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Der Weg aus dem Kampf

Wenn Träume Berge versetzen
von

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Wasserfall

Kapitel 15

Wasserfall
 

Es war ihm am nächsten Morgen auch nicht möglich zu bestimmen, wann er eingeschlafen war. Der Geflügelte konnte nur sagen, dass bald die Sonne wieder aufgehen würde. Müde, aber nicht mehr fähig, sich noch einmal umzudrehen und weiterzuschlafen, erhob er sich und machte sich daran, das Frühstück zu bereiten. Als er alle Vorbereitungen abgeschlossen hatte, entledigte er sich seiner Rüstung und seiner Kleider und genehmigte sich ein ausgiebiges Bad.
 

Dhaôma erwachte erst mit der Sonne, als das Lied der Vögel sich änderte und das ungewohnte Plätschern von Wasser in seine Gedanken drang. Neugierig setzte er sich auf und beobachtete dann den Geflügelten im Wasser. Es war jedes Mal ein lustiger Anblick, denn die Flügel konnte er nicht lange eintauchen. Sicherlich war es unglaublich schwer, sie wieder herauszuheben. Versonnen lächelnd legte er das Kinn auf die Hände.
 

Die Blicke blieben dem Geflügelten nicht verborgen. Mimoun richtete sich auf und sah den Magier fragend über die Schulter hinweg an. Er versuchte sich noch ein wenig weiter zu drehen und auf seinen Rücken zu schauen.

„Hab ich da irgendwas?“ Für ihn war es schleierhaft, dass Dhaôma ihn so anstarrte.
 

„Nein.“

Vergnügt bewegte der braunhaarige Junge die Beine, so dass die Decke wackelte.
 

Noch einige Augenblicke vergingen, in denen er den Magier einfach nur ansah, bevor er sich wieder umdrehte und sein Bad beendete. Der Junge schien heute wieder besonders guter Laune zu sein. Das zu sehen tat ihm gut.

Nach seinem Bad legte er sich in den Sand und ließ sich von der Morgensonne trocknen. Nebenbei bediente er sich an dem vorbereiteten Frühstück.
 

Nach dem Frühstück setzte sich Dhaôma wieder in sein Boot und während Mimoun voraus flog und die Gegend auskundschaftete, ließ der Magier Äste und Zweige mit Blättern an seinem Boot wachsen. Das war gar nicht so einfach, weil es die Dynamik und das Gleichgewicht durcheinander brachte.

Er war so damit beschäftigt, dass er gar nicht wahrnahm, dass die Inseln bald direkt über ihm schwebten und ihre Schatten auf den Fluss warfen. Längst hatte er sich darin verloren, die Äste in eine ästhetisch ansprechende Form zu bringen.
 

Mimoun kehrte von einem seiner Erkundungsflüge zurück und schüttelte nur lachend den Kopf. Himmel, das konnte doch nicht wahr sein.

„Wie war das mit einfach und schlicht und unauffällig?“, fragte er amüsiert. „Du sollst kein Kunstwerk daraus machen, so nett ich die Idee auch finde.“ Ihm waren die Inseln nicht entgangen und seine Anspannung war in der letzten Zeit gestiegen. Doch was Dhaôma hier trieb, ließ ihn sich entgegen aller Logik ein wenig entspannen. Für jemanden, der nach eigenen Aussagen immer verborgen die Geflügelten beobachtet hatte, gerieten seine Verstecke irgendwie leicht auffällig.
 

Der Braunhaarige streckte den Kopf aus dem Blätterbaldachin. „Wieso nicht? Kann man von außen denn sehen, dass es ein Kunstwerk ist?“, wollte er wissen und sah sich um. „Oh, na gut, ist vielleicht alles ein wenig zu grün.“ Einmal atmete er tief ein und beim Ausatmen leuchteten seine Arme erneut. Die Blätter um ihn wurden gelblich und welkten. „Besser?“
 

„Ein wenig.“, lenkte der Geflügelte noch immer lächelnd ein. Zwar sah dieses filigrane Gebilde von Nahem noch immer sehr auffällig aus, denn kein Baum würde so wachsen, doch ein halb vertrockneter Baum, der den Fluss hinunter trieb, würde keinen Geflügelten dazu bewegen, sich die Sache aus der Nähe anzusehen.

