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Über die Unerträglichkeit des Wartens

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Über die Unerträglichkeit des Wartens

Die Standuhr schlug zur vollen Stunde und der schwere, blecherne Gong hallte aus dem Salon hinüber in das große Kaminzimmer.

Aimée hielt inne und ihre Finger stoppten mitten in der Bewegung. Sie blickte auf von den Schleifen und Weißdornzweigen, die vor ihr ausgebreitet auf dem Tisch lagen.

„Charlotte“, sagte sie leise.
 

„Sieben Uhr, Mylady“, kam die sofortige Antwort.
 

Sieben.
 

Ihr Blick glitt zu ihren Kindern - Bray und Lizzie stritten darüber wie eine Schleife gebunden werden sollte, Alvah half Anne damit eine Weihnachtskarte zu bemalen und Ben schnitt Papier und Verpackungen zurecht, da er zu Recht niemand anderem mit der großen silbernen Schere traute - und dann hinüber zu dem großen Fenster, welches bei Tageslicht einen Blick über den gesamten Hof und die Eingangstreppe gewährte.

Nicht jedoch so spät am Abend. Der Himmel war bereits nachtschwarz, die Bäume verschmolzen mit der Dunkelheit und der glitzernde Schnee auf dem Boden wurden nur beleuchtet durch das Licht einzelner Laternen, die Jackson im Eingangsbereich hatte aufstellen lassen. Sie schaukelten im Wind. Schneeflocken peitschten gegen die Scheiben. Es wurde dunkler und dunkler und der Schneesturm immer heftiger.

Sie konnte ihren Blick nicht davon lösen.
 

„Wünscht Ihr, dass ich die Vorhänge schließe?“ fragte Charlotte leise.
 

Aimée schüttelte den Kopf. „Lass sie noch ein wenig offen.“
 

„Jawohl, Mylady.“ Charlotte blieb am Fenster stehen, ihre Hände angstvoll verschränkt und ihr Blick suchend in die Dunkelheit gerichtet.
 

„Mama?“
 

Eine dünne Kinderstimme bewirkte, dass sie sich hastig zusammenriss und ein heiteres Gesicht machte, als sie sich ihrem jüngsten Sohn zuwandte. „Bist du schon fertig? Zeig her“, sagte sie und begutachtete das Geschenk, welches der 7jährige vor ihr abgelegt hatte. Die Schleife war ein wenig schief und der Weißdorn verrutscht, aber es war offensichtlich mit sehr viel Sorgfalt von kleinen Kinderhänden verpackt worden. „Es ist sehr schön geworden“, sagte sie. „Deine Cousine wird sich sehr darüber freuen.“
 

Alvah war still.

Als sie den Blick hob, bemerkte sie, dass er sie aufmerksam betrachtete, den Kopf zur Seite geneigt wie ein kleines Vögelchen. Sein Blick war ernst.
 

Besorgt streckte Aimée die Hand nach ihm aus. „Was ist mit dir? Fühlst du dich nicht wohl?“
 

„Mir fehlt nichts“, versicherte er eilig.
 

Sie nahm sein Gesicht in die Hände und betrachtete ihn eingehend. Er war nicht fiebrig, aber hinter seinen Augen arbeitete es, als ob ihn etwas beschäftigt oder als ob er vor einer Aufgabe stand, die er nicht zu lösen vermochte. Mehr als alles andere wünschte sie, dass Laurence hier wäre, der seinen jüngsten Sohn lesen konnte wie ein offenes Buch.

„Ist dir kalt?“
 

„Nein, Mama.“
 

„Hat Bray dich geärgert?“ Sie warf einen Blick zu ihrem temperamentvollen Zweitgeborenen, aber Bray stand vor dem Kamin, die schwarzen Locken in alle Richtungen abstehend, und war dabei mit ausschweifenden Gesten zu beschreiben, was er sich alles zu Weihnachten wünschte.
 

„Nein. Es ist nur ...“ Alvah brach ab. Einen Moment lang sah er jung und hilflos aus, und es zog in Aimées Herzgegend. „Darf ich euch helfen, die Geschenke für Onkel Bennett zu verpacken?“ fragte er schließlich.
 

