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Der Schwur des Wolfes

von

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4. Kapitel - Träume

Am Ende der zweiten Sportstunde stand es unentschieden. Damit schien Coach Turner zufriedener zu sein als mit der Niederlage von letzter Woche. Langsam machte sich unsere kleine Truppe (Carly, Kelly, Mia und Elli, Taylor, Jaime - ein lieber Mitschüler von uns, der, so glaubten wir, auf Mia stand - und ich) auf zum Parkplatz. Ich sah den schwarzen Ford Fiesta und staunte als Farrah daran lehnte. Sie war dreister als ich gedacht hatte. Die Mädels und ich wechselten einen Blick, doch dann schüttelte ich leicht den Kopf und verabschiedete mich vorsichtig mit jeweils einer Umarmung von ihnen. Während Taylor bereits auf sein Auto zuging. ‚Ich hätte es wissen müssen‘, dachte ich und versuchte so schnell, wie es mir mit der pochenden Rippe möglich war, hinter ihm her zu gehen. Ein paar Schritte vor ihr blieb er stehen und meinte dann, weil sie an der Fahrertür lehnte: „Würdest du, bitte, von meinem Auto weggehen?“ Sie warf gekonnt ihr Haar zurück und wanderte mit ihren grünen Augen über sein Gesicht. Ich spürte ein klein wenig Galle in mir aufsteigen, überspielte es jedoch gekonnt. Überraschenderweise, denn ich war die Letzte, die von sich selber dachte, dass sie gut schauspielern konnte. „Können wir zuerst bei mir ran fahren? Ich muss Dad noch eine Nachricht schreiben und würde mich gern vorher umziehen.“ Taylor verstand. „Sicher. Wir haben doch alle Zeit der Welt. Sean und mein Vater sind sicher noch nicht zu Hause.“ Darauf musste ich einfach reagieren. Ich wollte nur einmal sehen, wie Farrah Miller das Gesicht verrutschte. „Wir haben das Haus also eine Weile für uns?“ Meine Augen funkelten, hoffentlich so, wie ich es gern wollte. Als ich einen Blick zu Taylor warf, schaute der mich an, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte. Doch ich konnte es nicht deuten und wollte noch schnell Farrahs Gesicht betrachten. Sie war endlich von der Autotür weggegangen und war leicht grün. Aber es war kein Zorn oder Neid. Es schien, als wäre ihr tatsächlich schlecht, weil sie sich ausmalte, was wir beide in einem leeren Haus alles veranstalten konnten. Und dann wurde ihr klar, dass nicht sie es war, die das mit Taylor tun würde. Wir stiegen ins Auto, ich eher vorsichtig als galant, und ließen sie wortlos auf dem Parkplatz zurück.
 

Als wir vom Schulgelände runter gefahren waren, brach ich in haltloses Gelächter aus. Meine ganze rechte Seite schmerzte dadurch höllisch, aber das tat meiner Schadenfreude keinen Abbruch. „Ach, das war herrlich, das müssen wir irgendwann mal wiederholen.“ Erst jetzt fiel mir auf, dass Taylor ganz still geworden war. „Alles in Ordnung bei dir?“, fragte ich und berührte kurz seine Schulter. „Sicher, ich war nur sehr überrascht über das Funkeln in deinen Augen. Das habe ich noch nie bei dir gesehen.“ Er vermied es mich anzusehen. Ich wusste natürlich, dass er sich auf die Straße konzentrieren musste, doch sonst warf er mir wenigstens einen kurzen Blick zu. „Ich wollte eben, dass sie sich etwas mehr hineinsteigert, als sie es sonst getan hätte, wenn ich dir nur zugelächelt hätte. War es so schlimm, ja?“ „Nein, nicht schlimm…“ Er wollte den Satz nicht beenden und so schwebten seine Worte noch irgendwo im Auto, doch ich erriet sie nicht. Während er den Wagen rückwärts in unsere Auffahrt fuhr, schnallte ich mich bereits ab. Wir stiegen gemeinsam aus und ich schloss die Tür auf, nachdem wir die Treppe langsamer als sonst hochgegangen waren. Ich hörte die tiefe Stimme ganz klar. Sie sagte nur meinen Namen, doch dieses Mal war ich darauf gefasst und reagierte nicht. Er wollte anscheinend, dass ich wusste, dass er immer in der Nähe war. Ich hoffte nur, dass Taylor ihn nicht bemerkte. Weder mit seinem guten Geruchssinn noch mit seinen guten Ohren. Als ich die Tür ins Schloss klicken hörte und noch immer den warmen Körper hinter mir spürte, atmete ich erleichtert auf. „Mach es dir gemütlich. Ich versuche mich so schnell, wie es geht, umzuziehen.“ „Ich sagte doch, wir haben alle Zeit der Welt… Hetz also nicht und lass dir ruhig Zeit.“ Er bedachte meine Rippe mit einem kurzen Blick, denn er wusste, dass ich von ihm nichts darüber hören wollte. „Alles klar…“, meinte ich nur und verschwand nach oben in mein Zimmer. Dort angekommen lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die verschlossene Zimmertür und hielt eine Hand gegen meine rechte Seite. Es war keine gute Idee gewesen so loszulachen. Meine Schadenfreude rächte sich und strafte mich dafür, kurze Zeit ein ebenso furchtbarer Mensch gewesen zu sein wie Farrah. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich die Salbe unten in meiner Tasche vergessen hatte. Ich musste sie dann wohl oder übel bei den Woods auftragen. Aber nur dann, wenn Taylor es nicht mitbekam. Tief durchatmen, dachte ich und stellte mich vor meinen Kleiderschrank. Was war wohl das beste Outfit für eine waldige Gegend? Irgendwo musste ich noch…ah, da war es ja.

Nachdem ich mich umgezogen und meine Haare wieder auf Vordermann gebracht hatte, kehrte ich langsam zu Taylor zurück. Ich blieb auf der letzten Stufe zum Wohnzimmer stehen und blickte kopfschüttelnd zu ihm. Er hatte sich kein Stück bewegt. Es sich weder gemütlich gemacht, noch sich irgendwo hingesetzt. „Du brauchst doch nicht die ganze Zeit zu stehen. Es gibt genug Sessel und Stühle hier, Taylor.“ Doch er antwortete nicht und kam auf mich zu. „Du siehst wundervoll aus“, wisperte er und ich spürte, wie sich ein leichter Rotton auf meinen Wangen ausbreitete. Ich trug eine graue Röhrenjeans und mein Lieblingsoberteil, das einst meiner Mutter gehört hatte. Es war ein weißer eng anliegender Kaschmirpullover, der ein Stück unter den Schultern endete und sie so besonders betonte. Darunter trug ich ein schwarzes Tanktop, von dem man nur die Träger durchblitzen sah. Ich hatte mir die Haare mit einer großen Spange hochgesteckt und lächelte leicht. „Danke“, flüsterte ich ebenso leise wie er. „Aber darf ich eine klitzekleine Sache ändern?“, fragte er jetzt und hielt eine meiner Hände. „Ähm…ja…sicher!“ Seine freie Hand glitt ganz nah an meinem Gesicht vorbei und verschwand hinter meinem Kopf. Er löste die Spange und mein Haar floss über meine Schultern. Es war wirklich lang geworden, da hatte Carly definitiv recht gehabt. Nun reichte es mir bereits bis zur Mitte der Oberarme, doch ich konnte Taylor einfach nur ansehen. „Dir steht offenes Haar so viel besser. Versteck es also nicht, bitte!“ Ich nickte nur und sah wie eine meiner Hände über seine Wange strich. Da ich noch immer auf der Stufe stand, waren wir einmal fast gleich groß und ich versank fast in dem warmen Braun seiner Augen. Früher war mir seine Haut immer so heiß vorgekommen, doch jetzt konnte ich mir diese Temperatur kaum mehr wegdenken. Die Wärme gehörte zu ihm, so wie auch ich. Meine Augen wanderten über jedes feine Merkmal seines Gesichtes. Ich wollte mir jede noch so kleine Eigenschaft genau einprägen. Eine kleine schmale Narbe verlief genau über seiner rechten Augenbraue. Langsam zeichnete ich sie mit meinem Finger nach, um dann die Züge seines Gesichtes nachzufahren. Die Wangenknochen, den Kiefer und das Kinn, die weichen Lippen, die sich ganz leicht unter meiner Berührung öffneten. Und dann legte ich beide Hände an seine Wangen und blickte ihm in die Augen. Ich bin zu Hause angekommen, dachte ich. Hier, an seiner Seite, war mein Platz. Dies war genau der Ort, wo ich sein musste, sein wollte. Ich biss mir leicht auf die Unterlippe und strich dann mit meinen Lippen liebevoll über die seinen. Doch ich küsste ihn nicht. Taylor begann ganz leicht zu zittern und ich legte meinen Kopf schief. Noch immer waren meine Augen auf seine gerichtet. Ich hörte, wie meine Spange zu Boden fiel, als es ihm nicht mehr länger gelang sie festzuhalten. Doch ich blinzelte nicht einmal, genauso wenig wie er. Seine Arme umschlossen meine Hüfte, aber er zog mich nicht näher zu sich, und eine meiner Hände wanderte weiter an seinen Hinterkopf. Wo ich sie in seinen Haaren vergrub. Es war so wundervoll ihn nur zu spüren, sonst nichts. Wir mussten nicht ständig reden oder uns küssen. Zu fühlen, dass er da war, reichte mir vollkommen. Auch wenn ich gestehen musste, dass seine Lippen nie verführerischer ausgesehen hatten. Ganz leicht geöffnet und genauso abwartend wie meine. Seine Augen glühten und ich bemerkte, dass er noch immer zitterte. „Du weißt, dass du mich gerade quälst, oder?“, hauchte er so leise, dass ich es fast nicht hörte. Ich senkte den Blick, denn allein der Gedanke daran, dass ich ihm so etwas antat, war furchtbar. „Entschuldige, ich…“, doch meine Stimme versagte. Bilder eines lang vergessenen Traums drängten sich zurück in mein Gedächtnis. Eine seiner Hände berührte mein Kinn und zog es sanft nach oben, sodass ich ihn ansah. Sein Blick war fragend und wieder war da das kleine Fältchen zwischen seinen Augenbrauen. Was wolltest du sagen, las ich in seinem Gesicht. „Ich habe nur gerade bemerkt, wie glücklich ich bin. Endlich ist alles wieder… Du machst mich einfach glücklich.“ Erstaunen wandelte sein Gesicht und das Fältchen verschwand. „Ich liebe dich“, antwortete er und beugte sich vor, um mich zu küssen. Als die Tür aufsprang stoben wir auseinander, weil wir uns so erschreckt hatten. Irgendetwas in meinem Körper alarmierte mich und ich trat von der Treppe herunter, um mich ganz automatisch leicht vor Taylor zu stellen. Ich erwartete fast einen schwarzen knurrenden Wolf, aber ich irrte mich. Zumindest das, was die Farbe und das Tier anging. Mein Vater stand im Flur, erblickte uns und begann leise zu knurren, obwohl es mehr einem Grummeln glich. „Ich komme nicht in die Auffahrt. Wärst du so nett, dein Auto raus zu fahren?“ Er sah Taylor nicht an und ich sagte: „Dir auch einen schönen Tag, Dad!“ „Was? Ach ja, hallo.“ „Keine Sorge, wir wollten gerade losfahren. Warte nicht auf mich, ich komme erst abends wieder. Ich fahre zu den Woods. Hab dich lieb!“ Ehe er noch etwas erwidern konnte, insbesondere dagegen sagen konnte, zog ich Taylor mit mir hinaus. Im vorbei gehen, schnappte ich mir meine Jeansjacke und meine Tasche mit den Schlüsseln und der Salbe. „Wiedersehen, Dr. Connor. Ich bringe Lilly heute Abend rechtzeitig zurück“, rief mein Freund ihm zu und wir stiegen ins Auto ein, um dann zum Haus der Woods zu fahren.