Aufmerksam hielt er nach einer Stelle Ausschau, auf der er landen konnte, um eine kurze Rast einzulegen. Das erwies sich nun mit all dem welken Geflecht als schwieriger. Nur an der Spitze war Platz, aber den benötigte der Magier, um zu sehen, wohin ihn der Fluss trieb. Dennoch ließ er sich dort nieder, breitbeinig auf beiden Rändern stehend. Nur langsam trug er immer weniger Gewicht mit den eigenen Schwingen und verlagerte es aufs Boot. Abschätzig beobachtete er den Abstand zum Wasserspiegel, der schrumpfte.
 

„Mehr darfst du wirklich nicht wiegen.“, grinste Dhaôma. Bewundernswert, wie schnell der andere gelernt hatte, sanft zu sein. „Ich habe nachgedacht, Mimoun. Kennt ihr so was wie Briefe? Also, habt ihr Hanebito, die Nachrichten von einem Ort zu einem anderen bringen?“
 

Zögerlich nickte er. Irgendwie hatte er gerade ein ziemlich ungutes Gefühl. Und genauso misstrauisch war auch der Blick, der nun dem des Magiers begegnete.
 

„Dann könntest du deiner Mutter einen Brief schreiben. Dann wüsste sie zumindest für den Zeitpunkt, dass es dir gut geht.“ Er lächelte ihn an, kratzte sich verlegen am Kopf. „Sie hatte sich doch so schreckliche Sorgen um dich gemacht, als du verschwunden warst.“
 

Mimoun hatte echt Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. Der Magier war immer für eine Überraschung gut. So konnte man eigentlich ziemlich sicher sein, dass, wenn man vom Schlimmsten ausging, etwas ganz Banales dabei heraus kam.

„Ja. Das werde ich.“, lächelte er zurück und war bester Laune. Es war wirklich eine gute Idee. Nur schade, dass er keine Antwort darauf erhalten würde. Wie sollte ihn ein Bote auch aufspüren können?
 

„Wenn du ihr sagst, wo du zurzeit bist, dann kann sie dich besuchen kommen. Ich verspreche auch, dass ich ganz weit weg und versteckt sein werde.“ Dann runzelte er die Stirn. „Wenn es nicht zu weit weg ist.“
 

„Du bist wundervoll.“ Ein Gefühl von Wärme und tiefster Zuneigung durchflutete den Geflügelten bei diesen Worten. Schon wieder wollte er ihm die Möglichkeit bieten, seine Familie zu sehen.

Und in ihm erwachte das Bedürfnis, den Magier noch mehr zu unterstützen als ohnehin schon. Bei der Suche nach den Drachen konnte er nur als Begleiter und Beschützer helfen. Doch was die Beziehung zu den Geflügelten anging, war ihm gerade eine Idee gekommen. Nervös kaute er auf der Unterlippe herum. Die Frage war nur, ob es nicht zu riskant war.

„Als du…“ Er stockte. Seine Stimme klang selbst in seinen Ohren klein und zittrig. Tief atmete er ein und fing dann noch einmal mit fester Stimme an. „Als du vorhin nach den Boten gefragt hattest, hatte ich eine Befürchtung, die du so wundervoll mit Einfachheiten zerschlagen hast.“ Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ich befürchtete, du wolltest einen Brief an den hohen Rat schicken mit der Bitte um Audienz oder zur Durchquerung unseres Territoriums. Wenn du offiziell eingeladen wirst, wenn sie dir gestatten mit ihnen zu reden, dürfte dich für diese Dauer niemand anrühren. Aber niemand kann voraus sehen, was danach geschehen wird.“
 

Dhaôma starrte ihn entgeistert an. „Ich soll mit Diplomaten reden?“ Denn genau das war für ihn dieser Hohe Rat. Eine Gänsehaut kroch über seinen Rücken. „Wenn man das so nennen kann. Die meisten hochgestellten Menschen hören gar nicht richtig zu. Und wenn, dann ist ihre Meinung doch schon fest.“ Unglücklich schüttelte er den Kopf.
 

