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Bitte kommen

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Bitte kommen

Test, Test, Roger, Roger! Coconut-Gun an Bananarama, hörst du mich? Bananarama, bitte kommen. Over!“

Er hatte vielleicht einen schrecklichen Fehler gemacht.

Ich wiederhole, Bananarama, bitte kommen. Noch keine Sichtung von Chattanooga MewMew, Coconut-Gun out!“ Es vergingen vielleicht zwei Sekunden, bevor das Funkgerät wieder knisterte. „Du musst auch mitmachen, sonst wird das hier nichts, Shouta.“

Shouta Aizawa, seines Zeichens nicht Bananarama, nahm das Funkgerät von seinem Gürtel und hob es an den Mund, immer mit einem kritischen Blick auf die Batterieanzeige. „Hizashi,“ sagte er mit einem Unterton von Anstrengung, „warum haben wir Decknamen, wenn du dir neue ausdenkst?“

Und er fragte nicht, warum es gerade solche Namen sein mussten – die Kommission hatte die Anträge für ihre offiziellen Decknamen bereits angenommen, und auch wenn sie noch nicht lizenziert waren... stand nirgendwo geschrieben, dass man sich bis dahin nennen musste wie die Cocktailkarte von FrootFrump.

Weil wir uns unerlaubt nachts vom Lager entfernt haben! Wenn jemand unsere Frequenz abhört, weiß er, wer wir sind! Capisce?“

„Du meinst, unsere Lehrer erkennen unsere Stimmen nicht.“ An diesem Punkt gab Shouta sich keine Mühe, überzeugt zu klingen. „Oder es gibt irgendjemanden, der auf einem UA-Testgelände zivile Funkfrequenzen belauscht. Wirklich.“

Das Funkgerät blieb still, der Kanal geschlossen. Shouta runzelte die Stirn und hängte es wieder an seinen Gürtel, um mit beiden Händen ein Gebüsch zu teilen. Der Strahl seiner Taschenlampe strich über leise rauschende Lärchen, das dicke Bett aus Nadeln unter seinen Füßen dämpfte jeden Schritt, bis er sich selbst nicht mehr hörte. Die Bäume standen dicht, ständig zupften Zweige an seinem Haar oder dem dunklen Mantel, den er übergeworfen hatte: eine Tasche beulte sich von dem Bündel aus einer Dose ungesalzenem Thunfisch, einem rohen Ei, einem Tütchen Barbecue-Jerky und einem Trinkpäckchen laktosefreier Milch. Plus einem Haaröl mit Baldriannote, 'falls das was half'.

Um fair zu sein... Es war Shoutas Idee gewesen. Er hatte das Kätzchen gesehen, als der Bus die ganze Klasse aufs Trainingsgelände in der Wildnis gekarrt hatte: ein kleines Bündel Fell, das aus einem Karton hing und sich freizustrampeln versuchte. Die Gegend rings um ein Trainingsgelände war immer weiträumig unbewohnt, doch es war eine kleine Haltebucht mit Mülltonnen und einer Notrufsäule gewesen, also hatte es womöglich jemand dort ausgesetzt.

Nun... Hier wohnte niemand. Und sobald das Training morgen begann, würde sich auch sämtliches Getier verziehen, das wusste, was gut für es war, also keine Beute. Und... Ja.

Shouta war kein Regelbrecher, aber wenn es je einen guten Grund gegeben hatte, sich aus den Zelten zu schleichen und nachts in den Wald zu rennen...!

Ein Ast knackte unter seinem Schuh, beinahe erschreckend laut nach all den stummen Schritten. Shouta spähte durch die Baumkronen und versuchte sich zu orientieren, ob er immer noch auf dem direkten Weg zurück zur Straße war: er hatte beinahe vergessen, wie finster die Nacht jenseits von Lichtverschmutzung und Navigationshilfen war. Der Schein seiner Taschenlampe schien bloß wie ein Finger in die Dunkelheit zu stechen, umgeben von absoluter Schwärze.

Vielleicht war es nicht so klug gewesen wie gedacht, getrennt auszuschwärmen... Ursprünglich hatten sie das getan, falls einer von ihnen in einen Lehrer stolperte (und weil Shouta insgeheim nicht damit leben konnte, an überfahrene oder verhungerte Katzen zu denken, nachdem er sich dumm angestellt hatte), und jetzt waren sie außerhalb der Patrouillen, also...

„Hizashi?“

Ein kleiner Nachtfalter schwirrte um Shoutas Taschenlampe, irgendwo rechter Hand zirpte eine Zikade. Es war das einzige Geräusch in der Windstille... und es erinnerte Shouta daran, wie sehr Hizashi Insekten hasste.

Und wie unangenehm es für ihn sein musste, in einen dunklen Wald zu gehen, dessen Äste ständig an ihm kratzten und in seinem paranoiden Kopf überall Insekten auf ihn kriechen ließen, während die Taschenlampe weitere Nachtfalter anzog.

Trotzdem hatte er sofort zugestimmt, 'Chattanooga MewMew' zu suchen, und Tensei seine Milch abgefeilscht.

Schön... Die albernen Namen waren vielleicht fair, angesichts der Kosten. Shouta presste die Lippen zusammen, stählte sich und hob das Funkgerät wieder an die Lippen. „Uh... Coconut-Gun?“

Sofort knisterte das Gerät in seiner Hand und verdrängte die seltsame Stille des Waldes mit Hizashis energetischer Stimme – wenn er angespannt war, verbarg er es gut.

