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With your Wings

von

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Hals über Kopf

Wach auf...

Das leise Gemurmel, das an Ryokos Ohren drang, fühlte sich fast an wie der leise Singsang eines Radios. Es mischte sich in ihren Schlaf, durchzog ihre Träume und brachte das Mädchen schließlich so dicht an die Oberfläche seines Bewusstseins zurück, dass Ryoko das blasse Licht im Zimmer bemerkte. Müde, verschlafene Augen suchten in der Dunkelheit nach der Störquelle, doch die Stimme war verschwunden und das kleine Zimmer ganz und gar still. In der raschen Vermutung, nur geträumt zu haben, war Ryoko bereits im Begriff sich umzudrehen, als sie schließlich das Licht sah. Es war ein weißer, warmer Schein, der von irgendetwas auf ihrem Nachtisch ausging. Nun offenkundig verwirrt rieb Ryoko über ihre Augen, um sich gleich darauf auf die Ellenbogen zu stützen und die Hand nach dem Gerät auszustrecken. Für gewöhnlich bewahrte sie nur ihr Handy auf dem Nachtschränkchen auf, doch das lag ausgeschalten daneben.

"Nanu...?", murmelte Ryoko noch immer dösig. Sie schloss die Finger um das unbekannte Licht und zog das Gerät zu sich. Es war eiförmig, mit einem Karabinerhaken besetzt und wurde von einem großen Display und Knöpfen geziert. Der erste Gedanke, der Ryoko angesichts des unbekannten, scheinbar elektronischen Geräts durchzuckte, war der an ihre Tante. Bis auf ihren Geburtstag hatte Ryoko noch nie ein Geschenk von ihr bekommen und die begrenzten sich für gewöhnlich auch auf Schulsachen oder Süßigkeiten, deswegen konnte sie nicht glauben, dass das Gerät von ihr war. Doch kaum hatte Ryoko diese Überlegung beendet, erstrahlte das Ding plötzlich so grell, dass sie vor Schreck die Hand vors Gesicht warf.

"W-Was zum...!", stieß sie aus. Hastig begann sie mit dem Finger auf die Knöpfe zu tippen, doch das Gerät zeigte keine Reaktion. Stattdessen war es eine Bewegung in ihrem Augenwinkel, die Ryoko nun von dem Geschehen ablenkte. Noch immer geblendet von dem grellen Licht in ihrer Handfläche warf sie den Kopf zur Seite und erstarrte augenblicklich zur Salzsäule.

Das ist nicht wahr.

Der Fußboden ihres Zimmers schien sich von jetzt auf gleich in Luft aufgelöst zu haben. Stattdessen sah Ryoko eine kahle, verlassene Steppe mit Kratern und toten Bäumen, fast so, als blickte sie von oben aus dem Bauch eines Luftschiffes herab. Mit offenem Mund und geweiteten Augen starrte sie auf das Bild, das sich ihr bot, für den Moment vollends unfähig, etwas zu tun oder sich zu rühren. Und als hätte das Gerät in ihrer Hand auf diesen Moment gewartet, begann es sich plötzlich zu bewegen. Innerhalb einer Sekunde, die Ryoko nicht einmal vorausahnen konnte, wurde sie plötzlich und mit solcher Macht aus ihrem Bett gezogen, dass jede Gegenwehr unmöglich war. Aus purem Reflex versuchte sie noch, mit der Hand das hölzerne Kopfende ihres Bettes zu umgreifen, doch unter der Kraft des unbekannten Gerätes rutschten ihre Finger ab. Noch bevor der spitze Schrei sich aus ihrer Kehle befreien konnte, fiel Ryoko durch das Loch im Fußboden und verlor ihr Bewusstsein.
 

Wach auf...

Es war wie ein Déja Vu. Jener monotone Singsang, der Ryoko auch zuvor schon aus dem Schlaf geholt hatte, schien sich abermals wieder und wieder in ihrem Kopf abzuspielen. Eine ruhige, tiefe Stimme, doch so verlangend, dass Ryokos Lider zuckten.

"W-Wo...", flüsterte sie, als sie zu sich kam, doch die Erinnerungen an die letzten Momente in ihrem Zimmer erwachten erst in Ryokos Geist, als sie das Gerät bemerkte. Es lag in ihrer Hand, als hätte es jemand dort hingelegt - oder als hätte sie es die ganze Zeit über nicht losgelassen.

Das Licht!