Sie schob ihm einen Stuhl zurück. „Natürlich.“

Sie ahnte, dass es nicht das war, was ihn wirklich beschäftigte. Aber seine Anwesenheit hat es etwas entschieden Tröstliches an sich und eine Zeit lang gelang es ihr sich beinah vollkommen auf das Papier falten und Schleifen binden zu konzentrieren und die fortgeschrittene Uhrzeit zu ignorieren. Jackson kam und ging, es wurde Tee und heiße Schokolade gebracht und Feuerholz nachgelegt. Sie ließ das Abendessen um eine weitere halbe Stunde nach hinten schieben. Ben las aus einem Märchenbuch vor und Bray hatte seine Weste ausgezogen und die Hemdsärmel aufgeknöpft und imitierte dazugehörige Geräusche und schnitt Grimassen, bis Lizzie und Anne vor Lachen auf dem Boden saßen.

Nur Alvah blieb still und gehorsam neben ihr; er reichte ihr Papier und Samtbänder, hielt widerspenstige Ecken zusammen, wenn sie sich nicht binden lassen wollten und korrigierte kommentarlos Namensschilder, wenn Aimée in ihrer Fahrigkeit die Geschenke vertauschte.
 

„Mylady!“ Charlottes aufgeregte Stimme bewirkte, dass sie die Schere fallen ließ. „Kommt schnell! Ein Reiter!“
 

Aimée sprang auf und eilte zum Fenster. Pochenden Herzens griff sie nach Charlottes Hand. „Ist es...?“
 

„Ich kann es nicht erkennen, es ist zu dunkel. Er ist grade in den Hof geritten!“

Aimée packte nach dem Vorhang und ihre Finger verkrallten sich in den schweren, dunklen Samtstoff. Sekundenlang konnte sie nicht atmen vor lauter Anspannung.

Oh bitte, dachte sie. Bitte.
 

Eilige Schritte auf der Treppe bewirkten, dass sie sich eilig umdrehte.

„Mylady!“ japste Davy mit roten Wangen von der Tür. Er war der eifrigste der Hausdiener und so jung, dass seine Stimme in einem Satz dreimal die Tonlage wechselte. „Es ist der Graf! Er ist soeben eingetroffen.“

Der Graf.

Es gab nur einen einzigen Menschen, der in ihrem Haushalt so angekündigt wurde, ohne Namen oder Titel, einzig und allein der Rang, als wäre er der einzige Graf auf der ganzen Welt.
 

Victor.

Es war Victor.
 

Charlotte gab ein winziges Geräusch von sich und presste sofort eine Hand auf den Mund. „Oh, Mylady….“, hauchte sie. „Der Graf!“

Aimée benötigte nur einen Wimpernschlag um sich fassen. Sie straffte die Schultern, strich sich eilig den Rock glatt und nickte ihren ältesten Söhnen zu, die aufgesprungen waren und ihr gleichermaßen fragende (Ben) wie aufgeregte (Bray) Blicke zuwarfen. „Ihr dürft ihn in Empfang nehmen“, entschied sie. „Bray, renn nicht so schnell. Nein, Lizzie du nicht.“
 

„Aber Mamaa..!“
 

„Keine Widerworte jetzt.“ Es kam schärfer als beabsichtigt und Aimée bedauerte es beinah sofort wieder als sie Lizzies Gesicht sah.

Sie wandte sich um. „Setz dich ans Feuer, Charlotte“, sagte sie mit einem Blick auf ihr bleiches Gesicht. „Es ist noch heiße Schokolade da.“
 

„Aber der Graf...!“
 

„Ich werde mit meinem Schwager sprechen und ihn über die… Umstände in Kenntnis setzen. Es besteht kein Grund sich zu erregen.“
 

Charlotte atmete tief durch und knickste verlegen. „Danke, Mylady.“
 

Aimée sah ihr nach, von plötzlichem, schmerzhaftem Mitgefühl für das arme Mädchen ergriffen. Sie musste mit Laurence über sie sprechen, dachte sie. Vielleicht war es möglich ihr etwas Geld zurücklegen. Eine Mitgift. Laurence würde sicherlich…

Sie untersagte sich den Gedanken so abrupt wie er gekommen war. Später. Sie würde später über Laurence nachdenken. Wenn er wieder da war. Keine Sekunde früher.
 

Eine winzige Hand schob sich in ihre. Unbemerkt von ihr, hatte Alvah sich an ihre Seite gedrängt. Überrascht senkte sie den Blick. „Willst du den Grafen nicht begrüßen?“ Normalerweise war Alvah der Erste, der seinem Onkel entgegenrannte, wenn er eintraf.
 

Alvah zögerte, dann schüttelte er stumm den Kopf. Seine schmalen Finger schlossen sich nachdrücklich um ihre.

„Vater ist sehr spät dran, nicht wahr?“ sagte er schließlich und Aimée spürte wie ihr Herz sich zusammenzog.

