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Slice Of Life

eine Kurzgeschichten- und Drabble-Sammlung
von

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The Cleanest I've Been

Ryous linke Hand streifte abwesend über den dünnen Stoff, der seine vernarbte Brust bedeckte, fand jedoch kein beruhigend kühles Gold und keine Lederkette, um sich daran festklammern zu können.

Seine rechte Hand hielt sein Handy. Die Nummer einer psychologischen Beratungsstelle, über die er im Internet gestolpert war, war bereits eingetippt. Sein Daumen schwebte über dem grünen Hörer-Symbol.

Landete dann aber doch auf dem kleinen Knopf für die Bildschirmsperre.

 

Er legte sein Handy beiseite und fuhr sich mit einem frustrierten Stöhnen durch die Haare.

 

"Hallo, mein Name ist Ryou Bakura. Ich hatte den Großteil meines Lebens über eine zweite Persönlichkeit in mir, die viele... nennen wir es 'schlimme Dinge' angestellt hat, und jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, was sie angestellt hat, passiert mit mir das, was ich auf Wikipedia unter 'Panikattacke' gelesen habe. In dem Artikel war auch ein Link zu 'Derealisation' und ich glaube, sowas hab ich auch? Die zweite Persönlichkeit bin ich inzwischen übrigens wieder los. Haben Sie da jemanden, an den sie mich verweisen können, der sich mit sowas auskennt? Jemanden, der mir glauben würde, dass diese zweite Persönlichkeit in einem Kettenanhänger gelebt hat und kein Teil von mir selbst war, all das - und noch so einiges anderes seltsam klingendes Zeug - aber nicht weiter hinterfragen würde? Bevorzugt jemand, der sich außerdem mit dem Alten Ägypten auskennt, wenn es geht. Und DuelMonsters. Aber schon mit abgeschlossener Ausbildung und Berufserfahrung im Bereich Psychologie, weil, ich würde wirklich wirklich gerne professionelle Hilfe für diese Panik- und Derealisations-Sache in Anspruch nehmen."

 

Niemand würde ihm glauben. Oder ihn auch nur ernst nehmen.

 

Ob er lügen sollte? Sich irgendwelche anderen, "realistischeren" Gründe für seine Probleme ausdenken? Oder ganz leugnen, dass er eigentlich schon eine recht genaue Vorstellung davon hatte, was seinem Gehirn die Stressreaktionen, die ihm aktuell den Alltag ruinierten, beigebracht hatte?

 

 

Es war ein Geschenk gewesen.

 

Er hatte geduldig in der kleinen Wohnung, die er und sein Vater damals in einer kleinen Stadt am Rande der Wüste ihr Zuhause nannten, gewartet, und der Ring war seine Belohnung gewesen. Ein hübsches Souvenir vom Basar.

Sein Vater hatte nicht gewusst, was er ihm damit antat.

 

Ryou hatte nie selbst eine der Grabstätten betreten, aus denen die Händler ihre Schätze gestohlen hatten, die für immer Diebesgut bleiben würden, egal durch wie viele Hände sie gegangen waren und vielleicht noch gehen würden.

Dessen war er sich sicher.

Eigentlich.

Zwar erinnerte er sich daran, seinem Vater einmal heimlich gefolgt zu sein, aber... diese Erinnerung war so verschwommen und lückenhaft, dass er sie sich genauso gut auch eingebildet haben konnte.

 

Ein Boot, das unter dem Vollmond leise über den Nil glitt.

Ein langer Gang, der tief unter die Erde führte.

Das Gefühl, alles nur zu träumen.

Sein Bett in ihrer kleinen Wohnung, das Schmerzen jedes einzelnen Atemzugs, Fieberkrämpfe, eine Stimme, die ihm versprach, in Zukunft ein wenig vorsichtiger mit ihm umzugehen, damit er ihrem Besitzer noch lange erhalten blieb.

Tränen. Vermutlich, weil er traurig war, dass sie umziehen mussten, immerhin hatte er in einigen der Nachbarskinder Freunde gefunden, von denen sich jedoch keiner von ihm verabschiedete. Ihre Eltern mieden ihn.

 

Sein eigener Vater mied ihn.

 

Setzte ihn, zurück in Japan, bei seinen Großeltern ab und war für lange Zeit nur noch auf dem Papier Familie.

Erst als er seine Hilfe für ein Projekt für das Museum brauchte, nahm er wieder Kontakt auf. Allerdings änderte das dann auch nichts mehr daran, dass sie im Laufe der Jahre zu Fremden geworden waren. Ryou konnte ihm nicht einmal böse sein. Er wäre ebenfalls vor sich weggelaufen, wenn er gekonnt hatte.

 

 

Inzwischen war er den Ring und seinen unerwünschten Untermieter losgeworden.

 

 

Trotzdem fühlte er sich nach wie vor unwohl in seiner Haut, hatte häufig das Gefühl, neben sich zu stehen und die Welt um sich herum wie durch eine dicke Wand aus Glas wahrzunehmen.