Just als ihre Erinnerungen zu ihr zurückfanden, sprang Ryoko so hastig ins Sitzen auf, dass ihr Kopf einen unangenehmen Schmerz in den Rest ihres Körpers sandte. Einen Augenblick lang fasste sie sich an die Stirn, doch ihr Stöhnen wurde beinahe sofort unterbrochen.

'Wach auf!', verlangte die Stimme, nun plötzlich energisch und völlig klar verständlich in ihrem Kopf, 'Du bist in Gefahr. Nimm' eines der Eier und flüchte!'

Ryoko jedoch saß nur da und starrte völlig verwirrt auf die Umgebung vor ihren Augen. Die Worte in ihrem Kopf schienen kaum zu ihr durchgedrungen zu sein, denn Ryoko hatte soeben erst bemerkt, dass sie tatsächlich nicht mehr in ihrem Zimmer war. Zwar trug sie noch immer ihren gelben Pyjama und das merkwürdige Gerät in ihrer Hand, doch alles andere erinnerte kein bisschen mehr an das Leben, das sie bis eben geführt hatte. Stattdessen fand sie sich in jener kahlen, trostlosen Wüste wieder, die sie soeben schon von ihrem Bett aus betrachtet hatte. Knorrige, verdorrte Bäume und zerklüftetes Felsgestein ragten in die Luft wie verlassene, uralte Grabsteine. Ryoko sah Staub und Gestrüpp über den Boden rollen wie traurige Boten der Einsamkeit.

'Komm' zu dir!', verlangte da die tiefe Stimme abermals und zum ersten Mal schien sie Ryoko zu erreichen, denn sie zuckte erschrocken zusammen und suchte noch irritierter als zuvor in derUmgebung. Als hätte es ihr einen elektrischen Schlag versetzt ließ Ryoko das Gerät in ihrer Hand auf den Sandboden fallen, kaum war ihr klargeworden, dass es vermutlich Schuld an dieser Misere war.

'Verzeih' mir, dass ich dich herbringen musste', hörte Ryoko in ihrem Kopf, als sie sich endlich auf die Worte zu konzentrieren begann, 'Aber ich hatte keine andere Wahl.'

Vollends unfähig, die Quelle der Stimme ausfindig zu machen, richtete Ryoko ihren verwirrten Blick in den grauen, wolkenverhangenen Himmel über sich. Es gab keinen Zweifel daran, dass sie diese seltsame Person direkt in ihrem Kopf sprechen hörte, doch diese Gewissheit beunruhigte sie nur noch mehr.

"W-Wer bist du?!", verlangte sie zu wissen, doch die Worte kamen leise und zögerlich über ihre Lippen. Ryoko war viel zu ängstlich, um ihre Contenance zu behalten.

'Keine Zeit für Erklärungen', erwiderte der Unbekannte hingegen entschlossen, offenkundig froh, endlich von Ryoko gehört zu werden, 'Dreh' dich um.'

Es war fast, als hätte Ryoko das Unheil in dieser Anweisung erahnt, denn sie brauchte eine gefühlt endlose Zeit, um ihr Folge zu leisten. Als sie schließlich den ersten, scheuen Blick über ihre Schulter warf, brauchte es nur einen Bruchteil der Zeit, um ihren Magen krampfen und das Mädchen vor Angst drei große Schritte zurücktreten zu lassen. Dort, am östlichen Horizont dieser kargen Steppe, hatte sich ein langer, dunkler Schatten aufgetan, der sich überdeutlich auf Ryoko zubewegte.

'Du musst fliehen', verlangte die mysteriöse Stimme, aber Ryoko war längst zur Salzsäule erstarrt. Nun, da ihre Augen sich an die Distanz gewöhnt hatten, konnte sie es klar und deutlich sehen. Es war nicht eine, sondern eine ganze Gruppe von Silhouetten, die sich mit hastigem, entschlossenem Schritt in ihre Richtung bewegte und keine von ihnen war auch nur ansatzweise menschlich. Ryoko sah einen kleinen, trollartigen Umriss, der eine Keule trug, eine vierbeinige Kreatur mit langen Ohren und zwei kleine, fledermausartige Wesen, die neben ihnen herflogen. Weit eindrucksvoller jedoch war derjenige, der die Gruppe führte. Eine große, schlaksige Gestalt mit langen Gliedmaßen, Hörnern am Kopf und zwei großen, dunklen Flügeln. Das erste, das Ryoko zu diesem Anblick einfiel, war das Wort Engel. Doch diese Beschreibung schien jeder Wahrheit zu trotzen, denn der bloße Blick auf den Anführer dieser Gruppe sandte eine so unangenehme Gänsehaut über ihe Wirbelsäule, dass Ryokos Beine unkontrolliert zu zittern anfingen. Sie konnte nicht erklären, ob es an der Art lag, wie das Wesen sich bewegte oder schlichtweg an der Energie, die es umgab - was es auch war, es machte unumstritten deutlich, dass es nicht freundlich gesonnen war.

