Geheimnisse
-->Kapitel 4<--
"Und du willst wirklich gehen?" Tsubasa war traurig.
"Ich muß. Sei bitte nicht traurig. Wir werden uns bald wiedersehen." Kaneko
winkte ein letztes Mal und rann die belebte Parkstraße ab. Tsubasa beschloß
dann, sich nicht mehr lange im Park aufzuhalten und zum Lager
zurückzukehren.
Als er wieder in den vertrauten vier Wänden war, stellte er überrascht
fest, daß alle anderen bereits da waren und die Kommunikation untereinander
gleich null war. Jeder schien mit etwas scheinbar Wichtigem beschäftigt zu
sein und sah keinen Anlaß mit seinem Kameraden zu sprechen. Zudem schien
Naibun wie immer ganz woanders zu sein. Um sich der kalten Atmosphäre zu
entziehen, zog Tsubasa los, Naibun zu suchen. Er fand ihn auch recht
schnell, unter Emis Starcraft.
"Was treibst du denn da?"
"Ich repariere Emis Flugzeug." Naibun kam von unten hervor. Sein Gesicht
war mit Öl verschmiert und seine Haare standen in alle Richtungen. "Und wie
war's?" Fragte er und begann, sein Werkzeug sauber zu machen.
"Na ja. Die Kleine war ganz süß. Aber als Kaii sie gesehen hat, hat er
wieder so 'n komischen Anfall bekommen..."
"Anfall?"
"Ja, wie bei dir. Er hat die am Kragen gepackt und ihr Sachen an den Kopf
geschmissen, die konnte sie gar nicht verarbeiten, so aufgeregt war er. Und
das nur wegen seiner Schwester!!"
"Er scheint ja wohl seine Schwester sehr zu lieben."
"Die anderen waren auch total sauer. Denen war es peinlich. Eigentlich darf
ich es nicht weitersagen, aber du bist ein guter Kumpel." Er beugte sich an
Naibuns Ohr und flüsterte: "Die Kleine ist ein Flüchtling."
Naibun hörte abrupt auf. "Was?"
Tsubasa nickte bekräftigend. "Ja. Und sie mußte es für Kaii zugeben, damit
er sie nicht umbrachte, so aufgeregt war er."
"Aber...wenn irgendwelche Templer das mitbekommen hätten...!"
"Deswegen waren ja die anderen wütend. Bis jetzt herrscht ja immer noch 'ne
Mordsluft bei uns in der Baracke."
"Achso...darum sind die also ziemlich sauer. Und ich habe mich die ganze
Zeit gewundert!"
"Da bin ich ganz froh, daß du nicht dabei warst! Wenigstens benimmst du
dich ja halbwegs normal!"
Beide lachten. "Komm', laßt uns ein wenig Kickern," meinte Naibun lachend
und ging an Tsubasa vorbei. Da merkte Tsubasa etwas Seltsames. Naibun roch
nach einem seltsamen Parfum!!! Und zwar nach einem Duft für Frauen! Ihm kam
dieser Duft sogar bekannt vor...wenn er nur wüßte, wann er dieses Parfum
das letzte Mal gerochen hatte...
***
Der Alarm heulte durch das ganze Lager. Mitten in der Nacht. Ohne den
Anzeichen von Schläfrigkeit eilten alle Piloten zu ihren Starcrafts, alle
Ärztegehilfen zur Krankenstation und die Computertechniker zum
barackeninternen Navigationsraum. Naibun und Rui waren angespannt. Sie
hatten, wie gerade ihre Kollegen in den anderen Baracken, erfahren, daß
sich ein Engel außerhalb des Tempel-Gebietes aufhielt. Und dieser Engel
schien mit seinen Tentakeln alles in Reichweite zu zerstören. Die Aufgabe
der Piloten war es, den Engel zu zerstören.
"Welche Klasse?" Erkundigte sich Kaii per Funk.