Natürlich, dachte sie, sekundenlang wie gelähmt. Natürlich spürte er was los war. Wie hatte sie erwarten können es vor ihm zu verbergen.

Genau wie sein Vater…
 

„Sorg dich nicht“, erwiderte sie. „Es ist alles gut. Er wird bald zurück sein.“
 

Alvah nickte. „Er hat es versprochen.“ Aimée hatte das deutliche Gefühl, dass diese Versicherung zu ihrer Beruhigung gedacht war, mehr als zu seiner eigenen.
 

Sie kam nicht mehr dazu weiter darüber nachzudenken, denn in diesem Moment betrat der Graf von Fawnwood den Raum und erfüllte ihn sofort mit seiner Präsenz.

Ben lief an seiner linken Seite, den Blick hingebungsvoll auf seinen Onkel gerichtet, trug er dessen Reithut in der Hand. Bray hing auf der anderen Seite an seinem Arm, die Tatsache vergessend, dass er bereits 12 und damit schon viel zu erwachsen dafür sein sollte, und redete in rasantem Tempo auf ihn ein.

„... Schneeballschlacht, aber eigentlich war es wie eine richtige Schlacht! Wir haben gewonnen, nicht wahr Ben? Sie waren bestimmt zwanzig Mann, und wir....“
 

„Sie waren zu siebt“, korrigierte Ben.
 

„Erwachsene Männer!“
 

„Sechstklässler.“
 

Bray wischte diese belanglosen Tatsachen mit einer Handbewegung beiseite. „Sie waren in der Überzahl und oh, Onkel! Sie waren so garstig! Schimpf und Schande über das was sie gesagt haben. Sie wagten es zu behaupten, dass...“
 

„Nicht in Mutters Anwesenheit“, befahl Ben streng und Bray verstummte hastig.

„Bitte entschuldigt, Mutter.“ Ben verneigte sich, formell und korrekt.

Wie er stets um Jahre älter aussehen konnte als er tatsächlich war, und Bray um Jahre jünger, obwohl sie sich doch äußerlich in jeder Hinsicht glichen wie ein Ei dem anderen, war Aimée ein ewiges Rätsel.
 

Sie schulte ihr Gesicht und untersagte sich jede Spekulation darüber welcher Art diese Unterstellungen gewesen waren, die ihre Familie betrafen. Sie hatte ein recht akkurates Bild davon, was in der Gesellschaft über sie erzählt wurde. Aber um nichts in der Welt hätte sie Ben die Illusion nehmen wollen, dass sie viel zu unschuldig und zart besaitet war um darüber Bescheid zu wissen.
 

„Es war schändlich“, flüsterte Bray in theatralisch gesenkter Stimme. „Aber wir haben den Namen unserer Familie verteidigt, Onkel! Ben war so ehrenwert! So mutig! So schnell. Niemand konnte ihm das Wasser reichen.“
 

Ben errötete zutiefst angesichts dieser Lobpreisungen.
 

„So wahr ich hier stehe, es stimmt!“ beteuerte Bray.
 

„Ich bin sicher, du hast unserer Familie die größte Ehre gemacht“, sagte Victor mit einem Blick zu Ben, der ihn noch weiter erröten ließ, dieses Mal vor Stolz.
 

„Danke, Mylord.“ Ben entfernte seinen ungezogenen Zwilling vom Arm seines Onkels und zerrte ihn mit sich hinüber zum Kamin.

„Aber ich war noch gar nicht …!“ protestierte Bray.
 

„Dir ist kalt. Wo ist deine Weste?“
 

„Mir ist nicht...“
 

„Deine Zähne klappern!“
 

„Onkel Victor! Onkel Victor!“

Lizzie sprang vor ihrem Onkel auf und ab und hob begehrlich die Arme. Anne stand einen Schritt hinter ihr, eine Stoffpuppe in ihren Armen und mit großen, glänzenden Augen.

Victor begrüßte seine kleinen Nichten voller Aufmerksamkeit und Zuneigung, und einen Moment lang gelang Aimée es ihre Sorge beiseite zu schieben bei dem entzückenden Schauspiel, was sich vor ihren Augen abspielte.

Niemand, da war sie ganz sicher, bekam je diese Seite des Grafen zu sehen, noch hätte es jemals jemand geglaubt. Streng und unnahbar waren die Wörter mit denen ihr Schwager hinter vorgehaltener Hand am häufigsten beschrieben wurde. Furchteinflößend war eine weiteres Beschreibung, die im Zusammenhang mit ihm häufig fiel.
 