'Du musst fliehen', war die Anweisung in ihrem Kopf, nun mit einem Ton, der jegliche Widerrede ausschloss, 'Hörst du?'

Fliehen - doch wohin? Ryoko hatte längst schon ein Level der Angst erreicht, in dem sie nicht mehr dazu in der Lage war, eine objektive Entscheidung zu fällen. Stattdessen stand sie nur da, spürte das Zittern ihrer Gliedmaßen und starrte ihrem Schicksal entgegen. So lange, bis der Unbekannte abermals seine Stimme erhob und sie zurück in die Realität riss.

'Sie werden dich töten, wenn sie dich erwischen!', zischte sie nun selbst allmählich hektisch, 'Verstehst du nicht?!'

"D-Doch!", stieß Ryoko da aus, denn es war beinahe, als hätte sie dieses eine, simple Wort gebraucht, um endlich ihre Überlebensinstinkte zu aktivieren. Wenn sie nicht flüchten konnte, würde sie sterben. Die unbekannte Stimme hatte dem unausweichlichen Gefühl des Unheils, das sie beim Anblick dieser angsteinflößenden Gruppe dort am Horizont empfunden hatte, soeben eine Bedeutung verschafft.

"W-Was soll ich tun?", rief sie also unsicher, doch verzweifelt genug in Richtung der Wolken, um sich auf Hilfe zu verlassen.

'Sieh' nach Norden', kam auch prompt die Antwort, für die Ryoko in dieser Sekunde unendlich dankbar war, ganz gleich, von wem sie auch kommen mochte, 'Siehst du den Wald?'

Der Anweisung folge leistend, schickte Ryoko einen nervösen, hastigen Blick über ihre Schulter. Tatsächlich erstreckte ein ganzes Stück von ihr entfernt ein grüner Klecks in der Landschaft, der offenkundig von saftig blühenden Baumkronen gemalt wurde. In dieser kargen Umgebung eine solche Oase zu sehen kam ihr mehr als merkwürdig vor - seltsam genug, um es ohne die Hilfe des Unbekannten vermutlich als Fata Morgana abgetan zu haben. Dabei sprachen die Temperaturen kein bisschen dafür, dass sie sich in einer Wüste befand, denn die gnadenlosen Windböen ließen Ryokos Haut in ihrem Pyjama wieder und wieder erzittern.

'Dort bist du sicher. Du musst ihn erreichen, bevor sie dich kriegen', sagte die Stimme, 'Doch warte!'

Der letzte Einwand kam just in dem Moment, in dem Ryoko bereits im Begriff gewesen war, loszurennen. Mit einer steifen, zittrigen Bewegung blieb sie stehen, um abermals zurückzublicken.

"W-Was?", fragte sie, nun offenkundig hektisch, denn der Schatten am Horizont schien sie nun bemerkt zu haben - die Silhouetten hatten begonnen, sich viel schneller zu bewegen. Zudem trennten sich die schwarzen Gestalten und begannen sich in verschiedene Richtungen aufzuspalten, fast so, als wollten sie ihre Beute einkesseln. Allein der Gedanke daran tauchte Ryokos gesamten Verstand in solche Panik, dass sie ihre zitternden Hände zu Fäusten ballte.

'Hör jetzt genau zu!', verlangte die Stimme laut und energisch, um nicht wieder in Ryokos vor Angst rotierendem Geist verloren zu gehen, 'Nimm' eines der Eier, bevor du gehst. Pass' auf, dass es nicht kaputt geht!'

"E-Eier?!"

In diesem kurzen Moment der Panik schaffte es beinahe so etwas wie Wut in Ryokos Stimme, denn sie wollte einfach nur weg. Sie konnte nicht verstehen, wieso sie nun ausgerechnet nach einem Ei suchen sollte. Ganz offensichtlich war da etwas, das ihr ernsthaft etwas antun wollte, und sie...-