 

Wir waren jetzt schon seit zwei Stunden hier und ich saß im Wintergarten, eingewickelt in eine Wolldecke, und blickte in den Garten hinaus. Auf dem Beistelltisch stand meine dampfende Tasse Kaffee und daneben lag das Buch, das ich begonnen hatte. Es handelte von den alten Mythen der Wölfe und Kenneth hatte gesagt, dass es mehr die satirische Seite der Lektüre über sie war. Doch nach einer Weile hatten mich die beiden Wood-Jungs so abgelenkt, dass ich einfach nicht mehr lesen konnte. Sie standen draußen im Garten und spielten Football. Aber nicht so, wie es üblich war. Obwohl das mit zwei Spielern auch schlecht gegangen wäre. Sie standen jeweils auf der gegenüberliegenden Seite des Gartens und warfen sich Pässe über die ganze Breite des Grundstückes zu. Dabei versuchten sie dem jeweils anderen einen solchen Pass zuzuwerfen, den er niemals fangen können würde. Sie sprangen meterhoch, schnellten zu jeder Seite und lachten lauthals, wenn sich einer von ihnen ins Gras warf. Bisher war es ihnen immer gelungen den Football noch irgendwie zu fangen. Es war beeindruckend, wie sportlich sie waren und wie viel Spaß es ihnen zu machen schien. Kenneth hatte sich währenddessen in sein Arbeitszimmer zurück gezogen. Ich hatte herausgefunden, dass er früher als Journalist gearbeitet hatte und auch jetzt noch gern schrieb. Vielleicht würde er hier irgendwo in der Nähe eine Stelle finden. Ich hoffte es. Dann sah ich wieder den Jungs zu und dachte daran zurück, wie wir hier angekommen waren…

Sean hatte mich wie immer, fest und besitzergreifend, an sich ziehen wollen, doch Taylor kam ihm dazwischen und knurrte Worte, die ich ihn noch nie laut aussprechen gehört hatte. Es schockte mich und ich gab ihm einen Klaps auf den Arm. Mehr liebevoll als wütend, aber ich hätte ihm selbst dann niemals ernsthaft schaden können, wäre ich wie eine Furie auf ihn losgegangen. „Sprich nicht so mit deinem Bruder. Er hat es doch nicht gewusst!“ Unbewusst hatte ich sein Knurren als eine normale Aussage wahrgenommen und ihn dementsprechend zu Recht gewiesen. Gleichzeitig wandten Kenneth und Sean mir ihre Gesichter zu und sahen genauso erstaunt aus, wie Taylor als ich ihm gesagt hatte, dass ich ihn auf der Lichtung verstanden hatte. „Entschuldige“, wisperte er und fügte dann an seine Familie gewandt hinzu: „Das wollte ich euch noch erzählen. Aber jetzt habt ihr es ja selbst gesehen!“ „Wie hast du das gemacht?“, fragte mich sein Vater und ich zuckte vorsichtig mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich verstehe es einfach. Es ist,…als hörte ich seine Stimme ganz klar in meinem Herzen.“ Ich war mir ganz sicher, dass es dort war und nicht in meinem Kopf. Das hatte ich in dem Moment gespürt, als er seinen Bruder anfuhr. „Beeindruckend, oder?“, erkundigte sich nun Taylor bei ihm, während er sanft seinen Arm um meine Schulter legte und sein Vater nickte leicht. „So etwas habe ich von keinem unserer Bekannten jemals gehört. Ein Mensch hört aus dem Knurren heraus, was der Wolf sagt. Erstaunlich, wirklich erstaunlich.“ Sean blickte mich herausfordernd an und ich ahnte, was gleich folgen würde. Er knurrte kurz und es klang mehr wie das Schnurren eines Tigers oder Löwen. Nicht lockend, aber auch nicht gefährlich. Ich fühlte, wie mein Kopf hochrot anlief und senkte meinen Blick. „Lilly? Lilly, was hat er denn gesagt?“ Taylor legte seine Hände leicht auf meine Schultern und versuchte meinen Blick einzufangen, doch ich schüttelte nur den Kopf. Das würde ich gewiss nicht wiederholen. „Sean, verdammt, was hast du zu ihr gesagt?“ Er klang wütend und wieder so kühl. „Was geht es dich an? Schließlich habe ich nur mit deiner Freundin geredet und nicht mit dir“, meinte Sean spöttisch und ging ins Haus. Ehe Taylor ihm folgen konnte, umfasste ich seine Hand und hinderte ihn daran. Ich hatte mich wieder unter Kontrolle und fragte: „Ich dachte, du verstehst es, wenn ein anderer Wolf etwas knurrt. Stimmt das nicht?“ Kurz huschte sein Blick hinter seinem Bruder her, doch dann schenkte er mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit. „Nur, wenn ich mich ebenfalls in einen Wolf verwandelt habe oder mich in dem Stadium kurz vorher befinde.“ „Das Stadium in dem du knurren kannst wie ein Wolf, obwohl du noch in deiner menschlichen Gestalt steckst“, schloss ich und er nickte. Jetzt wurde mir so Einiges klar. Deshalb hörte er den Wolf nicht, wenn der mit mir sprach. ‚Vielleicht war das auch ganz gut so‘, dachte ich und ging mit ihm ins Haus…

Langsam wurde mir ganz heiß unter der Decke und das wiederum machte mich schläfrig. Ich gähnte kurz und kuschelte mich tiefer hinein. Eigentlich hätte ich lieber aufstehen und mich ein bisschen bewegen sollen, doch ich fühlte diesen Frieden und die Geborgenheit. ‚Nur ein paar Minuten‘, dachte ich, ‚dann wird es sicher wieder gehen.‘

Ich stand auf der Lichtung, auf der ich dem schwarzen Wolf zum ersten Mal begegnet war. Die Lichtung, auf der mich Taylor zum ersten Mal fest und sicher an sich gezogen hatte. Hier hatte ich begonnen nicht mehr zu leugnen. Es war ein wundervoller Sommertag und die Vögel zwitscherten. Die Sonne fühlte sich herrlich an auf meinem Gesicht und ich ging in den Wald, obwohl ich von diesem Ort eigentlich gar nicht weg wollte. Es verbanden mich so viele Erinnerungen mit ihm. Gut, nicht nur angenehme, aber das machte ihn doch zu etwas Besonderem. Meine Beine trugen mich fort, immer weiter in westliche Richtung. Also wollte ich zu Taylor. Ja, natürlich, wohin auch sonst? Ich lächelte über das ganze Gesicht und beschleunigte die Schritte. Nach einer Weile dann sah ich den grünen Garten, die große Eiche am Rande des Grundstückes. Der Saum meines weißen Kleides schlug mir gegen die Schienbeine, als ich leichtfüßig über herab gefallene Äste sprang. Ich trug ein Kleid? Seltsam, doch ich zuckte nur kurz mit den Schultern. Es war eigentlich egal, wie ich ihm begegnete, wenn ich es nur tat. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich überhaupt nicht fror, obwohl es nur ein sehr dünnes Sommerkleid mit Spagettiträgern war. Hier unter dem dichten Blätterdach wehte ein kühler Wind, doch ich zitterte nicht einmal. Im Wintergarten machte ich die drei braungebrannten Männer aus und lächelte wieder. Alle anderen Gedanken konnten warten, denn jetzt war Taylor in meiner Nähe. Eine der Gestalten wandte sich um, sagte etwas zu den anderen beiden und lief dann auf mich zu. Er wollte mich ebenso sehr in seine Arme ziehen, wie ich mich hinein kuscheln wollte. Ein Lächeln breitete sich über mein Gesicht aus. Doch dann spürte ich etwas kaltes Metallisches in meiner Hand. Mein Kopf ließ sich nicht drehen, um es mir anzusehen. Etwas stimmte nicht. Irgendetwas lief hier entsetzlich falsch und ich befahl meinen Füßen stehen zu bleiben, doch auch sie hörten nicht auf mich. Meine Fingerkuppen betasteten den Gegenstand in meiner Hand und ich fühlte nun ein bisschen Holz weiter hinten. Was, zum Teufel, war das? Taylor kam noch immer auf mich zu. Er sah so stark und galant aus und mein Herz schmolz dahin. So wunderbar war es ihn zu sehen und doch so furchtbar, denn ich spürte, wie blankes Entsetzen meinen Arm herauf kroch. Es erklomm meine Schultern und dann mein Herz, als mir endlich klar wurde, was ich in den Händen hielt. Ich stoppte. Endlich gehorchten meine Füße und mein Gesicht verzog sich vor Angst und Schmerz. Das konnte nicht sein. Nein, das war einfach nicht möglich. Taylor sah meinen Blick, doch er kam noch immer auf mich zu. „Bleib weg“, schrie ich verzweifelt, „lauf fort. Schnell!“ Entweder er verstand mich nicht oder er wollte nicht auf mich hören. Hatte er denn nicht gesehen, was ich hier in den Händen hielt? Mein Arm hob sich langsam und ich weinte leise. „Taylor, verschwinde. Bitte, ich flehe dich an, lauf weg von mir. Rette dich!“ Statt zu fliehen, beschleunigte er die Schritte noch. Entsetzt blickte ich auf meine Arme, sie legten die Waffe an. Es war eine der großen Flinten, wie sie im Jagdverein benutzt wurden. Ich befahl meinen Armen und Füßen mir zu gehorchen, sofort aufzuhören und weg zu gehen. Zu verschwinden, ehe ich ihn verletzen würde, doch sie hörten nicht. Tränen verschleierten meinen Blick und immer wieder flehte ich Taylor an, davon zu laufen. Mein Zeigefinger legte sich um den Abzug und wartete auf den richtigen Moment. Die Mündung der Waffe war jetzt nur noch zwei Meter von Taylor entfernt. Es war also unmöglich, dass ich ihn nicht traf. ‚Nein‘, schrie ich in meinem Kopf, ‚nein, ich will das nicht.‘ Mein Schrei mischte sich mit dem Geräusch des gezogenen Abzugs. Als der Schuss ertönte, brüllte ich: „NEIN!“ Ich konnte sogar den Rückstoß der Waffe spüren. „Lilly, oh mein Gott, wach auf. Du hast schlecht geträumt“, rief mir jemand zu, doch ich hörte ihn nur dumpf. „Lilly, du musst aufwachen. Sieh mich an!“ „Ihre Lippen sind schon leicht blau…“, antwortete jemand anderes. Der Geruch des Blutes, seines Blutes, stieg mir in die Nase und ich weinte bitterlich. Warum hatte ich das getan? Ich hatte auf die Liebe meines Lebens geschossen, wieso? Sein Körper fiel leblos und dumpf auf den Rasen zu meinen Füßen. Das Blut quoll aus seiner Brust hervor und sickerte in den leicht feuchten Boden. Endlich war ich in der Lage die Waffe von mir fort zu werfen. Ich schmiss mich neben ihn auf den Boden und wünschte mir nichts sehnlicher, als es ungeschehen machen zu können. Das austretende Blut tränkte mein Kleid, als ich ihn auf meinen Schoß zog und seine kalte Wange streichelte. Er war so blass und seine Augen geschlossen. Ich wisperte, dass es mir leid täte und hoffte so sehr, dass er es hörte. „Ich flehe dich an, mach die Augen auf. LILLY!“

 

