihr entscheidet ganz allein, welche Methoden ihr anwendet. Und", hier sieht er Yamazaki vielsagend an, „wen ihr befragt."

Es ist das größte Lob, dass der Polizeichef ihm in dieser Runde machen kann und Hijikata kann förmlich spüren, wie Yamazakis Selbstbewussten ein paar Punkte nach oben schnellt.

„Ich muss alles über die Opfer wissen", fährt Yamazaki, völlig in seinen Element, begeistert fort, „ihren Charakter, ihre Gewohnheiten..."

„Wozu?" unterbricht ihn Sasaki scharf.

Yamazaki stockt nur für den Bruchteil einer Sekunde.

„Wir haben es hier anscheinend mit einem Serienmörder zu tun", erklärt er dann, wobei er aber nur Matsudaira in die Augen blickt. „Die Victimologie hilft uns, ein Profil zu erstellen. So kommen wir auch dem Motiv näher. Die fünf müssen etwas gemeinsam haben, etwas, was sie mit dem Mörder verbindet. Und vielleicht sind ja noch mehr Offiziere in Gefahr."

„Ein Wochenendkurs in Kriminologie und du hälst dich schon für einen Experten", ätzt Sasaki.

„Es waren vier Wochen. Und wie lange war dein Kurs?" Als Sasaki daraufhin nur mit Schweigen antwortet, nickt Yamazaki einmal und murmelt zu sich selbst, aber laut genug, dass es jeder verstehen kann: „Dachte ich mir."

Sasaki sieht aus, als würde er ihn am liebsten auf der Stelle erwürgen, aber in Matsudairas Anwesenheit wagt selbst er nicht einmal ein Fingerzucken.

Hijikata war noch niemals stolzer auf seinen Spion als in diesem Moment.

„Ich sehe", lächelt Matsudaira salbungsvoll, „ihr habt einen hervorragenden Ermittler in euren Reihen. Kondō, ich verlasse mich auf euch."

Mit diesen Worten sind sie entlassen. Geräuschvoll packen sie ihre Sachen zusammen und verlassen den Besprechungsraum. Matsudaira und Sasaki bleiben zurück und Sasakis Miene nach zu urteilen, wird Matsudaira es gleich mit einem sehr, sehr angepissten Offizier zu tun bekommen.

Draußen auf dem Gang wartet Imai Nobume, Sasakis Attaché und Leibwächterin, um sie zum Ausgang zu eskortieren. Sie ist jung, eigentlich noch fast ein Kind, aber dennoch eine ausgebildete Assassine. Und wie immer verbreitet sie eine besonders finstere Aura.

„Imai-san", begrüßt Kondō sie förmlich.

Sie nickt nur und setzt sich wortlos in Bewegung. Sie folgen ihr stumm, auch, wenn sie gerne über ihren neuen Fall und die zurückliegende Besprechung diskutiert hätten, aber das verschieben sie in einem stillen Einverständnis auf später, wenn sie außerhalb der Augen und Ohren der Mimawarigumi sind.

Von daher überrascht es sie auch, als Imai Nobume plötzlich das Thema anspricht.

„Diese toten Männer haben bekommen, was sie verdient haben.“ Sie lächelt, aber ihre Stimme trieft nur so vor Gift. Niemand wagt, nachzufragen, denn sie kennen sie zu gut. Wenn sie etwas zu sagen hat – und das scheint hier eindeutig der Fall zu sein – wird sie schon damit herausrücken.

Ohne ihren Schritt zu verlangsamen, zieht sie ein dickes Kuvert aus ihrer Mantelinnentasche und reicht es an Kondō weiter.

„Das sind ihre Mobiltelefone. Wenn ihr sie überprüft, werdet ihr feststellen, dass sie ihre Verbrechen auf Video gebannt haben. Sie gehörten zu einer Gruppe, die sich auf Gangbangs übelster Sorte spezialisiert hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Angehöriger der Opfer die Sache in die eigene Hand nimmt. Meiner bescheidenen Analyse zufolge ist nur noch einer dieser Bastarde übrig. Wenn ihr ihn überwacht, findet ihr früher oder später den Mörder.“

Kondō, Hijikata und Sōgo wechseln einen langen Blick, während Yamazaki den Blick rasch zu Boden senkt.