Coconut-Gun hört, was gibt es, Bananarama?“

Ah, richtig, das war Shouta. Er mochte Bananen nicht mal, übrigens! „Wir sollten uns regruppieren.“

Deal! Ich bin im Wald, wo bist du?“

„An einer falschen Abzweigung in meinem Leben.“

Sick burrrnsss, Sssho! Sie nennen dich nicht umsonst Slayzawa!“

„Niemand nennt mich so.“ Hoffentlich zumindest. „Gibt es in deiner Nähe irgendeinen Orientierungspunkt? In welchem Winkel bist du zum Nordstern?“

Hizashi lachte, doch Shouta hörte den nervösen Unterton heraus, der ihm bestätigte, dass er diese ganze Naturerfahrung schon jetzt hasste. Und zu reden beruhigte ihn. „Ich bin ein Mann der Stadt, ich bin's nicht gewohnt, dass Bäume nicht in Parks sind! Lass mich sehen, aaay, jemand müsste das hier mal ordnen, Bäume und so überall, pures Chaos, ich werd's der Schule vorschla-uff!“ Plötzlich ächzte Hizashi, und ein hässliches Knistern erfüllte die Leitung: wider besseren Wissens drehte Shouta den Kopf und schwenkte den Lichtkegel über seine Umgebung, als könnte er die Richtung des Geräusches damit feststellen.

„Hizashi?“

Das Knistern wurde leiser und ebbte zu einem Rauschen ab, und Shoutas Herz machte einen ersten angespannten Satz. Er hielt das Funkgerät an sein Ohr in der Hoffnung, ein dumpfes Kichern oder etwas in der Art zu hören; Hizashi war eigentlich nicht der Typ für so dümmliche Streiche, doch wenn er angespannt war, verfiel er vielleicht darauf.

Das wäre lästig, aber deutlich besser als die Möglichkeit, dass er sich noch vor Trainingsbeginn verletzt hatte, weil er seinem Freund hatte helfen wollen.

Und tatsächlich... Der Idiot kicherte.

Reingefallen! Ich wette, du hast dir gerade Sorgen gemacht, es ist nur ein bisschen Wald, Baby!“

„Du bist das Baby,“ brummte Shouta – es war nicht sein bestes Comeback, doch er spürte, wie sich die Spannung aus seinen Schultern wieder löste. Selbst wenn Hizashi nervös war... Sie hatten beide einen Anspruch an Professionalität. Man konnte nicht auf eine vorläufige Lizenz hinarbeiten und dann auf diesen Kinderkram verfallen.

Gereiztheit löste die Erleichterung ab, und Shouta nahm seine Wanderung wieder auf. Katze.

Bist du sauer?“

„Hör auf, die Batterien zu verbrauchen.“ Shouta konnte sehen, dass von den vormals fünf Balken bereits nur noch vier da waren, und dieser vierte flimmerte langsam – die Geräte waren veraltete Technologie mit bloß mittelmäßiger Reichweite, eigentlich hatte Hizashi sie nur mitgebracht, um auf eigene Faust mit Support-Gadgets zu experimentieren. Und um Shouta über den Zeltplatz hinweg anfunken zu können. Etwas merkwürdige Verwendung, das, aber Shouta wunderte sich über nichts mehr. Sie waren Freunde, oder?

Also ja! Aww, sei nicht so, ich wollte nur sehen, was du machst.“

„Du siehst mich aber nicht,“ erwiderte Shouta trocken, „und das ist das Problem.“

Hizashi summte leise und melodisch. „Das ist ein Problem, yeah. Keine Sorge, ich finde dich.“

Damit schloss er den Kanal. Es war merkwürdig, wie viel Vertrauen Hizashi in seine Pfadfinder-Künste hatte (denn Shouta hatte das nicht – sowohl Künste als auch Vertrauen), aber ein Held sollte auch nicht auf Ortsschilder und GPS-Tracker angewiesen sein. Ein Großteil ihrer späteren Arbeit würde im urbanen Umfeld stattfinden, doch das hier war auch eine wertvolle Übung.

Zweige raschelten links von ihm. Shouta hielt an und leuchtete auf das wippende Unterholz. Vermutlich ein nachtaktives Tier. Chatta-... Katze?

(Warum war Hizashi so gut darin, Namen zu verteilen und sie haften zu lassen? Oder war Shouta einfach so leicht von ihm zu beeinflussen? Ah... Nein, es war definitiv Hizashis Talent.)

Shouta zog das Barbecue-Jerky aus der Tasche und öffnete die Tüte: er hatte nicht vor, die Katze damit zu füttern, aber das Würzfleisch roch stark und würde die Kleine vielleicht überzeugen, näherzukommen. Auch wenn Shouta nicht völlig sicher war, denn was ihm aus dem Plastik entgegenwehte, roch nach mumifizierter Ananas.

„Hey,“ murmelte er leise und hockte sich vor das Gebüsch. War die Katze von der Straße schon bis hierher gelaufen? Shouta musste zugeben, dass er nicht genau wusste, was 'hierher' war, aber – man hatte sich nur verlaufen, wenn man nicht mehr wusste, wie man zurückkam. Und er wusste, wo das Lager war. Lebende Zielorte waren das Problem.

„Miez, miez...“ Er schüttelte das Jerky und schob die Taschenlampe langsam in den Busch, in der Hoffnung, dass ihn reflektierende Augen daraus anstarrten...

Das taten sie auch. Shouta zuckte zurück und setzte sich so abrupt auf den Hintern, dass er die Steine selbst durch das Bett der Lärchennadeln spürte, sein Atem schien in der Kehle festzustecken.

Es war der Kopf eines Tiers, aber... nur der Kopf. Leere Augen starrten Shouta aus dem Dickicht an, Fetzen von Fell klebten an Blättern und Moos. Schwer zu bestimmen, was es mal gewesen war: etwas hatte die Ohren abgekaut und den Schädel geknackt, den Zähnen nach war es vielleicht der Rest eines Kaninchens.

