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Die Legende vom Mädchen vom Mond der Illusionen ( LMMI )

von

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Geschichte 3 des LMMI-Zyklus. Viel Spaß! Und mir viele Kommentare!
 

Und nun öffnen sich die Tore der Fantasie erneut, um euch, liebe Leser, in die Welt Gaias zu führen, eine Welt der Legenden und Mythen, bewohnt von seltsamen Wesen und Schauplatz noch seltsamerer Ereignisse. Möge die Geschichte von mutigen Kriegern, schönen Frauen und unglaublichen Abenteuern ihren Lauf nehmen, wie sie in tausenden wiedersprüchlichen Prophezeiungen niedergeschrieben wurde... :D
 

Prüfungen
 

Prolog
 

"Hitomi!"

"Van! Ich bin so froh, dich zu sehen." Sein Gesicht strahlte, und er breitete die Arme aus, um sie zu empfangen.

Sie war nur noch ein paar Meter von ihm entfernt, da passierte es. Blut, so rot wie Wein im Licht der untergehenden Sonne, war auf einmal überall auf seinem Körper, schoss aus tausenden von Wunden und begann den steinernen Boden zu bedecken wie Millionen winziger, böse funkelnder Rubine. Seine Augen weiteten sich, und er schaute auf das Schwert, das in seinem Körper steckte. Es war Vans Schwert. Und Hitomi hatte ihn damit getötet.
 

"Vaaaaaannnnn!"

Schreiend fuhr Hitomi nach oben. Sekundenlang wusste sie nicht, wo sie war. Dann begann ihre Angst abzuflauen, und sie erkannte ihre Umgebung. >Gott sei Dank, es war nur ein Traum.<

Noch immer zitternd stand sie auf und schob die Vorhänge zur Seite. Am Himmel stand der Mond, hell erleuchtet vom Licht der Sonne, die in diesem Moment die andere Seite der Erde beschien. Und eine andere, ferne Welt...
 

"Alles in Ordnung Hitomi? Du hast geschrieen, und..." Hitomi war erschrocken zusammen gezuckt. Doch jetzt drehte sie sich um und sagte fast fröhlich, "Ja, Kenji. Alles in Ordnung. Nur ein Albtraum. Geh wieder schlafen."

"Na wenn du meinst. Ich hoffe bloß, meine Schwester schreit nicht noch mal so, dass ich fast aus dem Bett falle." Er drehte sich um, schloss die Tür wieder, und Hitomi konnte ihn draußen noch leise mit ihrer Mutter reden hören. Dann erlosch der Streifen Licht unter der Tür, und es war wieder still im Haus. Aber in Hitomis Ohren gellte noch immer ihr entsetzter Schrei. >Was, wenn es kein Traum war? Es war so real. Aber was kann es bedeuten?<

Sie schaute auf die Wecker. Kurz vor halb fünf. Sie nahm in Gedanken versunken den blauen Anhänger, der daneben lag, und betrachtete ihn nachdenklich. Er war das Abschiedsgeschenk Mai Lings, so, wie sie den ihren Van gegeben hatte. Entschlossen zog Hitomi sich an. Sie würde sowieso nicht mehr einschlafen können. Also konnte sie auch spazieren gehen. Vielleicht würde die frische, kühle Morgenluft ihre Ängste vertreiben. Aber tief in ihrem Inneren wusste Hitomi, dass es nicht geschehen würde.
 

***
 

Das leise Brummen der Motoren weckte Van. Am Geräusch erkannte er, dass der Crusador zum Landen ansetzte. In diesem Moment klopfte es an der Tür, und Van hörte die Stimme Tios.

"Wir sind da."

"Ich komme!"

Er ging auf die Brücke, wo er bereits von Allen und Thana erwartet wurde.

"Hallo, Van! Fanelia ist wirklich schön. Die Berge, die Wälder..."

Van lächelte. "Ja, es ist ein wunderschönes Land. Wild, aber wunderschön. Warte noch ein paar Monate, dann wird hier alles bunt. Die Gebirgseichen sind besonders schön. Imposante, alte Bäume voller bunter Farben. Du musst nur aufpassen, auf keinen Erddrachen zu stoßen. Die scheinen eine Vorliebe für Gebirgseichen zu haben."

"Ach ja? Warum?"

"Das weiß niemand..." Er verstummte, denn jetzt flog der Crusador über den Berghang, der Fanelia an mehreren Seiten umgab.

"Hier hat sich in den paar Tagen ja eine ganze Menge verändert", meinte Allen, und Van musste ihm zustimmen.

"Ja, ich bin selbst erstaunt. Anscheinend kommt Merle besser zurecht, als ich dachte."

"Wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen, ausgerechnet sie zu deiner Stellvertreterin zu machen?"

"Ich hatte kaum eine andere Wahl. Hätte ich wen anders genommen, wäre das als Bevorzugung aufgefasst worden, und alle hätten gegen denjenigen intrigiert." Er seufzte. Ein schweres, resignierendes Seufzen. "Bei Merle denken sie wenigstens, dass sie machen können, was sie wollen, und tun zumindest etwas- wenn auch nicht immer richtig. Ich verstehe nicht, wie ihnen irgendeine Position wichtiger sein kann, als die Menschen. Vargas hatte sie unter Kontrolle. Sie hatten Angst vor ihm. Vor mir anscheinend nicht."

"Und warum suchst du dir nicht jemand anderen?" fragte Thana.

"Es gibt niemanden. Die, die sich wirklich um das Volk kümmern würden, versuchen doch, zumindest erst ihrer Familie zu helfen. Ich kann sie nicht zu einer mit Verantwortung überladenen Position zwingen, die ihnen nichts als Ärger und schlaflose Nächte bringt."
 

Die Diskussion wäre wahrscheinlich noch lange weiter gegangen, hätte Allen nicht in dem Augenblick etwas seltsames entdeckt.

"Sieh einmal Van! Dort unten sind lauter Luftschiffe. Hast du eine Ahnung, warum die hier sind?"

Van schaute stirnrunzelnd auf die Versammlung der unterschiedlichsten Typen von Luftschiffen. "Nein. Merkwürdig! Es scheint von jedem Land eines da zu sein."

"Du hast Recht. Da ist sogar eins mit dem Wappen von Asturia. Was hat das nur zu bedeuten?"

"Ich schlage vor, wir landen und fragen sie", meinte Thana. "Unter Umständen sagen es sie uns ja."

Allen musste lachen. "Ja, das wäre möglich. Los Gades, du hast die junge Dame gehört. Bring uns runter."

"Zu Befehl!" schmetterte dieser salutierend, und dann leise, aber so, dass es alle hören konnten, "Kommandantin!"

Unter grölendem Gelächter senkte sich der Crusador neben die anderen Luftschiffe. Wenn sie gewusst hätten, was sie erwartete, wären sie nicht so fröhlich gewesen.
 


 

Kapitel 1
 

"Hitomi! Hitomi! Fräulein Kanzaki, ich rede mit ihnen!"

Hitomi erschrak, als sie plötzlich das Gesicht ihrer Lehrerin vor sich sah.

"Wenn mein Unterricht so langweilig für dich ist, dass du nicht mal hörst, wenn man dich anspricht, kannst du auch genauso gut draußen träumen!" schrie sie wütend und deutete zur Tür.

Hitomi stand ohne ein Wort auf, und ging nach draußen. Als sie die Tür schloss, bemerkte sie nicht den verwirrten Blick ihrer Lehrerin, die ihr besorgt nachsah.

>Jetzt habe ich es mir auch noch mit meiner Lieblingslehrerin verscherzt<, dachte Hitomi traurig, als sie sich an die Wand lehnte. Es war schon das zweite Mal, dass sie heute hinaus geschickt wurde, weil sie so unaufmerksam war. Aber ihr ging einfach nicht der Traum von letzter Nacht aus dem Kopf. Wie jedes Mal, wenn sie daran dachte, fühlte sie den Kloß in ihrem Hals, der sich einfach nicht hinunterschlucken ließ.

>Was hat das nur zu bedeuten?< fragte sie sich wohl zum tausendsten Mal. >Ist Van in Gefahr? Oder ich? Stimmt wieder etwas nicht mit Gaia? Und warum habe ich ihn erstochen?<

Sie würde Van niemals etwas antun können, aber vielleicht brachte sie ihn durch irgend etwas in Gefahr, und...
 

Bunte Wirbel erfassten sie. Rote Schleier tanzten vor ihren Augen. Bilder tauchten auf. Van, wie er sie anlächelte. Escaflowne, im Kampf mit einem Guymelef. Eine dämonische Fratze, und dazu ein so böses Gelächter, dass ihr das Blut in den Adern gefror. Es war Vans Stimme. Dann kam Allen. Er schien sie vor irgendetwas warnen zu wollen, dann durchbohrte ihn ein aus dem Nichts auftauchendes Schwert. Das königliche Schwert von Fanelia.