Sie erreichen den Fahrstuhl, und wieder herrscht Schweigen, während sie auf die Kabine warten. Erst als sie drinnen stehen, ergreift Imai wieder das Wort, nachdem sie den Knopf fürs Erdgeschoß gedrückt hat.

„Sasaki verschließt seine Augen vor diesen Dingen", fährt Imai fort. „Und die Familien der Ermordeten machen Druck. Das gefährdet seine Karriere. Wenn ihr den Mörder in einer Woche nicht gefunden habt, wird Sasaki einen der armen Teufel von seiner Liste zum Sündenbock machen. Ohne Verhandlung, versteht sich.“

Mit einem leisen „Pling“ öffnet sich die Fahrstuhltür und sie stehen in der großen Eingangshalle.

„Ich verspreche, ich werde den armen Kerl schnell und schmerzlos töten. Aber sein Ruf wird trotzdem auf immer zerstört sein.“ Sie mustert sie alle der Reihe nach eindrücklich. „Versteht mich nicht falsch, meine Loyalität gehört einzig und allein Sasaki, aber ich töte ungern Menschen für etwas, was sie nicht getan haben. Und ich will mich nicht an etwas so Unehrenhaftem wie Rufmord an einem Toten beteiligen. Also findet den Mörder. Ich bin sicher, er wird vor den Augen des Shoguns Gnade erfahren, wenn sein Motiv erst einmal öffentlich gemacht wird.“

Kondō mustert sie kühl.

„Wir lassen uns bei unseren Ermittlungen weder unter Druck setzen noch beeinflussen. Jeder Spur wird nachgegangen, jedes Detail berücksichtigt. Aber wir danken dir für deine Informationen und die Mobiltelefone.“

 

 

 

Erst draußen im Funkwagen wagen sie es, erleichtert aufzuatmen. Sōgo tritt so heftig aufs Gas, dass die Räder auf dem Kies des Parkplatzes kurz durchdrehen und die kleinen Steinchen nur so durch die Luft geschleudert werden.

Innerhalb weniger Sekunden sind sie durch das große Eingangstor hindurch und biegen auf die schmale Zugangsstraße ein, die aus dem Regierungsviertel Richtung Yoshiwara führt.

„Ich wußte“, platzt es schließlich aus Hijikata heraus, „dass die von der Mimawarigumi Schweine sind, aber dass sie so pervers sind...?“

„Beleidige die armen Schweine nicht, Hijikata-san“, brummt Sōgo vom Fahrersitz.

Kondō neben ihm hat die Stirn in tiefe Denkfalten gelegt. Man kann förmlich zusehen, wie es hinter seiner Stirn rattert.

„Das Video, das sie an uns geschickt haben, das war auch eines dieser Videos, oder?“ fragt er schließlich und die Art, wie er sich einmal die Handflächen an den Oberschenkeln abwischt, als hätte er etwas besonders Schmutziges berührt, läßt in Hijikata den Wunsch nach einer Zigarette aufsteigen. Schnell zückt er seine Mayoboro-Schachtel und das Feuerzeug, kurbelt das Fenster herunter und zündet sich einen Glimmstengel an.

„Gut, dass wir es gelöscht haben“, meint er grimmig, während er einen tiefen Zug nimmt und den Rauch aus dem halbgeöffneten Fenster bläst. „Der Schmutz kann an der Mimawarigumi hängen bleiben.“

Zustimmendes Schweigen antwortet ihm. Und er erntet nicht einmal einen Tadel, weil er im Auto raucht, was ihm nur beweist, dass er nicht der einzige hier ist, dem sich beim Gedanken an diese Videos der Magen umdreht.