Shouta zwang sich, wieder auszuatmen. Das war bloß ein Kadaver. Hier draußen lebten Tiere nicht aus Dosen, das war ganz natürlich. Fressen, um zu überleben. Und er war albern, wenn er etwas Sadistisches in die Art hineininterpretierte, wie die Reste des Körpers verstümmelt waren... Katzen gingen mit Mäusen auch nicht besser um.

Shouta rappelte sich wieder auf und klopfte seine Hose ab – dann fiel ihm auf, dass er bei seinem (peinlichen) kleinen Sturz auf den Hintern das Funkgerät eingeschaltet hatte. Vermutlich hatte es ziemlich gerauscht, weil er darauf gesessen hatte. Bevor Hizashi auf Gedanken kam...

„Sorry, bin gestolpert.“ Shouta lauschte, aber ein so simples Gerät hatte keine Möglichkeit, um erkennen zu lassen, ob der andere ihn gehört hatte. „Hizashi? Uh... Bitte kommen.“

Immer noch nichts. Shouta verdrehte die Augen und schwor sich, das nur noch dieses eine Mal zu machen. „Bananarama an Coconut-Gun. Ich bin okay. Over.“

Hizashis Funkgerät öffnete immer noch keinen Kanal... aber Shouta konnte den anderen nicht dafür schelten, die Batterien zu verschwenden, um es dann selbst tun. Außerdem – Hizashi war niemand, um den man sich Sorgen machen musste. Menschen neigten dazu, ihn für einen großmäuligen Idioten zu halten, weil er sich gern wie einer präsentierte.

Shouta sah anderen Menschen nicht gern in die Augen, doch kaum jemandem schien aufzufallen, was sich hinter Hizashis verspiegelten Brillengläsern abspielte.

Also gut... Shouta brauchte Überblick, um sicherzugehen, dass er sich immer noch auf dem Weg zur Straße befand: und wenn er Glück hatte, entdeckte er sogar den Lichtkegel von Hizashis Taschenlampe. Shouta blickte zu dem größten Baum auf, den er in der Nähe ausmachen konnte, und zeichnete mit den Augen seine Route, bevor er das Licht ausschaltete und an den Stamm trat. Noch war alles stockfinster, doch sobald seine Pupillen sich an den Mangel an Licht gewöhnt hatten, konnte er Schemen sehen. Er hätte die Taschenlampe auch zwischen die Zähne klemmen können, aber das Risiko, dass sie ihm herunterfiel, wenn er sich nach oben zog und die Äste an ihm zogen, war zu groß. Plus – seine Augen waren das, was er trainieren musste.

Mit einem leisen Grunzen wuchtete Shouta sich hoch und klemmte seinen Fuß in einem unangenehmen Winkel auf einen Ast. Nadeln stachen ihm in die Hände und Rindenkrümel rieselten in seine Ärmel, doch er konnte nicht anhalten und sie ausschütteln: in seinem Kopf lag der Plan vor ihm, und jede Verzögerung verzerrte ihn.

Als Shouta sich weiter vortastete und nach neuem Halt suchte, knisterte sein Funkgerät. Er hatte keine Hand frei, um seinen Kanal zu öffnen, aber Hizashi musste vorhin gehört haben, dass es ihm gut ging, also...

Shouta... Wo bist du?“

Shouta dachte einen Moment darüber nach, wirklich anzuhalten und zu antworten, einfach weil 'Ich klettere im Dunkeln auf einen Baum und bin voller Spinnweben und etwas krabbelt in meinen Nacken' eine kindische (und ein bisschen verlockende) Revanche war, aber... dann erinnerte er sich wieder an Hizashis begeisterte Zustimmung zu einem nächtlichen Ausflug, nur aufgrund einer vagen Ahnung aus einem Busfenster. Und weil Shouta ihn gebeten hatte, sich mit ihm wegzuschleichen.

Also – nein.

Es ist so still hier draußen. Shouta, antworte mir? Bitte?“

Shoutas Hand glitt von etwas Feuchtem ab, und sein Gleichgewicht wurde jäh zur Seite gerissen: er griff blindlings in die Schwärze nach einem neuen Halt, während die Anstrengung an seinem anderen Arm zerrte und seine Füße bald von ihrem schmalen Zehenstand abrutschen würden – er konnte Hizashi nicht antworten, und auch wenn er den Boden nicht sehen konnte, wusste er, dass ein Sturz mittlerweile ernste Konsequenzen haben konnte. Er hatte sich noch nicht ins obere Drittel des Baums vorgearbeitet, wo er zumindest Mondlicht hätte...

Wo bist du?“ wiederholte Hizashi, diesmal drängender. „Ich finde dich nicht.“

Da! Endlich schlossen sich Shoutas Finger um einen Ast, der dick genug war, um sein Gewicht zu halten. Er schwang sich ungelenk herüber und schaffte es, ein Bein über seinen neuen Halt zu werfen, um den Stamm mit den Armen zu umklammern. Schweiß begann, das Haar an seine Stirn zu kleben, und er blinzelte angestrengt: wenn er den Ast über sich greifen konnte, kam er aus diesem Spagat heraus, auf den weder seine Beine noch seine Hose vorbereitet waren... Er presste die Lippen zusammen und griff in die Dunkelheit – stieß auf etwas Festes, Drahtiges und schob es kurzerhand weg, um endlich sein Gewicht verlagern zu können.

Schrilles Kreischen und Flügelschlagen erhob sich in dem Moment, als Shouta das Objekt zur Seite kippte: ein Vogelnest, das jetzt knisternd und knackend durchs Geäst fiel. Shouta drückte die Stirn gegen den Baumstamm, als sich der Vogel mit einem zornigen Zischen in die Luft schwang; seine Hand brannte, er konnte nicht sagen, ob sie blutete. Er machte sich so klein wie möglich und zog die Schultern hoch, um sich zu schützen.