"Allen! Nein!" Wieder diese Wirbel. Sie stand auf einem Hügel. Unter ihr eine brennende Stadt.

Noch einmal wurde sie davon getragen. Vor ihr stand Van. Und auch wieder nicht Van. Es war sein Körper, aber sein Gesicht war verzerrt, und als sie ihn ansah, hatte sie ein so unglaubliches Gefühl von Falschheit... Van, oder was auch immer, schaute sie an, und ein eisiger Schreck durchfuhr sie angesichts solcher Boshaftigkeit in seinem Blick. Dann grinste dieses Wesen.

"Ah, Hitomi. Wie schön, dass du noch gekommen bist." Seine Worte klangen sanft und zärtlich, aber sein Grinsen strafte seine Worte Lügen. "Dann muss ich mir nicht die Mühe machen, zu dir zu kommen, um dich zu töten." Mit einem irren Lachen stieß er ihr das Schwert in den Bauch.

Ungläubig schaute Hitomi nach unten auf den kalten Stahl, der sich in ihre Eingeweide gebohrt hatte. Sie konnte es nicht glauben, aber in dem Moment, als er zugestochen hatte, hatte sie gefühlt, dass es wirklich Van war, der da vor ihr stand, und nun sein Schwert wieder aus ihr herauszog. Zumindest zu einem Teil war er es. Sie betrachtete teilnahmslos die Klinge, auf der sich ihr Blut mit dem vieler anderer Unschuldiger mischte.

"Van" hauchte sie, dann wurde die Umgebung undeutlich, und sie schlug auf den Boden.
 

Das erste, was sie bemerkte, war ein verschwommenes Gesicht, dass sich über sie beugte.

"Sie kommt wieder zu sich!"

Hitomi runzelte die Stirn, und sofort zuckte ein heftiger Schmerz durch ihren Kopf.

"Hitomi? Hitomi, kannst du mich hören?"

>Diese Stimme...< "Yukari? Yukari, bist du das?" fragte sie schwach. Dann klärte sich ihre Sicht plötzlich. "Yukari! Was ist... Oh Gott." Sie schwieg, während die Erinnerung kam. Zum Glück sprach in diesem Augenblick eine andere Stimme, sonst wäre sie wohl erneut bewusstlos geworden.

"Ich habe keine Ahnung, wie sie sich eine solche Wunde zugezogen haben könnte. Ich habe nichts spitzes oder scharfes gesehen. Sie hat einfach nur dagelegen, und geschrieen. Es hat fast wie eine Sprache geklungen, aber ich habe kein Wort verstanden."

>Wunde? Was für eine Wunde?< fragte sich Hitomi verwirrt, dann bemerkte sie den Schmerz. Überrascht hob sie den Kopf, aber ließ ihn sofort wieder sinken. Trotzdem hatte sie gesehen, was passiert war. Genau dort, wo diese Van-Kreatur sie erstochen hatte, klaffte ein blutiger Riss in ihrer Haut, den eine Frau in einem weißen Kittel gerade nähte.

"Du hattest Glück, dass Doktor Yuo gerade da war, Hitomi", sagte Yukari, und nun sah Hitomi auch die Tränen auf ihrem Gesicht, die noch immer nicht getrocknet waren. "Ich hatte schon gedacht du stirbst, als ich dich da liegen sah, nachdem Frau Nakamura geschrieen hatte, und du voller Blut warst. Ich frage mich, wie es überall auf deinen Körper kommt, wo du doch deine Wunde gar nicht angefasst hast. Und trotzdem hattest du soviel Blut an deinen Händen."

Hitomi hob ihre Hände und sah sie verwundert an, während Yukari noch immer völlig aufgelöst weiterplapperte. Deutlich waren die Spuren zu sehen, die das Tuch hinterlassen hatte, mit dem man ihr den größten Teil des Blutes abgewischt hatte, aber das Rot war trotzdem deutlich zu sehen.

"So, fertig." Die Ärztin gab der Schulschwester die Nadel, und machte sich daran, Hitomi einen Verband zu verpassen. Mit der gespielten Fröhlichkeit, die so vielen Ärzten zu eigen war, redete sie auf Hitomi ein. "Es ist wirklich ein Wunder, dass du dich nicht schlimmer verletzt hast. Ich hätte geschworen, dass etwas, dass eine solch tiefe Wunde verursacht auch wesentlich mehr Schaden anrichtet. Aber es ist gar nicht so schlimm, wie es aussieht." Beinahe hätte Hitomi hysterisch gelacht. Wenn man ein Schwert in den Bauch bekam, dann war es wirklich ein Wunder, wenn man mit kaum mehr als einer Schramme davonkam.

"Wird es wieder richtig verheilen?" fragte Yukari. Die Ärztin wiegte den Kopf hin und her. "Nun ja, es wird wohl eine kleine Narbe zurück bleiben, die erst in ein paar Jahren verschwindet. Je weniger sie sich in den nächsten Tagen bewegt, desto besser kann es heilen. Also, Bettruhe für eine Woche. Dann sehe ich es mir noch mal an. Ich glaube, wir können dich nach Hause fahren. Es ist nicht nötig, dich ins Krankenhaus zu bringen, vorausgesetzt, du tust, was ich dir gesagt habe, und bleibst liegen", sagte sie streng zu Hitomi, die nur nicken konnte.

"Ich werde sie nach Hause fahren", erklärte Frau Nakamura. "Sie wohnt gleich im Haus neben meinem, und ich weiß, dass ihre Mutter zu Hause ist."

"Gut. Bitte geben sie mir ihre Adresse, damit ich mich in einer Woche dann auch hinfinde." Die beiden Frauen gingen nach draußen, und auch die Schulschwester verließ das Krankenzimmer.

"Hitomi?" fragte Yukari leise. "Was ist passiert?"

Eine Weile schwieg Hitomi. Dann antwortete sie genauso leise: "Ich weiß es nicht Yukari. Nicht genau."

"Es war wieder eine dieser Visionen, oder? Und du hast dauern nach diesem Jungen geschrieen, nach Van."

Hitomi schwieg. Was hätte sie auch noch sagen sollen.

Dann kam Frau Nakamura wieder hinein. "Kannst du aufstehen?" fragte sie.

"Ich glaube schon." Gestützt von Yukari und ihrer Lehrerin, ging sie zum Auto.
 

"Wieso darf ich nicht mitfahren?" fragte Yukari wütend.

"Weil du nicht verletzt bist."

"Aber ich bin ihre beste Freundin."

"Das ist egal. Los, geh wieder zurück. Du hast nur noch zwei Stunden, dann kannst du Hitomi besuchen." Frau Nakamura schloss die Autotür, und fuhr los.

Nach einer Weile fragte sie: "Was ist bloß los mit dir, Hitomi? Ich kenne dich, seit du ein kleines Kind warst. Als du geboren wurdest, war ich etwa so alt wie du jetzt. Ich habe dich in meinen Armen gehalten. Ich kann mich noch erinnern, wie du, als du kaum laufen konntest, auf einmal verschwunden warst. Deine Mutter hat die ganze Straße in Aufregung versetzt. Und dann habe ich dich gefunden. Bei uns im Garten. Du hast eine Eidechse verfolgt, und warst ganz gefesselt von ihr. Ich glaube sogar, das war der Moment, in dem ich beschloss, Lehrerin zu werden." Sie schwieg eine Weile, in ihren Erinnerungen versunken, und Hitomi störte sie nicht. Sie wollte jetzt nicht reden. Vor allem nicht, mit Frau Nakamura. Sie mochte sie sehr, und es würde ihr wehtun, nichts sagen zu können.

"Du warst schon immer ein aufgewecktes Kind, und wenn ich ehrlich sein soll, warst du mir schon immer etwas unheimlich. Ich weiß noch, ich habe einmal einen Ring gesucht, und du hast sofort gewusst wo er war. Obwohl du unmöglich wissen konntest, wo ich ihn hätte verlieren können."

Hitomi schaute aus dem Fenster. An die Eidechse konnte sie sich nicht mehr erinnern, aber an den Ohrring. Sie war damals fünf oder sechs Jahre alt. Als sie Frau Nakamura etwas suchen sah, hatte sie sofort gewusst, was es war, und wo der Ohrring lag- er war unter einen Stein in ihrem Garten gekullert.