Weich lächelte Mimoun. Einerseits beruhigte es ihn, dass der Magier vor einer Konfrontation mit ihnen scheute. Doch andererseits…

„Warst du es nicht, der den Krieg beenden wollte?“, fragte er vorsichtig. „Dann solltest du oben anfangen, weil sie es sind, die den Krieg am schnellsten unterbinden können. Den Hass muss dann jeder für sich in einem langsamen Prozess bewältigen. Würdest du unten in der Hierarchie anfangen, würde es Ewigkeiten dauern und du müsstest jedes einzelne Dorf abklappern. Das kann ich dir nicht abnehmen. Es ist besser, wenn der Versuch und die Erklärung von einem Magier selbst kommen. Mich würden sie nur als von Magie manipuliert betrachten im schlimmsten Fall.“
 

„Und was soll ich ihnen sagen? Dass ich nicht weiß, was meine Leute denken? Dass ich nie mit ihnen über dieses Problem geredet habe, weil keiner zuhören will?“ Verzweifelt rang Dhaôma die Hände. „Ich kann mit ihnen reden. Ich würde es sogar tun! Aber Mimoun, ich habe Angst. Davor, dass sie dich mit reinziehen. Davor, dass sie meinen Versuch als Mittel sehen, mein Volk zu vernichten. Davor, dass meine Einmischung keinen Frieden schafft, sondern nur noch Öl ins Feuer gießt.“ Bittend blickte er ihn an. „Was soll ich tun, wenn ich alles nur noch schlimmer mache?“
 

Mimoun hockte sich hin, um nicht mehr völlig auf den Magier herabsehen zu müssen. Seine Flügel gerieten dabei ins Wasser und in die Strömung, doch es war kein störendes Gefühl.

„Dann sollte es so sein.“, erwiderte der Geflügelte ernst. „Dann wünschen sie wirklich den Krieg und wir können nichts daran ändern. Doch das werden wir erst wissen, wenn wir es versucht haben.“ Wieder huschte ein Lächeln über sein Gesicht. „Das ist eine Möglichkeit, die wir uns für später aufheben, einverstanden? Erst einmal suchen wir dir deinen Drachen. Und mit seiner Hilfe werden wir uns und alle, die uns wichtig sind, in Sicherheit bringen, wenn alle Stricke reißen.“
 

Alle, die ihm wichtig waren? Das wäre einfach. Mimoun einfach fesseln und irgendwo verstecken, aber das würde er ihm wohl nicht so leicht verzeihen. Außerdem hatte der Hanebito viele Menschen, die ihm viel bedeuteten. Die wollte er sicher nicht verlieren.

Er nickte leicht. „Schick ihr trotzdem einen Brief.“, kam er auf den Ursprung ihres Gesprächs zurück. „Wer weiß schon, wann du das nächste Mal die Gelegenheit dazu hast. Immerhin wollen wir ans Große Wasser und das ist sehr weit weg.“ Seine Mundwinkel zuckten leicht. „Und wenn du weiter dort vorne sitzen willst, dann dreh dich bitte um, weil es schon seltsam ist, wenn ein Hanebito mit einem Baum voller Blätter redet. Oder auch nur, wenn er so interessiert in sein Blattwerk schaut.“
 

„Vielleicht hab ich ja ein interessantes Tierchen entdeckt, das es zu retten gilt.“, schmunzelte der Geflügelte und erhob sich langsam wieder, immer auf das Gleichgewicht des Bootes bedacht. „Ich mach mich am Besten gleich auf den Weg. Du kannst schon mal weitertreiben. Ich hole dich sicher bald ein.“

Mit heftigem Flattern erhob er sich wieder in die Luft. Es war Kräfte zehrender, als sich einfach abzustoßen, doch er erinnerte sich gut daran, was das letzte Mal beinahe passiert war. Der Geflügelte schenkte dem Magier ein aufmunterndes Lächeln, bevor er sich umwandte und die am nächsten gelegene Insel anstrebte. Bei dieser handelte es sich um eine größere, auf der ein wenig angebaut wurde. Viele Geflügelte befanden sich dort und er wurde herzlich begrüßt. Man bot Mimoun Nahrung und Wasser an, die er dankend entgegennahm, und neugierige Fragen wurden gestellt, die er gern, so weit er konnte, beantwortete. Es dauerte eine ganze Zeit, sich von ihnen zu lösen, vor allem als ihnen klar wurde, wer er war. Verlegen kratzte er sich am Kopf. Nun war er wohl wirklich bis in die letzten Ecken bekannt. Das war ungünstig. So konnte man ihm leicht folgen.