„Charlotte“, sagte Aimée. „Bitte befreie den Grafen.“
 

„Sofort, Mylady.“ Charlotte klatschte in die Hände. „Lizzie, Anne. Der Graf will sich hinsetzen. Und wir sind noch nicht fertig mit dem Basteln.“
 

„Charlotte.“
 

„Mylord.“ Sie errötete als er ihren Namen nannte und sank in einen tiefen Knicks.
 

„Geht es dir gut?“
 

„Oh ja, sehr gut, Mylord.“

Sie nahm die Mädchen entgegen, Anne auf ihren Arm und Lizzie, die schon lange nicht mehr getragen werden wollte, an die Hand. Lizzie entfernte sich nur unter lautstarkem Protest und Anne mit traurigen Augen von ihrem Onkel.
 

Und nun stand er vor Aimée und machte eine tiefe, respektvolle Verneigung, und Aimée streckte ihm die Hand entgegen. Er küsste ihre Hand mit all der Förmlichkeit, die ein einzelner Mensch aufbringen konnte.

„Ihr seht bezaubernd aus“, sagte er im Ton einer nüchternen Feststellung.
 

Aimée lächelte und drückte seine Finger. „Ich danke Euch. Ich hoffe, Ihr seid wohlauf und die Reise war trotz des Wetters nicht zu beschwerlich?“
 

„Den Umständen entsprechend.“ Erneut glitt sein Blick suchend durch das Kaminzimmer.
 

Aimée, die genau wusste nach welchen beiden geliebten Menschen er Ausschau hielt und die ihm doch nur einen der beiden darbieten konnte, trat einen Schritt beiseite und offenbarte Victor den Blick auf ihr fünftes Kind, das einzige welches ihn bisher noch nicht begrüßt hatte.
 

„Onkel Victor.“ Alvah löste die Hand aus dem Kleid seiner Mutter und lief auf ihn zu. Das flackernde Kaminfeuer tauchte ihn in warmes, rotgoldenes Licht und ließ seine Haare noch röter wirken als sonst.
 

Aimée sah wie ihr Schwager erstarrte, als er ihn erblickte. Eine einzelne, tief empfundene Emotion glitt über sein Gesicht, zärtlich und schmerzhaft zu gleich.

„Laurence“, sagte er leise. Und in diesem Moment war es als ob sie eine Sekunde lang durch seine Augen sehen konnte, und sie wusste ganz akkurat was er grade sah, und welche Stellen tief in seiner Seele es berührte. Ein Wimpernschlag nur und dann war es vorüber. Er fasste sich.
 

Aimée konnte die kurze Verwirrung in Alvahs Gesicht sehen, nannte sein Onkel ihn doch äußerst selten bei seinem Taufnamen. Sie hätte ihm verraten können, dass es nicht sein Name war, der Victor entwichen war, sondern der Name desjenigen, nachdem er benannt war. Aber sie blieb still, nichts wäre ihr unangemessener erschiene als sich in diesen Moment einzumischen.
 

Victor sank vor seinem Neffen auf ein Knie, so dass er auf Augenhöhe mit ihm war. „Mein Gott“, sagte er leise. „Lass dich ansehen.“
 

Er streckte eine Hand nach ihm aus und Alvah trat ihm vertrauensvoll entgegen. In den Armen seines großen, markanten Onkel wirkte er noch schmaler und zarter als sonst, blass und rothaarig und dem einen Menschen so unendlich ähnlich, der Victor mehr bedeutete als jeder andere auf der ganzen Welt. Er war die Miniaturausgabe seines Vaters.

Victor sagte seinen Namen, dieses Mal den familiären Spitznamen, und küsste ihn zärtlich auf die Stirn, in jeder Geste und in jedem Blick eine so ehrfürchtige Behutsamkeit, als sei Alvah eine allzu kostbare Porzellanfigur, die bei der kleinsten Berührung zerbrechen könnte.
 

Aimée trat erneut an das Fenster, so überkommen von ihren eigenen heftigen Emotionen und dem gleichzeitigen Verlangen ihrem sonst so steifen und zurückhaltenden Schwager Privatsphäre zu geben, dass sie den Blick abwenden musste.

Sie hörte wie Alvah leise mit seinem Onkel sprach, seine Stimme glockenhell und die andere ruhig und tief und ernsthaft. Sie lauschte nicht auf die Wörter, nur auf die vertraute Melodie und doch spürte sie nur allzu deutlich die Abwesenheit einer dritten Stimme.
 