"Und das ist nicht das einzige Beispiel. Aber so habe ich dich noch nie erlebt. Du bist immer mit deinen Gedanken woanders, und wenn ich dich anschaue... Hitomi. Ich habe Angst um dich. Was ist los?"

Es tat Hitomi in der Seele weh, ihre Lehrerin so reden zu hören. Sie wollte nicht mit ihr darüber reden. Sie wollte nicht sagen, dass sie Angst hatte. Ganz unbeschreibliche Angst um Van. Irgendetwas würde passieren, das wusste sie genau. Das heute Nacht hätte sie vielleicht noch als Traum abtun können, aber nicht das, was ihr in der Schule passiert war. Träume verletzten niemanden. Und sie überschütteten einen auch nicht mit Blut.

Da Hitomi nicht antwortete, fuhr ihre Lehrerin schweigend weiter.

Schließlich hielten sie vor Hitomis Haus.

"Hitomi, ich komme heute Abend vorbei. Ich möchte mit deinen Eltern sprechen."

Frau Nakamura hatte mit Widerstand gerechnet, aber zu ihrer Überraschung nickte Hitomi nur, und stieg aus.

Nachdem sie gesehen hatte, dass sich die Tür zu Hitomis Haus öffnete, fuhr sie los. >Vielleicht wäre es besser gewesen, jetzt sofort mit ihrer Mutter zu reden<, überlegte sie. >Aber was soll ich ihr sagen? Dass sich ihre Tochter auf unerklärliche Weise verletzt hat? Dass sie seit ihrem Fehlen vor zwei Monaten so seltsam geworden war? Und dass es seit ihrer Krankheit vorige Woche noch schlimmer war? Oder war sie vielleicht gar nicht krank gewesen? Hatte sie gefehlt, weil sie so seltsam war?< Schaudernd beschloss sie, mit Yukari zu reden. Sie und Hitomi waren seit dem Kindergarten unzertrennlich. Vielleicht konnte sie ihr erklären, was mit Hitomi los war.
 

***
 

Thana ging hinter Van die Rampe hinunter. Hier am Boden sah man nicht mehr so deutlich wie aus der Luft, dass Fanelia erst vor kurzem zerstört worden war. Der Landeplatz war von allen Trümmern geräumt, und an den Rändern wuchs schon wieder kniehohes Gras, zusammen mit den ersten zaghaften Versuchen von Büschen und Bäumen, ihr altes Territorium zurück zu erobern. Es war, als ob die Natur mit aller Kraft versuchte, die ihr beigebrachten Narben zu überdecken und noch schöner als zuvor wieder zu erblühen.

"Euer Majestät!" Die Soldaten, die sie abholten, schienen sich nicht wohl zu fühlen. Sie schauten fast ängstlich auf ihren König, der keine Ahnung hatte, warum.

"Was ist los? Warum sind all die Luftschiffe hier?"

"Es wurde von den anderen Königreichen ein Beschluss gefasst, und sie sind hier, um euch darüber zu informieren. Fast alle Reiche haben einen Abgesandten geschickt."

"Und was ist das für ein Beschluss?"

Der Soldat wand sich. "Ich glaube, das sagen sie euch besser selbst."

"Na, das kann ja was werden." hörte Thana Dryden hinter sich, und musste ihm im Stillen Recht geben.

Van schaute den Soldaten eine Weile eindringlich an, und beschloss dann, nicht weiter zu fragen. Er würde früh genug erfahren, was der Grund dafür war, dass seine Soldaten lieber nicht in der Nähe waren, wenn er erfuhr, was diese Versammlung zu bedeuten hatte.

Trotz der Medizin, die ihre empathische Fähigkeit unterdrückte, konnte Thana deutlich die Erleichterung der Soldaten spüren, als Van sie wegschickte.
 

***
 

Hitomis Finger strichen zitternd über die Tarot-Karten, die auf ihrer Bettdecke lagen. Sollte sie es tun, oder nicht?

Sie hatte sich eigentlich geschworen, nie mehr die Karten zu benutzen, nachdem sie so viele entsetzliche Dinge mit ihnen vorausgesagt hatte. Aber die Angst fraß sie auf. Sie musste einfach wissen, was ihre Visionen zu bedeuten hatten. Und wie es Van ging.

Van. Er hatte es ihr gesagt. Bevor sie geflohen war, geflohen vor all dem, was auf Gaia immer passierte. Er hatte ihr gesagt, dass er sie liebte. Hitomi war noch nie so glücklich wie in diesem Augenblick. Und zugleich so traurig wie noch nie. Wie hatte sie einfach gehen können? Sie liebte ihn doch auch! Aber sie konnte es nicht ertragen, weiter bei ihm zu sein. Sie hatte schließlich versucht, ihn zu töten! Und es war egal, ob sie es selbst war, oder ob etwas Fremdes sie kontrolliert hatte. Sie hatte es getan, und dass würde sie sich nie verzeihen.

Nach weiteren Sekunden des Zweifelns packte Hitomi entschlossen den Kartenstapel. Gemischt hatte sie ihn schon.

Und nun die Frage: Gab es eine Chance für sie und Van?

Schnell legte sie die fünf Karten im Kreuz aus.

Die erste Karte: Bejahung. L' Amore - die Liebenden. Liebe, aber auch Konflikt zwischen zwei Kräften mit der Notwendigkeit der Entscheidung.

Die zweite Karte: Verneinung. La Luna - der Mond. Gefahr, weil etwas anders erscheint, als es ist.

Die dritte Karte: Widerstreit. La Torre - der Turm. Eine heftige Auseinandersetzung. Plötzliche Veränderungen und die Wirkung von übergeordneten Mächten.

Die vierte Karte: die Lösung. Die Königin der Vögel. Eine verbitterte Frau, voller Emotionen. Egoistisch und anmaßend. Trennung oder Enttäuschung.

Die letzte Karte, die fünfte. Synthese, das Ergebnis. Il Monde - die Welt. Erreichen des wichtigsten Zieles. Freiheit und Veränderungen, auch durch Reisen und Ortswechsel.
 

Die Liebenden, der Mond, der Turm, die Königin der Schwerter und die Welt. Was hatte das zu bedeuten? Sie hatte noch nie ein solches Blatt gesehen. Die Liebenden- das konnten nur Van und sie sein. Aber was sollte der Mond da? Sollte Van... nein, wie konnte sie auch nur auf diesen Gedanken kommen. Vielleicht wird er durch irgendetwas getäuscht? Aber was? Der Turm deutete auf eine große Macht hin. Eisiges Grauen durchzog sie. Sollte etwa wieder das selbe passieren, wie das, was vor kurzem erst passiert war? Götter, die sich bekriegten? Das konnte einfach nicht sein! Flöte hatte doch gesagt, es wäre vorbei. Und dann die vierte Karte. Die Königin der Schwerter. Wie sollte eine verbitterte Frau Hitomi helfen können? Was konnte das nur...
 

Schwärze. Ein Universum voll Schwärze. Dann ein Aufblitzen. Van! Und wieder Schwarz. Dann Bilder in rasender Folge, so schnell, dass sie kaum erkennen konnte, was vor ihrem inneren Auge erschien. Thana! Eine unbekannte Frau/ ein unbekanntes Mädchen. Zu schnell weg, um das erkennen zu können. Merle und ein... Katzenjunge??? Eine Höhle. Ein junges Mädchen, das sie auslachte. Ein meditierender, alter Krieger, das Gesicht zernarbt. Und ein sterbender Van, im Augenblick seines Todes ihren Namen auf den Lippen.
 

Hitomi keuchte. Es waren noch viel mehr Bilder gewesen, aber sie hatte nicht mal die Hälfte erkennen können. Geschweige denn verstehen. Das einzige Konkrete, das zurückblieb, waren die Schmerzen unter ihrem Verband. Sie musste sich so gekrümmt haben, dass die Wunde wieder blutete.

Eine lange Zeit lag sie still, während der Schmerz langsam zu einem dumpfen Pochen abebbte. Und in dem Maß, wie ihre Schmerzen verklangen, erkannte sie, dass es nur einen Weg gab, herauszufinden, was die Karten ihr sagen wollten. Sie musste tun, wovor ihr so sehr graute. Sie musste zurück. Zurück nach Gaia. Zurück in die Welt, die Himmel und Hölle zugleich war.
 

***
 

Frau Nakamura ging gedankenverloren durch die engen Gassen der Altstadt zum Meer. An der Promenade wehte zum Glück jene kühle Brise, nach der sie sich an diesem schwülen Abend so sehr sehnte.

Sie lächelte, als sie an den Paaren vorbeikam, die hier aneinandergelehnt saßen, und nichts weiter brauchten als sich selbst.