Mein Brustkorb explodierte förmlich, als ich endlich nach Atem rang und meine Augenlider aufflogen. Ich zitterte, doch mein Blick galt allein ihm. Er war da, stand vor mir. Genauso zitternd wie ich, aber er lebte. Die Schmerzen meiner Rippe waren mir vollkommen egal und ich warf mich an seine Brust. Ich spürte die Wärme und seine Arme, die mich umschlangen. Erst zaghaft, dann fester. Er sank mit mir auf den Boden und wiegte mich sanft hin und her. Kenneth und Sean standen neben uns und ich bemerkte ihre fahlen Gesichter. Tränen rannen ungehindert über meine Wangen und noch immer zitterte ich wie Espenlaub. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich vor mir seinen leblosen Körper sehen. ‚Niemals wieder werde ich schlafen‘, dachte ich und schluchzte entsetzlich. „Es ist alles gut. Du bist wach, du bist wieder hier. Keiner kann dir mehr etwas antun“, wisperte er, während er mich noch immer in seinen Armen hielt. „Mir hat keiner etwas getan“, antwortete ich von Schluchzern geschüttelt und presste mich noch näher an ihn, um ganz sicher zu gehen, dass er keine Schmerzen hatte. Dass kein Blut aus seiner Brust drang. „Was meinst du?“ Ich hörte die Verwirrung und schauderte vor den Bildern, die sich wieder in mein Gedächtnis drängen wollten. „Ich war es… Ich… Ich habe dich…getötet. Mit einer Waffe aus dem Jagdverein. Ich hab es nicht gewollt, aber meine Arme gehorchten mir nicht. Ich habe mit einer Flinte direkt in dein…in dein Herz getroffen. Du bist auf eurem Rasen leblos zusammengebrochen. Es tut mir so leid, Taylor!“ „Es war nur ein Traum, Lilly. Du würdest mir niemals etwas antun. Das weißt du doch. Es war einfach nur ein schlechter Traum.“ Ich schüttelte den Kopf. „Es schien so real. Ich habe sogar dein Blut gerochen.“ „Es ist nichts geschehen. Nur ein Albtraum, beruhig dich!“ „Und wieso träume ich so etwas?“ Ich fror trotz seiner Wärme, Taylor schob mir einen Arm unter die Kniekehlen und stützte mit seinem anderen Arm meinen Rücken. So trug er mich, fest an sich gedrückt, ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Noch immer hielt er mich im Arm und ich kuschelte mich an ihn. Er wusste immer, was mir gut tat. Meine Rippe pochte und der Schmerz breitete sich auf meinen ganzen Oberkörper aus, doch ich wollte jetzt nicht daran denken. Wieso träumte ich, dass ich ihn tötete? Er war das Beste, das mir seit langem widerfahren war. Warum dann diese schrecklichen Bilder und der reale Geruch seines Blutes? Seine Hand strich über meinen Kopf und er blickte abwechselnd mich und seinen Vater an. „Dad, was hat das zu bedeuten?“ „Ich wünschte wirklich, ich wüsste es. Aber ich kann es mir einfach nicht erklären. Vielleicht will ihr, ihr Unterbewusstsein einen Streich spielen…“ Ratlos zuckte er mit den Schultern. Urplötzlich begann mein Magen zu rebellieren und ich hatte das ungute Gefühl, dass ich mich gleich übergeben würde. Ich sprang auf und lief ins Badezimmer. Ohne Rücksicht auf die Ohren der Hausbewohner, knallte ich die Tür hinter mir zu und schaffte es gerade so, den Deckel der Toilette zu öffnen. Nachdem ich mir den Mund ausgewaschen hatte, betrachtete ich mein Gesicht im Spiegel. Ich war erschreckend blass und sah aus, als hätte ich seit Wochen nicht geschlafen. Meine Augen waren von den vielen Tränen leicht geschwollen und blutunterlaufen. Vor dem Bad unterhielten sich die drei Woods, doch ich hörte nicht hin. Es war mir nicht egal, was sie von der ganzen Sache hielten, aber ich wollte es einfach nicht hören. Ich wusch mir das Gesicht und hatte glücklicherweise die Salbe vorhin in meine Hosentasche gesteckt. Ganz vorsichtig zog ich den Pullover hoch und dann das Tanktop. Erschrocken begutachtete ich den Fleck, der vorhin im Zimmer von Mrs. Porter nur ganz leicht zu sehen gewesen war, sich jetzt aber dunkellila von meiner hellen Haut abzeichnete. Zaghaft cremte ich ihn ein und zuckte bei jeder Berührung zusammen. Natürlich hatte ich mich ruckartig bewegt, nach diesem Albtraum und das rächte sich jetzt. Ich würde meinen Vater heute Abend bitten müssen, sich das noch einmal anzusehen. Hoffentlich kaufte wenigstens er mir die Geschichte mit der Tollpatschigkeit ab. Ich verstaute die Salbe wieder in meiner Hosentasche, richtete meine Sachen und nickte mir selbst im Spiegel zu. ‚Es geht dir gut‘, dachte ich, ‚du hast heute Nacht in deinem Bett noch genug Zeit, um dir zu überlegen, wie es weitergeht.‘ Die drei Woods erwarteten mich bereits vor dem Badezimmer. „Alles in Ordnung?“, fragte Taylor und versuchte etwas in meinem Gesicht zu lesen. „Ja, mir hat der Traum nur etwas auf den Magen geschlagen. Es geht wieder, danke.“ „Ich halte es für angebracht, wenn Taylor dich jetzt nach Hause fährt, damit du dich etwas ausruhen kannst. Ich werde mich derweil etwas in meinen Büchern schlau machen. Wenn ich etwas Näheres herausfinde, dann melde ich mich gern bei dir, wenn du das möchtest.“ In seiner Stimme lag ein Ton, der keine Widerrede dulden würde. Und ich hatte auch gar nicht vor zu widersprechen. In meinem Zimmer würde ich am besten über alles nachdenken können, wenn mein Gesicht nicht analysiert werden würde. „Ja, das wäre nett. Aber ich würde am Donnerstag gern wieder herkommen, wenn Sie nichts dagegen haben.“ „Das würde mich freuen, Lilly. Wir sehen uns dann.“ Mit diesen Worten drückte er kurz meine Hand und verschwand dann in sein Arbeitszimmer neben dem Wohnzimmer. Sean blickte mir bedauernd in die Augen. „Schade, dass du nicht länger bleibst. Aber ich komme dich gern mal wieder vor der Schule besuchen…“ „Tu, was du nicht lassen kannst. Aber vielleicht solltest du dir langsam einen Job suchen, dir wird sonst irgendwann sterbenslangweilig hier“, antwortete ich und ließ mich kurz von ihm umarmen. „Ach was, hier drin und dort draußen gibt es genug Zerstreuung für mich.“ Er zwinkerte mir zu, doch ich blieb ernst. „Sei bitte vorsichtig, Sean. Du weißt, dass Er nicht zu unterschätzen ist.“ Wir alle wussten, wen ich meinte und vor allen Dingen, an welche Situation ich dachte. „Lilly, meine Teure. Das hatte ich nicht gemeint.“ „Gut, ich wollte es auch nur gesagt haben.“ Dann ging ich mit Taylor zu seinem Auto und er fuhr mich nach Hause.

 

Eine ganze Weile schon war ich wieder zu Hause, hatte meinen Vater gebeten, sich die Rippe anzusehen und der hatte mir die Geschichte tatsächlich geglaubt. Er hatte mir die Angst genommen, dass Schlimmeres eingetreten war und einen festen Verband um meine Rippen gewickelt. Jetzt konnte ich mich zwar kaum bewegen ohne das Gefühl zu haben, ich sei ein Roboter, aber es ging mir um einiges besser. Nur schlafen konnte und wollte ich nicht. Mein Vater hatte bei Henry erfahren, dass die Woods mitten im Wald wohnten und mir das Verbot erteilt, dorthin zu fahren - auch nicht in Begleitung Taylors oder einem der anderen Woods - solange sich noch Wölfe in den Wäldern herum trieben. Bei dieser Meinung blieb er standfest und ich musste einsehen, dass es keinen Sinn hatte, ihn umstimmen zu wollen. Je mehr ich auf ihn eingeredet hatte, umso uneinsichtiger wurde er. Langsam wurde es dunkel draußen und ich saß vor meinem geschlossenen Fenster im unbeleuchteten Zimmer und betrachtete den Mond. Schweren Herzens nahm ich mein Handy zur Hand und drückte auf die Kurzwahltaste Zwei, Taylors Nummer. Es tutete nur ein Mal und schon war er dran. „Hey, ist was passiert? Geht es dir gut?“ „Ja, alles in Ordnung. Ich wollte nur eine schlechte Mitteilung machen.“ Am anderen Ende hörte ich, wie eine Tür zugeschlagen wurde und ihm jemand etwas nachrief. „Ist bei dir alles okay?“, fragte ich nun und vergaß kurz, weswegen ich eigentlich anrief. „Natürlich. Was sollte sein?“ Es raschelte merkwürdig in der Leitung, doch ich schüttelte den Kopf. „Du sagtest, du müsstest eine schlechte Mitteilung machen?!“, erinnerte er mich. „Oh ja, mein Vater hat mir das Verbot erteilt zu euch zu fahren, solange noch Wölfe im Wald sind.“ „Also kommst du nie wieder her?“ Taylor meinte es nicht ernst und lachte leise. „Sieht so aus. Aber vielleicht kannst du mich ja gelegentlich besuchen kommen. Wenn du mal ein bisschen deiner Zeit entbehren kannst…“ „Ja, ich werde dich sicher irgendwo dazwischen schieben können. Ich suche einen freien Termin raus und geb dir dann morgen in der Schule bescheid, ja?“ Wir lachten beide. „Tu das.“ Wieder raschelte es und dann folgte ein lautes Knacken. „Sag mal, was tust du denn da?“ „Ich? Gar nichts. Nichts, was ich sonst nicht auch tue, ehrlich.“ Das glaubte ich ihm aufs Wort und mich beschlich das leise Gefühl, dass er im Wald herumlief und einen Kontrollgang unternahm. Mein Vater war bereits zu Bett gegangen und hatte mir kurz vorher Gute Nacht gesagt. Er schlief unten friedlich in seinem Bett und hatte mich gebeten, nicht mehr allzu lange aufzubleiben. Doch ich würde heute nicht mehr schlafen. Nicht, wenn ich wieder so einen Traum erleben würde müssen. Ich wollte nicht noch einmal Taylor töten, auch wenn es ‚nur‘ ein Traum wäre. Es war furchtbar und so schrecklich real gewesen. Allein die Vorstellung ließ mich erschaudern. „Sag mal, solltest du nicht langsam mal ins Bett gehen?“, fragte nun Taylor am anderen Ende. „Ja, bald. Ich kann nur noch nicht. Und ich wollte deine Stimme noch mal hören.“ „Lilly, mag sein, dass das bei deinem Vater klappt, aber ich kauf dir das nicht ganz ab. Du wirst heute nicht mehr schlafen, oder?“ Ich hätte es wissen müssen, er kannte mich einfach zu gut. „Also das mit deiner Stimme war ernst gemeint, aber du hast Recht. Ich werde nicht schlafen, insbesondere nicht träumen.“ „Siehst du, und weil ich mir das gedacht habe, habe ich eine Bitte an dich.“ „Eine Bitte? Inwiefern?“ „Machst du, bitte, das Fenster auf?“ „Wie, Fenster? Was…?“ Mein Blick fiel auf den schwarzen Schopf unten in unserem Garten und zwei warme braune Augen blickten mich an. „Dein Fenster. Ich bin mir nämlich nicht ganz sicher, ob wir unbeschadet an deinem Vater vorbei kommen würden, wenn du mir die Tür öffnest…“ „Oh ja, das würde wohl schwierig werden.“ Ich drückte auf die Auflegen-Taste meines Handys und schob das Fenster nach oben. „Geh einen Schritt zurück. Am besten setzt du dich auf dein Bett.“ „Gut“, antwortete ich und tat brav, was er mir aufgetragen hatte. Nur einen Augenaufschlag später, stand er vor mir. Ich wusste nicht, wie er es so schnell geschafft hatte, ohne Stütze oder jegliches Hilfsmittel in den zweiten Stock zu gelangen, aber ich war froh ihn zu sehen. Er schloss das Fenster hinter sich und nahm mich dann in die Arme. „Ich wollte nur bemerken, dass ich das zuvor noch nie getan habe…“ „Was? Zu einem Mädchen ins Haus steigen oder überhaupt durch ein Fenster in der zweiten Etage zu klettern?“ „Beides.“ „Da bin ich aber erleichtert. Wo ich doch gedacht hatte, dass du das jeden zweiten Tag tust.“ Ich stieß ihn leicht an und genoss die Wärme und den Duft, die von ihm ausgingen. Er roch nach Aftershave, Kiefer und…irgendetwas, dass ich zuvor noch nicht gerochen hatte, aber sofort mit ihm verband. Seltsam, wie bekannt er mir nach so kurzer Zeit schon war. „Und wie soll mir deine Anwesenheit helfen, nichts Schlechtes zu träumen?“, fragte ich flüsternd. Ich bezweifelte, dass es mir überhaupt gelingen würde einzuschlafen, wenn ich wusste, dass er hier sein würde. Zumindest bis ich einschlief. „Du unterschätzt mich gehörig, mein Schatz.“ „Denkst du?“ „Sicher. Und jetzt ziehst du dir dein Schlafzeug an. Ich warte hier. Na los, geh schon. Hopp, hopp.“ Ich zog eine Augenbraue hoch, schnappte mir jedoch meine Sachen und verschwand im Badezimmer. Nachdem ich die Haare gewaschen und leicht mit einem Handtuch trocken gerubbelt hatte, kämmte ich sie grob durch. Dann putzte ich die Zähne und schlüpfte in meine blau-weiß karierte Schlafhose und ein altes graues Tanktop. Ich schüttelte mein Haar einmal auf und kehrte dann zu Taylor zurück. Er saß artig auf dem Rand des Bettes und blickte auf, als ich die Tür zu meinem Bad hinter mir schloss. „Um auf die Frage von vorhin zurück zu kommen, wie hilft mir deine Anwesenheit noch gleich?“ Er antwortete nicht, stand stattdessen auf und schlug die Bettdecke zurück, damit ich drunter schlüpfen konnte. Ich tat es und er deckte mich zu. Dann legte er sich neben mich und stützte seinen Kopf mit einer Hand ab. Sein Blick war wieder einmal zum dahinschmelzen und mein Herz begann laut in meiner Brust zu schlagen. Ich rollte mich auf die Seite und blickte starr auf seinen Oberkörper. „Ich werde nicht schlafen.“ „Doch wirst du. Lilly, ich bin hier. Solange wie es nötig ist. Sollte ich sehen, dass du in einen schlechten Traum gleitest, werde ich dich sofort wecken. Es wird nichts passieren, okay?“ „Dann bekommst du aber keinen Schlaf.“ „Brauche ich auch nicht. Ich habe mich vorhin zwei Stunden hingelegt und habe genug Energie aufgetankt, um morgen die Schule zu bewältigen, ohne vorher zu schlafen.“ „Das hast du vorhin schon geplant?“ Ich blickte zu ihm auf, er nickte nur. Er kannte mich wirklich in- und auswendig. „Und du meinst, das klappt?“ „Ja“, meinte er feierlich, doch ich wusste, dass er sich selbst nicht ganz sicher war. Wie sollte man sich bei so was auch sicher sein? „Hör endlich auf zu grübeln und mach die Augen zu…“, wisperte er und legte den Arm, mit dem er vorher seinen Kopf gestützt hatte, unter meinen Kopf. Sein anderer Arm schlang sich um meine Hüfte und zog mich vorsichtig näher zu ihm heran. „Versuchen wir es…“, seufzte ich und schloss die Augen. Noch immer schlug mein Herz heftig in meinem Brustkorb, doch seine Wärme und tatsächlich auch seine Anwesenheit ließen mich ruhiger werden. Langsam wurde ich schläfrig und fiel dann in einen neuen Traum…

