Öffne es!
Einsam ging er am Kanal entlang, das Gesicht in seinem weichen Schal vergraben. Den Blick hielt er gesenkt, da er den Anblick der vielen glücklichen Pärchen und Familien, die ihm entgegen kamen, nicht ertrug. Er war aus dem Dojo der Familie Kinomiya geflüchtet, da Takao dort eine Weihnachtsparty veranstaltet. Der blauhaarige Japaner hatte alle Freunde samt Familie oder Partner sowie Mister Dickenson mit Frau eingeladen, hieß volles Haus. Auch wenn er einige der Personen nicht ganz so nervig fand, fühlte er sich dennoch unter den ganzen Leute unwohl. Doch jetzt, hier draußen, ganz allein, ging es ihm auch nicht besser. Wo er sich im Dojo eingeengt fühlte, überwog jetzt die Einsamkeit. Er kam sich lächerlich vor. Einerseits mochte er die Gesellschaft von zu vielen Menschen nicht, andererseits verkraftete er aber auch das Alleinsein nicht mehr. Auch der Anblick glücklicher und liebender Personen schmerzte ihn. Es tat weh, wenn man etwas sah, was man mal hatte oder vielleicht nie haben würde. Eltern hatte er nicht…naja nicht wirklich. Seine Mutter starb als er sechs Jahre alt war, sein Vater verließ ihn kurz darauf. Seitdem hatte er ihn nicht mehr gesehen. Mister Dickenson hatte es vor einigen Jahren geschafft, Susumu Hiwatari ausfindig zu machen. Kai gab es nicht gern zu, aber hätte sein Vater sich bei ihm für seinen Abgang entschuldigt oder gerechtfertigt, er hätte ihm verziehen, egal wie banal die Ausrede gewesen wäre. Er hätte ihm verziehen. Doch so weit kam es gar nicht. Sein Vater verweigerte jeglichen Kontakt. Vom Leiter der BBA wusste er, dass Susumu ihn mit dem Tod seiner großen Liebe verband und das konnte dieser nicht ertragen. Er gab Kai die Schuld am Tod seiner Mutter und das tat mehr weh, als die Tatsache, dass sein Vater eine neue Familie hatte. Eine Frau und zwei Kinder, Kai´s Halbgeschwister. Doch die würde er nie kennenlernen.
Er stand auf einer der Brücken, die über den Kanal führten und blickte hinab aufs Wasser. Sein einziger weiterer Verwandter war sein Großvater, doch der galt seit der ersten WM als verschollen. Selbst wenn Souichirou Hiwatari noch auftauchen sollte, würde der alte Mann, für seine ganzen Vergehen, ins Gefängnis müssen. Kai hatte zwar inzwischen sein Team als Freunde akzeptiert, aber das ersetzte ihm nicht die Wärme, Geborgenheit und Sicherheit einer Familie oder die grenzenlosen Liebe einer Mutter. Er war allein.
Wobei … es gab eine Person, die alles erträglicher machte. Doch diese war in Russland und somit knapp zehn Stunden entfernt. Bei dieser fühlte er sich nicht mehr allein, er fühlte sich verstanden, sicher und vor allem geliebt. Es war ihm egal, dass es sich bei dieser Person um einen Mann handelte. Er vertraute ihm blind und wünschte sich genau jetzt nichts sehnlicher, als das Yuriy bei ihm war.
Yuriy…
Seine Augen fingen an mit brennen. Er vermisste den Rothaarigen so sehr. Er hatte den Älteren jetzt seit knapp drei Monaten nicht mehr gesehen. Sie telefonierten zwar regelmäßig, skypten sogar, aber das reichte ihm nicht. Es war nicht dasselbe, wie die Präsenz des stolzen Russen in direkter Nähe zu spüren.
Er seufzte. Wie gern hätte er jetzt seinen Freund bei sich. Jetzt musste er doch lächeln. So nannte er Yuriy erst seit etwas über einem halben Jahr. Er schwärmte schon länger für den Russen, doch am Ende war dieser es, der ihre Beziehung ins Rollen brachte. Ende April stand Yuriy plötzlich vor ihm, sagte nichts, zog ihn nur zu sich und küsste ihn. Tief, innig, leidenschaftlich und voller Liebe. Kai war nie so glücklich, wie zu diesem Zeitpunkt. Später, als sie nebeneinander im Bett lagen, gestand ihm der Rothaarige, dass er auch schon länger ein Auge auf den Graublauhaarigen geworfen hatte und jetzt einfach nicht mehr warten wollte. Da ihm keine gute Art einfiel, seine Gefühle auszudrücken, nahm er einfach die Idee, die ihm am ausdrucksstärksten erschien. Das war typisch Yuriy und genau das liebte Kai an ihm.