'Nun mach' schon!', verlangte da die Stimme harsch, fast als könne sie ihre Gedanken aufnehmen und bewegte das Mädchen endlich dazu, aus seiner Starre zu erwachen. Mit hektischen, unkoordinierten Blicken suchte Ryoko nun den Boden ab, ununterbrochen im Bestreben, nicht wieder und wieder Zeit mit Blicken über ihre Schulter zu vergeuden, die ihre Panik nur intensivierten. Stattdessen erspähte sie Dinge im Sand, die ihr zuvor nicht aufgefallen waren - bunte Fetzen von Plastik oder auch Stoff, zerbrochene Spielzeuge und an einem der riesigen Steine fand sich sogar etwas, das wie ein Teil einer Wiege aussah. Noch bevor Ryoko jedoch über diese Eindrücke nachdenken konnte, blieben ihre Augen an vier runden Objekten haften, die sich in den Wurzeln eines toten Baumes verkeilt und die Wüstenstürme deswegen unbeschadet überstanden zu haben schienen - Eier. Ein beherzter, hastiger Schritt brachte Ryoko zu ihnen.

'Nimm eines!', rief die Stimme und schien mit jedem Schritt, den die Feinde auf Ryoko zukamen, lauter zu werden, 'Halt' es gut fest und lauf' in den Wald! Und vergiss' nicht dein Gerät!'

Angesichts der Panik, die mit jeder Sekunde dieses Albtraums mehr Besitz von Ryokos Gedanken ergriff, hörte sie auf zu fragen. Mit einer Konzentration, die sie selbst nicht wahrnahm, leistete sie einfach nur noch Folge. Im Bruchteil einer Sekunde griff sie eines der Eier - ein Weißes mit roten Punkten - und warf es weg, weil seine untere Hälfte fehlte. Der nächste Griff nach einem weißen Ei mit orangefarbenen Streifen bescherte ihr einen Erfolg, denn es war in einem Stück. Ohne darüber nachzudenken oder eine bewusste Auswahl zu treffen klemmte Ryoko das Ei unter ihren Arm. Dann machte sie kehrt, rannte ohne zurückzublicken in Richtung der Stelle, an der sie erwacht war und umgriff mit einer einzigen, groben Bewegung das Gerät, das sie hierher gebracht hatte. Einzig die unzähligen Sandkörner, welche sich dabei unter ihre Fingernägel bohrten, vermochten Ryoko dabei einen Augenblick zurück ins Geschehen zu holen. Das hier war zu realistisch für einen Traum. Ein kurzer, pfeilschnell vorübergezogener Gedanke, der sogleich wieder zugunsten ihres Überlebens ausgelöscht wurde, denn es gab nur eines, auf das sie sich nun konzentrieren musste: Flucht. Das Gerät und das Ei fest umgriffen, stieß Ryoko sich im Sand ab und begann auf den Wald vor ihren Augen zuzulaufen.
 

'Lauf!'

Sie rannte so schnell sie konnte, doch nicht der Wald, sondern einzig die Wesen hinter ihr schienen näherzukommen. Ryoko hatte keine Ahnung, wie viele Kilometer sie von dem rettenden Schutz der Bäume entfernt war, denn ganz gleich, wie viele hektische Atemzüge ihre Lungen durch ihren Körper pumpten, die Distanz erschien endlos. Irgendwo im Hintergrund ihres Bewusstseins tat sich schon in dieser Sekunde die Frage auf, ob sie den Wald überhaupt erreichen konnte. Niemand versicherte ihr, dass es nicht doch eine Fata Morgana war - niemand bezeugte, dass die Stimme in ihrem Kopf ihr tatsächlich helfen wollte. Doch so sehr Ryokos Panik sie auch zu verwirren vermochte, der Unbekannte blieb die ganze Zeit bei ihr, sprach mit ihr und ermutigte sie, sich zu beeilen.

'Du schaffst es.'

Angetrieben von seiner Hilfe, doch noch immer durchweicht von Panik warf Ryoko abermals einen Blick zurück, um gleich darauf beinahe vor Schreck zu erstarren. Ihre Verfolger waren inzwischen so nahe, dass sie ihre Gesichter erkennen konnte und obwohl es schon vorhin deutlich gewesen war, wurde Ryoko in diesem Moment endgültig und eiskalt bewusst, dass es keine Menschen waren. Stattdessen erblickte sie die blutroten Klauen der geflügelten Kreatur, welche sich schon jetzt bedrohlich nach ihr ausstreckten und just in dem Moment, in dem Ryoko stolperte, sah sie etwas mit Wucht an sich vorbeirauschen, das keine feste Form besaß. All das geschah nur im Bruchteil eines Augenblicks. Ryoko verlor den Halt, fiel nach vorn und drehte sich gerade rechtzeitig auf die Seite, um das Ei in ihrem Arm nicht mit ihrem Gewicht zu zerbrechen. Noch während ihre Füße beim hektischen Aufstehen den Sand fortschoben, explodierte neben ihr ein Stoß purer Energie. Die Druckwelle war so mächtig, dass sie Ryokos Haar zurücktrieb und Sand und Steine in ihre Augen katapultierte. Ein Schrei von Angst entrann ihrer Kehle, denn nun hörte sie nicht nur die Schritte, sondern auch das Schlagen der Flügel ihres Verfolgers überdeutlich hinter sich.