Aimée umklammerte den Vorhangstoff und blickte nach draußen.

Oh bitte, dachte sie erneut.
 

Sie hörte wie Victor Alvah schließlich zu den anderen Kindern schickte und das Rascheln seiner Kleidung als er sich erhob.

Schweigend trat er neben sie ans Fenster und sie spürte seinen aufmerksamen Blick auf sich ruhen.

Wortlos griff er nach ihrer Hand und löste sie aus dem schweren Samtvorhang. Aimée ließ ihn gewähren, seltsam schicksalsergeben.

„Madam, Eure Hände sind eiskalt“, stellte er fest. „Ihr solltet am Feuer sitzen.“
 

Sie nickte zögernd, nicht im Stande ihren Blick von dem zornig tobenden Schnee zu lösen.
 

Aimée“, sagte Victor und es war eine Frage und ein Befehl zugleich.

Wo ist er? Die Worte standen so deutlich zwischen ihnen als hätte er sie laut ausgesprochen.
 

Gerne hätte Aimée den Moment hinausgezögert, aber ihr blieb keine Wahl.

Sie atmete aus. Ihr Blick glitt über das Kaminzimmer und sie stellte erleichtert fest, dass Bray Lizzie Huckepack auf dem Rücken trug, Ben Anne auf dem Schoß hatte und Charlotte Alvah ein Buch aus dem Regal holte. Jubel brach aus als Jackson einen Teller Plätzchen aus der Küche hineinbrachte und wenigstens für den Moment waren ihre Kinder allesamt abgelenkt.
 

„Laurence ist unterwegs“, sagte sie leise und rasch. „Er wird jeden Augenblick wieder da sein.“
 

Victors Blick war bohrend und unnachgiebig, und er durchschaute alles. „Ihr macht Euch Sorgen.“
 

„Es ist alles in Ordnung.“
 

„Wo ist er? Wann wollte er zurück sein? Ist er zu Fuß unterwegs oder zu Pferd?“
 

Sie zögerte.
 

Erneut sagte er ihren Vornamen, so eindringlich, dass es ungeheuerlich gewesen wäre ihn zu belügen, so gerne sie es auch wollte.

„Zu Pferd. Im Wald. Er wollte zurück sein, bevor es dunkel wird“, flüsterte sie.
 

Victor erbleichte.

Dunkel war es schon seit vier Stunden.

Unwillkürlich griff sie nach seiner Hand. Es war ein Impuls, der sie überkam, denn auch wenn er nicht mit einem Muskel gezuckt hatte, war sie doch sicher, dass er kurz davor stand nach seinem Hut zu greifen und zurück nach draußen zu stürmen. Mitten in den Schneesturm aus dem er gekommen war.
 

„Ich bitte Euch, verlasst mich nicht“, sagte sie impulsiv, und sie spürte wie die Hand unter ihrer sich zuerst heftig anspannte und gleich darauf langsam und vorsätzlich entspannte.
 

„Wohin ist er geritten?“
 

Nie hatte Laurence ihr im Detail anvertraut was genau in seiner Kinderzeit im Winter vorgefallen war, alles was sie wusste war, dass Victor äußerst angespannt auf Schnee und Frost reagierte. Die Nachricht, dass sein über alles geliebter Bruder sich immer noch draußen befand und schon viel zu lange unterwegs war, hätte nicht unwillkommener sein können.
 

Sie zwang sich ruhig zu bleiben. „Er ist bei den Fosters.“
 

„Eure Pächter.“
 

„Ja, dieselben. Es ist kein weiter Weg, sieben, vielleicht acht Meilen durch den Wald. Sie haben sechs Kinder. Drei davon sind sehr krank, ein anderes ist im Herbst gestorben. Ich wollte ihnen Decken und etwas zu Essen bringen.“ Sie presste eine Hand auf die Stirn und rang um Fassung. „Oh, er ist meinetwegen los geritten“, brach es aus ihr heraus. „Weil ich keine Ruhe gegeben habe. Ich hätte zu ihnen fahren sollen.“
 

„Auf keinen Fall“, erwiderte Victor schroff. „Nicht bei diesem Wetter. Ich hätte es Euch ebenfalls untersagt.“
 

„Ihr zürnt mir nicht?“
 

Er schüttelte den Kopf. Einen Augenblick sah sie in seinem unbewegten Gesicht wie er mit sich rang. Sein Blick flackerte hinüber zu den Kindern und dann wieder zurück zu ihr. „Was kann ich tun?“ fragte er schlicht.
 