>Glückliche Kinder<, dachte sie. >Sie wissen noch nicht, was einmal auf sie zu kommt. Verantwortung für andere.<

Dieser Gedanke brachte sie wieder auf den Grund für ihre Ruhelosigkeit - Hitomi. Als sie sie gerade besucht hatte, war sie noch seltsamer gewesen als sonst in letzter Zeit - nicht, dass sie nicht von Anfang an etwas seltsam gewesen war. Aber es war nie diese... Angst und diese Trauer in ihrem Blick gewesen. Im Gegenteil, sie war das fröhlichste und unbekümmertste Mädchen der ganzen Schule gewesen.

Frau Nakamura stutze. Die Stimmen kannte sie doch? Sie sah zu der Bank vor ihr. Tatsächlich, es waren Yukari und Amano, die sich dort leise unterhielten. Aber nicht über sich selbst, wie die anderen Pärchen hier.

"Nein, Amano. Du irrst dich. Da ist noch etwas anderes. Ich kann dir auch nicht sagen, was, aber ich habe es in ihren Augen gesehen. Wenn ich bloß wüsste, was."

Sie zögerte. Sie wollte die beiden nicht stören, aber andererseits, vielleicht konnte Yukari mit dem Brief ...

Die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Yukari hatte anscheinend bemerkt, dass jemand sie anstarrte, und hatte sich herumgedreht. Nun sprang sie auf.

"Frau Nakamura! Was machen sie denn... äh..."

Frau Nakamura musste trotz der ernsten Situation lachen. "Ich darf wohl nicht die Aussicht bewundern, hmm?" fragte sie mit einem Blick auf Amano, der nun ebenfalls aufgestanden war, und sich höflich verbeugte.

"Nein, nein, natürlich dürfen sie. Ich..." stotterte Yukari mit rotem Gesicht.

"Ich war bei Hitomi", beschloss Frau Nakamura, die Sache schnell hinter sich zu bringen.

Yukari erschrak. "Ist was..."

"Nein, keine Angst. Es ist nichts. Jedenfalls nicht was du denkst."

"Wie meinen sie das?" fragte Yukari verwirrt.

"Sie hat mir einen Brief für dich gegeben, ich soll ihn dir morgen in der Schule geben."

"Aber warum das denn, wir besuchen sie morgen doch wieder", wunderte sich nun auch Amano.

"Das ist es, was mich verwirrt. Hier." Sie reichte Yukari den Brief, die ihn öffnete und im schwachen Licht mühsam entzifferte.

Frau Nakamura hatte lange überlegt, ob sie ihn lesen sollte, aber es widerstrebte ihr, das Vertrauen von Hitomi zu missbrauchen. Ganz abgesehen davon, dass es fatale Auswirkungen haben konnte, wenn Hitomi, die im Moment höchst labil war, davon erfuhr.

Aber als Yukari schneeweiß wurde, bereute sie diese Entscheidung. Wortlos wurde der Brief an Amano weitergegeben, der ihn äußerlich ruhig las. Dann bekam auch er sichtbar Angst.

In diesem Moment lief Yukari los, und rief ihm zu. "Komm, Amano. Wir müssen vor ihr da sein und sie aufhalten!"

Er stürzte los, doch Frau Nakamura hielt ihn fest. "Was ist los?" rief sie so laut, dass sich einige der verstreuten Paare zu ihnen umdrehten.

Wortlos drückte Amano ihr den Brief in die Hand, und um ihn nicht fallen zu lassen, musste sie ihn loslassen. Das nutzte Amano aus, und lief hinter Yukari her. Im Brief standen nur drei kurze Sätze:

"Er braucht mich. Ich muss wieder zurück. Bitte entschuldige, Yukari."

Frau Nakamura sah den beiden hinterher. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hinrannten. Und sie hatte nicht die geringste Chance, sie einzuholen. Amano war der beste Läufer der Schule, aber selbst er hatte Schwierigkeiten, zu Yukari aufzuschließen. Sie rannte, als sei der Teufel persönlich hinter ihr her. Was sollte sie also tun?
 

***
 

"Sie ist nicht mehr da."

"Was soll das heißen? Ist sie rausgegangen?"

"Nein, einfach weg. Vor einer halben Stunde war sie noch auf ihrem Zimmer, jetzt ist sie weg."

Frau Nakamura schaute entsetzt und verwirrt auf ihr Gegenüber. Hitomis Mutter schien nicht sonderlich aufgeregt zu sein. Eher resigniert. Als ob sie es aufgegeben hätte, eine Erklärung für Hitomis Verhalten zu finden.

"Dann müssen wir sie suchen. Vielleicht ist sie bloß spazieren gegangen, aber das ist gefährlich mit ihrer Verletzung."

"Sie ist nicht spazieren gegangen." Hitomis Bruder kam die Treppe herunter.

"Woher weißt du das, Kenji?"

"Sie hat ihre Tasche mitgenommen - und ihre Tarot-Karten", sagte er traurig.

Hitomis Mutter atmete tief ein, und wandte sich an ihre alte Bekannte. "Geh nach Hause. Du kannst nichts mehr tun."

Frau Nakamura traute ihren Ohren nicht. "Was soll das heißen? Hör zu, wir kennen uns seit Jahrzehnten. Meine Schwester ist mit dir in eine Klasse gegangen. Als unsere Eltern gestorben sind, warst du es, die es uns ermöglicht hat, weiter zu machen. Warum vertraust du mir nicht mehr?"

"Das hat mit Vertrauen nichts zu tun. Aber wir können Hitomi nicht aufhalten."

"Wobei aufhalten? Will sie sich umbringen?"

Ein schmerzvolles Lächeln huschte über das Gesicht von Hitomis Mutter. "Nein, das nicht. Aber du würdest es nicht glauben, wenn ich dir erzähle, was der Grund für ihr Verschwinden ist. Du kannst nichts machen, niemand von uns kann das. Ich habe gewusst, dass es so kommen würde, sie ist schließlich meine Tochter. Was immer auch passiert..." Sie brach ab, und schüttelte den Kopf. "Geh nach Hause, und leg dich ins Bett. Sie will sich nicht umbringen, ganz sicher nicht. Im Moment will sie nichts mehr als leben."

Frau Nakamura fror plötzlich, trotz der schwülen Hitze. Sie wusste ganz genau, dass der Satz hier noch nicht zu Ende war. Es fehlte noch etwas wie "aber es kann durchaus sein, dass ihr dieser Wunsch nicht erfüllt wird."
 

***
 

>Tief durchatmen<, ermutigte Hitomi sich. >Es kann gar nichts passieren. Du hast wieder einen Torstein, das Tor ist auch wieder fast in Ordnung, und bei der Rückkehr zur Erde ist auch nichts passiert, außer ein bisschen Schwindel. Also, warum sollte jetzt etwas passieren? Also dann. Auf die Plätze, fertig, l...<

"Warte Hitomi!"

Hitomi starrte vollkommen überrascht auf ihre beste Freundin, die mit Amano im Schlepptau angerannt kam.

"Tu... es... nicht... Hitomi!" japste sie, auf den Knien abgestützt und mit knallrotem Kopf. Amano ging es nicht besser. Trotz seiner antrainierten Ausdauer keuchte er, und sein T-Shirt zerriss fast, wenn er einatmete.

"Woher wisst ihr, dass ich hier bin und was ich vorhabe?"

Da Yukari noch immer krampfhaft versuchte, wieder zu Atem zu kommen, antwortete Amano. "Wir sind Frau... Nakamura begegnet. Sie hat uns... deinen Brief gegeben."

Hitomi stand da, und konnte es nicht fassen. Das konnte nicht sein. Sie hatte ihn extra nicht zu Hause liegen gelassen, wo er gefunden werden konnte. Sie hatte vermeiden wollen, dass genau das geschah, das nun passiert war. Sie wollte sich nicht von ihrer Freundin verabschieden müssen. Sie war sich nicht sicher, ob sie dazu in der Lage war, wenn Yukari vor ihr stehen würde. Deshalb hatte sie sich auch von zu Hause fortgeschlichen. Sie konnte sich nicht von ihren Eltern und von Kenji verabschieden, ohne in ihrem Entschluss wankend zu werden.

"Ich muss gehen!" sagte sie deshalb entschlossen, und leise fügte sie hinzu: "Ich hatte wieder eine Vision. Ich weiß nicht, was sie bedeutet, aber ich werde gebraucht." >Van braucht mich.<

Yukari schaute in die traurigen Augen ihrer Freundin, und es war, als ob sie ihre Gedanken lesen könnte. Sie sah Hitomis Angst, ihre Zweifel, aber auch ihre Entschlossenheit. Und ihren Schmerz.