Dann fällt ihm etwas ein und er wirft dem Spion neben sich einen besorgten Blick zu.

„Zaki, bist du sicher, dass du damit klarkommst, oder sollen wir jemand anderen mit den Ermittlungen betrauen?“

„Wieso sollte Zaki das nicht können, Tōshi?“ erkundigt sich Kondō von vorne überrascht.

Betreten beißt sich Hijikata auf die Unterlippe und wirft Yamazaki einen entschuldigenden Blick zu. Mist! Er hatte ganz vergessen, dass außer ihnen beiden – und Tetsunosuke – niemand davon weiß. Doch Yamazaki lächelt ihm nur beruhigend zu.

„Das Mädchen aus dem Video, das die Weißröcke uns geschickt haben, ist eine flüchtige Bekannte von mir“, erklärt er Kondō bereitwillig. „Nein, nicht meine Freundin“, fügt er scharf hinzu, bevor Sōgo den Mund öffnen und etwas entsprechendes dazu kommentieren kann, „und sie hat übrigens schon einen Freund, also kommt nicht wieder auf irgend welche komischen Gedanken, dass ihr mich mit ihr verkuppeln könntet oder so.“ Er holt einmal tief Luft und wendet sich dann direkt an Hijikata. „Nein, Fukuchō, keine Sorge, ich kann das. Imai sagte doch, dass es mehrere verschiedene Videos gibt, mit verschiedenen Mädchen. Das sollte genug Material sein, um festzustellen, ob es sich wirklich immer um ein und dieselben Täter handelt. Dann werde ich ...“ er zögert kurz und räuspert sich dann, bevor er mit einer schiefen Grimasse fortfährt: „... dieses Video nur noch auf die Täter überprüfen und die Sequenzen, in denen sie zu sehen ist, überspringen. Ich glaube,“ murmelt er dann leise, „sie würde es sogar sehr begrüßen, dass gerade ich die Ermittlungen leite. Sie weiß, dass sie mir vertrauen kann.“

Hijikata zögert, dann streckt er seinen freien Arm aus, legt seine Hand auf Yamazakis Oberarm und drückt kurz zu.

„Es tut mir leid, dass du dir das antun mußt. Ich... nein, wir“, er wirft Kondō und Sōgo einen scharfen Blick zu, „helfen dir dabei, die Videos zu sichten.“

Kondō und Sōgo ziehen zwar eine Grimasse, doch dann nicken sie grimmig. Keiner von ihnen legt wirklich Wert darauf, doch sie wissen, dass diese Videos besser nur einer kleinen Anzahl von Ermittlern bekannt sein sollten. Sie wollen ihre Männer nicht mit in diesen moralischen Sumpf hinabziehen und schließlich erniedrigt jeder, der diesen Schund sieht, die armen Opfer nur ein weiteres Mal.

Yamazaki schenkt Hijikata ein seltsam anmutendes Lächeln aus einer Mischung aus Dankbarkeit und Scham, aber dieser hat sich schon wieder zum Fenster gedreht und zieht gierig an seiner Zigarette.

Den Rest des Weges zum Hauptquartier herrscht im Wagen ein nachdenkliches, bedrücktes Schweigen.

 

 

Hijikata ist schlecht.

Richtig schlecht.

Er hat schon viel gesehen und erlebt in seinem Leben und er weiß, dass es keinen tieferen Abgrund gibt als die menschliche Seele, aber nichts, gar nichts in seinem Dasein hat ihn auf solche Perversitäten, eine solche Verachtung für ein lebendes, atmendes Wesen vorbereitet. Er wurde mit der Achtung und dem Respekt vor Menschen, insbesondere Frauen, aufgezogen und er kann einfach nicht verstehen, wie man so etwas tun kann. Dieser Ausmaß von Grausamkeit entsetzt ihn zutiefst.

Und eine Frage läßt ihn nicht los: warum? Warum? Diese Männer haben alles, was sie sich wünschen können, sie haben Geld, Macht und Einfluß, was haben sie davon, so mit einer schwachen Frau umzugehen? Wie krank muß man dazu sein?