"Die Analysedaten zeigen einen Engel, Klasse 1. Also ein Anfänger. Ich
glaube, mit diesem Ausreißer werdet ihr wenige Probleme haben." Antowortete
Rui. Er rief ein Bild vom Satelitten ab. Auf dem gesamten Monitor zeigte
sich eine riesige Engelsgestalt mit insgesamt zehn dünnen Tentakeln. Der
Engel leuchtete in einem sanften Grün und die äußere Form glich einem Mann.
Die Tentakeln schwirrten unkontrolliert in der Luft. Dem Engel schien dies
nichts auszumachen. Stattdessen stand er regungslos, mit geschlossenen
Augen, mitten in einem Waldstück, fernab von den Maschendrähten, die das
Gebiet der Tempel-Sekte eingrenzte.
Die ersten Piloten, die dort ankamen, griffen den Engel sofort an. Doch der
Engel zerstörte diese so, als ob die Starcrafts lästige Fliegen wären. Die
drei Piloten aus dem ersten Squad waren deshalb besonders vorsichtig.
"Tsubasa, greif' du die linke Flanke an! Der Engel ist dort ungeschützt!"
Funkte Kaii. Emi sollte Tsubasa helfen, während Kaii den Engel so lange
beschäftigen sollte.
Plötzlich ergriff ein Tentakel des Engels Kaiis Starcraft und war im
Begriff, es zu zerquetschen. Doch ein seltsames Licht aus Tsubasas
Starcraft lenkte den Engel ab. Aus Tsubasas Starcraft kam eine Lichtgestalt
hervor. Diese Lichtgestalt wuchs zur Größe des Engels. Der Engel, nun von
der Figur fasziniert, ließ sein Spielzeug los und versuchte mit seinen
Tentakeln die Lichtgestalt. doch die Lichtgestalt erwiderte mit ihren
Tentakeln, die viel dicker und kräftiger gebaut waren. Es war also ein
Engel!
Wer bist du?
-Ich bin Aurora, zweiter Engel der Dreiheiligkeit.
Die Augen des Engels wurden groß. Also bist du doch entkommen...
-Ja. Und ich sage euch, ihr dürft diese Menschen nicht töten. Sie wissen
nicht, wer wir sind. Sie verstehen es nicht.
Aber unser Herr hat uns befohlen-
-Euer Herr?!? Der euch unterjocht? Die Dreiheiligkeit mag vielleicht über
euch stehen, aber sie hat nicht das Recht, über euer Handeln zu bestimmen!
Wenn nur der Dritte Engel gefunden würde...
-Gefunden ist er. Er braucht nur einen Körper.
Dann kehre ich zurück un berichte es den anderen.
Der Engel hörte auf, zu leuchten Er wollte sich in Luft auflösen. Doch es
geschah nichts.
Ich kann nicht mehr zurück.
-Wieso nicht?
Der, der sich zum Herrn gemacht hat, verweigert mir die Rückkehr. Ich bin
von euch 'vergiftet' worden, sagt er.
Der Engel schrumpfte und leuchtete ein letztes Mal auf. Übrig blieb die
leblose Gestalt eines kleinen Jungen in Auroras leuchtenden Armen. Überall
quoll Blut, Verletzungen, die die Piloten der SEF verursacht hatten, als
das Kind noch ein Engel war.
"Aurora, Ihr müßt uns allen helfen...wir alle wollen nur Ruhe und
Frieden..." waren seine letzten gequälten Worte, bevor er starb.Aurora
wurde ganz wütend.
Seht, euer Feind ist dieser kleine Junge gewesen!! ALLE Engel, die ihr
umgebracht habt, waren kleine Kinder!! Ihr müßt diese Kinder befreien,
nicht töten!
Mit diesen Worten legte sie das Kind sanft zu Boden und löste sich auf.