Manchmal passierte es, dass man das Gefühl hatte, das Universum würde einem seinen Willen mitteilen - zusammen mit einer Bitte. Dies war einer dieser Momente.

"Na gut, Hitomi. Wie du willst."

"Wie?"

Hitomi war nicht weniger erstaunt als Amano. Dieser rasche Gesinnungswechsel Yukaris war zwar typisch für sie, aber eben noch war sie so entschlossen gewesen, Hitomi aufzuhalten, dass es im ersten Moment keiner der beiden glauben konnte.

"Du sollst gehen. Ich sehe doch, dass ich dich nicht aufhalten kann." Yukari umarmte Hitomi und wünschte ihr viel Glück. Dann verabschiedete sich auch Amano von ihr, bevor die zwei ein Stück zur Seite gingen, um Hitomi nicht zu stören. Diese konzentrierte sich erneut.

>Dieses Mal ist es viel einfacher.< Sie drehte sich zu ihren Freunden um, wischte sich die Tränen aus den Augen und lächelte sie dankbar an. Dann schaute sie wieder entschlossen nach vorne.

Raketengleich schoss sie nach vorne, die rechte Hand um den blauen Anhänger Mai Lings geschlossen, und mit der linken ihre Tasche festhaltend. Das rote Licht der untergehenden Sonne umgab sie in einer magischen Aureole, und ihre Schuhe wirbelten den Staub auf, der sich bei dem starken Wind am Morgen auf die Laufbahn verirrt hatte. Deutlich fühlte Hitomi jede Berührung ihrer Füße mit dem Boden, wie sich ihr Rock an ihre Beine presste, das Stechen der Wunde, und das wilde Schlagen ihres Herzens. Sie schrie auf, als die Säule aus purem, gleißendem Licht auf sie herniederfuhr und sie erfasste.

"Viel Glück, Hitomi!" hörte sie Amanos Stimme hinter sich.

"Willst du ihr gar kein Glück wünschen?" fragte er Yukari, die still neben ihm stand.

Sie zögerte eine Weile, und schaute ihn dann mit einem merkwürdigen, um Verzeihung bittenden Blick an. "Es tut mir leid, Amano. Aber ich muss es tun."

"Was musst du..." fragte er vollkommen verwirrt, da verschloss sie seinen Mund mit einem heißen Kuss.

"Bitte verzeih mir." Dann rannte sie so schnell sie konnte auf Hitomi zu, die schon einen Meter über dem Boden schwebte.
 

Hitomi schaute nach oben, dorthin, wo Gaia jetzt sein musste. Sie hatte Angst vor dem, was sie dort erwarten würde, aber noch größer war ihre Angst vor, was vielleicht geschehen konnte, wenn sie nicht dort sein würde.

Plötzlich gab es einen heftigen Ruck, und etwas Schweres hing an ihren Füßen. Sie schaute nach unten, und hätte beinahe die Sporttasche auf Yukaris Kopf fallen lassen.

"Yukari! Was machst du da! Lass los!"

"Nein, das mache ich nicht. Ich lasse dich nicht noch einmal alleine da hin. Hast du vergessen, was wir uns mal geschworen haben? Das immer eine auf die andere aufpasst? Ich werde nicht noch mal versagen!"

"Aber Yukari!"

"Nichts aber! Außerdem kann ich jetzt sowieso nicht mehr loslassen. Oder willst du, dass nur noch ein Fettfleck von mir zurück bleibt, wenn ich unten aufschlage?"

Hitomi schaute nach unten. Amano stand unter ihnen, schon ein ganzes Stück entfernt. Yukari hatte Recht. Wenn sie jetzt losließ, würde von ihr nicht mehr viel übrig bleiben, wenn sie aufschlug.

"Mach dir keine Sorgen!" rief Hitomi Amano zu, um ihn zu trösten. "Wir kommen heil wieder zurück! Ich lasse nicht zu, dass Yukari etwas passiert!" Sie hoffte nur, dass er es noch hören konnte. Und dass sie ihr Versprechen würde halten können.
 

***
 

Ich weiß heute noch nicht, wie sie mich gefunden hat. Ich lief in absoluter, alles verhüllender Dunkelheit. Zerstörung war rings um mich herum, von einem Krieg, den niemand gewonnen hatte.

Und dann stand sie vor mir! Ein kleines Mädchen, lange, blonde Haare, in einer weißen Toga. Kein Lichtstrahl fiel auf sie, und doch konnte ich sie so deutlich sehen, als wäre es heller Tag. Sie stand da, ein sanftes, alles umfassendes Lächeln, blickte zu mir herauf, und hielt mir ihre Hand hin.

Ich war erstarrt, konnte mich nicht rühren, und doch, nach ein paar Sekunden, in denen mein Denken einfach aussetzte, ergriff ich zögernd ihre Hand, und ging mit ihr davon. Durch verbrannte Felder voller Leichen, die ebenfalls bis zur Unkenntlichkeit verbrannt und verstümmelt waren.

Ich hatte mein Leben lang das Gefühl gehabt, etwas zu suchen. Was es war, habe ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst. Doch als sie vor mir stand, wusste ich es. Ich habe sie gesucht: Flöte - die Kindgöttin!
 

Ich bin ihr wohl tagelang gefolgt. Ich weiß es nicht. Und ich habe auch keine Erklärung dafür, wie ich das geschafft habe.

Als wir an ihrer kleinen Hütte ankamen, habe ich jedenfalls erst einmal eine ganze Woche durchgeschlafen. Glaube ich wenigstens. Meine Wunden waren zumindest geheilt, als ich wieder aufwachte.
 

Ich will nicht sagen, dass wir ein Herz und eine Seele waren. Vor allem am Anfang machte ich ihr viele Vorwürfe, dass sie mein Volk nicht gerettet hat. Die Macht dazu hätte sie gehabt.

"Ja", sagte sie, "die Macht hätte ich wohl gehabt - diesmal. Vielleicht auch das nächste Mal. Aber irgendwann wäre meine Kraft verbraucht gewesen, und dann wäre der Krieg noch schlimmer geworden. Davon ganz abgesehen, mischen sich die Götter nicht mehr in die Geschicke der Menschenvölker. Sie müssen lernen, ohne unsere Führung auszukommen."

"Und wenn sie das nicht schaffen?" hatte ich wütend gefragt.

"Dann werden sie untergehen", hatte sie mit soviel Schmerz in der Stimme gesagt, dass ich mich für meine Wut schämte. "Sie müssen lernen, mit ihren Mitmenschen zusammen zu leben. Wenn sie das nicht schaffen, werden sie sich gegenseitig vernichten. Das wäre um ein Haar schon mal passiert."

Sie schaute mich lange an, und ich wusste, dass sie aus Erinnerung sprach.

"Die Menschen hatten Wissenschaft und Technik hoch entwickelt. So hoch, dass die Götter überflüssig wurden. Aber auch wenn sie den Verstand hatten, eine solche Technik zu entwickeln - die Vernunft, um sie richtig zu beherrschen, hatten sie nicht. Das Ergebnis war die Beinahe-Zerstörung zweier Welten. Und die Überlebenden des Untergangs von Atlantis fielen zurück in die Barbarei. Lieber sehe ich zu, wie sie sich mit Schwertern töten, als dass sie diese ganze Welt zerstören. Wir alle haben eine zweite Chance bekommen. Eine dritte wird es nicht geben."
 

Keel setzte sich ruckartig in seinem Bett auf. Er hatte lange nicht mehr an die Vergangenheit gedacht, und der letzte Traum an diese Ereignisse lag Jahre, vielleicht Jahrzehnte zurück. Dass er nun wieder davon träumte, hatte etwas zu bedeuten. Er wollte nicht behaupten, dass er Visionen hätte. Weder solche wie Flöte oder Hitomi, und auch nicht solche, eher Vorahnungen zu nennenden, die manche der sensitiven Tihani zuweilen hatten. Aber er hatte lange genug gelebt, um zu spüren, wenn sich etwas zusammenbraute.

Und das hier fühlte sich nach einem äußerst heftigen Gewitter an.
 

***
 

Hitomi öffnete blinzelnd die Augen, und musste sie gleich wieder schließen. Es war hell hier. Sehr hell. Die Sonne brannte auf sie herab, und Schweiß kroch ihr aus allen Poren.

"Hitomi?" hörte sie eine schwache, schwankende Stimme neben sich. "Hitomi, bist du wach?"

Sie erinnerte sich. Sie wollte nach Gaia, aber dann hatte sich jemand an sie gehängt.

"Yukari? Alles in Ordnung mit dir?"