'Lauf!', wurde Ryoko da so intensiv von der Stimme in ihrem Kopf erfüllt, dass sie zusammenfuhr, 'Du hast es gleich geschafft!'

Es war ein letzter, verzweifelter Blick in Richtung ihrer Rettung, der Ryoko abermals aufstehen ließ. Die Geräusche, ja gar den Atem ihrer Verfolger hinter sich rannte sie weiter, umklammerte das Ei und das Gerät in ihrer Hand und vergeudete nun keine Zeit mehr mit Blicken über ihre Schulter. Stattdessen streckte sie ihren Rücken, atmete so flach wie bei einem Marathonlauf und durchbrach das Dickkicht des Waldes schließlich in so einer Geschwindigkeit, dass sie erst Meter hinter den Bäumen tatsächlich realisierte, sie erreicht zu haben. Für den Bruchteil einer Sekunde drohte die Erschöpfung sie zu packen, doch zuvor warf Ryoko einen panischen Blick zurück.
 

Es war, als hätte sich Raum und Zeit verzerrt. Die Gestalten, welche bis eben so dicht auf ihren Fersen gewesen waren, zeigten sich plötzlich meterweit entfernt. Die Stelle, an der sie den Wald betreten hatte, erschien merkwürdig gebogen. Sie wusste nicht wieso, doch es kam Ryoko vor, als blickte sie durch ein Fenster in eine andere Welt. Die Monster, welche ihr bis eben nach dem Leben getrachtet hatten, liefen plötzlich desorientiert herum, als würden sie vergeblich nach etwas suchen. Ryoko vermutete, dass sie sehr schnell gelaufen war, doch zumindest das menschenähnliche Wesen mit den Klauen hatte sie beinahe eingeholt. Es hatte auf sie geschossen. Mit dieser Klarheit vor Augen fluteten plötzlich Tränen ihre Sicht. Das erstickte Schluchzen vermischte sich dabei mit den unregelmäßigen, vollends erschöpften Atemzügen, die sich wieder und wieder aus ihrer Kehle emporkämpften. Ryokos Hals brannte wie Feuer und mit der Gewissheit, in Sicherheit zu sein, sank sie einen Moment schlicht mit dem Rücken an einen der Bäume. Doch die Stimme in ihrem Kopf war noch immer da - und sie ließ ihr keine Zeit, lange zu verschnaufen.

'Gut gemacht.'

Sie lobte Ryoko sanft, fast mit einer Spur von Anerkennung und klang so ganz anders als noch zuvor. Dieser Wandel machte abermals deutlich, in welcher Gefahr Ryoko sich bis eben befunden haben musste.

'Komm zu mir. Wir können uns nun treffen', bat man Ryoko daraufhin, 'Hab' keine Angst. Ich will dir alles erklären.'

"Wo bist du...?", fragte das Mädchen. Nach diesem Sprint hatte Ryoko schlichtweg nicht mehr die Energie, den Worten in ihrem Kopf noch zu misstrauen.

'Geh' geradeaus, bis du den See erreichst. Dort warte ich auf dich.'

Mit dieser simplen Beschreibung verstummte die Stimme, als hätte sie Ryoko verlassen. Irritiert, doch nun auch mit einem winzigen Gefühl von Neugierde verschnaufte der Teenager noch einen Moment, ehe er sich schließlich erhob. Das Ei war ein wenig schmutzig geworden, doch wohlauf und zeigte keinen Kratzer. Kurz nach ihrem Sturz war Ryoko sich dessen gar nicht mehr so sicher gewesen. Auch das Gerät schien, wenn auch eingehüllt von Sandkörnern, noch zu funktionieren. So verängstigt Ryoko sich auch von all dem fühlte, was ihr heute widerfahren war - es wurde an der Zeit, einige Antworten zu finden. Das dieses Szenario hier kein Traum sein konnte war ihr schmerzlich, doch längst schon bewusst geworden. Nach einem weiteren Augenblick der Ruhe, in dem sie darauf wartete, dass ihr Körper zu zittern aufhörte, machte Ryoko sich auf den Weg. Sie musste denjenigen finden, der sie hierher geholt hatte.



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