Einige Stunden später, der nächste Tag war bereits angebrochen, lag Kai im Bett. Er hatte sich an der, noch immer laufenden, Party vorbeigeschlichen. Diese fragenden oder mitleidigen Blicke der anderen wollte er im Moment nicht sehen. Alle wussten, dass er keine Familie mehr hatte und sein Freund kilometerweit weg war. Sie bedauerten ihn und seine Situation, als hätten sie eine Ahnung wie er sich fühlte. Sie heuchelten Beileid und er wusste, dass sie es nicht böse meinten, aber es ging ihm auf die Nerven.
Er war gerade am wegdämmern, war schon fast eingeschlafen, da bemerkte er eine Bewegung im Augenwinkel. Die Matratze hinter ihm senkte sich, als sich ein Körper darauf nieder ließ. Er wollte sich schon ruckartig aufsetzten, um nachzuschauen, welches besoffene und todesmutige Individuum es wagte rotzfrech in sein Zimmer zu kommen und sich einfach neben ihn zu legen, da schlangen sich ein Paar Arme um seine Mitte und er wurde an den fremden Körper gezogen. Bevor er sich lautstark beschweren oder gar wehren konnte, bemerkte er einen Geruch, den er unter Tausenden erkennen würde. Er entspannte sich und schmiegte sich etwas mehr an die Person hinter ihm. Ein glückliches Lächeln bildete sich auf seinem Gesicht und flüsternd richtete er sich an den Eindringling: „Du bist hier.“
„Ja.“ Der griff um seine Hüfte verstärkte sich etwas und der Hintere vergrub sein Gesicht in den weichen Haaren des Halbrussen, atmete tief dessen Geruch ein. „Ich hab dich vermisst.“
Kai drehte sich in dem Klammergriff, verhakte seine Beine mit denen des Rothaarigen, strich mit seiner Hand über dessen Wange und schaute ihm tief in die eisblauen Augen. „Lass mich nie wieder allein…“
Yuriy schmunzelte und schmiegte sich an die warme Hand. Der Rothaarige überbrückte den kurzen Abstand zwischen ihnen und bevor sich ihre Lippen berührten, vernahm Kai das geflüsterte Versprechen: „Nie wieder“.
Die Geräusche der Party, die bis eben noch durch die geschlossene Türe zu hören waren, wurden immer weiter in den Hintergrund gedrängt und verstummten schließlich ganz. Für sie zählte nur noch das hier und jetzt. Der Kuss war anfangs noch zart und leicht, wurde aber von Sekunde zu Sekunde leidenschaftlicher. In diesem Kuss lag nicht nur die tiefe Liebe, die sie für einander fühlten, sondern auch die Sehnsucht der letzten drei Monate. Ihre Lippen bewegten sich gegeneinander und er konnte Yuriy´s Hände auf seinem Körper spüren. Wie dessen linker Arm, der unter seiner Taille lag, ihn dichter an dem warmen Körper zog und sich die dazugehörige Hand in seinen Hintern krallte oder wie die andere Hand sich unter sein Schlafshirt geschlichen hatte und nun seine Wirbelsäule entlang fuhr. Kai hat seine rechte Hand von der Wange auf Yuriy´s Brust gelegt, direkt über dem Herzen des Russen und konnte so dessen Herzschlag spüren. Und er wusste, dass dieses Herz nur für ihn schlug, so wie seines nur für den Rothaarigen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit trennten sie sich voneinander. Stirn an Stirn und eng umschlungen genossen sie die Anwesenheit der geliebten Person, bis Yuriy sich leicht entfernte und etwas aus seiner Hosentasche holte. Dies hielt er Kai vors Gesicht, damit dieser erkennen konnte, um was es sich handelte. Eine silberne Kette mit einem kleinen Amulett daran schwang leicht vor ihm. Erstaunt blickte er von der Kette zu dem Größeren.
„Frohe Weihnachten.“
Kai blickte wieder zur Kette und nahm sie vorsichtig entgegen. Er besah sich das schöne Amulett, auf welchem ein heulender Wolf eingraviert war.
„Öffne es“, wurde er leise aufgefordert. Der Bitte nachkommend öffnete er das Schmuckstück. Aus dem Inneren blickten ihn dieselben eisblauen Iriden an, welche ihn auch in diesem Moment liebevoll betrachteten.
„Jetzt hast du mich immer bei dir und musst dich nie wieder einsam fühlen.“
Langsam füllten sich die rubinroten Augen mit Tränen. Das war das wundervollste Geschenk, das er je bekommen hatte. Er schaute wieder zu Yuriy und sah, wie dieser ein ähnliches Amulett hochhielt. Auf diesem war jedoch ein majestätischer Vogel abgebildet und im Inneren erblickte er ein Abbild seiner selbst.
Das war zu viel für den Halbrussen, fest schlang er seine Arme um den Hals seines Freundes, während warme Tränen über seine Wangen flossen.
Er würde nie wieder allein sein. Dessen war er sich, mehr denn je, sicher.