Als ich meinen Kopf hob, saß ich einem riesigen Spiegel gegenüber. Ich war ganz leicht geschminkt und schien bereits ein paar Jahre älter zu sein. Mein blondes Haar war offen und reichte mir in großen Wellen bis ungefähr zu den Ellenbogen. Den Raum um mich herum nahm ich nicht mehr wahr, weil mein Blick auf das Kleid fiel, dass ich trug. Ein weißes wunderschönes Kleid, das etwas abgeändert worden war, ich aber immer noch als das ehemalige Hochzeitskleid meiner Mutter erkannte. Es hatte keine Träger mehr und hielt, weil es wie angegossen passte, über meiner Brust. Ein schmaler Streifen glitzernder kleiner Perlen reichte um den ganzen Bund und als ich diesen berühren wollte, bemerkte ich erst, was ich an den Händen trug. Eine Art Handschuh, die aber nur mit einem unsichtbaren Gummi am Mittelfinger hielten und sonst meine Finger nicht bedeckten. Sie reichten mir bis zum Ellenbogen und waren aus strahlend weißem Satin. So wie auch das Kleid. Es mündete in einen leicht breiten Rock, war aber bis zu meiner Taille eng anliegend und betonte meine Rundungen. Wie automatisch nahm ich die Ohrringe von dem Schminktisch vor mir und legte sie an. Dazu die passende Kette und strich mir dann eine Strähne aus der Stirn. Neben mir erschien Carly in einem bodenlangen hellgrünen Satinkleid, das ihr ausgezeichnet stand und sich ebenfalls eng an ihren Körper schmiegte. „So, Süße. Jetzt nur noch den Schleier. Bist du so nett und hältst die Haarnadeln kurz?“ „Sicher“, meinte ich und meine Stimme klang erwachsener. Der lange Schleier rundete das Ganze wunderbar ab und ich fühlte mich wundervoll. Während Carly ihn gut feststeckte und mir dann den dünnen Stoff vor dem Gesicht richtete, konnte ich es noch immer nicht fassen. Ich heiratete. Jetzt. Hier in diesem Traum würde ich mich für immer an Taylor binden. Keine Frage, dass es Taylor sein würde, der am Altar auf mich wartete. Jemand klopfte an die Tür und ich hörte die Stimme meines Vaters: „Die Gäste sitzen alle. Seid ihr beiden soweit, dann würden wir nämlich gern starten…?!“ „Ja, keine fünf Minuten mehr, versprochen“, antwortete Carly und reichte mir ein Paar weißer Schuhe mit 8cm Absätzen. Ohne Widerworte zog ich sie an und zurrte die Riemchen fest. „Gut. Lass uns gehen. Den Strauß habe ich schon Sean dagelassen. Irgendwas muss er ja auch tun.“ Als sie seinen Namen erwähnte, begannen ihre Augen zu leuchten. Ich hatte so gehofft, dass sie ebenfalls glücklich sein würde in der Zukunft. „Carly, ich… Danke, dass du mir immer eine so wundervolle beste Freundin warst. In all der Zeit habe ich dir das nicht oft genug gesagt und ich… Ich habe dich einfach wahnsinnig lieb und oft bin ich der Meinung, ich hätte dich nicht verdient.“ „Oh, Süße. Wir haben wahrlich genug miteinander durchgestanden und du warst auch für mich da in all der Zeit. Ich habe dich auch sehr, sehr lieb, glaub mir. Du bist für mich wie eine Schwester.“ Wir drückten einander, vorsichtig, um unsere Kleider nicht zu zerknittern. „Nun…dann gehen wir“, begann sie und wandte sich zur Tür, „er wartet doch schon!“ „Ja“, hauchte ich und folgte ihr lächelnd. Ich kannte diese Kirche. Es war die Kapelle in Crystal Falls in der früher auch meine Eltern geheiratet hatten. Als wir auf dem Flur vor der großen Flügeltür ankamen, durch die man zum Altar schreiten musste, erwarteten uns bereits ein paar Leute. Mein Vater stand dort, ebenso wie Sean an dessen Hand ein kleines Mädchen mit braunen Locken zappelte. Die Kleine, ich schätzte sie auf 4 Jahre, lächelte, als Carly auf sie zukam und Sean den Strauß abnahm. „Mama, wann geht es denn endlich los?“ „Schätzchen, ein kleines bisschen Geduld noch. Tante Lilly ist gleich fertig.“ Tränen bahnten sich ihren Weg, doch ich drängte sie zurück. Ich wollte die Schminke nicht ruinieren und das Ganze nicht noch länger verzögern, weil ich einen Weinkrampf bekam. „Das Blaue hast du?“ „Ja, wo es hingehört“, wisperte ich zurück, weil Sean bereits grinsend die Ohren spitzte. Sie reichte mir den kleinen Strauß weißer und roter Rosen, kontrollierte noch einmal den Schleier und verkündete dann feierlich, dass es losgehen konnte. Sean nickte mir zu und reichte seiner Tochter dann einen kleinen Korb mit Rosenblüten, sie war also das Blumenmädchen. Irgendjemand hatte drinnen bescheid gesagt, dass die Zeremonie starten konnte, und Musik erklang. Das kleine süße Ding mit den braunen Locken und den grauen Augen schlüpfte durch einen kleinen Spalt in den Flügeltüren und schritt den Gang herunter. Leider stand ich nicht nah genug, um mir den Kirchenraum ansehen zu können. „Schatz, du siehst wundervoll aus. Deine Mutter hätte sich sehr darüber gefreut, dass du ihr Kleid anhast“, wisperte mein Vater und auch er hatte Tränen in den Augen. „Danke! Und danke, dass du hier bist. An diesem Tag.“ „Wo sollte ich sonst sein? Ich gebe zu, es ist nicht leicht dich gehen zu lassen, aber du bist bei ihm sehr gut aufgehoben. Er hat mir bewiesen, dass er auf dich Acht gibt und dich liebt.“ Ich war mir nicht ganz sicher, aber es klang, als wüsste er über Alles bescheid. Sean und Carly schritten Arm in Arm den Gang hinunter. Mein Vater und ich würden die Nächsten sein und wir stellten uns vor der Tür auf. Wir sprachen nicht weiter, als ich mich bei ihm einhakte. Es war für uns beide nur wichtig, die Gegenwart des Anderen zu fühlen. Dann wechselte die Musik, wir hörten wie alle Gäste aufstanden und sich umwandten. Jemand räusperte sich und dann wurden die Flügeltüren geöffnet und ich sah den ganzen Raum und ihn. Hätte mich jemand gefragt, dann hätte ich ohne zu zögern gesagt, dass es die perfekte Hochzeit werden würde. Überall standen Kerzen und Rosenbouquets, jeder im Raum lächelte und ich hatte das Gefühl, dass ausnahmslos jeder Gast die Luft anhielt, als sich die Tür geöffnet hatte. Langsam setzten wir uns in Bewegung und mit jedem Schritt auf dem roten Teppich, der bis zum Altar reichte, näherte ich mich Taylor, der so wundervoll aussah in seinem Anzug. Es war ein schwarzer, mit einer Nadelstreifen-Weste und einem schwarzen Schlips. In der Brusttasche steckte ein weißes Tuch und in einem Knopfloch eine weiße Rose. Er lächelte und nur der Druck an meinem Arm hielt mich davon ab, schneller zu ihm zu gehen. Wir kamen vor dem Altar zum Stehen und erst jetzt bemerkte ich, dass da noch jemand bei ihm stand. Nicht nur Sean, der ein schiefes Grinsen aufgesetzt hatte, sondern ein kleiner zirka dreijähriger Junge. Er drückte sich an Taylors Bein und hielt das Samtkissen, auf dem die Ringe festgebunden waren. Anscheinend hatte man ihn nicht allein über den ganzen Gang schicken wollen und so stand er gleich hier vorn. Er war so süß und ich freute mich für Carly, dass sie gleich zwei Kinder hatte. Auch wenn ich einen kleinen Stich in meinem Herzen spürte, Neid wahrscheinlich. Doch dann blickte er mich lächelnd an und es waren eindeutig meine Augen, die mir da entgegensahen. Schwarzes Haar und kristallblaue Augen. Es war nicht Carlys und Seans Sohn, sondern Taylors und meiner. Ich schluckte und blickte dann zu meinem Vater, der den Schleier von meinem Gesicht nahm und mir dann einen Kuss auf die Stirn hauchte. Nun reichte er mich an Taylor weiter und ich fühlte, wie ich zu Hause ankam. Als ich seinen Blick bemerkte, fühlte ich mich so wunderschön wie nie zuvor. Seine Augen leuchteten und er zitterte ganz leicht. Ich gab Carly den Strauß und verschränkte meine Finger mit seinen. Immer wieder huschte mein Blick ganz kurz zu unserem Sohn. Die ganze Zeremonie war herzergreifend, doch ich weinte leise, weil ich eine vollständige Familie hatte. Einen Mann, einen Sohn und den Rückhalt der ganzen Stadt. Insbesondere meines Vaters, meiner besten Freundin und ihrer Familie. Es war so wundervoll, dass alles zu sehen, zu erleben wie wir miteinander verbunden wurden. Dann war es der Reverend, der mich zurückholte: „Kraft des mir verliehenen Amtes, erkläre ich Sie hiermit zu Mann und Frau. Sie dürfen die Braut jetzt küssen.“ Ich erinnerte mich nicht daran, ja ich will gesagt oder einander die Ringe aufgesteckt zu haben, aber auch das war wohl völlig automatisch geschehen. Schließlich gehörte ich zu ihm. Zu wem auch sonst? Taylor beugte sich zu mir herunter, umfasste meine Taille mit einem Arm und führte mit der anderen Hand mein Kinn zu seinem Gesicht. Er küsste mich sanft. Es war berauschend, wie bei unserem ersten Kuss während des Sonnenuntergangs im Wintergarten. Meine Arme schlangen sich um seinen Nacken und ich drückte mich fester an ihn. Als wir uns voneinander lösten, drang erst das Klatschen der anwesenden Menschen an meine Ohren und ich lächelte. „Meine Damen und Herren, Mr. und Mrs. Taylor Wood.“ Es ausgesprochen zu hören, war sogar noch ergreifender und wieder stiegen Tränen in mir auf. „Mommy…“, wimmerte jemand und zog sachte an meinem Kleid. Mein Blick huschte sofort nach unten. Ich wollte nicht, dass dieser kleine Fratz weinte. Niemals würde ich zulassen, dass er litt oder ihm jemand etwas antun würde. Meine Hände griffen sofort nach ihm und ich hob ihn blitzschnell auf meine Arme. „Was ist denn, mein Spatz?“ Seine blauen Augen analysierten mein Gesicht, so wie es sein Vater immer tat. „Heißt du jetzt Wood?“ Ich drückte ihn sanft an meine Schulter und wisperte: „Ja, mein kleiner Liebling.“ Mein Blick galt Taylor, der unserem Sohn über den Kopf streichelte und hinzufügte: „Und das wird sich auch niemals ändern.“
 