Da ihm auf dieser Insel niemand bei seinem Vorhaben helfen konnte, wurde ihm der Weg zum nächsten Dorf gewiesen. Dort ging das ganze Spiel von vorne los. Neuigkeiten und Geschichten waren immer gern gesehen. Doch hier ließ sich wenigstens jemand finden, der gerne bereit war, ihm diesen Gefallen zu tun.

Viel konnte Mimoun seiner Familie nicht schreiben. Zwar rührte ihn das Angebot, dass Dhaôma gemacht hatte, doch es wäre für alle Beteiligten riskant. Und von ihrer Suche konnte er genauso wenig berichten. In einem Nebensatz vermerkte er die vollständige Genesung seines Flügels und richtete noch einmal tiefsten Dank für die zwischenzeitliche Unterstützung an alle Beteiligten aus.

Fast vier Stunden, nachdem er den Magier verlassen hatte, konnte er sich wieder auf den Weg zurück zu ihm machen.
 

Dhaôma hatte Mimoun nachgesehen und sich dann wieder seiner Magie gewidmet. Wenn er einige der Äste noch ein wenig umformte, dann hätte er eine Lehne.

Irgendwann nickerte er ein, angelehnt an seinen jetzt wirklich bequemen Sitz. Er hatte sich verausgabt und bekam nur am Rande mit, dass ein paar Stromschnellen ihn packten und mitrissen. Es zauberte aber ein Lächeln in sein Gesicht, als es vorbei war, bevor er ganz einschlief.
 

Sein Flug führte ihn auf schnellstem Weg zu dem Fluss herunter. Einzelne Windungen ignorierte er und folgte nur der Hauptrichtung. Mimouns Augenmerk lag die ganze Zeit auf den Fluten unter ihnen und als er endlich den treibenden Baumstamm sah, legte er noch einmal an Tempo zu. Wieder landete er vorsichtig an der Spitze des Bootes und lugte zwischen die Blätter und Zweige. Amüsiert erkannte der Geflügelte, dass der Magier eingeschlafen war. Völlig sorglos schlummerte er inmitten der welken Blätter.

Vorsichtig testete er, ob das Dachgeflecht sein Gewicht tragen konnte. Es knackte bedrohlich und er ließ es bleiben. Stattdessen erhob er sich wieder in die Luft und flog erneut voraus.

Was er dieses Mal entdeckte, behagte ihm überhaupt nicht. Wie erstarrt schaute er auf die Szene, die sich ihm bot, bevor er herumfuhr und all seine Kraft dazu nutzte, so schnell es ging zu dem Magier zurückzufliegen. „Wach auf!“, rief er und landete auf dem Boot. Zwar lagerte er nicht sofort sein komplettes Gewicht darauf, doch es reichte, um das Boot zum Schwanken zu bringen. „Du hast ein Problem!“
 

Das Schwanken weckte Dhaôma tatsächlich. Verschlafen rieb er sich die Augen. „Was ist los?“, nuschelte er und versuchte, selbige zu öffnen, was ihm nur bedingt gelingen wollte.
 

„Du solltest dieses Teil sofort ans Ufer bringen. Es dauert zwar noch ein wenig, aber da ist ein Wasserfall voraus.“ Misstrauisch beäugte er den Magier. Hatte er sich etwa schon wieder überanstrengt oder gab es einen anderen Grund für seine offensichtliche Müdigkeit? Er war doch sonst immer so schnell wach.
 

Ein Wasserfall?