Aimée ließ die Hand sinken und lächelte matt. Eine unerwartete Dankbarkeit überkam sie und mit einem Mal war sie froh über das verfrühte Eintreffen ihres Schwagers. Ihre Selbstbeherrschung fühlte sich an sei sie kurz vorm Schwinden, und Victor war so bestimmt, so effizient und autoritär in seinen Entscheidungen, unzerstörbar wie eine Festung.

„Die Kinder“, sagte sie leise. „Ich will ihnen keine unnötigen Sorgen bereiten. Sie dürfen nicht merken, dass ... dass seine Verspätung ungewöhnlich ist. Aber ich schiebe das Abendessen Stunde um Stunde weiter zurück, ich kann es kaum länger vor ihnen verbergen. Und die Diener… ich kann keinen von ihnen hinausschicken. Jackson würde es natürlich machen, aber das kann ich nicht von ihm verlangen. Nicht bei diesem Wetter.“
 

„Natürlich. Wir werden unverzüglich das Abendessen servieren lassen“, beschloss er. „Und die Kinder danach zu Bett schicken. Ist er bis dahin nicht zurück… dann werde ich persönlich nach ihm suchen.“ Sein Tonfall ließ keinen Widerspruch zu und Aimée atmete zittrig aus.
 

„Befürchtet Ihr, dass ...?“ Sie konnte es nicht aussprechen.
 

„Nein.“ Victor griff nach ihrem Arm und zu ihrer Schande bemerkte Aimée wie ihr tatsächlich die Knie weich wurden. Er geleitete sie zu einem Stuhl und sie sank darauf nieder.

„Nein“, wiederholte Victor fest und zog sich einen weiteren Stuhl heran, ohne ihre Hand loszulassen. „Seid beruhigt, Madam. Mein Bruder ist einer der besten und sichersten Reiter, die ich je erlebt habe.“
 

Ihre Augen fest auf sein Gesicht gerichtet, klammerte Aimée sich an seine Hand.
 

„Aber es ist möglich“, sagte Victor langsam, „dass er abgestiegen ist um das Pferd über die zugeschneiten Wege zu führen. Es gibt gefrorene Stellen unter dem Schnee, auf dem ein Pferd sich alle Beine brechen kann, und auf unebenen Waldwegen kann man sie nicht erkennen. Das würde er nicht riskieren.“
 

„Oh.“ Sie atmete aus. „Natürlich. Das hatte ich nicht bedacht.“
 

„Zu Fuß wäre er sehr viel langsamer unterwegs und das würde die Verspätung hinreichend erklären.“
 

Aimée nahm mehrere tiefe Atemzüge. „Ihr habt vollkommen Recht. Bitte vergebt mir. Ich... ich muss Euch vollkommen töricht erscheinen.“
 

„Nein“, erwiderte Victor. „Eure Haltung ist ohne Tadel.“
 

„Was redest du denn da?“ drang Brays Stimme aufgebracht zu ihnen herüber und die eben noch harmonische Stille zerriss. „Ohne Schnee ist es nicht Weihnachten!“
 

„Sei doch still, Bray“, bat Alvah aufgelöst.
 

„Dann sag doch nicht so etwas!“
 

„Ich habe nur gesagt, es soll endlich aufhören zu schneien.“ Alvah klang den Tränen nah und Aimée stand unwillkürlich auf.
 

„Ihr seid so dumm, alle beide! Hört auf zu streiten!“ rief Lizzie und griff nach Annes Hand.
 

„An Weihnachten kann es doch nicht...!“
 

„Aubray“, sagte Victor scharf und Bray verstummte augenblicklich. Er blinzelte verwirrt und ließ die Hände sinken.
 

Einen Augenblick lang war es still im Kaminzimmer. Nur das Feuer knisterte und warf große, tiefe Schatten an die Wände.

Charlotte drückte ein Buch an ihre Brust als ob sie sich daran festklammerte.

Ben war aufgestanden und warf beunruhigte Blick zwischen seiner Mutter und seinem Onkel hin und her. Er ahnt es, dachte Aimée betäubt. Natürlich tut er das.

Anne klammerte sich an Lizzies und verbarg ihr Gesicht an ihrer Schulter. Lizzie hielt ihre Schwester besitzergreifend fest, und sah frustriert und zornig aus, als ob sie nicht verstand wieso ihr niemand sagte was passierte.

Bray trat einen Schritt näher zu seinem Zwillingsbruder.

Alvah stand allein in der Mitte des Raumes und schluckte heftig. Er sah aus als würde er gleich in Tränen ausbrechen.
 