Ein Sonnenstrahl traf meine Augen und ich kniff sie zusammen. ‚Nein‘, dachte ich, ‚noch nicht. Ich will noch ein paar Minuten in diesem Traum bleiben.‘ Doch es hatte keinen Sinn, ich war zurück in der Gegenwart. Der Wecker hatte zwar noch nicht geklingelt, aber ich wollte auch nicht wissen, wie spät es war. Noch immer hielt ich meine Augen geschlossen und hoffte noch ein paar kurze Bilder zu sehen, doch da war gar nichts mehr. Die Matratze wackelte leicht und ich öffnete vorsichtig die Lider. „Du hast es bemerkt?“, hauchte Taylor und blickte mich entschuldigend an. „Was bemerkt?“ Ich kuschelte mich an ihn und roch den Duft frisch gewaschener Wäsche. „Du warst weg, dich umziehen…“ „Ja, und ich habe gehofft, dass du  nicht aufwachst, ehe ich zurück bin. Du kannst die Augen noch für eine Stunde zumachen, noch musst du nicht aufstehen.“ „Ich komme sowieso nicht in den Traum zurück“, seufzte ich und er schloss mich in seine Arme. „War also wirklich ein schöner Traum, ja? Du hast die ganze Nacht gelächelt.“ „Es war wundervoll…“ Es störte mich nicht im Geringsten, dass er mich beobachtet hatte. Irgendwie fand ich es sogar schön das zu hören. Und es war mir auch egal, wie ich im Moment aussehen musste. Taylor lächelte mich immer an, als wäre ich die schönste Frau der Welt. Egal, ob ich gerade aus dem Schlaf erwachte oder zurecht gemacht war. „Erzählst du es mir?“ „Es ist ein richtiger Mädchentraum. Bist du dir sicher, dass du es wirklich wissen willst?“ „Etwa ein Tag im Shoppingcenter und du musstest am Ende für nichts bezahlen?“ „Nein, um Gottes Willen, so was will ich auch nicht träumen.“ Er lachte leise und streichelte mir übers Haar. „Dann schieß los. Es interessiert mich brennend!“ „Ich habe von uns geträumt. Wir waren ungefähr Mitte Zwanzig“, begann ich und dachte an unseren Sohn zurück. Innerlich hoffte ich, dass ich bereits gesehen hatte, was in unserer Zukunft auf uns wartete, doch das war unmöglich. „Es war der Tag unserer Hochzeit.“ „Tatsächlich?“ Ich schaute zu ihm auf, doch er hatte die Augen geschlossen. Es war mir wichtig zu wissen, was er darüber dachte. Ob er mich für verrückt hielt, weil ich nach nicht einmal fünf Tagen Beziehung bereits davon träumte, ihn zu heiraten. Oder, ob er sich gerade vorstellte, wie wir beide ausgesehen hatten. „Willst du nicht mehr erzählen? Das kann unmöglich schon alles gewesen sein!“, meinte er und sah jetzt mich an. Unsere Blicke verschmolzen miteinander und ich konnte einfach nicht anders, ich küsste ihn. Erst zaghaft, dann leidenschaftlicher. Die Welt hätte in diesem Moment untergehen können, ich hätte es nicht bemerkt. Doch dann löste er sich von mir und schnappte nach Atem. In seinen Augen erkannte ich, dass er es widerwillig getan hatte, doch er schien fest entschlossen das nicht noch einmal zuzulassen. „Lilly, du weißt, ich liebe dich, aber wir können nicht…“ „Du hast Angst, dass wieder was passiert?!“ Es war eine Feststellung und ich hätte nicht einmal eine Antwort von ihm gebraucht. Ich konnte es in seinen Augen lesen. „Deine erste Verletzung ist noch nicht mal verheilt und wenn du mich so küsst, kann ich wirklich für nichts mehr garantieren. Lass uns einfach vorsichtiger sein, ja? Tu mir den Gefallen!“ „Ist gut. Ich halte mich zurück.“ „Danke“, flüsterte er und lachte dann leise. „Ich hätte nie gedacht, dass du für mich so gefährlich werden könntest. Wenn du in der Nähe bist, werfe ich all meine Vorsätze über Bord.“ „Was für Vorsätze?“ „Ich hab mir geschworen, einem Menschen niemals meine zweite ‚Identität‘ zu offenbaren. Bei dir fehlgeschlagen. Ich hatte mir geschworen, meine Fähigkeiten niemals fahrlässig bei einem anderen Menschen anzuwenden. Bei dir fehlgeschlagen. Außerdem hatte ich mir geschworen, niemals die Kontrolle zu verlieren, um einen Menschen nicht zu verletzen. Bei dir fehlgeschlagen.“ „Ich möchte nicht, dass du denkst, ich sei für dich gefährlich. Wenn du dich unwohl dabei fühlst, deine Vorsätze zu brechen, dann…“ „Was dann? Willst du mich verlassen?“ Seine Augen blickten flehend. Er wollte nicht, dass ich gehe und doch wusste er, dass es für mich das Beste sein würde. Schließlich hielt er sich selbst für die größte Gefahr, die auf mich lauerte. „Ich bin ein ebensolcher Egoist wie du, Taylor. Ich könnte niemals verkraften, dich zu verlieren.“ Er lächelte leicht, doch sein Blick blieb traurig. Während ich über seine Wange strich, erzählte ich weiter: „Sean und Carly waren in meinem Traum zusammen, vielleicht auch schon verheiratet. Sie hatten eine kleine Tochter. Ein süßer Engel mit braunen Locken.“ „Wirklich? Die beiden?“ Anscheinend stellte er sie sich gerade zusammen vor und grinste. „Ich finde, sie passen gut zusammen. …Du hast gut ausgesehen in deinem schwarzen Anzug und ich hatte das abgeänderte Hochzeitskleid meiner Mutter an. Als mein Vater mich an dich weitergereicht hat, vor dem Altar, und du meine Hand genommen hast, da fühlte ich, dass ich zu Hause war. Genau da gehörte ich hin und genau da wollte ich sein. An deiner Seite. Und wir…“, doch ich stockte. ‚Bei allen männlichen Familienmitgliedern bricht es mit 10 Jahren aus. Es ist nicht möglich, es aufzuhalten…‘, hallten die Worte Kenneth‘ in meinen Ohren wider. Ich musste an Taylors Gesichtsausdruck denken, als er mir von der Verwandlung an seinem 10. Geburtstag erzählt hatte. Er würde es nicht sehr gut aufnehmen, wenn ich jetzt von dem Kleinen berichtete. „Was, und wir?“ „Du wirst es nicht gern hören!“ „Versuch es trotzdem“, bestärkte er mich und drückte mich kurz an sich, dann blickte er mir wieder in die Augen. „Wir hatten einen Sohn.“ „Oh…“ „Er war ungefähr drei Jahre alt. Er hatte deine schwarzen Haare und meine blauen Augen. Er war so süß und so klein. Ich habe merkwürdigerweise sofort Muttergefühle für ihn entwickelt, obwohl es nur ein Traum war, aber…er war dein Ebenbild.“ „Lilly…“ Ich legte ihm einen Finger auf die Lippen, er sollte es nicht aussprechen. „Ich weiß. Es war doch auch nur ein Traum.“ Es war unmöglich, dass er die Tränen in meinen Augen nicht gesehen hatte, doch er sagte nichts weiter dazu. Wir schraken beide zusammen, als mein Wecker klingelte. Ich streckte mich über Taylor, was gar nicht so einfach war, und schaltete ihn aus. Meine Rippe schmerzte nicht und ich ließ mich in die Kissen zurücksinken. „Sag Carly bescheid, dass sie dich nicht abholen braucht. Ich mach mich auf den Weg und hol mein Auto. Wir fahren zusammen zur Schule, ja?“ „Okay.“ Während ich nach meinem Handy tastete, stand Taylor auf und öffnete das Fenster leise. Gerade tippte ich die Kurznachricht ein, als er sich über mich beugte und sich mit beiden Händen neben mir abstützte. „Wir heiraten trotzdem… Schließlich will ich dich mal in dem Kleid sehen“, flüsterte er, küsste mich und schwang sich dann aus dem Fenster. Völlig sprachlos lag ich auf dem Rücken und konnte dann die Tränen nicht länger zurückhalten. Einerseits waren es Freudentränen und andererseits Tränen der Trauer, um den kleinen Sohn, den ich nie haben würde. Das Wissen, dass ein gemeinsames Kind so wundervoll aussehen und sein würde, machte das alles so grausam. Taylor würde niemals wollen, dass sein Sohn eine solche Verwandlung durchmachen müsste und so hatte er auch beschlossen, dass er keine Kinder haben würde. Er wollte nicht das Risiko eingehen, dass es ein Sohn wird und genau das hatte er auch vorhin sagen wollen. Ich hörte die tiefe Stimme, die meinen Namen rief und schlug das Fenster zu. Ihn konnte ich nun gar nicht gebrauchen. Dann schickte ich die Nachricht an Carly ab und verschwand im Bad.

 

08. April

Träume sind schon merkwürdig. Mal machen sie einem furchtbare Angst. Sie handeln von Schmerz und Verlust, von Grausamkeiten und Abschied. Und dann wieder sprühen sie voller Leben. Sie zeigen einem Liebe und Glück, Hoffnung und unsagbare Freude.

Gestern Nacht habe ich eine wundervolle Hochzeit gesehen, ich weinte als ich die Augen aufschlug. Das komische daran war, es war nicht einmal meine Eigene. Sie zeigte mir ein wunderschönes junges Mädchen und ihren zukünftigen Ehemann. Die beiden hatten viele Freunde und ihre Familien waren ebenfalls glücklich. Nur ganz kurz, sah ich das Lächeln der jungen Frau und ich glaubte, mich selbst in ihr wieder zu erkennen. Doch ich kannte sie nicht, nicht direkt jedenfalls. Vielleicht hatte ich die Hochzeit einer Freundin aus der Zukunft gesehen oder, so hoffe ich zumindest, es war das Erlebnis meiner Tochter. Sie sah so strahlend schön und unglaublich glücklich aus. Ich wünsche ihr nur das Beste. Ihr Mann schien sie sehr zu lieben und ich hoffe, dass er sie für den Rest ihres Lebens glücklich machen wird. Sie werden sicher ganz viele niedliche Kinder bekommen. Aber das werde ich ja dann selbst erleben… Seltsam, ich bin erst 15 und mache mir bereits Gedanken über meine Enkelkinder. Aber wie ich am Anfang schon schrieb: Träume sind schon merkwürdig.