Schweigen folgte, und Hitomi bekam schon Angst, doch da antwortete ihre Freundin.

"Weißt du, abgesehen von diesen grässlichen Kopfschmerzen, der Tatsache, dass ich mich nicht bewegen kann, weil alle Muskeln wehtun, ich mir gleich einen Sonnenstich hole und ich keine Ahnung habe, wo ich bin - also davon abgesehen geht es mir ausgezeichnet."

Lachkrämpfe schüttelten Hitomis Körper, sehr zu ihrem Verdruss, denn ihr ging es nicht anders als Yukari. Als sie sich wieder beruhigt hatte, antwortete sie "Ich glaube, wir haben keine andere Wahl, als aufzustehen. Vielleicht finden wir ein schattiges Plätzchen. Und wenn wir uns bewegen, geht der Muskelkater hoffentlich weg."

"Du scheinst dich ja auszukennen. Verläuft die Reise jedes Mal so? Ich glaube, dann hat das keine Zukunft für den Tourismus."

Hitomi sparte sich die Antwort. Erstens erwartete Yukari sowieso keine, und zweitens wollte sie nicht zugeben, dass bisher jede Reise anders war. Und diese hier war bei weitem nicht die schlimmste.
 

Sie standen auf, blinzelten beide in die Gegend, und stellten fest, dass sie irgendwo im Nirgendwo gelandet waren. Auf der einen Seite Bäume, auf der anderen zackige Felsen, die sich wie ein überdimensionales Nagelbrett in den Himmel streckten.

"Nun, ich denke, wir gehen zu den Felsen dort. Da ist Schatten, und mit etwas Glück können wir hinaufklettern, und sehen, wo wir sind." Hitomi hatte nicht viel Hoffnung, die Gegend wieder zu erkennen. Gaia war groß, und sie war nicht gerade oft dazu gekommen, die Landschaft zu bewundern.

Sie gingen also zu den Felsen, in deren Schatten sie sich erst einmal wieder hinsetzten. Der Muskelkater war vom Laufen zwar schwächer geworden, aber noch lange nicht verschwunden. Und nach Hitomis durchaus reichhaltigen Erfahrungen auf diesem Gebiet würde das auch so bleiben. Plötzlich erstarrte Yukari, die Augen zum Himmel gewandt, und mit offenem Mund.

"Was ist?" fragte Hitomi.

"Die... Erde", stammelte Yukari.

"Ich habe dir doch davon erzählt. Oder hast du mir nicht geglaubt."

"Doch, das habe ich. Es ist nur... Es ist einfach etwas anderes, davon zu hören, oder es zu sehen."

Hitomi schaute nach oben. Yukari hatte Recht. Es gab keine Worte, die diesen Anblick beschreiben konnten. Die Erde, blau mit weißen Wolkenfetzen, davor der dunkelweiße Mond (er wirkte auf Gaia irgendwie nie grau - jedenfalls nicht, wenn man grau als Farbe betrachtete). Es war einfach ein Bild, dass jeden beeindruckte, der nach oben schaute. Und ein Bild, das melancholisches Heimweh in den Herzen derer weckte, die auf dieser blauen Kugel geboren waren.

Mit einem Ruck drehte Yukari sich um. "Lass uns nachschauen, ob wir hier irgendwo raufklettern können."

"Ist gut."
 

Gemeinsam schafften sie es, an einer nicht allzu steilen Felsnadel von etwa vier Metern Höhe hinauf zu klettern. Auf eine höhere hätten sie sich auch nicht getraut. Sie schauten sich um, sahen aber nichts als Wald, Wiesen und andere Felsadeln.

"Und du weißt nicht, wo wir sind, oder Hitomi?"

Hitomi seufzte. "Nein, ich glaube nicht. Die Berge dahinten kommen mir vage bekannt vor. Es könnten Berge in Fanelia sein, aber die Chance ist nicht sehr groß. Wenn ich eins von der Geographie Gaias weiß, dann ist es die Tatsache, dass es viele Berge und noch mehr Wälder gibt. Und ich war noch nie besonders gut darin, Berge auseinander zu halten."

"Warum sind wir eigentlich nicht in deinem Fanelia gelandet? Ich denke, du kannst das steuern?"

Hitomi zuckte hilflos mit den Schultern. "Ich müsste, ja. Aber bis jetzt hat es noch nie so richtig geklappt. Und außerdem hast du dich an mich gehängt, und meine Konzentration gestört."

"Ach, jetzt soll ich wohl Schuld sein, dass wir hier in der Wildnis gelandet sind, oder was?"

Hitomi hob abwehrend die Arme, und versuchte ihre Freundin zu beruhigen. "Nein, nicht doch Yukari. Ich mache dir doch keine Vorwürfe." Sie ließ die Hände sinken, und ein wässriges Glitzern trat in ihre Augen. "Du willst mir ja bloß helfen, und dafür bin ich dir wirklich dankbar."

Man konnte Yukari nachsagen, was man wollte, aber sie war niemand, der seine Freunde weinen ließ. "He, fang bloß nicht an zu heulen, klar? Ich will jetzt endlich in dieses verdammte Fanelia. Und wenn du sagst, es geht in diese Richtung, dann geht es da lang."

Sie machte sich auf, die Felsnadel wieder herunter zu klettern, und Hitomi stand überrascht da. Dann musste sie ein Lachen unterdrücken. Yukari hatte es in der Tat geschafft, ihr Zuversicht zu geben. Das hatte sie schon immer gekonnt. Eigentlich war sie immer die treibende Kraft hinter Hitomi gewesen. Hitomi wünschte sich nur, sie wäre weniger sprunghaft.

Auf einmal schrie Yukari. Es war ein panischer Schrei, als ob sie etwas überrascht hätte. In der Art, wie man schreit, wenn mitten in einem nächtlichen Gewitter ein Blitz die Silhouette einer vermummten Gestalt direkt vor sich enthüllt, die Hände erhoben um zu erwürgen.

"Yukari!"

Sie schrie immer noch.

Hitomi konnte nicht sehen, was ihr so Angst machte, denn sie war hinter einem Vorsprung der Felsnase gegangen.

Plötzlich brach ihr Schrei ab.

Hitomi sprang die letzten beiden Meter hinunter, verknackste sich dabei den Fuß und rannte alle Schmerzen, auch die von ihrer Bauchwunde ignorierend, um den Vorsprung herum. Sie sah eine hagere, Gestalt, die sich gerade zu Yukari hinunterbeugte, die das Bewusstsein verloren hatte.

"Lass sie in Ruhe, oder du wirst es bereuen!" Sie staunte selbst darüber, wie fest ihre Stimme klang. Sie hätte sich fast selber geglaubt.

Die Gestalt drehte sich um, und Hitomi erkannte ein von Fell bedecktes Gesicht mit sanften Zügen, das im Moment aber eher Sorge wiederspiegelte. Doch als das Wesen Hitomi erblickte, kroch ein Ausdruck ungläubigen Staunens in seine Augen.

"Lady Hitomi? Ihr?"

"Luum?" Hitomi blinzelte den Wolfsmensch überrascht an, dann spürte sie wie ihre Beine unter ihr nachgaben. Nachdem die Wirkung des Adrenalins verflogen war, kehrten ihre Schmerzen und eine ungeheure Erschöpfung zurück, und Hitomi fiel auf die Knie. "Luum, ich bin so froh..." Sie spürte nicht mehr, wie Körper umkippte und im Gras landete, das ihren Aufprall wie ein Kissen auffing.
 

***
 

Das erste was sie spürte, war eine raue Decke auf ihrer frei liegenden Haut. Dann hörte sie das Prasseln eines Feuers, den Ruf einer Eule, und das Murmeln und Raunen gedämpfter Gespräche. Mühsam öffnete sie die Augen. Über ihr wölbte sich die Unterseite eines Zeltdaches, und der flackernde Schein des Lagerfeuers warf verwirrende Muster auf den groben Stoff. Es war augenscheinlich schon Nacht. Sie musste also ziemlich lange bewusstlos gewesen sein.

"Ah, ihr seid wach."

"Luum?" Hitomi setzte sich ruckartig auf, und wäre wieder zurück gefallen, wenn der Wolfsmensch sie nicht gestützt hätte.

"Ihr solltet euch vorsichtiger bewegen, Lady Hitomi."

"Luum, wo ist Yukari?"

"Sie ist draußen, und holt gerade etwas zu essen. Sie ist nicht von eurer Seite gewichen, seit sie zu sich gekommen ist - wenn man von der ersten halben Stunde absieht, in der wir sie überzeugen mussten, dass wir keineswegs die Absicht haben, sie zum Abendessen zu verspeisen."