„Alvah“, sagte Victor leise. „Komm her.“
 

Alvah gehorchte unverzüglich. Er floh beinah an die Seite seines Onkels. Victor warf einen einzigen Blick auf seine verdächtig glitzernden Augen und sein schmales, blasses Gesicht, und er hob ihn kompromisslos hoch in seine Arme.

„Es ist alles gut“, sagte er in einem Tonfall, der keinerlei Zweifel zuließ. Alvah schlang die Arme um seinen Hals und nickte stumm. Über seine Schulter hinweg streckte er die Hand nach Aimée aus.

„Verzeiht“, flüsterte er verzweifelt, als hätte er bei einer Aufgabe versagt, die er sich selbst erteilt hatte und die ihm niemals hätte aufgebürdet werden dürfen.
 

Aimée ergriff seine Hand und hielt sie fest. „Mein Liebling“, sagte sie leise. „Es gibt nichts zu verzeihen.“
 

„Mama…“, sagte Bray, mit einem Mal leise und kleinlaut. „Ich wollte nicht…“ Er brach ab.
 

Mitten in die Stille ertönten erneut eilige Schritte auf der Treppe.
 

Alles in Aimée erstarrte. Victor trat unwillkürlich einen Schritt nach vorne, und die Kinder, mitgerissen von der plötzlich gekippten dramatischen Stimmung klammerten sich aneinander. Sogar Ben sah mit einem Mal nicht mehr so erwachsen aus, sondern jung und hilflos, hoffnungslos überfordert.
 

„Mylady!“ Erneut war es Davy, der die Tür aufriss. Seine Stimme überschlug sich und er schnappte so heftig nach Luft, dass er kaum einen Ton herausbekam. „Es ist seine Lordschaft! Der Vicomte...! Er ist grade angekommen! Alles gut…!“
 

Aimée packte nach der Stuhllehne, um sich aufrecht zu halten. Das Zimmer verschwamm vor ihren Augen.

Laurence, dachte sie voller Inbrunst. Und dann nur noch eine Litanei aus Danke, danke, danke.
 

Ben, Bray und Lizzie riefen aufgeregt ihren Namen und sie nickte in ihre Richtung, unfähig sich zu rühren. „Lauft ihm entgegen. Charlotte, pass auf Anne auf.“
 

Victor macht einen Schritt auf sie zu, Alvah noch immer in seinen Armen, und offensichtlich vollkommen zerrissen. Sie schüttelte den Kopf und rang sich ein Lächeln ab. Nie wieder würde sie ihn von seinem Bruder trennen wollen, vor allem nicht um ihretwillen.

„Geht ruhig“, wisperte sie. „Geht zu ihm.“
 

Er gehorchte.
 

„Vater! Vater!“

„Mylord, Euer Mantel…!“

Sie hörte die aufgeregten Stimmen im Flur und das Trappeln von kleinen Kinderfüßen und dann endlich, endlich seine Stimme. Sie schloss die Augen und atmete, atmete, versuchte sich zu fassen, versuchte sich vorzustellen wie er jedes einzelne seiner Kinder in die Arme schloss, wie er seinen Bruder umarmte, überwältigt und überrascht von seiner unerwarteten Ankunft. Sie fühlte sich warm und schwach zugleich.
 

Sie hörte eilige Schritte auf der Treppe. Und dann…

„Aimée.“

Sie riss die Augen auf.
 

Schnee rieselte aus seinem Haar, er trug noch Stiefel und Mantel und hatte die Reitgerte noch in einer Hand, aber er war unversehrt, oh Gott sei Dank. Er war unversehrt.

Sie gab ein einzelnes Geräusch von sich.

Achtlos zerrte er sich im Gehen die Handschuhe von den Händen, während er das Zimmer durchquerte. Seine Augen verließen nicht ein einziges Mal ihr Gesicht.
 

Nur hintergründig registrierte Aimée, wie Victor die Kinder hinauskommandierte, wie Ben Alvah an die Hand genommen hatte, und wie die Tür behutsam hinter ihnen geschlossen wurde.
 

Und dann war er da, unmittelbar vor ihr, sein Gesicht ernst und bleich, und er sagte ihren Namen in einem Tonfall, wie man ihn in seiner allerwörtlichsten Bedeutung aussprach, und er griff nach ihrer Hand.
 

„Laurence...“ Sie atmete aus, ein langer, tiefer Seufzer.
 