"Tsubasa?, Kaii? Seid ihr in Ordnung?" Emis Stimme hallte durch die
Kopfhörer der beiden. Tsubasa hatte gerade wieder Besinnung gewonnen. "Ja,
Emi. Mir geht's gut," antwortete er schwach. Er konnte sich an das, was
gerade passiert war, nicht erinnern. Er wußte noch, daß seine Amuletthälfte
anfing, zu glühen, aber was danach geschah, das wußte er nicht mehr.
Im "High Tech"-Raum saß Rui bewußtlos in seinem Stuhl. Sein Kopf war auf
der Tastatur geknallt und aus eine Platzwunde lief Blut. Naibun saß
aufrecht in seinem Stuhl. Sein Blick war leer, die flimmernden Monitore
spiegelten sich in seinen Augen wieder. Er zuckte nicht einmal, als Haruko
die Tür öffnete und ein Schrei des Entsetztens von sich gab.
Kaii dagegen stand unter Schock. Sein Starcraft mußte automatisch zum Lager
geflogen werden. Kaiis Gesichtsausdruck war leer; sich selbst bewegen
konnte er nicht.
Vier Tage lang, befand er sich in diesem Zustand. Seine Gedanken kreisten
um diese Engel, den kleinen Jungen, den sie umbringen sollten, und seine
Schwester. Und seine Schwester. Immer wieder sah er sie. Mal als kleines,
lachendes Kind, mal als leidendes Mädchen mit Tentakeln.
Irgendwann verblassten diese Gedanken. Doch selbst nachdem er wieder
aufnahmefähig war, verhielt er sich merkwürdig. Er kapselte sich oft von
den anderen ab und betrieb seine privaten Recherchen alleine. Nur sein
bester Freund Rui schien noch mit ihm sprechen zu können.
Drei Wochen nach diesem Vorfall wurde die SEFS-1 zum Hauptquartier der SEF
gefahren.
"...Und auch wenn die Engel eure kleinen Geschwisterchen sind, ihr müßt sie
zerstören! Für sie gibt es keine Rettung mehr, sie sind vom Feind verseucht
worden!!" General Izumi, Emis Vater, betonte seine Worte ausdrücklich.
"Gibt es wirklich keinen Weg?" Fragte Tsubasa vorsichtig.
Der General schüttelte seinen Kopf "Glauben Sie mir, unsere Wissenschaftler
arbeiten Tag und Nacht mit Flüchtlingen zusammen. Bis jetzt liegt noch kein
Ergebnis vor."
"Das kann nicht stimmen! Ich habe gehört, daß die Templer in der Lage sind,
die Engel von den kindlichen Körpern zu trennen!" Naibun saß nicht, sondern
hatte sich lässig an der Wand angelehnt. "Ich wette, Ihr habt eine
Möglichkeit gefunden! Aber Ihr wollt diese Möglichkeiten nicht nutzen, weil
Ihr die Kinder für eure Zwecke mißbrauchen wollt!!" Naibun schien wütend zu
werden. Im Raum ging ein Raunen los. Der General bekam Schweißperlen auf
der Stirn.
"Äh...nein, wir wollen nur das Beste für die Kinder...schließlich gehören
sie auch zum Staat..." kam die Antwort, die nicht sehr überzeugend klang.
Der Kommandant des Lagers lenkte ein.
"Damit wäre die Sitzung jetzt beendet. Ihr könnt jetzt in der Stadt
herumlaufen. Um Punkt 20 Uhr seid ihr wieder da!"
"Jawohl, Herr Kommandant!!" rief die SEFS-1 im Chor.
"Kage Naibun! Du bleibst bitte hier!" Die Mädchen der Crew tuschelten.
Kaiis Blick verfinsterte sich. Naibun schaute ebenfalls finster. Er schien
zu ahnen, was auf ihn zukommen würde.
***
"Tsubasa, was hast du?" Fragte Emi verwundert. Tsubasa schien nämlich seine
ganzen Taschen zu druchwühlen.