Glücklicherweise schien der Vogel mit dem Verlust seines Nests schon den meisten Kampfeswillen verloren zu haben, denn er hackte nur ein paar Mal auf Shoutas Ärmel, bevor er kreischend davonflatterte. Vielleicht hatte sich das Tier auch erinnert, wie dumm es war, die nachtaktiven Räuber auf sich aufmerksam zu machen...

Ich habe dich gehört.“

Shouta öffnete die Augen und atmete leise aus. Blut lief über seine rechte Hand: nicht viel, aber er würde es auf das Funkgerät schmieren, wenn er jetzt antwortete – außerdem war Hizashi offenbar schon nah genug. Wer hätte gedacht, dass der andere sich so gut zurechtfand, sobald er nervös wurde... Shouta zog mit spitzen Fingern die Taschenlampe hervor, um sich seine Hände anzusehen, doch obwohl der Vogel weg war, blieb eine Spur Unbehagen.

Ein dunkler Wald war für Stadtkinder erstaunlich unheimlich. Und dass man sich der Kriminalitätsbekämpfung verschrieben hatte und sein Leben riskierte, machte einen nicht furchtlos. Dennoch... Es sah Hizashi nicht ähnlich, Angst zu zeigen. Trotz seiner extrovertierten Art war er niemand, der Gesellschaft suchte, wenn er angespannt war – sein Quirk war eher riskant für Menschen in seiner Nähe.

Shouta sagte sich, dass es keinen Grund für dieses Unbehagen gab. Sobald er seine Hände abgewischt hatte, konnte er zurückfunken, und Hizashi würde sich beruhigen.

In dem Moment, in dem er die Taschenlampe anschalten wollte, sah er nach unten. Es gab keinen bestimmten Grund, warum er das tat, denn wenn man sich in gewisser Höhe befand, sah man besser nicht nach unten. Doch es war etwas, das man vielleicht als Instinkt bezeichnen konnte.

Wären seine Augen nicht an die Dunkelheit gewöhnt, hätte Shouta nichts gesehen. Aber das, zusammen mit der Tatsache, dass die Lärchennadeln heller waren als Gras, erlaubte ihm, durch die Äste einen Schemen zu sehen.

Etwas bewegte sich dort unten: die Form war schwer auszumachen, aber etwas an der Art, wie es sich bewegte, ließ Shoutas Blut stocken.

Instinkt erwarb man mit Jahren der Erfahrung, und Shouta war immer noch ein Schüler. Dennoch spürte er mit absoluter Sicherheit, dass was sich dort unten befand... etwas war, dem er nicht begegnen durfte.

Der Schemen näherte sich der Stelle, an der Shouta den Kopf entdeckt hatte, und verschmolz mit der Dunkelheit des Gebüschs. Äste knackten und krachten, und mit einem Anflug von Übelkeit wurde Shouta klar, dass wenn er nicht auf einem Aussichtspunkt wäre, er ohne nachzudenken in die Richtung der Geräusche gegangen wäre, weil es Hizashi sein musste, der durch das Unterholz stieg.

Ich habe dich gehört.

Das Wesen ließ vom Gebüsch ab und bewegte sich zu der Stelle, an der das Vogelnest heruntergefallen war. Wenn es irgendeine Intelligenz besaß, würde es wissen, dass das Nest von oben gekommen sein musste. Und es würde nach oben schauen.

Shouta wusste, dass er das Gesicht abwenden musste. Seine Haut war heller als die Umgebung, aber wenn er den Kopf drehte, verschmolz sein Haar mit der Dunkelheit und er hatte eine Chance, nicht bemerkt zu werden...

Aber er konnte sich nicht rühren. Er war wie eingefroren. Sein Herz hämmerte gegen die Rippen, seine Hände schwitzten, und er konnte nur daran denken, dass wenn jetzt sein Funkgerät aktiv wurde, dieses Ding genau wissen würde, wo er war... und dass er Angst davor hatte. Sein Körper gehorchte ihm nicht, während er auf dem Ast kauerte und nach unten starrte.

Etwas knackte auf dem Waldboden, der dunkle Schemen verschob sich. Vielleicht hockte er sich hin, denn seine Umrisse formten Kanten, knirschten dumpf – und dann begegnete Shouta glimmenden weißen Augen.

„Miez, miez,“ krächzte etwas, das unmöglich eine menschliche Stimme sein konnte. Es war wie das Echo aus einem tiefen Schacht, wie eine beschädigte alte Kassette aus Hizashis Sammlung.

Shouta erkannte seine eigenen Worte erst einen Herzschlag später. Verzerrt und blechern, aber... seine Worte.

„Miez, miez,“ wiederholte es heiser. „Miezmiezmiezmiezzz...“

In diesem Moment ertönte in der Ferne das Kreischen von Blech und ein grelles Pfeifen, und in dem Sekundenbruchteil, in dem Shouta blinzelte, war der dunkle Umriss fort. Äste raschelten und krachten, bevor es abrupt wieder still war.

Er kauerte auf dem Ast und wagte nicht zu atmen, Schweiß klebte seinen Pullover am Rücken fest und seine Hände waren so kalt, dass er sie nicht fühlen konnte.

Er war nicht entdeckt worden, und wenn er schnell genug verschwand, würde das so bleiben. Aber Hizashi... Hizashi war irgendwo hier draußen und wusste nicht, was hier-... Shouta wusste auch nicht, was es gewesen war, und wovor er seinen Freund warnen wollte. Er war sich nur sicher, dass sie beide zum Lager zurück mussten... Und er musste von diesem Baum herunter, bevor das Ding zurückkam.