 

Die nächsten Wochen rasten dahin und jede Nacht blieb Taylor bei mir, um die bösen Träume von mir fernzuhalten. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, auch wenn er mir erklärte, dass ich das nicht haben müsse. Er täte es gern und fände es schön, mir helfen zu können, meinte er. Doch jeden Morgen, wenn ich aufwachte, sah ich ihm ins Gesicht und wurde traurig. Seine Augen glitzerten zwar immer, aber er sah so unglaublich müde aus. ‚Ich bin ein furchtbarer Mensch‘, dachte ich. ‚Wie kann ich nur so egoistisch sein und ihn um seinen wohlverdienten Schlaf bringen?‘ Jede Nacht träumte ich noch mal ein Stück unserer Hochzeit. Kenneth hatte ich nicht gesehen seit dem Tag meines bösen Traumes und er hatte Taylors Worten zufolge, auch nichts weiter herausfinden können. Sean besuchte mich nachmittags bei Henry in der Billardhalle und verstand sich prächtig mit Carly. Aber er war in dieser Hinsicht, wie sein Bruder. Er erzählte ihr niemals zu viel und versuchte sich so weit wie möglich von ihr fernzuhalten, um sie nicht näher an sich zu binden. Ein Blinder mit Krückstock konnte erkennen, dass er sie für wunderschön, klug und lustig hielt, aber er bestritt das vehement, wenn man ihn danach fragte. Wer nur sollte aus diesen Jungs schlau werden? Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass Carly seit dem ersten Gespräch mit Sean keinen anderen Jungen mehr angebaggert hatte… Vielsagend. Der schwarze Wolf hatte sich lange nicht blicken lassen bzw. nach mir gerufen. Aber ich versuchte auch nicht darauf zu achten und mich weitestgehend von Waldstücken und sonstigen dunklen Orten fernzuhalten. Ich war niemals allein unterwegs und konzentrierte mich wieder mehr auf die Schule. Für mich wurde es langsam Zeit ein College auszusuchen und so saß ich an einem Samstagabend mitten in meinem Zimmer zwischen all den Unterlagen. Mein Blick huschte kurz auf meinen Wecker, 22 Uhr. Taylor würde gleich kommen. Wir hatten uns auf eine Zeit geeinigt, zu der mein Vater nicht mehr in mein Zimmer kam, ich aber noch lange nicht müde war. Das letzte Mal war schließlich knapp genug gewesen. Da hatte Taylor allein in meinem Zimmer gewartet, dass ich aus dem Bad kam. Glücklicherweise waren seine Ohren zehnmal besser, als die eines Menschen und so hatte er meinen Vater früh genug vor der Tür gehört, um sich ein gutes Versteck zu suchen. Und zwar im Badezimmer. Ich hatte gerade ein Badetuch um meinen Körper geschlungen, als er mit hochrotem Kopf vor mir stand und mir leise erklärte, was passieren würde. Ich war in mein Zimmer gegangen, wo mein Vater bereits kurz vor der Badtür stand und gerade den Kopf hereinstecken wollte. Mit einem Gute Nacht und einem Kuss auf seine Wange, war ich ihn schließlich losgeworden, aber Taylor war seither vorsichtiger. Ich befreite mich von all den Unterlagen und öffnete leise das Fenster, als ich ihn bereits aus der Hecke kommen sah. Es war immer noch verrückt, wie wild mein Herz schlug, wenn ich ihn sah. Immer noch katapultierte es sich förmlich aus meiner Brust und ich begann zu zittern, als seine Augen in meine tauchten. Wieso hatte er sich noch gleich in mich verliebt? Ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich das nicht alles nur träumte. So ein toller Mann konnte sich nicht nur an mich, eine einfache Schülerin, binden. Vielleicht lag da eine Verwechslung vor. Ich nahm wieder zwischen all dem Papier Platz und hörte, wie er leise durch das Fenster schlüpfte. „Hey, Schatz“, sagte er und sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Ich wusste, dass er es nicht leiden konnte, wenn ich meine Haare hochsteckte, aber die hätten mich nur gestört. „Hey, hast du gut geschlafen?“ „Wie ein Stein. Aber du hättest mich heute Morgen ruhig wecken können.“ „Niemals, meinetwegen fehlt dir der Schlaf ja. Da werde ich einen Teufel tun und dich morgens aus dem Bett klingeln.“ Wir hatten die Abmachung getroffen, dass er am Wochenende, zumindest wenn wir es lange genug ohne einander aushielten, ausschlief und wir uns erst abends sehen würden. Daher rief ich ihn nur morgens an, um wenigstens kurz seine Stimme zu hören, aber heute hatte ich ihm die Ruhe gelassen. Er sah erholt aus und ich hatte kein so schlechtes Gewissen, wie sonst. Schließlich blieb er über Nacht für mich wach, um beim ersten Sonnenstrahl zu sich nach Hause schlafen zu gehen. „Was tust du da?“ „Colleges aussuchen. Ich habe schon ein paar Rückmeldungen, aber ich weiß nicht…“ „Was? Welches du nehmen sollst?“, begann er und hob ein paar Zettel auf, um zu lesen, welche Colleges in Frage kamen. „Meine Güte, wie viele stehen denn zur Auswahl?“ „Ich habe nicht gezählt, aber die Liste, die du da hast, hat sich schon positiv gemeldet und die hier“, ich wedelte mit einem weiteren Blatt, „haben noch nicht geantwortet.“ „Und was bitte meintest du dann mit, ich weiß nicht?“ „Mit jeder weiteren Minute frage ich mich, ob ich das wirklich will.“ Er blickte mich stumm an. „Ich meine, es ist der Wahnsinn, dass ich freie Auswahl habe, wo andere darum beten, eine positive Nachricht zu kriegen, aber… Ich habe nie über eine andere Option nachgedacht, verstehst du? Für mich hieß es immer, ich gehe aufs College. Punkt, aus. Es hat mir keiner aus der Familie vorgeschrieben, dass ich studieren soll, aber ich habe nie daran gedacht, etwas anderes zu tun. Zu arbeiten oder ein Jahr blau zu machen…so wie es andere tun.“ Ich seufzte und legte das Blatt weg. „Es ist frustrierend!“, fügte ich hinzu, löste die Spange aus meinem Haar und ließ mich rücklings auf den Boden sinken. Taylor schob einige Papiere vorsichtig fort und setzte sich im Schneidersitz neben mich. „Die Entscheidung kann ich dir nicht abnehmen…“, meinte er und ich strich mir über die Augen. „Ich weiß und das würde ich auch niemals von dir verlangen.“ Wir blickten uns lange an und wäre da nicht das Versprechen gewesen, dass ich ihm nach dem ersten Traum mit unserer Hochzeit gegeben hatte, hätte ich mich jetzt auf ihn gestürzt. Wie konnte ein einzelner Typ auch nur so gut aussehen?! Ich musste mich ablenken, an irgendetwas anderes denken. „Was ist mit dir?“, fragte ich und hoffte, dass ich nicht so sehnsüchtig klang, wie ich mich fühlte. „Was soll mit mir sein?“ „Was planst du nach dem Abschluss hier in Crystal Falls?“ „So weit denke ich nie voraus…“, er klang völlig emotionslos und ich setzte mich auf. „Aber du musst dir doch Gedanken darüber gemacht haben, was du später mal tun willst, oder etwa nicht?“ Taylor nahm eine meiner Haarsträhnen zwischen seine Finger und beobachtete, wie sich das Deckenlicht darin brach. Erst nach einigen Minuten blickte er mir wieder in die Augen. „Wenn man ein Wolf ist, plant man unwichtige Dinge in der Zukunft nicht.“ „Du willst mir im Ernst erklären, dass du deine berufliche Zukunft für unwichtig hältst?“ „Ja.“ „Wieso?“ Seine Antwort traf mich wie ein Schlag ins Gesicht oder in den Magen: „Weil ich nie weiß, wann es vorbei ist.“ Ich war nicht schockiert, obwohl ich das wohl hätte sein sollen, aber es machte mich unglaublich traurig, ihn so reden zu hören. „Ich plane jeden Moment, den ich mit dir verbringe, weil ich jeden Augenblick mit dir genieße. Ich genieße es, dich lieben zu können, mich dabei nicht verstellen zu müssen, wie es bei anderen der Fall ist. Und ich plane auch alles, was mit meiner Familie zusammenhängt, weil auch sie mich verstehen. So sind wie ich. Aber ich denke nicht darüber nach, was ich in einem Jahr tun werde, weil ich mir niemals sicher sein kann, ob ich diesen Zeitpunkt noch erlebe.“ Ich wollte nicht hören, dass er irgendwann starb, aber wir wussten beide, dass er Recht hatte. Allein dieser Wolf hätte es fast geschafft, ihn aus dieser Welt zu reißen. Ihn aus meiner Welt zu reißen. Meine Hände wurden wieder kalt und ich fror entsetzlich bei dem Gedanken daran, dass ich die letzten Wochen mit ihm fast nicht erlebt hätte. Noch gestern war ich wahnsinnig stolz auf mich gewesen, dass ich so lange nicht geweint hatte, doch jetzt liefen mir zwei kleine Tränen über die Wangen. „Oh, Lilly, ich wollte nicht, dass du weinst“, beschwichtigte er mich und wischte die salzige Nässe fort. „Das willst du nie und ich tue es trotzdem… Mach dir keine Gedanken, ich bin eben ein sensibler Mensch.“ Ich rang mir ein kleines Lächeln ab und wollte mich gerade daran machen, die Papiere wegzupacken, als er mein Kinn berührte und mich zwang in seine Augen zu sehen. „Du hast noch etwas auf dem Herzen, oder? Was ist los, Lilly?“, wisperte er und seine Lippen waren nur Millimeter von meinen entfernt. Ich öffnete meinen Mund ganz leicht, doch ich brachte keinen Ton heraus. Es war die Gelegenheit, ihm von dem Angebot des schwarzen Wolfes zu erzählen. Ihm zu sagen, dass er mich oft schon versucht hatte, zu rufen und es gerade in diesem Moment wieder tat, doch ich sagte es nicht. Ich wusste, dass er sofort aus dem Fenster springen und ihn sich schnappen würde. Doch das konnte ich nicht zulassen, denn genau das war es, was der Wolf wollte. Er wollte uns trennen, Taylor loswerden, da er der Meinung war, dass der zwischen uns stand. „Lilly,…“, flehte er mich an und seine Augen verdunkelten sich. Er machte sich Sorgen. „Manchmal…“, begann ich und wandte meinen Blick von ihm ab, „frage ich mich, ob es nicht ein Irrtum ist.