Die Mädchen werden geschlagen, bis zur Besinnungslosigkeit gewürgt, mit weiteren Schlägen oder Wasser (manchmal auch alkoholischen Getränken) wieder geweckt, sie werden verbal beleidigt, mit Zigaretten oder Wachs verbrannt und es landen Körperflüssigkeiten in ihrem Gesicht, wovon Speichel noch das Harmloseste ist. Und dabei werden sie immer und immer wieder vergewaltigt. Sie werden herumgereicht wie Wanderpokale und je mehr sie weinen und um Gnade betteln, desto schlimmer wird es für sie. All diese Torturen dauern stundenlang. Es ist schlimm. Wirklich schlimm. Hijikata muß immer wieder ausschalten und seine Nerven mit einer Zigarette beruhigen.

Und es gibt sechsunddreißig solcher Videos. Sechsunddreißig! Und das sind nur die, die sie auf den Handys gefunden haben. Nur die Götter allein wissen, wieviele es wirklich gibt, wieviele davon auf irgend einer Festplatte liegen oder sogar schon online gestellt wurden.

An diesem Bericht wird Matsudaira seine wahre Freude haben. So, wie Hijikata den Alten einschätzt, wird der dafür extra eine Sonderkommission gründen mit Cyberspezialisten und Trauma-Experten für die Opfer. Nichts, was die Shinsengumi dann noch etwas anginge und dafür ist er sehr, sehr dankbar.

Nach dem dritten Video in Folge klappt er seinen Laptop zu, schnappt sich seinen Mantel und verlässt sein Quartier, um frische Luft zu schnappen. Es ist inzwischen Nacht geworden und die kalte Luft sticht, aber sie tut seinen brennenden Augen gut. Mit zitternden Händen zündet er sich eine Zigarette an und schlendert dann über den Hof.

Es ist still geworden im Hauptquartier und der Schnee, der vor einer Stunde fiel, liegt noch völlig unberührt vor ihm. Er atmet einmal tief durch – und Tabak ein – und versucht, sich an diesem kleinen Wintermärchen zu erfreuen, doch die Bilder lassen sich nicht so einfach verjagen.

Auf seiner Runde bemerkt er ein paar erleuchtete Zimmer – die Küche (jemand gönnt sich wohl einen kleinen Snack), der Aufenthaltsraum für die Nachtwache, Kondōs Quartier und... irritiert runzelt Hijikata die Stirn. Die Büros des Vizekommandanten. Huh? Sind Tetsu oder Zaki etwa noch auf? Neugierig geworden, stapft Hijikata auf den geschlossenen Shoji zu und schnippt seine aufgerauchte Zigarette fort, bevor er die Schiebetür öffnet.

„Fukuchō.“ Yamazaki sitzt an seinem Schreibtisch, hebt bei seinem Eintreten den Kopf und schenkt ihm sein typisches Lächeln.

Hijikatas Stirnrunzeln vertieft sich, als er die Kopfhörer bemerkt und sieht, was der Computerbildschirm hinter Yamazaki da zeigt. In seiner Brust schnürt sich etwas zusammen, doch er unterdrückt es tapfer, schüttelt sich nur den Schnee von den Stiefeln und nähert sich ihm dann zögernd.

„Es ist spät“, sagt er dabei, bemüht, nicht auf den Bildschirm zu sehen und sich dafür ganz auf Yamazakis Gesicht zu konzentrieren. Er sieht blaß und regelrecht erschöpft aus. „Du siehst dir das Zeug schon seit heute Mittag an. Mach doch mal Pause.“ Und dann fällt ihm etwas Entscheidendes ein. „Hast du überhaupt etwas gegessen?“

Vielsagend deutet Yamazaki auf die leere Bentobox neben sich und im ersten Moment ist Hijikata erleichtert, doch dann erinnert er sich an seine eigene Übelkeit.