Es war der längste Abstieg von Shoutas Leben. Seine steifen Hände stellten sich an, als er sich ungeschickt nach unten hangelte, und seine Gedanken rasten wirr in seinem Kopf herum, aber er durfte nicht noch einmal erstarren. Jede Sekunde lauschte er auf das Krachen von Ästen oder das Rascheln von Gebüsch, und zwischen dem Lauschen und einem möglichst raschen Abstieg dehnte die Zeit sich unerträglich.

Shoutas Knie gaben beinahe nach, als seine Füße endlich auf den dicken Nadelteppich aufsetzten. Er erlaubte sich eine Sekunde für ein tiefes Durchatmen, dann fingerte er die Taschenlampe hervor und zwang sich, sie anzuschalten, obwohl jeder Instinkt in ihm sich dagegen sträubte, sich sichtbar zu machen. Aber er musste Informationen sammeln... Sonst waren Hizashi und er ausgeliefert.

Zuerst ließ die moderate Helligkeit ihn blinzeln, selbst auf den Boden gerichtet. Sein Blick huschte noch einmal herum, bevor er den Boden untersuchte.

Vor seinen Füßen war die Erde aufgewühlt, der Nadelteppich wies tiefe Rillen auf: etwas hatte hier jäh beschleunigt und war in die Richtung des Geräusches aufgebrochen. Keine eindeutigen Spuren führten hierher, und die Abdrücke im Erdreich waren tief und parallel. Am ehesten erinnerten sie Shouta an ein Reptil, dessen Körper sich zwischen den Beinen anstatt darüber befand; das passte zu dem Bewegungsmuster und dem Mangel an Geräuschen, mit denen es sich vor dem Beschleunigen durch den Wald bewegt hatte.

Es verließ sich offenbar auf sein Gehör, auch wenn die Augen, in die Shouta geblickt hatte, vermutlich das sekundäre Sinnesorgan waren.

Wäre der Waldboden nicht so dick mit Lärchennadeln bedeckt, dass jedes Schrittgeräusch gedämpft wurde... hätte es Shouta dann viel eher geortet, noch bevor er auf den Baum kletterte und das Vogelnest herunterwarf?

Der Gedanke ließ wieder die lähmende Kälte durch seinen Körper kriechen, die schlicht und ergreifend Angst war. Angst war vernünftig; aber wenn er sich von ihr vereinnahmen ließ, waren Hizashi und er in Schwierigkeiten.

Shouta griff nach dem Funkgerät, zögerte jedoch – was, wenn er Hizashis Position damit verriet, ihn anzufunken? Der andere hatte ihm ohnehin lange nicht mehr geantwortet, und-... Was, wenn das Kreischen kein Blech gewesen war, sondern Hizashi?

Shouta stolperte über seine eigenen Füße, fing sich und rannte los: den Spuren des Wesens nach und tief geduckt, sodass die meisten Äste nur über sein Haar und seine Schultern peitschten. Sein rationaler Verstand tobte bei jedem Schritt – das war so dumm, so gefährlich! – aber er konnte nicht in die andere Richtung. Hizashi konnte nicht annähernd leise kämpfen, er konnte oft genug nicht mal leise reden, aber zusammen...!

Scheiß drauf. Shouta schaltete das Funkgerät ein, ohne nennenswert langsamer zu werden. „Hizashi. Bist du okay?“ Er holte zischend Luft. „Du musst still sein... Sag mir nur, ob du okay bist.“

Er war nicht halb so professionell, wie er von sich gedacht hatte – Shouta war sicher gewesen, dass er darauf vorbereitet war, wenn seine Kameraden verwundet wurden oder MIA gingen, denn das war das Berufsrisiko. Ob man nun Katzen oder Menschen oder Rohstoffe rettete. Und kaum verlor er Funkkontakt zu seinem Freund, gingen seine Nerven durch. Idiot.

Abrupt endeten die Spuren, und Shouta schlitterte in den Stand, keuchend und verwirrt. Er schwenkte den Lichtfinger der Taschenlampe hüfthoch und stellte fest, dass das verräterische Nadelbett zurückwich und Laubbäume dominierten. Ab hier war jeder Schritt lauter, dafür reichten die Äste nicht mehr so tief. Shouta atmete schnaufend aus und duckte sich hinter einen Baum, schaltete die Taschenlampe aus. Ab hier brauchte er einen neuen Plan-

Sho?“

Shouta hätte beinahe das Funkgerät fallen lassen wie ein, hm, Idiot. Er erlaubte sich, die Augen für einen Moment zu schließen und die Erleichterung zu spüren.

„Hey,“ krächzte er, unprofessionell und okay damit.

Warum hast du mir nicht geantwortet?“

Zum Glück, dann war Hizashi diesem Ding noch nicht begegnet. Shouta wischte sich Haar aus der Stirn und schmierte eine Mischung aus Blut und Harz auf seine Haut, aber das war auf seiner Prioritätenliste mittlerweile weit heruntergerutscht.

„Hör mir zu. Du musst ins Lager zurück, so leise wie du kannst. Hast du-“

Warum hast du mich denken lassen, du wärst weg?! Es war so still!“ Hizashi atmete knisternd ein, so nah am Funkgerät, dass Shouta den belegten Unterton in seiner Stimme hören konnte. „Es war – so – still!“

Shouta hielt inne, verunsichert von Hizashis emotionaler Reaktion. Normalerweise hätte er ihm einfach gesagt, dass er sich zusammenreißen sollte, doch er kannte den anderen auch nicht als so verletzlich. Bei all der Hysterie wegen Insekten war Hizashi sonst nicht instabil... und gerade jetzt musste er dringend den Mund halten, um sich nicht in Gefahr zu bringen.