Sofort war die Müdigkeit vergangen und er starrte erschrocken zwischen Mimouns Beinen hindurch. „Das wird das Boot sicher zerstören, wenn es einen Wasserfall runterstürzt!“, rief er und griff sich die Paddel. Das bisschen Raum, das unter den Ästen noch vorhanden war, reichte kaum, um sie großräumig zu bewegen, aber zumindest die Richtungsänderung klappte gut.
 

Mit einem zufriedenen Nicken nahm Mimoun zur Kenntnis, dass der Magier sofort reagierte. Es lohnte sich nicht, erneut in die Luft zu steigen, und so blieb er an seinem Platz, balancierte Schwankungen aus, die entstanden, als der Magier das Boot aus dem Strom manövrierte. Er schien dabei ein wenig Schwierigkeiten mit dem Platz innerhalb des Flechtwerks zu haben. Vielleicht merkte es sich dieser Junge für das nächste Mal. Praktisch, nicht künstlerisch denken. Aber das waren alles Erfahrungswerte, die jeder für sich sammeln musste.
 

Es kostete eine Menge Anstrengung, um das Boot ans Ufer zu manövrieren und in den letzten Zügen spürte Dhaôma auch schon die zunehmende Strömung. Am Ende lief er auf ein paar flachen Felsen im Wasser auf, so dass sich das Boot vorerst nicht bewegen würde.

Dhaôma krabbelte zum offenen Teil des Bootes, wartete, bis Mimoun abgestiegen war, dann kletterte er selbst heraus, um sich den Wasserfall anzusehen. Er war höher, als er befürchtet hatte, aber nicht so hoch, wie der, von dem er im letzten Herbst gestürzt war. Was schlimmer war, waren die Stufen, die gleich mehrere große, aufgewühlte Bereiche bildeten. Selbst wenn sein Boot nicht sank, war nicht gesagt, dass es aus diesen Becken wieder herauskam.

„Warum kann es kein normaler sein?“, fragte er frustriert. Er hatte sich soviel Mühe gegeben mit seinem Gefährt, da wollte er es nicht so einer Laune der Natur opfern.
 

„Das Leben gibt einem nur selten das, was man sich wünscht. Es ist so grausam.“, lächelte Mimoun. Er trat an Dhaômas Seite und sah ebenfalls auf die wirbelnden Wasser hinab. „Du bist ja ausgeruht. Bringen wir erst unsere Sachen nach unten und schleppen dann irgendwie das Boot drum herum.“ Es war nur ein Vorschlag und würde Kraft kosten. Aber es würde das Ding schonen, an dem sein Freund so zu hängen schien.
 

Nicht besonders begeistert von diesem Gedanken runzelte Dhaôma die Stirn. Das Boot was schwer. Das hatten sie schon bei der Jungfernfahrt festgestellt, aber er nickte. Besser, als die Arbeit dreier Tage den buchstäblichen Bach runtergehen zu sehen.

Seufzend richtete er sich auf und streckte sich. „Frisch ans Werk.“ Er war wieder wach. „Wenn ich das Wasser mehr beherrschen könnte, als nur Eis zu Wasser zu machen, dann wäre es so einfach…“ Er grinste und stupste Mimoun an. „Zum Glück warst du rechtzeitig wieder da, sonst wäre ich vielleicht ertrunken.“
 

„Hey. Ich hab dir das Leben gerettet. Schon wieder.“, stellte er gespielt erstaunt fest. Mit einem kurzen Haare wuscheln bei Dhaôma fügte er an: „Lass das nicht zur Gewohnheit werden.“ Dann beugte er sich in das Boot und fischte alles Erreichbare an Habseligkeiten zusammen. Manchmal waren seine Flügel auch wirklich hinderlich.
 

„Lass mich.“, Wieder krauchte der Junge in das Boot und schob dann alles nach vorne. Rucksack, Decke und ein Teil des Proviants behielt er und verschnürte alles fachgerecht, den Rest überließ er Mimoun.

Der Abstieg war nicht so schwer wie in den Wolfbergen. Es war flacher und dank ausreichender Vegetation gab es genügend Stellen, an denen er sich festhalten konnte. Schon kurz nach Start der Kletterpartie stand er unten und lud seine Sachen ab. Natürlich war Mimoun schneller gewesen, aber das ließ sich nicht ändern. Auf jeden Fall konnte er von unten besser beurteilen, ob ein Weg zum Tragen des Bootes ungefährlich genug war. Weit hinten gab es einen begehbaren Wildwechsel.