Er hob die Hand und berührte ihr Gesicht, ihre Wangen, ihre Schläfe, ihre Lippen. „Verzeiht mir“, flüsterte er. „Verzeiht mir.“
 

„Immer.“
 

„Ich habe Euch Sorgen bereitet.“
 

„Nicht sehr“, erwiderte sie erstickt.
 

Er lächelte sanft angesichts dieser offensichtlichen Lüge und dann begrüßte er sie so inständig wie schon lange nicht mehr.

Einen verschwommenen Zeitraum später fand Aimée sich auf der Bank vor dem Feuer wieder, dicht an seine Seite geschmiegt und seinen Arme um ihre Taille. Er hatte den Mantel abgelegt und der Schnee in seinen Haaren war geschmolzen.
 

„Die Kinder...“ sagte sie, sobald sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte.
 

„Ich werde sie gleich alle einzeln ins Bett bringen“, erwiderte er. Seine Hand fuhr warm und beruhigend über ihr Haar. „Sorgt Euch nicht. Sie sind in guten Händen.“
 

Sie dachte an Victor und daran wie er die Mädchen begrüßt hatte, wie geduldig er Bray zugehört hatte... wie er Alvah umarmt hatte. „In den Besten“, stimmte sie zu.
 

„Danke“, sagte er leise. „Er würde es nicht zugeben, aber ich bin sicher, er war außer sich… Ihr wart ihm eine große Stütze.“
 

Sie lachte erstickt. „Eher umgekehrt.“
 

„Nein.“ Zärtlich küsste er ihre Fingerspitzen. „Nein. Ich versichere es euch. Genauso wie ich Euch versichere, dass nur unabwendbare äußere Umstände mich von Eurer Seite fernhalten konnten.“
 

„Ich weiß.“ Sie erwiderte sein Lächeln. „Ich bin sehr froh, dass ihr wohlbehalten angekommen seid, Mylord.“
 

Ende
 

Nachwort: Aimée und Laurence sind so das ein bisschen TEH original OTP dieses Universums. Was haben wir geangstet bis sie endlich zusammen gekommen sind - eine Geschichte voller Irrungen und Wirrungen (die eben nur durch Aimées schlechten Ruf angedeutet wurde). Aimée und Victor mussten sich eine ganze Weile zusammenraufen, aber zu diesem Punkt sind sie sich schon sehr zugetan und deswegen fand ich es auch sehr schön etwas mit den beiden im Fokus zu schreiben. Als Kinder haben sie sich noch total gehasst. *hust*

Oh und Victors Trauma mit seinem Bruder, der im Schnee verloren geht, ist wieder eine andere Geschichte, die sich ungefähr zwanzig Jahre früher abgespielt hat.
 

Wer jetzt noch nicht genug zu dieser Familie hat, findet unter dem Schlagwort "Der Irrgarten" noch mehr gefühlvollen, viktorianischen Familienkitsch. ;)



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Halo
2018-12-05T11:54:48+00:00 05.12.2018 12:54
Yay, mehr zu meiner Lieblingsfamilie aus dieser Zeit!

Ich bin mal wieder begeistert davon, dass im Grunde genommen NICHTS wirklich passiert und du es schaffst, allein durch die Interaktionen der Personen und kleinen Nuancen Spannung und Atmosphäre aufzubauen und soviel Liebe zu versprühen, die sich anhand von Besorgnis (Victor, Aimée) oder kleinen Gesten (Ben, Alvah) zeigen. Ich finde, du kannst Beziehungs-, Freundes- und Familienkisten einfach so gut und genau deswegen verschlinge ich so ziemlich alles, was du schreibst.

Nur will ich dadurch eigentlich immer nur noch mehr wissen: Was ist in diesem Wald passiert? Was in dem Turm (das macht mich echt fertig, wie du siehst xD) und was ist eigentlich genau mit Alvah los? Klar hat man Theorien, aber ich brauche Fakten xDDD

Ich find es übrigens schön, dass du oft auch mal wechselst und diese ganze Familie aus der Sicht verschiedener Protagonisten zeigst und die Mutter zum Beispiel nicht einfach nur Mitläufer in den Geschichten ist, sondern auch mal Screentime bekommt. Ist verständlich, was ich meine? Weil sie haben alle Gefühle und Gedanken und eine Geschichte und gerade das macht sie alle insgesamt so zauberhaft, sodass ich mich auch wirklich für diese Familie als Ganzes interessiere.

Ich liebe deinen Stil! (Never gets old) Und ich finde diese Lebendigkeit in deinen Zeilen jedes Mal von Neuem wunderschön.


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