„Wirklich? Oder hast du alles wieder ausgespuckt? Von diesen Videos wird einem doch ganz übel.“

„Es gibt einen Trick“, erklärt Yamazaki mit einem schwachen Lächeln. „Ich achte nur auf die Gesichter der Täter. Und ich spule häufig hin und her. Wir haben nicht die Zeit, um uns das gesamte Material vollständig anzusehen. Außerdem...“, er zögert kurz, doch dann wandelt sich sein Lächeln, es wird bitter, geradezu grimmig, „ist es ein Trost, sich daran zu erinnern, dass die alle bis auf einen inzwischen tot sind.“ Abermals ein kleines Zaudern. „Fukuchō... es ist mir unangenehm, aber ich muß mich über Kondō und Okita beschweren. Die beiden sind mir keine große Hilfe. Sie haben schon nach dem ersten Video aufgegeben und mir ihren Anteil aufs Auge gedrückt. Ich kann das durchaus nachvollziehen, aber hier geht es nicht um langweiligen Papierkram. Ich bin auch nur bis zu einem gewissen Grad belastbar, vor allem bei dieser Sache und ich bin wirklich, wirklich müde. Ich bemühe mich sehr, aber so werde ich nicht bis morgen Abend mit der Sichtung fertig sein, selbst, wenn ich die Nacht durcharbeite. Denn soviel ist schon mal klar: es gibt verschiedene Gruppen mit anderen Tätern und unterschiedlichen Präferenzen. Die von der Mimawarigumi sind nur eine Gruppe von vielen. Ich habe mindesten ein Dutzend bekannte Personen aus Politik, Wirtschaft und Medien wiedererkannt. Die schicken sich die Videos hin und her wie Katzenbilder. Das alles ist größer als wir dachten.“

Plötzlich völlig kraftlos, läßt sich Hijikata auf einen Stuhl in der Nähe fallen.

„Sortieren wir nur die Videos aus, die unseren Fall betreffen. Konzentrieren wir uns darauf.“

„Hm, hab ich schon gemacht. Das sind immer noch dreißig und ich habe gerade mal ein Drittel davon durch.“

„Ich habe drei“, murmelt Hijikata und massiert sich die Nasenwurzel.

Yamazaki gibt ein leises Brummen von sich. „Mit den beiden von Kondō und Okita macht das immerhin schon die Hälfte. Dann korrigiere ich mal: ich werde bis Mittag garantiert damit durch sein. Und dann bin ich auch durch.“

Hijikata wirft ihm einen langen Blick zu. So frustriert hat er Yamazaki selten erlebt. Er denkt einen kurzen Moment lang nach und trifft dann eine Entscheidung.

„Wir hören hier damit auf. Das, was wir bisher haben, muss ausreichen. Unsere Aufgabe ist es, einen Mörder zu finden, nicht diesen Sumpf auszuheben. Wir haben eine Gemeinsamkeit der Opfer gefunden und wir haben ein Motiv. Konzentrieren wir uns auf die Frauen. Überprüfen wir ihre Alibis und die ihrer Angehörigen und Freunde. Und gleichzeitig beginnen wir mit einer Überwachung des übriggebliebenen Perversen aus dieser Gruppe, damit wir den nächsten Anschlag hoffentlich verhindern und den Mörder in flagranti erwischen können.“

Yamazaki schürzt gedankenverloren die Lippen und für einen Augenblick starrt Hijikata ihn einfach nur verzaubert an. Das sieht einfach nur niedlich aus!

„Ich ziehe mich von der Überwachung wegen Befangenheit zurück“, erklärt Yamazaki dann, streckt die Hand aus und fährt mit einem Tastendruck den Computer herunter. Hijikata ist regelrecht erleichtert, als sich der Bildschirm schwarz färbt.

„Ich kann nämlich nicht versprechen, dass ich nicht beiseite sehe, wenn der Typ abgeschlachtet wird.“

Hijikata nickt nur, denn das kann er sehr gut verstehen. Ihm ergeht es da nicht anders.

 

 

 



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