„Es tut mir leid,“ erwiderte Shouta knapp. „Wo ich bin, wechselt die Bewaldung. Ich gebe dir ein Lichtzeichen, warte.“

Hizashi atmete noch einmal stockend aus, und das musste reichen – Shouta schloss den Kanal wieder und leuchtete die Umgebung ab. Wenn er in etwa lokalisieren konnte, wie weit sie voneinander entfernt waren, konnte er die Straße oder das Lager als günstigeren Treffpunkt-

Etwas streifte sein Bein, und Shouta zuckte zusammen: seine Augen streiften suchend umher, fanden jedoch nichts, an das sein Quirk sich heften konnte. Seine Hand tastete über seine Seite, bereit, den Griff der Taschenlampe auf das krachen zu lassen, was ihn gestreift hatte.

Aber statt eines lebendigen Objekts war es... sein Handy. Sein verdammtes vibrierendes Handy.

Shouta hatte vergessen, dass es überhaupt noch in seiner Hosentasche war – die Netzabdeckung war miserabel – und noch mehr überraschte es ihn, dass es ein Signal aufgefangen hatte. Allerdings rechtfertigte das nicht, sich vor dem Vibrieren seines eigenen Handys zu erschrecken... Shouta holte es aus der Tasche, selbst die geringe Helligkeit des Displays zerrte an seinen Nerven.

Und warum rief Hizashi ihn an, wenn sie zuverlässiger über Funk verbunden waren? Es musste einen Grund geben, nur hoffentlich war es auch ein guter.

„Ja?“

Das Summen und Gurgeln von schwachem Empfang war noch schwieriger auszuhalten als das Knistern des Funkgeräts, und Shoutas Blick schweifte noch unruhiger über den dunklen Wald ringsum.

Sho? Zzz--aah, shit. S'rry, hörst -u mich?“

„Ja,“ erwiderte Shouta und unterdrückte seine Gereiztheit. „Ist deine Batterie leer?“

Scheiße, er hatte völlig vergessen, darauf zu achten, wie viel Saft das Funkgerät noch hatte...

-eiiin, in der Pampa is' -ull Verbindung! -chr --zig Mal angeruf'n!“

„Hizashi,“ zischte Shouta durch zusammengebissene Zähne. „Was.“

Hizashi atmete aus, und die Leitung warf es als Echo zurück. „Da war 'ne Böschung, ja, u-,“ an diesem Punkt schien seine Stimme aus weiter Ferne zu kommen, und Shouta musste sich anstrengen, ihn zu verstehen, „uncool, irgendwas 's auf der Straße passiert. Bin auf dem Weg.“

„Hizashi,“ wiederholte Shouta, und diesmal schien auch seine eigene Stimme wie erstickt. „Was ist mit deinem Funkgerät passiert.“

An diesem Punkt presste er das Handy förmlich an sein Ohr.

-s? Sho? Ich hör-“

Der Anruf brach ab und ließ Shouta mit einem Gefühl zurück, als wäre ein Eisklumpen in seine Magengrube gerutscht.

Hier stimmte etwas nicht. Mit Hizashi... stimmte etwas nicht.

Die Art, wie er sich verhielt, ging über das hinaus, was Shouta als Anspannung abtun konnte: es war eher ein Bauchgefühl als eine konkrete Vorstellung.

Hizashi hatte ihm gesagt, dass er sich dort befand, wo es 'still' war, also im Nadelwald, und dass er auf dem Weg zur Straße war. Shouta wurde das ungute Gefühl nicht los, aber er musste versuchen, zu dem anderen aufzuschließen. Eventuell bekam er in dieser Richtung auch ein Signal für sein Handy.

Die Bäume standen nicht mehr so dicht, er konnte auch ohne Licht laufen. Es war die Richtung zur Straße, allerdings nur grob; vielleicht konnte er ein Auto anhalten, wenn er Glück hatte, oder die Notrufsäule an der Haltebucht benutzen-

Bananarama? Bitte kommen.“

Shouta wurde langsamer, hielt aber nicht an, als er das Funkgerät in die Hand nahm. Doch... dann antwortete er nicht.

Ich seh' dein Zeichen nicht, Sho. Komm schon, wir sind allein im Wald – make some noise, yeah!“

Shouta wurde noch langsamer.

Schön, schön, ich bin nicht mehr sauer. Hey, ich höre dich nicht mehr...“

Nicht mehr.

Shouta stolperte beinahe in ein Gebüsch, hielt sich jedoch rechtzeitig an einem Stamm fest und drückte sich dagegen. Diesmal zitterten seine Knie nicht aus Anstrengung, und es war eine andere Angst in seinen Gliedern – eine,von der er jetzt schon wusste, dass er sich nie an sie gewöhnen würde.

„Hizashi,“ sagte er leise. „Wie ist mein Name?“

Hizashi lachte. „Shouta? Sho? Slayzawa? Oh, magst du Bananarama jetzt doch?“

„Wie,“ wiederholte Shouta noch leiser, „ist der andere Name?“

Aw, Mann! Hast du einen zweiten Vornamen, von dem du mir nie erzählt hast?“

Hizashi würde nie den Decknamen vergessen, den er sich ausgedacht hatte. Aber über Funk hatten sie nie von 'Eraserhead' gesprochen.

Shouta musste seinen Plan sofort fassen, und trotz der eisigen Angst, die ihn im Griff hielt, funktionierte sein Verstand diesmal seltsam klar: irgendwo neben der Angst brodelte eine schlichte und sture Wut, dass irgendetwas sie in dieser Art benutzt hatte.

Er brauchte einen hohen Baum, auf den er klettern konnte. Die meisten Äste waren zu weit oben für ihn, und Klettern war auch nicht Shoutas Stärke. Er musste schnell sein; er hatte vorhin verraten, dass er sich an einer Vegetationsgrenze befand, und noch war er nicht weit davon weg-

Du hast es gemerkt, oder?“

Es war... immer noch Hizashis Stimme. Das war vielleicht das Schlimmste daran: der leicht überdrehte Tonfall, die verspielte Note, jede Höhenlage. Es gab keinen Unterschied.

