Mariah und das Fehlen jeglicher Scham
Zum letzten Mal sah Robert in den Spiegel und fingerte an seiner Krawatte herum, aber sie blieb lediglich ein unansehnlicher Knoten. Er seufzte leise auf und lies den Kopf hängen. Unwillkürlich wanderten seine Gedanken zu Johnny, welcher ihm sonst immer die Krawatten gebunden hatte. Der Schotte konnte viele Dinge, die man ihm gar nicht zugetraut hätte, so unglaublich gut, während Robert vieles, was selbstverständlich sein sollte, überhaupt nicht hinbekam. Nicht, dass jemand außer den beiden davon wusste, aber...
Wenn er jetzt nur daran dachte, wie Johnny immer seine Hände auf die des Deutschen gelegt hatte, sie sanft zur Seite schob und in wenigen Sekunden einen ordentlichen Krawattenknoten band...die Wärme, die er bei jeder Berührung des Schotten verspürt hatte, konnte er immer noch fühlen.
Zum hundersten Mal zupfte er an dem Ding um seinen Hals herum, aber es blieb bei einem dicken Knoten, der trostlos vor sich hin baumelte. Beinahe sah es so aus, als habe er sich damit erwürgen wollen.
Er schüttelte den Kopf und versuchte, die Gedanken loszuwerden. Daran durfte er jetzt nicht denken! Diese Ehe war wichtig für die Zukunft seiner Familie, er durfte sich nicht blamieren!
Plötzlich hörte er eine Stimme, die ihn durch die Türe rief: "Robert, wir müssen reden."
Mariah betätigte mehrmals die Taste, um weiter nach unten zu scrollen, aber zu ihrem Ärger war das Kapitel dort schon zu Ende. Sie lies missmutig ihr Handy sinken und murmelte: "Ach menno. Dabei muss ich wissen, wie`s weitergeht!" Lee direkt neben ihr schüttelte nur den Kopf, ehe er sich zu einer Antwort herabließ: "Was ihr Mädels immer mit diesen Geschichten habt! Was liest du da überhaupt, du klebst ja schon seit zehn Minuten an dem Ding!" Die Pinkhaarige verzog das Gesicht und bedachte ihren Bruder mit einem säuerlichen Blick. "Es geht um Liebe. Ray bräuchte ich das nicht zu erklären!"
Ebenjener zuckte bei der Erwähnung seines Namens leicht zusammen. "Tja...haha", murmelte er dann und zuckte mit den Schultern, weil jeder ihn anstarrte und auf eine Antwort wartete, "Wir sind ja eigentlich hier, um Olivers Geburtstag zu feiern und nicht, um die Internetverbindung zu bestaunen." Er wandte sich an den Franzosen. "Ist das wirklich in Ordnung, wenn wir dich alles zahlen lassen?" Der seit heute Siebzehnjährige nickte leicht. "Natürlich, ich habe euch schließlich eingeladen. Was für ein Gastgeber wäre ich, wenn ich euch zahlen ließe?" Erst dann blickte er sich im Raum um. "Wo steckt eigentlich Robert?", fragte er niemand bestimmten.
"Klo, schätze ich", antwortete Rick schließlich, als niemand sonst sich zu Wort meldete. Oliver verzog zwar ob der Wortwahl ein wenig das Gesicht, lächelte aber und nickte.
"Sagt mir lieber, ob das hier stimmt!", begehrte Mariah plötzlich auf und fixierte die Majestics leicht erwartungsvoll. "Ob was stimmt?", hakte Johnny nach. "Na, ob du und Robert wirklich zusammen seid! Wolltet ihr echt gemeinsam abhauen?" Tatsächlich hatte die Musik in diesem Moment ausgesetzt und man konnte sehr gut hören, wie Johnny nach Luft schnappte. "W...Woher hast du das denn?", fragte er dann. Mariah zuckte mit den Achseln. "Von der Website." "Welcher Website?", fragte der Schotte merkwürdig kleinlaut und die Pinkhaarige rief noch einmal den Text auf, ehe sie ihm das Handy reichte.
Dort stand zu Johnnys Entsetzen ziemlich genau beschrieben, was zwischen ihm und Robert so passiert war, wenn sie sich bei dem Deutschen getroffen hatten. Eingebettet waren diese Kapitel in eine ansonsten eher kitschige Liebesgeschichte, die so gar nicht stimmen konnte.
Passend zu seinem hochroten Kopf hörte Johnny auch noch, wie ein neues Lied begann. Es musste auch noch ausgerechnet "Let`s talk about sex" sein - peinlicher konnte es für den Schotten nicht mehr werden! "Wo kommt das denn her?", fragte Oliver, welcher sich ebenfalls über das Mobiltelefon gebeugt hatte.
Da sah Johnny aus dem Augenwinkel, wie Enrico versuchte, sich davonzuschleichen. Er blickte verwirrt zurück aufs Display und erkannte den Nickname des Autors: TheRichItalian
"Enrico! Sag mir, dass du das nicht getan hast!", brüllte er über die Musik hinweg und der Italiener erstarrte. Schnell drehte er sich um und meinte hastig: "Scusi, scusi, aber ihr ward so laut, dass ich euch hören konnte! Ist ja eine Website für Fangeschichten und nicht so, dass irgendjemand das ernst nimmt!"
Wortlos deutete der Shotte auf die noch immer schmachtende Chinesin. "Fast niemand", verbesserte sich der Blonde und setzte hinzu: "Außerdem hast du das gerade zugegeben, nicht ich."
Als die erwartete Reaktion - ein Wutausbruch von Johnny - ausblieb, verschwand das Grinsen von Enricos Gesicht. Stattdessen tauchte es bei Johnny auf, welcher über die Schulter des Blonden sah. "Enrico, es wird Zeit, dass wir uns über die Wahrung der Privatsphähre innerhalb des Teams unterhalten." Roberts Stimme klang so ruhig, dass es den Italiener gruselte. Wie in Zeitlupe dreht er sich um. "Wie viel Ärger kriege ich?", fragte er kleinlaut.
Als Antwort bewies Robert, dass der Boxunterricht in seiner Kindheit nicht verschwendet gewesen war - der linke Haken traf ins Ziel und ließ den vorlauten Enrico zu Boden sinken. "Sehr, sehr viel", meinte Robert nur noch und Enrico lies den Kopf auf den Boden sinken. "Accidenti!"