"Mist! Ich habe mein Ausweis im Saal zurückgelassen! Bin gleich wieder da!"
Er rannte zurück. Die Tür zum Saal war ein Spalt offen, aus dem erregte
Stimmen kamen.
"...Wie konntest du nur den Engel zurückverwandeln? Das hat einen
seelischen Eindruck nicht nur auf Tani hinterlassen! Nahezu alle Piloten
fragen sich, wieso wir die Engel töten!"
Tsubasa schielte vorsichtig durch den Spalt. Er sah mit Erschrecken, wie
der Kommandant Naibun mit der Hand schlug. Naibun sagte nichts. Er stand,
wenn auch langsam, wieder auf.
"Wie konntest du nur! Die SEFS-1 ist ohne Tani praktisch nutzlos! Wie
willst du die Operation 'Phoenix' problemlos durchführen? Wir dachten durch
diesen Versteck in der SEF, daß dein Herr dich nicht finden wird! Aber im
Gegenteil! Du machst ihn nun auch auf uns aufmerksam!!!" Er schlug Naibun
nochmal, diesmal heftiger. Naibun machte keine Anstalten, sich zu erheben.
"Dort war ich eine Gefangene...hier bin ich eine Gefangene..." murmelte
Naibun schwach. Er blickte zum Kommandanten hoch, die Augen tränenerfüllt.
"Ich wollte nur frei sein! Sorgenlos leben! Ist das zuviel verlangt? Ihr
habt nicht gesehen, welches Leid den Kindern zugefügt wird! Ich war stark!
Ich habe es verkraften können!" Er schrie fast. Dann starrte er den Boden
an. "Die anderen Kinder sind gestorben..." sagte er schwach. "Und nun
sollen diese Kinder dafür bestraft werden, daß man ihnen Aliens in ihre
Körper eingepflanzt hat?!"
Der Kommandant schüttelte seinen Kopf. "Du bist nichts Wert." Sagte er
verachtend. "Du und diese Scheiß SEF-Squads! Ihr seid alle nur auf Freiheit
und Frieden hinaus! Frieden gibt es aber nicht! Es herrscht immer Krieg!
Frieden ist nur ein Hoffnungswort derer, die viel Leiden müssen. In all'
den Jahren, seit ich in der SEF war, habe ich niemals ein Tag gesehen, an
dem absoluter Frieden herrschte!!"
"Mein Engel ist tausende von Jahren alt. Er lebte hier, bevor die Menschen
kamen und ihre Welt zerstörten. Ja, die Menschen bringen Krieg, Leid und
Haß. Aber sie können auch friedevoll miteinander leben. Das hat mein Engel
erlebt. Da wart Ihr noch nicht einmal gezplant!" Naibuns letzter Satz klang
voller Verachtung. Der Kommandant holte noch einmal aus und schlug ihn.
"Der Schmerz macht mir nichts aus. Es ist nichts zu dem, was die Kinder
dort erleben." Mit diesen Worten blickte er zur Tür-und sah Tsubasa dort
stehen. Sein Blick war voller Trauer. Einen Moment später wandte er sich
wieder dem Kommandanten zu und stand auf. "Wenn das alles war, was Ihr zu
sagen habt, werde ich mich der Tuppe in der Stadt anschließen. Er fand
Tsubasas Ausweis und nahm diesen heimlich an sich. Ohne ein weiteres Wort
zu verlieren, verließ er den Saal. Tsubasa wich nach links aus und hoffte,
daß Naibun ihn nicht bemerken würde. Doch Naibun schloß die Tür hinter sich
und blickte Tsubasa geradewegs an.
"Ich hatte gehofft, keiner von euch würde es jemals erfahren." Er drückte
einen unsichtbaren Knopf an seinem Hals. "Hier. Deswegen bist du doch
zurückgekommen, oder?" Es war Kanekos Stimme, die sprach.