„Das wird ein Umweg.“, zeigte Dhaôma in Richtung des schmalen Weges.
 

Sein Blick suchte den Weg, den Dhaôma entdeckt hatte, und nickte zustimmend.

„Na, dann nehmen wir jetzt eine Abkürzung.“ Kurz entschlossen griff er den Magier wieder unter den Armen und flog ihn zum oberen Rand der Kaskaden. Dicht neben dem Boot ließ er ihn aus wenigen Handbreit Höhe fallen und landete grinsend neben ihm.
 

Lachend fing sich der Junge ab. „Du!“, schimpfte er und streckte ihm die Zunge raus. „Nur weil ich hilflos bin, kannst du dir so was erlauben!“

Insgeheim freute er sich, dass Mimoun ihn wirklich wieder tragen konnte, ohne selbst zu schwanken.
 

Aus dem Grinsen wurde ein Lachen. „Und ich brauch bei dir auch keine Konsequenzen fürchten. Du bist ja schließlich hilflos. Was willst du mir schon antun?“

Er wandte sich dem letzten zu bewältigenden Teil ihrer Ausrüstung zu. Während er vorne anpackte, griff Dhaôma am hinteren Ende zu und gemeinsam bugsierten sie das Boot den Wildwechsel entlang. Immer wieder setzten sie das schwere Holz ab und gönnten sich eine kleine Verschnaufpause. Für Mimoun war es schwer, da er das Gefühl hatte, dass das Boot ihn aufgrund der Schwerkraft immer nach unten drücken wollte, ihn schneller vorwärts schob, als ihm lieb war.

Nach Ewigkeiten, wie es ihnen schien, kamen sie unten an. Kaum lag das Boot wieder im Wasser, ließ sich Mimoun ins Gras sinken. Fest entschlossen nahm er sich vor, das nächste Mal die Klappe zu halten, keine dusseligen Vorschläge zu machen und das Teil einfach über die Kante zu schubsen.
 

Mindestens ebenso erledigt warf sich Dhaôma neben ihn und ließ alle Luft aus sich entweichen. „Jetzt ist es amtlich. Ich übe, das Wasser zu beherrschen!“, knurrte er.

Die Augen geschlossen vertrieb er alle Spannung aus seinem Körper und begann irgendwann wieder zu lächeln. Die warme Sonne ließ Probleme und Sorgen schmelzen wie Eis. Entschlossen setzte sich Dhaôma auf. „Ich fange gleich damit an!“, rief er, riss sich die Klamotten vom Leib und sprang in den Fluss. Das Wasser war kalt, aber das machte gar nichts. Es belebte seinen Geist und Körper, als er tauchte und schwamm. Sein erstes vollwertiges Bad seit dem Herbst. Ein tolles Gefühl.
 

Der Geflügelte hob träge den Kopf und sah dem Magier hinterher. Wie konnte der jetzt schon wieder so fit sein? Und er selbst sich so ausgepumpt fühlen?

Mimoun ließ den Kopf wieder sinken und döste in der Sonne. Egal. Er würde sich keinen Fingerbreit von der Stelle bewegen.
 

Sein Bad endete, als der Junge seine Kleider gewaschen hatte. Nach dem Absturz vor einigen Wochen hatte er das Blut nur provisorisch heraus gewaschen, aber nun waren sie sauber. Während er die Seidensachen wieder anzog, legte er seinen Kaninchenpelz auf einen Stein in die Sonne und aß erstmal was.

„Ai, Mimoun. Willst du auch was? Und ich muss wissen, ob wir heute noch weitergehen.“ Sonst würde er ein vollwertiges Lager errichten.
 

„Ja ja.“, murmelte Mimoun, hielt dem Magier auffordernd seine Hand entgegen und ließ sich etwas Fleisch reichen. Noch immer in Rückenlage kaute er auf dem Essen herum. Sie könnten noch ein gutes Stück schaffen, wenn sie wieder aufbrachen. Der Tag war schon fortgeschritten, doch es gab nichts, was hinderlich für eine Fortsetzung der Reise war.