“ Da war sie wieder, die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen. Auch die hatte ich seit Tagen nicht gesehen und ich wollte auch nicht, dass sie länger blieb. „Ich frage mich, ob du dich nicht irrst, in Bezug auf mich.“ „Wie bitte?“ Seine Antwort kam heftig und ließ zwar die Falte verschwinden, aber die machte nur etwas anderem Platz. Da waren so viele Gefühle in seinem Gesicht, dass ich sie nicht alle deuten konnte. Angst, Trauer, Verwirrung und dann spürte ich nur noch seine Hände auf meinen Wangen. „Hast du denn keine Ahnung, wie du auf mich wirkst? Was du mir bedeutest?“ „Ich weiß, dass du mich liebst und das glaube ich dir auch, aber… Es gibt all diese Farrahs und Carlys auf der Welt und du…du bist hier bei mir.“ „Oh, Lilly…mein Schatz.“ Er zog mich auf die Füße und umschlang meine Taille. „Du bist Alles für mich. Das Licht, der Himmel, die Erde. Wenn du so willst, meine eigene ganz spezielle Luft. Du bist für mich lebensnotwendig geworden. Jeden Morgen wache ich auf, mit den Gedanken bei dir und genauso schlafe ich auch ein. Du bist mir so vertraut, dass ich dich selbst dann sehe, wenn ich meine Augen schließe. Ich liebe jede Einzelheit an dir. Wenn du nervös bist oder Angst hast, bekommst du kalte Hände. Wenn du mich siehst, schlägt dein Herz genauso stark, wie in dem Moment, als wir uns das erste Mal geküsst haben.“ „Oh Gott…“, seufzte ich und versuchte die Hände vors Gesicht zu schlagen. „Nein, das muss dir nicht peinlich sein. Jedes Mal aufs Neue zeigt mir das, wie wichtig ich dir bin. …Ich liebe es, wie deine Haut schimmert, wenn du rot wirst. Ich liebe es, wie dein Haar in der Sonne glänzt und du einfach nur die Augen schließt, um einen einzelnen Strahl davon aufzufangen. Ich liebe deine Eigenheit, dir auf die Unterlippe zu beißen, wenn du nicht genau weißt, was du im Moment fühlen sollst. Wenn du meinem Bruder etwas entgegensetzt, dann umschließt dich diese leuchtende Aura. Du bist rein, natürlich, intelligent, witzig und du…du bist wunderschön. Und du gehörst zu mir. Du liebst mich, obwohl du weißt, was ich bin und du“, er lachte leise, „lässt niemals zu, dass ich mir Selbstvorwürfe mache. Geschweige denn, mich bei dir entschuldige, wenn ich etwas angestellt habe.“ Sein Blick huschte kurz zu meiner Rippe, die bereits vollständig verheilt war. „Das alles denkst du…über mich?“ „Und das war noch lange nicht alles. Ich könnte stundenlang über die Dinge sprechen, die ich so sehr an dir liebe. Also denk nie wieder, dass ich mich irre. Denn ich war mir nie zuvor so sicher über meine Gefühle und den Menschen, den sie betreffen. Verstanden?“ Er lächelte und seine Augen funkelten vor Begeisterung. Vielleicht war er ganz froh, mir das alles Mal gesagt zu haben. „Okay.“ Und dann zog er mich eng an sich und küsste mich, wie er es lange nicht getan hatte. Um ehrlich zu sein, hatte er mich erst einmal so geküsst und das war an den Schließfächern gewesen. Aber hier, in diesem Moment, hatte er seine Kraft völlig unter Kontrolle, nur seine Lippen…da war es anders. Meine Beine würden mich nicht länger tragen, das wusste ich und war so froh, als ich spürte, dass es ihm ebenso ging. Er sank mit mir zu Boden und ich fühlte, wie sein Herz gegen die Rippen schlug. Es pochte ebenso wie meines und kurz darauf waren sie im Einklang. Während ich meine Arme um seinen Nacken schlang, presste er mich, mit den Händen an meinem Rücken, näher an sich. Und wieder hätte die Welt untergehen können, ohne dass es mich auch nur im Geringsten interessiert hätte. Es tat mir schrecklich leid, aber ich musste kurz Luft holen und löste meine Lippen von den seinen. „Wir sollten aufhören“, wisperte er und ich wusste, warum ich es eigentlich nicht hatte tun wollen. Sein Gewissen meldete sich wieder, doch ich hauchte nur: „Ja, sollten wir“, und zog ihn zu mir hinunter. Er wehrte sich nicht und ich hatte die leise Ahnung, dass er froh war, dass ich sein Gewissen in diesem Punkt nicht teilte. Ein paar Augenblicke später zog er seinen Kopf nur millimeterweit zurück. „Du weißt doch, wie gefährlich das für dich werden kann.“ „Es ist doch nichts passiert. Du hast deine Kraft völlig unter Kontrolle“, seufzte ich und fühlte, wie heiß meine Lippen waren. Er grinste schief. Es war eine Mischung aus Belustigung und Wehmut. „Und ich habe dir gesagt, dass ich bei dir für nichts mehr garantieren kann.“ „Willst du denn wirklich aufhören?“, fragte ich so unschuldig, wie es mir in diesem Moment möglich war und biss mir auf die Unterlippe. Er stieß einen leisen Fluch aus und senkte sich zu mir herunter. „Du scheinst echt masochistisch veranlagt zu sein, weißt du das?“, wisperte er, bevor er mich küsste und ich lachte lautlos. „Nein, ich weiß nur, was gut für mich ist.“ Seine Lippen legten sich wieder über meine und ich schmolz in seinen Armen dahin. Es war so herrlich nicht denken zu müssen, einfach nur zu fühlen, zu genießen. Mir seiner Nähe, seiner Liebe bewusst zu sein, war ein so berauschendes Gefühl, dass es fast schon wieder schmerzte. Vielleicht hatte er recht und ich war eine Masochistin. Unsere Hände verflochten sich ineinander und ich fühlte sein wild schlagendes Herz, als er sich dichter und dichter an mich presste. „Es reicht…“, keuchte er und ich spürte, wie er zitterte. „Ist gut“, antwortete ich und versuchte die Sehnsucht in mir zu unterdrücken, um es ihm nicht noch schwerer zu machen. Er setzte sich auf und ich blieb ein paar Sekunden auf dem Boden liegen, weil ich wusste, dass ich noch nicht ganz die Kontrolle über meinen Körper zurückerlangt hatte. „Ich staune, dass es dieses Mal so einfach war, dich umzustimmen“, meinte er, noch immer außer Atem. Sein Brustkorb hob und senkte sich unnatürlich schnell. „Was hätte ich tun sollen? Mich schreiend und heulend auf dem Boden herum wälzen?“ „Nein, aber… Sag mal, geht es dir gut?“ „Sicher, ich glaub, ich kann nur noch nicht aufrecht sitzen, ohne gleich wieder nach hinten abzukippen. Gib mir ein paar Sekunden. Könntest du solange das Fenster zumachen?“ „Na klar.“ Er stand auf, ein dumpfes Geräusch folgte und endlich war die tiefe Stimme fort. Ich hätte nicht beschreien sollen, dass er sich solange nicht hatte blicken lassen, dachte ich und atmete tief ein. Endlich kehrte das Gefühl in Arme und Beine zurück und ich wagte den Versuch mich aufzusetzen. Es klappte und ich fuhr mit meinen Fingern durch die Haare, um sie glatt zu kämmen. Ich musste völlig wirr aussehen, doch Taylor lächelte nur glücklich vor sich hin. Dann machte ich mich daran, die Papiere und Formulare zusammen zu sammeln und packte sie in eine Schublade meines Schreibtisches zurück. Die Entscheidung würde bis später warten müssen. „Wir fahren morgen weg“, sagte er leise und etwas in seinem Tonfall deutete darauf hin, dass er nicht sich und mich meinte.  „Wohin müsst ihr?“ „Runter nach Kentwood. Übermorgen ist der Neunte Todestag meiner Mutter.“ Ich öffnete kurz den Mund, um etwas Tröstendes zu sagen, doch was konnte da schon helfen? Ein »tut mir leid« wäre längst nicht genug, stattdessen setzte ich mich neben ihn aufs Bett und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. „Wann wollt ihr losfahren? Bestimmt ganz früh, oder?“, wisperte ich und mir graute davor zu fragen, wann er wiederkommen würde. „Ja, sechs Uhr.“ „Und dann bist du hier bei mir? Du solltest schlafen gehen.“ Er achtete nicht auf meine Einwände und sagte: „Ich möchte nicht fahren und dann wieder schon. Nur kann und will ich dich nicht allein lassen…“ „Und ich möchte, dass du fährst. Ich lasse nicht zu, dass du an so einem wichtigen Tag nicht mit deiner Familie reist.“ Bei diesem Thema würde ich stark bleiben. Sonst hätte ich nicht weiter mit ihm diskutiert, aber ich wusste wie wichtig das für ihn sein würde. Zum Grab seiner Mutter zu fahren und auf seine Weise im Rahmen der Familie um sie zu trauern. Es war wichtig für ihn und so zog ich ihn hoch und öffnete das Fenster. „Los, geh!“ „Aber…“, begann er, doch ich legte einen Finger über seine Lippen. „Nein. Du gehst jetzt nach Hause, schläfst noch ein paar Stunden und rufst mich an, sobald ihr da seid. Damit ich weiß, dass alles in Ordnung ist. Wann kommt ihr wieder zurück?“ Er lächelte ganz leicht, doch seine Augen blickten traurig zu mir hinunter. „Am Mittwoch bin ich wieder da. Du willst wirklich, dass ich jetzt…?“ „Ja. Ich möchte, dass du jetzt gehst und denk daran, dich zu melden.“ Eine dunkle Stimme rief mich zu sich, doch Taylors Hände an meinen Hüften hielten mich fest und seine Lippen schmiegten sich sanft an meine. Mein Herz begann schneller zu schlagen und verdrängte den fordernden Wolf. „Sei bitte vorsichtig und halt dich vom Wald fern. Und nicht alleine unterwegs sein!“ „Du hast mein Wort. Aber, pass du bitte auch auf dich auf, ja?“ „Natürlich, ich melde mich morgen bei dir. Schlaf gut!“ „Du auch, obwohl ich dabei ja keine Bedenken habe.“ Er lachte lautlos und drückte mich kurz an sich, ehe er aus dem Fenster schlüpfte und mit einem letzten sehnsüchtigen Blick, hoch zu meinem Zimmer, in der Dunkelheit verschwand.