 

Und je näher er an sie herantrat, desto verzerrter wurde seine Sicht und desto weiter fühlte er sich von allem entfernt, und umso mehr zweifelte er an dem was er sah, hörte, roch, spürte, an seinen Erinnerungen, und dadurch entfernte er sich nur noch weiter von allem um sich herum und sich selbst und da war nichts, woran er sich festhalten konnte, die Welt rann ihm wie feiner Wüstensand durch die Finger, sein Herzschlag begann, in seinen Ohren zu dröhnen und unter das Dröhnen mischte sich ein stetig lauter werdendes hohes Fiepen, kalter Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn, seine Hände zitterten, seine Lungen streikten...

 

Und das, obwohl doch eigentlich alles okay war.
 

Der andere war weg.

Sein Leben gehörte wieder ihm.

Alles hatte sich zum Guten gewendet, zum Beispiel... .... also....
 

Er wachte seltender mit blutverschmierten Händen und der Angst, das Blut könnte das seiner Freunde sein auf?

 

Ja. Das klang positiv. Oder zumindest nach Fortschritt.

Na dann konnte ja nur noch eine strahlende Zukunft vor ihm liegen... oder so.

 

 

Ryou verschränkte die Arme auf seinem Schreibtisch, vergrub das Gesicht in ihnen und kniff die brennenden Augen zusammen.

 

Einatmen. Ausatmen.

Einatmen. Ausatmen...

 

Einatmen... Ausatmen...

 

Einatmen...

 

Langsam Ausatmen...

 

Tief Einatmen....

 

 

Langes, erschöpftes Seufzen.

 

 

Er richtete sich wieder auf, blinzelte die restlichen Tränen weg und zog seinen Laptop zu sich heran, das leichte Zittern seiner Hände ignorierend.

 

Hin und wieder vermisste er sein anderes Ich.

Früher hatte er wenigstens ihm die Schuld geben können, wenn sein Leben mal wieder den Bach runterging. (Und seinen Freunden. Manchmal. Ein bisschen. Er verstand ja, dass sie genug mit sich selbst zu tun hatten, aber... nun ja.)

Heute blieb ihm dafür nur noch er selbst. Und er hatte sich vorgenommen, sich Hilfe zu suchen.

Also würde er sich auch Hilfe suchen.

 

Er mochte noch nicht wissen, wie, aber irgendwo würde er schon fündig werden.

Bestimmt.

 

Seine Hand wanderte wieder reflexartig an seine Brust und verkrampfte sich, aus Mangel an einem anderen Halt, in dem Stoff seines Shirts.

 

Er war immer noch allein.

 

 

Aber auf dem richtigen Weg.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Jetz kümmer sich doch mal einer um das arme Kind! D: Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Jien
2017-04-14T14:31:50+00:00 14.04.2017 16:31
Wieder einmal ein sehr gutes Kapitel!
Man erhält hier einen echt guten Einblick in die Charaktere.
Interessant, dass dieses Kapitel auch potentiell den DSOD-canon mit einschließt - mit Ryou der seinem Vater vielleicht nachgeschlichen ist, aber so genau weiß er das nicht mehr weil mindfuck und deshalb it auch nicht ganz klar, wo der Ring nun letztendlich genau herkam. Das passt gut, wenn man Ryous (und Yugi's) Symptome von anfänglichem Gedächtnisverlust und der dadurch eingenommenen Rolle als unzuverlässiger Erzähler. Immerhin war Ryou damals noch ein Kind, d.h. entweder erinnert er sich wirklich nicht daran, woher der Ring kam und geht bei der Herkunftsgeschichte mit der naheliegensten Option (auf dem Basar gekauft, vom Laster gefallen, potato-potahto), oder er ahnt es schon, will seinen neuen Freunden seinen Vater aber nicht direkt als Dieb vorstellen.
Insofern passt, trotz inzwischen 2 1/2 bis 3 verschiedener Canons alles gut zusammen :-)
Antwort von:  Umi
14.04.2017 18:52
So ganz zufrieden war ich mit der DSOD-Version von Ryous Dad/der ganzen Story anfangs nicht, aber mit der ganzen "unreliable narrator" Sache funktionierts wieder ganz gut. Also, damit kann ich arbeiten XD
Thx für den Kommi! Freu mich dass es passt (wenn man lange genug davor saß, kann man selbst das ja irgendwann nicht mehr so hundertprozentig einschätzen) ^^
Von: abgemeldet
2017-03-20T19:51:11+00:00 20.03.2017 20:51
Oh je, der arme Ryou.
Aber es ist gut das er sich selbst Mud gibt und ja wirklich etwas für seinen Zustand tun will.
Hast du gut geschrieben. :)

Lg
Antwort von:  Umi
14.04.2017 18:52
thx, freu mich, dass es gefällt :)


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