Shouta erwog flüchtig, sich dumm zu stellen, doch er war nicht gut darin. Ein geschickter Verhandlungsführer konnte Informationen entlocken, aber es war Hizashis verdammte Stimme, die von irgendeinem... Ding benutzt wurde, und Shouta war nicht sicher, ob er das professionell händeln konnte.

Nur eine Sache...

„Wenn du ihm etwas getan hast, bringe ich dich um.“

Helden waren keine Mörder – das war eine der wichtigsten Lektionen. Sie nahmen Kriminelle fest, sie führten keine Hinrichtungen durch.

Aber in diesem Moment meinte Shouta, was er sagte.

Hizashis Stimme gluckste leise. „Ich habe dir gesagt, ich finde dich. Miez, miez...“

Shouta nahm den nächstbesten Baum, für den seine Arme ausreichten. Er kletterte diesmal nur knapp übermannshoch und suchte sich eine Astgabel, um seinen Mantel auszuziehen und das Funkgerät sowie sein Handy darin einzuwickeln, bevor er das Bündel dort festknotete. Das Handy stellte er auf einen Podcast, den Hizashi ihm (ungefragt) überspielt hatte, weil es 'dope shit' war – vielleicht würde eine leise Stimme genug Ablenkung bieten, um dieses Wesen in die Irre zu führen. Zuletzt steckte er die eingeschaltete Taschenlampe in das Bündel, sodass die kleine Lichtsäule Richtung Himmel wies.

Es war sein bester Plan, bis er Hizashi gefunden hatte. Und trotz seiner Worte hatte Shouta keine Ahnung, was er tun würde, wenn er den anderen nicht wohlauf vorfand.

Schmerz raste seine Knöchel hinauf, als er wieder vom Ast herabsprang und im Gras landete, doch Shouta achtete nicht darauf. Obwohl ein Mantel aus Stoff objektiv keinen Schutz bot und sein Handy keine Verbindung zum Netz mehr hatte, fühlte er sich ausgeliefert, und alles, was er wollte, war dieses unübersichtliche Terrain zu verlassen. Die Dunkelheit war immer noch tief, er stolperte über Mulden und Steine, aber wenn er sich konzentrierte, reichte das bisschen Mondlicht...!

Wie eine übersinnliche Erscheinung tauchte die Böschung vor ihm auf, hinter der sich die Landstraße erhob. Shouta rannte schneller, fiel, rappelte sich auf und hastete weiter. Vor seinen brennenden Augen zeichnete sich ein Lichtschein ab, verlockende Sicherheit, die einfach nicht näher zu kommen schien, egal wie sehr er rannte.

Dann war da der Geruch von Benzin und blondes Haar, das im Feuer gleißte.

Shouta bremste so abrupt, dass seine Freizeitschuhe auf dem feuchten Gras rutschten und er auf die Knie fiel, doch er musste nur die Augen offen halten, um sich zu verteidigen.

„Shouta?“

Hizashi – oder, so sehr es schmerzte: etwas, das womöglich Hizashi war – wandte sich ihm zu. Er hatte seine Brille verloren, und seine Kleidung und sein Gesicht waren dreckverschmiert. Der Rauch des Feuers trocknete Shoutas Augen und würde ihn bald zum Blinzeln zwingen.

Brennendes Autowrack. Hizashi. Shouta wollte ihm vertrauen, aber diese Szenerie war... böse.

„Shouta, ich bin's. Niemand ist im Auto, der Fahrer ist vielleicht in den Wald gelaufen-“

„Warum in den Wald,“ zischte Shouta. „Warum... willst du zurück in den Wald?“

Hizashi antwortete ihm nicht sofort. Durch den Tränenschleier seiner immer gereizter werdenden Augen und im Widerschein des Feuers konnte Shouta sein Gesicht kaum erkennen, aber was machte das, wenn die Imitation perfekt war? Wie konnte er noch sicher sein, wer vor ihm stand?!

„Du hast Recht,“ hörte er Hizashi sagen, in einem seltsam ruhigen Tonfall.

„Lass uns Hilfe rufen.“

 

Sie kletterten die Böschung hoch, um auf die Straße zu kommen: Shouta folgte wie betäubt und ließ Hizashi keinen Moment aus den Augen, während dieser mit der Notrufsäule die Rettung rief und sie bat, das örtliche UA-Trainingscamp für ihn zu verständigen. Er hatte nichts mehr zu Shouta gesagt und auch nicht versucht, ihm näher als zwei Meter zu kommen.

Er hatte kein Funkgerät bei sich.

Hizashi hängte den Hörer wieder ein und lehnte sich gegen die rote Säule. Er wirkte ruhig, doch seine Pupillen waren große, dunkle Flecken.

„Bist du okay?“ Er musterte Shoutas Hand unsicher. „Lass mich sehen.“

Shouta starrte ihn nur an und sagte sich, dass er nicht schlichtweg Angst hatte, die Frage zu stellen. Denn noch konnte er sich einreden, dass das Hizashi war. Wenn er ihn fragte und keine Antwort erhielt, dann war sein Freund...

„Mic,“ krächzte er. „Wie ist mein Name?“

Hizashi grinste nicht, wie er es sonst getan hätte, wenn Shouta etwas Dummes fragte. Die Abwesenheit von Heiterkeit war so... schrecklich ermutigend.

„Eraserhead.“

Shouta sagte nichts: seine Kehle war wie zugeschnürt, und Hizashi, weil er wirklich Hizashi war, ließ ihn. Er bot ihm nur seine Jacke an und hockte neben ihm an der Straße, bis die Rettungskräfte und Lehrer eintrafen.