Hitomi schaute ihn überlegend an. Sollte das gerade ein Scherz gewesen sein, um sie aufzumuntern? Aber Luums Gesicht zeigte nur den immer gleichen Ausdruck... zufriedenen Ernstes, den sie bei ihm gewohnt war. Und außerdem, wenn sie an Yukaris Geschrei dachte, war es unsinnig anzunehmen, Yukari wäre ihm um den Hals gefallen. Außer, um ihn zu erwürgen.

Sie stand auf, und Luum führte sie vorsichtig aus dem Zelt.

"Wir haben euren Fuß behandelt, und auch einen neuen Verband um eure Bauchwunde gebunden."

Hitomi erschrak. Richtig, sie hatte sich den Fuß verknackst, als sie vom Felsen gesprungen war. Sie schaute nach unten, sah aber nur einen dünnen Verband um ihren Knöchel, der verhinderte, dass die Salbe darunter ihre Schuhe verschmierte. Sie spürte keinerlei Schmerzen mehr, dafür war ihr Fuß angenehm taub. Nicht, dass sie nichts mehr spürte, aber es war, als ob sie nicht auf festem Boden, sondern auf einer weichen Wolke lief.
 

Yukari ließ sich gerade von einer Wolfsmenschenfrau eine Schüssel geben. Sie schien keine Angst mehr vor den ihr unbekannten Wesen zu haben, hielt aber eine gewisse scheue Distanz.

Als sie sich auf einen Baumstamm setzten wollte, geriet Hitomi in ihr Blickfeld, und sie sprang sofort wieder auf.

"Hitomi! Alles in Ordnung mit dir?"

"Ja, mir geht es gut. Setzt dich nur wieder hin, und iss."

"Ihr solltet auch etwas essen, Lady Hitomi." Luum drückte sie behutsam aber bestimmt auf den Baumstamm neben Yukari.

Dankbar nahm sie die ihr dargebotene Schüssel entgegen, in der eine Suppe mit gekochten Fleischstückchen schimmerte.

Luum setzte sich ein Stückchen von ihnen entfernt ins Gras, genauso wie seine Artgenossen. Sie wollten Yukari vermutlich Zeit geben, sich an ihre Anwesenheit zu gewöhnen. Wieder einmal spürte Hitomi die seltsame Zurückhaltung dieser Wesen, die von ihren tierische Verwandten nur die äußere Erscheinung geerbt hatten.

"Was ist das eigentlich für Fleisch?" fragte Yukari mit halbvollem Mund. "Ich habe so etwas noch nie gegessen. Es ist so - weich", sagte sie in Ermangelung eines passenden Begriffes.

"Eichhörnchenfleisch." Sagte einer der Wolfsmenschen, und Yukari erstarrte mit dem Löffel im Mund. Sie wurde schneeweiß, und stellte ihre Schüssel ab.

"Äh, ich glaube, ich bin satt."

Auch Hitomi starrte auf ihre Schüssel und den bereits halb erhobenen Löffel. In diesem Moment brach ein ohrenbetäubendes Gelächter aus, selbst Luum lachte, dass er sich den Bauch halten musste. Yukari schaute mindestens ebenso belämmert in die Gegend, wie Hitomi.

"Keine Sorge", sagte Luum endlich, nachdem er sich etwas beruhigt hatte. "Das ist überhaupt kein Fleisch. Wir sind Vegetarier."

Das überraschte nun auch Hitomi. Sie schaute zweifelnd auf ihre Schüssel. "Aber es sieht aus wie Fleisch."

"Und es schmeckt auch so", fügte Yukari hinzu.

"Aber es ist eine Pflanzenknolle. Früher hat mein Volk Fleisch gegessen, aber dann gelang es uns, Pflanzen zu züchten, die alle Nährstoffe besaßen, die wir aus dem Fleisch benötigten. Dass die Knolle aussieht und schmeckt wie Fleisch war zum großen Teil Zufall, wurde aber durchaus begrüßt. Es erleichterte die Umstellung.

Warum seid ihr hier, Lady Hitomi? Ich meine hier, in diesem Wald. Es ist ein ganz schönes Stück Weg von hier bis Fanelia."

"Wie weit?"

"Ihr wisst nicht, wo ihr seid?"

"Nein. Ich wollte eigentlich nach Fanelia. Aber irgendetwas hat nicht so geklappt, wie es sollte."

Luum schaute sorgenvoll, und zum ersten Mal wirkte sein Gesicht nicht so zuversichtlich wie sonst.

"Was wisst ihr über den König?" Sein Tonfall machte deutlich, dass er nichts alltägliches meinte.

"Van? Äh, ich weiß nicht, was ihr meint."

Luum seufzte. "Dann ist es wohl besser, euch zu sagen, dass etwas mit ihm nicht stimmt."

Ein eisiger Sturm zog durch Hitomis Herz. Sie hatte gewusst, dass etwas nicht in Ordnung war. Aber dass Luum es wusste, und dass er es ihr so sagte, ließen ihre schlimmsten Befürchtungen neu aufflammen.

"Was soll das heißen, Luum? Was ist mit ihm?"

Der Wolfsmensch zögerte. "Ich habe auch nur Gerüchte gehört. Angeblich soll er sich verändert haben. Ich wollte es nicht glauben, bis vor zwei Tagen einer aus meinem Stamm zurückkehrte und berichtete, er solle mir vom König ausrichten, dass unsere Steuern erhöht werden. Ihr müsst wissen, dort wo wir leben, ist es sehr schwer, genügend Nahrung anzubauen. Und alles Geld, das wir haben, stammt einzig und allein von einigen Händlern, die uns als Führer und als Schutz vor gefährlichen Tieren anheuern. Alles andere, das wir nicht für unseren eigenen Bedarf produzieren, tauschen wir gegen andere Waren, wie Fisch, Gewürze und Metalle. Wir wären nie in der Lage, die Steuern zu bezahlen, die für die anderen Leute in Fanelia gelten. Das ist allen klar. Wir zahlen soviel, wie wir entbehren können, denn wir wissen, dass das Geld gebraucht wird. Vor allem jetzt, nachdem die Zaibacher alles zerstört hatten. Aber plötzlich sollen wir nicht nur die normalen Steuern zahlen, sondern auch das, was wir in den vergangenen Jahrzehnten angeblich unterschlagen haben. Das waren seine Worte. Unterschlagen. Ich habe den Brief bestimmt ein Dutzend Mal gelesen, aber ich kann es immer noch nicht glauben." Er holte tief Luft, und starrte weiter in das knisternde Feuer.

"He, Moment mal!" rief Yukari da plötzlich, und Verwirrung spiegelte sich auf ihrem Gesicht.

"Was ist?" fragte Hitomi.

"Da kann etwas nicht hinhauen." Sie sah Luum misstrauisch an. "Der Typ mit der Nachricht kam also vor zwei Tagen."

Luum nickte, unsicher, was das zu bedeuten hatte, und auch irritiert durch Yukaris Inquisitions-Blick.

"Wie lange braucht man von Fanelia bis zu euch?"

"Zu Fuß vier Tage."

Bevor Yukari weiterfragen konnte, knallte Hitomis Schüssel samt Besteck auf den Boden. Auf ihrem Gesicht wechselten sich Überraschung, Unglaube und Wiederspruch ab. "Aber... aber das ist unmöglich. Vor vier Tagen waren wir noch... Ich meine, ich bin erst vor drei Tagen... und da waren wir noch über dem Meer. Er kann gar nicht so schnell wieder hier gewesen sein."

Eine Pause entstand, in der man nichts hörte als das Prasseln des Feuers, das Knacken des Unterholzes im Wald, wenn ein großes Tier auf einen vertrockneten, morschen Ast trat, und den eigenen Atem.

"Ein Doppelgänger?" mutmaßte Yukari, aber der Zweifel war ihrer Stimme deutlich anzuhören.

"Nein!" Wiedersprach ihr Luum auch sofort. "Er kam mit dem Crusador, der zwei Tage in Fanelia blieb. Es dürfte unmöglich sein, die Besatzung eines ganzen Luftschiffes zu ersetzten. Und Morphe können es auch nicht sein. Wir Wolfsmenschen können sie am Geruch erkennen, und das wäre meinem Mann sicherlich aufgefallen."

"Morphe?" fragte Yukari ahnungslos, doch dann erinnerte sie sich. "Ach ja, Hitomi hat mir mal..."

"Das ist jetzt nicht wichtig", fiel ihr Hitomi ins Wort, die nicht unbedingt an ihre Erlebnisse mit Zongi erinnert werden wollte. "Wichtig ist, wie es möglich sein kann, dass Van sich so verändert. Und wie der Crusador schon seit... wie lange eigentlich? ...da sein kann."