 

Als der Sonntagmorgen anbrach, war ich wie gerädert. Ich hatte lange kein Auge zugemacht, weil ich Angst vor den Träumen hatte. Doch ich war verschont geblieben. Mein Blick fiel auf den Wecker. Es war Sieben Uhr, sie waren also bereits aus Crystal Falls raus und auf dem Weg nach Kentwood. Ich seufzte und drehte mich noch einmal im Bett um, als ich plötzlich den kleinen Zettel sah. Mein Gehirn realisierte dieses kleine Detail erst etwas später und dann setzte ich mich auf und öffnete das Kärtchen. Ich erkannte die Schrift Taylors und lächelte leicht.

 

             Der Wald ist tabu, vergiss das nicht. Vermiss dich jetzt schon. Ich liebe dich.

                                                         Taylor

 

Darunter war später etwas hinzugefügt worden. Es hatte kaum noch Platz, wahrscheinlich ein spontaner Einfall.

 

                            Du siehst wundervoll aus, wenn du schläfst.

 

Ich war kurz davor nach meinem Handy zu greifen, doch ich überlegte es mir anders. Während ich kurz tief einatmete und meine Beine aus dem Bett hing, während ich mich an die Kante setzte, hörte ich, wie unten das Wasser angestellt wurde. Mein Vater war ebenfalls wach. Der Sonnenaufgang war wunderschön und die Strahlen fielen durch mein Fenster genau in mein Gesicht. Ich würde es schaffen. Mittwoch hatte er gesagt, würde er wieder da sein, das würde ich doch wohl durchhalten. Ich schlang meine Arme um meinen Körper und ging dann ins Badezimmer, um mich fertig zu machen. Carly und ich könnten mal wieder etwas unternehmen und Kelly würden wir auch mitnehmen. Ein Mädels-Tag würde mir gut tun. Nachdem mein Dad und ich gefrühstückt hatten, hatte er mir verkündet mit Henry angeln zu fahren. Während ich mit Carly besprach, was wir tun könnten, packte er sein Zeug zusammen und drückte mir dann einen Kuss auf den Kopf. „Viel Spaß, Dad. Bis heute Abend.“ „Wenn sie nicht beißen, komme ich früher zurück. Liebe Grüße an Carly.“ Er schien sehr zufrieden. Was wohl hauptsächlich daran lag, dass ich nichts mit Taylor unternahm. Die Tür fiel ins Schloss und ich widmete meine Aufmerksamkeit wieder meiner besten Freundin. „Rufst du Kelly an? Ich warte dann auf euch vor dem Haus. Bis gleich.“ „Bis gleich, Süße.“

Wir hatten uns auf das kleine Café geeinigt, das von Rosie, einer niedlichen Dame Ende Dreißig, betrieben wurde. Es befand sich nahe der Billardhalle Henrys und war an sonnigen Tagen, wie diesem, ein beliebtes Ziel der Bewohner Crystal Falls‘. Von innen war es in hellem Rot und Orange gestrichen und Rosie verkaufte dort alles Mögliche. Natürlich Kaffee, sowohl heiß als auch als Eiskaffee. Allerlei anderer Getränke. Kuchen, Kekse, selbstgemachtes Brot und ihre berühmte Marmelade. Eigentlich war es mehr Bäckerei, als Café, aber sie bestand darauf es so zu nennen und alle hier hatten es auch so übernommen. Vor dem kleinen Gebäude standen dunkelbraune Tische und Stühle aus Rattan. Ich liebte den Geruch, der aus dem Ofen im hinteren Teil stieg und wir wählten einen Tisch, der ohne Sonnenschutz aufgestellt worden war. Als Rosie unsere Bestellung aufnahm, lächelte sie fröhlich in die Runde. „Ihr seht bezaubernd aus, meine Damen. Habt ihr euch abgesprochen?“ Wir alle trugen einen weißen knielangen Rock, Ballerinas und Tops mit Spagettiträgern. Carlys war orange, Kellys gelb und meines rot. „Das ist tatsächlich nur Zufall“, antwortete Kelly und Rosie schwebte davon. Sie war eine hübsche Frau, schlank, hatte schwarzes Haar und grüne Augen. Ihr Mann war vor einigen Jahren unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben, doch sie hatte sich niemals unterkriegen lassen und dieses Café eröffnet, das jetzt seinen Namen trug: George. Während wir auf unsere Getränke warteten, brachte ich mich in die perfekte Position, um jeden noch so kleinen Strahl Sonne aufzufangen. Ich wandte der Wärme direkt mein Gesicht zu und streckte auch die Beine aus. „Ich war ja ziemlich überrascht, dass du dich an einem Sonntag mal wieder mit uns triffst“, meinte Carly und setzte ihre Sonnenbrille auf. „Wie bitte?“ „Nun ja, wir haben dich an den Wochenenden lange nicht zu Gesicht bekommen, wenn du verstehst…“ Und ob ich verstand. „Tut mir leid, aber ich bin mit Taylor einfach so glücklich und möchte eben jede Minute mit ihm nutzen. Ich mache das wieder gut. Was haltet ihr von Kino nächsten Freitag? Ich lade euch ein.“ „Lilly, wir verstehen dich doch. Carly wollte dich nur ein bisschen aufziehen. Aber Kino klingt super, ich bin dabei“, verkündete Kelly und nahm Rosie, die eben strahlend mit einem vollen Tablett neben uns aufgetaucht war, ihren Eiskaffee und den Apfelkuchen ab. „Sie hat Recht. …Und gegen Kino habe ich auch nichts einzuwenden, ich werde mich mal über die Filme erkundigen. Danke, Rosie.“ Carly nippte an ihrem Latte Macchiato und ich stellte meinen Cappuccino mit extra Schaum vor mir auf den Tisch. Mein Handy, dass sich ebenfalls darauf befand, leuchtete auf und vibrierte kurz. Ich hatte es auf lautlos gestellt, damit sich die anderen Gäste und vor allen Dingen meine Freundinnen nicht belästigt fühlten. „Lass mich raten, Taylor?“ Ich öffnete die Textnachricht und nickte. »Autofahren ist langweilig, wenn man nicht selbst am Steuer sitzt. Sean geht mir jetzt schon auf die Nerven. Unternimmst du wenigstens was Gutes?« „Er langweilt sich…“ „Dann schreib ihm, er soll herkommen. Er kann auch Sean mitbringen“, Carly versuchte dieses Detail beiläufig einfließen zu lassen, doch ich spürte, wie sehr sie ihn vermisste. „Das geht nicht. Sie sind auf dem Weg nach Kentwood. Morgen ist der Todestag ihrer Mutter.“ „Oh.“ Kelly sah mich traurig an, als ich die Nachricht abschickte, in der ich ihm mitteilte, was ich tat und mit wem. „Das wusste ich gar nicht“, murmelte Carly und ich blickte sie leicht lächelnd an. „Damit gehen die beiden ja auch nicht hausieren. Taylor hat es mir auch erst gestern Abend erzählt. Sie kommen Mittwoch wieder zurück.“ „Na, das wird ja merkwürdig. Eine Lilly ohne ihren Taylor.“ Ich streckte ihr die Zunge raus und blickte dann auf die neue Nachricht. »Dad meinte, wir kommen heute Abend irgendwann an. Mal sehen, was die Leute davon halten uns wieder zu sehen. Ziehen sie dich auch damit auf, dass du alleine bist?« Ich lachte leise auf und schaute dann Kelly und Carly nacheinander an. »Und ob sie das tun. Wir scheinen wirklich oft beieinander zu sein. Sie erkennen uns schon nicht mehr ohne den anderen.« „Ach herrje. Heute Abend ist ja wieder Versammlung“, seufzte Kelly, nachdem sie den Bürgermeister über die Straße gehen sah. „Steht bald wieder ein Fest an? Das wäre dann ja das einzige Thema, das besprochen werden müsste“, fragte ich und die beiden zuckten mit den Schultern. „Wenn keines ist, dann sucht er sich ein anderes langweiliges Ereignis. Du kennst ihn doch. In der ganzen Zeit Crystal Falls‘ ist noch nie eine Versammlung ausgefallen, ich hab es nachgeschlagen.“ „Aber es wurde mal eine kurzzeitig unterbrochen“, fügte Kelly hinzu und bedachte dabei mich mit einem Lächeln. „Nachdem aber meine Eltern mit mir ins Krankenhaus gefahren worden waren, wurde sie fortgeführt, soweit ich weiß. Der lässt sich nicht mal durch eine Geburt davon abhalten.“ „Ja, so ist er, unser Mr. Cooper.“ »Steigen jetzt ins Flugzeug. Melde mich, wenn wir angekommen sind. Ich liebe dich.« „Hey, Süße. Was ist denn los?“ Eine Träne rann meine Wange hinunter, ich wischte sie fort und schickte die Nachricht ab. »Ich liebe dich auch!« „Ich weiß auch nicht…“ Es war merkwürdig, aber während ich die letzten drei Worte seiner Nachricht noch einmal las, hatte ich das Gefühl, ihn mehr denn je zu brauchen.

 

Die Versammlung war nach einer Viertelstunde beendet. Es wurde nur darüber gesprochen, was in den Schulferien für Aktivitäten angeboten werden würden. Kenneth hatte die drei Woods vorher von der Versammlung abgemeldet, was auch als sehr positiv von Mr. Cooper gewertet und verkündet wurde. Ich war sehr stolz auf Taylors Vater, daran hatte er von ganz allein gedacht und es zeigte, dass er sich ernsthaft in diese Stadt integrieren wollte. Mein Vater und ich fuhren allein nach Hause und ich bereitete seine gefangenen Fische vor. Morgen würde ich sie dann zum Abendessen braten. Es waren nicht so viele wie sonst, aber wir waren ja auch nur zu zweit. Während er in einem der Sessel saß und die Nachrichten sah, lümmelte ich auf der Couch und blickte immer wieder auf mein Handy, dass ich mir gegen die Brust presste. „Ich gehe nach oben und lerne noch ein bisschen. Gute Nacht!“ „Gute Nacht, mein Schatz.“ Er blickte mit einer hochgezogenen Augenbraue auf das Handy in meiner Hand. Lernen würde ich nicht, das war ihm klar.
 

Nachdem ich mir Schlafzeug angezogen und das Bett vorbereitet hatte, legte ich mich hinein und mein Handy auf meine Brust. Ich wusste, dass es ihnen gut ging, aber trotzdem beschlich mich ein wenig Angst. Was, wenn die Menschen sie dort nicht haben wollten und sie genau das spüren ließen? Dann plötzlich leuchtete das Display auf und das Handy vibrierte kurz. »Tut mir wahnsinnig leid. Hatte nicht eine ruhige Minute, seitdem wir hier sind. Konnte mich endlich davon schleichen. Bist du böse?« »Nein, bin ich nicht. Sind die Leute denn nett oder zumindest netter?« Ich zog mir die Decke über die Beine, die langsam kalt wurden und rückte das Kissen ein wenig zurecht. »Haben wohl gemerkt, dass wir wirklich an unserer Mutter hingen. Keine freudigen Umarmungen, aber sie reden mit uns.« »Das ist doch schon ein Fortschritt… Wo seid ihr untergekommen?« Kurz nachdem ich das Licht auf dem Nachttisch ausgeknipst hatte, vibrierte mein Handy länger. Er rief mich an. „Hey…“ „Gott, ist das schön.“ „Was?“ „Deine Stimme zu hören. Ich hätte nicht gedacht, dass mir allein dieses kleine Detail schon so sehr fehlen würde.“ Ich antwortete nicht und unterdrückte den aufsteigenden Kloß in meinem Hals, der die Tränen mit sich bringen würde. „Lilly, bist du noch dran?“ „Ja…“ „Ist irgendwas passiert? Geht es dir nicht gut?“ „Alles okay. Du…du fehlst mir einfach wahnsinnig.“ Ich vermied es ihm direkt zu sagen, dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als das er bei mir war. Denn wie ich ihn kannte, würde er dann sofort zurückkommen oder sich zumindest unglaubliche Vorwürfe machen. „Du mir auch.“ „Also, wo seid ihr untergekommen?“ „In einem kleinen Motel nahe dem Friedhof. Ist ziemlich traurig hier drin, aber für drei Übernachtungen reicht es wohl.“ „Kam denn deine Mutter gebürtig aus Kentwood?“ „Ja. Mein Vater hat sozusagen in Kentwood reingeheiratet und viele Leute hier hatten das Gefühl, dass er das Böse mit sich bringen würde. Als ihre geliebte Jill dann auch noch in dem Haus starb, dass er für sie gebaut hatte… Ich denke, sie werden nie wirklich darüber hinweg kommen.“ „Sie hieß Jill?“ „Habe ich das nie erwähnt?“ „Nein, aber du redest ja auch nicht viel über sie. Was ich damit in keiner Weise kritisieren möchte, wirklich nicht.“ Nachdem ich es ausgesprochen hatte, fühlte ich mich furchtbar. Wie konnte ich nur so taktlos sein? „Ist doch okay, Lilly. Ich weiß, wie du es gemeint hast.“ „Ich hätte es anders ausdrücken können.“ Es entstand eine kurze Pause am anderen Ende der Leitung und ich hörte, wie er eine Tür ins Schloss fallen ließ. Anscheinend hatte er das Zimmer oder sogar das Motel verlassen. „Sie war wundervoll. Die schwarzen Haare haben Sean und ich von ihr. Ihre waren ein bisschen länger als deine und sie hatte große braune Augen. Ich erinnere mich noch, dass sie immer nach Vanille geduftet hat. Soweit ich weiß hat sie mal Lehramt studiert und einige Zeit in einer Grundschule unterrichtet, aber nachdem sie Dad geheiratet hat, aufgehört zu arbeiten. Und dann kamen wir zur Welt und sie hatte alle Hände voll zu tun“, er lachte leise. Er schien sich an ein paar Momente mit ihr zu erinnern und ich ließ ihm Zeit. Ich stand auf und sah aus dem Fenster. Der Mond war hell und stand hoch über dem Wald. Es sah traumhaft aus und doch hatte man das Gefühl, dass er die Einsamkeit des Waldes noch mehr betonte. „Was für ein wundervoller Mond…“, meinte Taylor und ich lächelte kurz. Es war beruhigend zu wissen, dass wir dasselbe sahen. Wenigstens das hatten wir in dieser Nacht gemeinsam. „Ja, er ist wunderschön!“ „…Sie hätte dich sehr gemocht und ich bin mir sicher, dass ihr euch gut verstanden hättet.“ „Ich hätte sie auch sehr gern kennen gelernt. Sie scheint eine tolle Frau gewesen zu sein. Richtest du ihr morgen ganz liebe Grüße von mir aus?“ „Das mach ich. …Danke.“ „Wofür?“ „Das du bist, wer und wie du bist.“



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