 

Zeit dehnte sich unerträglich, wenn man ausharren musste, aber tatsächlich verstrichen zwei Stunden, bis man sie abholte. Shouta wusste, dass es Gründe dafür geben musste – jenseits erzieherischer Maßnahmen. Was hier passierte, spielte sich nicht in seinem Kopf ab: es war eine Bedrohung, auf die Menschen, die dafür geschult waren, angemessen reagierten.

Das sollte ihn mehr beruhigen.

„Aizawa.“ Seine Klassenlehrerin war nicht erfreut, aber selbst durch die undurchdringliche Fassade eines Profis hindurch konnte Shouta sehen, dass ihn und Hizashi zu schelten das Geringste war, was sie beschäftigte. Einen Moment sah sie zu, wie der Sanitäter Shoutas Hand versorgte, dann zog sie einen Plastikbeutel hervor.

Es war sein Handy. Durch die Folie hindurch war schwer zu erkennen, was daran klebte, doch es war mit hoher Wahrscheinlichkeit organisch.

„Woher haben Sie das?“

Als er fragte, wurde ihm bewusst, dass er keine Antwort erhalten würde – und dass es gnädiger so war.

Seine Lehrerin musterte ihn scharf; sie schien sich zu fragen, was sie ihrerseits von seinen Antworten erwarten konnte.

„Zurück in den Bus, Junge.“

Gar nichts offenbar.

„Was ist mit dem Fahrer?“ Shoutas Blick wanderte zu dem ausgebrannten Autowrack und der Polizeiabsperrung: ein tragischer Unfall in der Nähe war kein Grund, UA-Schüler wieder nach Hause zu schicken, und niemand hatte ihnen gesagt, warum sie wieder aufbrachen.

Weil es nicht sicher ist. Und wenn selbst die Lehrer das denken...

„Darüber reden wir später.“ Die Seniorheldin erfasste ihn noch einmal mit ihren bohrenden Augen und fügte überraschend hinzu: „Am selben Ort wie das Handy. Jetzt geh.“

Sie schob ihn vorwärts, als wollte sie sicher gehen, dass er sich nicht verirrte, und die Tür des Busses schloss sich hinter ihm: er war offensichtlich der Letzte, und die ganze Klasse starrte ihn mit wechselnden Anteilen von Neugier, Vorwurf und Anspannung nieder.

„Sho!“ Hizashis Bühnenflüstern war ausnahmsweise wirklich als Flüstern zu kategorisieren; er winkte den anderen zu sich, und Shouta folgte dem Zeichen wie auf Autopilot, während der Bus anfuhr.

Letzte Nacht war etwas Schlimmes passiert, aber Hizashi und er hatten es überstanden. Nächstes Mal wären sie keine Opfer eines Ungeheuers mehr, und niemand würde sterben.

Für den Moment zog er Hizashis geliehene Jacke fester um die Schultern und ließ sich in den Sitz sacken. Normalerweise ließ Hizashi ihn ans Fenster, damit er gegen das Glas gelehnt dösen konnte, aber jetzt war ihm trotz seiner Erschöpfung nicht nach Schlaf.

Hizashi rückte etwas näher, die Arme verschränkt, und seine Wärme begann, durch Shoutas Seite zu dringen.

Na gut, vielleicht ein bisschen Ruhe...

„Sho,“ flüsterte Hizashi, „sieh dir an, was ich gefunden habe! Heyyy, Baby...! Keine Angst...

Er zog einen Zipfel der dünnen Decke zur Seite, die ihm ein Sanitäter übergeworfen hatte, und stupste die schwarzen Ohren an, die daraus ragten. „Chattanooga MewMew,“ raunte er verschwörerisch. „Sie liebt meine Stimme! Sag Hallo zu Daddy!“

„Du bist zu jung, um irgendwessen Vater zu sein.“ Shouta seufzte, lehnte sich jedoch herüber, um beinahe ehrfürchtig den Nacken der Katze zu streicheln.

Sie war das Ziel gewesen, und dass sie sie tatsächlich gefunden hatten, war... unfassbar. Es war wie eins dieser schrägen, kleinen Wunder, die einfach passierten, ohne dass die Welt es merkte.

Die Katze schauderte leicht bei Shoutas Berührung und wand sich in der Decke, um ihn ansehen zu können. Ihr Fell war teilweise verklebt und schmutzig, aber sie schien noch nicht unterernährt und einigermaßen kräftig.

Shoutas Atem stockte.

Die Augen der Katze waren trüb... und für einen Moment blitzten sie glimmend weiß.


Nachwort zu diesem Kapitel:
[Aufklärung über das Monster für interessierte Nicht-Spieler:


Der Goatman ist ein Monster, das Stimmen imitiert, die es gehört hat. Das Spiel charakterisiert es als hünenhafte Gestalt mit roten Augen, die sich auf zwei Beinen bewegt. In diesem Fall ist es kleiner, die Augen sind weiß, und um eine Stimme zu imitieren, muss es diese erst erzeugen und kann nicht gleichzeitig auf der Jagd sein. Versucht es beides (wie unter dem Baum, als es Shoutas Worte wiedergibt), kann es nur wortgetreu wiederholen, und die Stimme ist nicht ähnlich.
Der Goatman spielt gern mit seinen Opfern, aber (wie man vielleicht gemerkt hat), er will alle. Hätte er sich auf ein Opfer konzentriert, nun... Nun.] Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  kikoxd
2020-10-02T11:03:34+00:00 02.10.2020 13:03
Wow... das Monster war gruselig.
Schöne Spannung hast du aufgebaut. Konnte nicht aufhören weiter zu lesen.

Hatte schon Angst um Shouta und um Mic.
Wie das Vieh dieses 'miezmiez' imitiert hat ..... gruselig !

LG kiko


Antwort von:  Palmira
05.10.2020 22:27
Ah, vielen Dank!
Ich habe drüber nachgedacht... Wirklich.
Aber ich kann Mic nicht wehtun!


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