"Sie kamen vor fast zwei Wochen." beantwortete Luum ihre Frage. "Und sie haben auch ein merkwürdiges Mädchen mitgebracht."

"Thana." sagte Hitomi abwesend. >Zwei Wochen! Wie kann das nur sein? Und was ist mit Van los? Sollte vielleicht...< Bilder brandeten durch ihren Kopf. Erinnerungen. Erinnerungen an unglaublich intensiven Hass, an mächtige Wesen, in deren Händen Menschen nur Spielbälle der Launen sind.

"Hitomi! Hitomi! Antworte doch!"

"Wa...was?" Sie schüttelte verwirrt den Kopf.

"Alles in Ordnung mit dir Hitomi? Du warst auf einmal so blass, und dann..."

"Nein, schon gut, Yukari."

Yukari sah sie stirnrunzelnd an, setzte sich dann aber wieder hin. Sie wusste, wann ihre Freundin nicht reden wollte.

"Vielleicht bin ich tatsächlich Schuld." sagte sie, und Hitomi schaute sie verwirrt an.

"Was meinst du?"

"Das mit der Zeit. Du hast doch gesagt, dass ich dich abgelenkt habe, und wir deswegen woanders gelandet sind."

"Aber das habe ich doch nicht so gemeint."

"Nein, nein, Hitomi. Du verstehst nicht. Eigentlich wolltest du allein nach Fanelia. Und dann habe ich mich an dich gehängt. Es dürfte ein Unterschied sein, ob eine oder zwei Personen äh, transportiert werden sollen. Vielleicht hat es einfach Zeit gebraucht, auch mich mit hierher zu bringen. Und es hat auch den Kurs geändert. Gaia dürfte sich ja in zwei Wochen auch ein Stückchen durch den Weltraum bewegen, genau wie die Erde. Kein Wunder, wenn wir da ein paar Kilometer vom Kurs abkommen."

Hitomi zog überlegend ihren blauen Anhänger hervor, und sah ihn an. "Nun ja, es wäre möglich. Ich habe nie verstanden..." Sie runzelte die Stirn, hob den Kopf, und starrte Yukari an.

Diese wurde bis in die Haarspitzen rot. Hitomi hatte ihren Versuch, sie abzulenken durchschaut.

"Luum, hat sich Van sonst noch verändert?" fragte Hitomi, und ließ den Anhänger wieder verschwinden. Die Anspannung in ihrer Stimme war so greifbar wie die brennenden Äste des Lagerfeuers. Und Luum schien sich zu fühlen, als würde er mitten drin sitzen.

"Ja, das hat er. Er zieht sich angeblich von allen zurück, und hört auch auf niemanden mehr. Außerdem hat sich auch sonst sein Charakter verändert. Er ist jähzornig geworden, und er soll seine Diener sogar schon geschlagen haben."

"Das glaube ich nicht!" Hitomi sprang auf. "Das würde er niemals tun, ich kenne... ihn..." Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Warum sollte Luum lügen? Er und Van waren schon lange Freunde. Wenn das stimmte, was er sagte...

"Bring mich zu ihm. Bitte, ich muss so schnell wie möglich nach Fanelia."

"Das werde ich. Ich wollte ja auch zu ihm, um darüber zu reden. Und jetzt, da ihr da seid, habe ich große Hoffnung, dass sich alles wieder fügt. Wir werden morgen früh aufbrechen, und es ist wohl besser, wenn wir jetzt alle schlafen gehen."

Er stand auf, und mit ihm alle anderen Wolfsmenschen. Sie verschwanden in ihren Zelten, und nur einige blieben, als Wachen um das Lager herum postiert.

Hitomi und Yukari gingen in ihr Zelt, und fielen dort trotz ihrer Sorgen rasch in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Nach einer Weile kam Luum in ihr Zelt. Er vergewisserte sich, dass sie schliefen. >Das Schlafmittel hat gut gewirkt.<, und griff dann nach Hitomis Kette. Im schwachen Licht betrachtete er den daran befestigten Anhänger. >Es ist wirklich ein anderer. Das Mädchen erstaunt mich immer wieder.< So leise und behutsam, wie er gekommen war, ging er wieder, und ließ die zwei Mädchen allein.
 

***
 

Am nächsten Morgen brachen sie mit der Sonne auf. Hitomi und Yukari, obwohl noch schläfrig, fühlten sich ausgeschlafen und gekräftigt. Sie lagen auf einem Wagen, der mit Stoffen beladen waren, die die Wolfsmenschen auf der anderen Seite der Berge erworben hatten, um in Fanelia damit Handel zu treiben. Der Gewinn war nur sehr gering, aber es war besser, als mit einem leeren Karren durch die Gegend zu rumpeln.

Beide Mädchen ließen ihre Gedanken schweifen, Hitomi voller Sorge um Van, und Yukari, obwohl auch besorgt - hauptsächlich um ihre Freundin - mit der wohl normalen Neugier eines Menschen, der das erste Mal in einer völlig fremden Gegend ist.

Doch plötzlich zuckte sie zusammen. Diese Bewegung kam so überraschend, dass Hitomi sich erschrocken hinsetzte.

"Yukari?" fragte sie verwirrt ihre auf einmal blasse Freundin. "Was ist los?"

Yukari sah sich zögernd um, und beugte sich dann zu Hitomi vor. Flüsternd sagte sie: "Mir ist gerade etwas aufgefallen."

"Und? Was denn?"

"Ich verstehe hier alle."

Hitomi zuckte mit den Schultern "Ich doch auch."

Yukari nickte heftig. "Eben. Keiner von uns hat ihre Sprache jemals zuvor gehört, trotzdem verstehen wir sie - und sie uns. Verdammt, ich glaube sogar, ich spreche ihre Sprache, obwohl ich keinen Unterschied merke. Es ist bloß so ein Gefühl, als ob die Zunge nicht gewöhnt ist, so zu sprechen wie jetzt."

Hitomi lachte "Weißt du, Yukari, ich habe schon lange darüber nachgedacht, warum ich hier alle verstehe. Ich habe Van ja auch verstanden, als er auf dem Schulhof auftauchte, im Gegensatz zu euch. Erinnerst du dich?"

Ein Nicken beantwortete ihre Frage.

"Ich glaube, es liegt an den Anhängern." Sie holte ihren blauen hervor. "Und weil du diesmal auch mitgekommen bist, sprichst du auch die hiesigen Sprachen."

Yukari schaute zweifelnd auf den Anhänger, zuckte aber dann mit den Schultern. "Ist ja eigentlich auch egal. Aber eines musst du mir sagen: Wie bist du zu diesem blauen gekommen? Ich wollte dich nicht drängeln, als du uns diesmal nicht erzählen wolltest, was geschehen ist. Ich dachte, du brauchst einfach noch Zeit, aber jetzt bin ich hier, und ich finde du solltest mir sagen, was passiert ist."

Hitomi hatte den Kopf gesenkt, während Yukari sprach. Nun schüttelte sie den Kopf. "Nein, Yukari. Bitte mich nicht. Es... es tut zu sehr weh..."

"Ein Grund mehr, darüber zu reden", unterbrach Yukari sie, und fasste sie an den Schultern. "Hey, Hitomi, hör mir zu. Ich bin deine beste Freundin. Du kannst mir alles sagen. Ich werde nichts weitererzählen..."

"Das weiß ich doch!" sagte Hitomi verzweifelt, aber Yukari sprach unbarmherzig weiter.

>Jetzt oder nie! Wenn wir erst einmal in Fanelia sind, ist es zu spät. Dann sagt Hitomi gar nichts mehr.< "Und ich sehe dir an, wenn dir etwas weh tut. Aber wenn du nicht darüber redest, frisst es dich auf." Yukari sah sie so flehend wie möglich an, und sah, wie der Wiederstand in Hitomis Augen brach. Trotzdem sagte sie noch etwas, um ihrer Freundin eine Art moralisches Alibi zu geben.

"Wenn du mir nichts erzählst, wie soll ich dann hier zurecht kommen? Vergiss nicht, ich bin neu auf diesem Planeten. Du willst doch nicht, dass ich aus Unwissenheit einen Fehler mache, dass ich mich bis auf die Knochen blamiere oder sogar einen Freund für einen Feind halte, oder so etwas?"

Gequält lächelnd schüttelte Hitomi den Kopf. "Nein, bestimmt nicht. Also gut, hör zu. Es ist eine lange Geschichte. Sie beginnt damit, dass mir eines Nachts in einem Traum ein Drache erschienen ist...



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