„Wenn du das Dach verstärken würdest, könnte ich mich da oben drauf ausstrecken. Wäre bequemer als vorne zusammengequetscht zu sitzen.“, merkte er an.
 

Dhaômas Augen wurden weit, dann lachte er. „Wenn wir da mal nicht aus dem Gleichgewicht geraten, aber ich kann es gern versuchen.“ Nachdenklich betrachtete er sich seine Konstruktion und überlegte, wo er was ändern musste, damit das Boot nicht einfach sank. Wenn sie beide hinten saßen, dann könnte es durchaus sein, dass Wasser hineinlief. Und wenn er die Wände noch dünner machte, würden sie bald nicht mehr halten.

Als er beschloss, dass er es versuchen konnte, hatte er auch sein Essen beendet. „Es wird ein wenig dauern, aber ich kann ja ein Stück vorfahren, dann musst du auch nicht immer auf mich warten.“ Und schon belud er das Boot und schob es ins Wasser.
 

Mimoun sah dem Magier nach und rollte sich auf den Bauch, um auch von der anderen Seite gewärmt zu werden. Es würde nicht schwer sein, Dhaôma wieder einzuholen. Gähnend reckte er sich und grub seine Finger in den Ufersand. Könnte er ja noch ein kleines Nickerchen halten. Nur kurz.
 

Milde lächelnd sah Dhaôma noch vom Ufer zu ihm, bis ein Felsen ihn bedeckte. War ja kein Wunder, dass er müde war. Immerhin war er bis zu den Inseln hochgeflogen und zurück und hatte dann auch noch das Boot getragen. Da hatte er sich eine Pause verdient.

Vorsichtig belastete er die kunstvoll geformten Zweige, bevor er begann, sie zu stabilisieren, indem er einfach immer mehrere zusammenschmolz. Es war fürchterlich anstrengend, nachdem er schon den ganzen Vormittag diese Magie gewirkt hatte, aber Mimoun bat ihn so selten um etwas, dass er diese Aufgabe möglichst schnell erledigen wollte.

Als die Sonne sank, hatte er kaum etwas geschafft. Außerdem sah der Baldachin, egal, wie sehr er es versuchte, nicht mehr wirklich natürlich aus. Unglücklich steuerte er das Ufer an und zog das Boot an Land. Sein Pelz war wieder trocken und so zog er ihn über, schließlich durfte er kein Feuer machen. Müde rollte er sich zusammen und schlief bald darauf ein.
 

Die Sonne neigte sich schon stark dem Horizont zu, als der Geflügelte wieder erwachte. Irritiert sah er sich um. Es dauerte einen Augenblick, bis er sich wieder daran erinnerte, dass der Magier bereits vorgefahren war. Ausgiebig streckte er sich und schwang sich wieder in die Lüfte. Er wusste nicht, wie weit der Magier gekommen war, und ob er es bei dem immer mehr schwindenden Licht schaffen würde, ihn noch einzuholen, dennoch strengte er sich an. Wirklich mit dem letzten Gruß der Sonne sah er das Boot am Ufer ruhen und die zusammengerollte Gestalt daneben. Leise landete er etwas abseits und näherte sich zu Fuß. Vorsichtig, um den Schlafenden nicht zu wecken, suchte er in ihren Habseligkeiten nach etwas zu Essen und setzte sich neben den Magier. Er hatte gerade erst ausgiebig geschlafen und fühlte sich frisch und ausgeruht. Doch es gab kaum etwas, was er bei Dunkelheit zu seiner Beschäftigung tun konnte. Leise löste er die Schnallen seiner Rüstung und kramte in seiner Tasche. Er konnte sich mal wieder an die Pflege seines wertvollsten Besitzes machen. Das hatte er in der letzten Zeit ein wenig vernachlässigt.

Weit nach Mitternacht legte sich der Geflügelte endlich ebenfalls zum Schlafen nieder.
 

Es gab Geschrei am Fluss. Davon wachte Dhaôma auf. Ein paar Otter bekriegten sich gegenseitig und machten einen solchen Radau, dass an Ruhe unmöglich zu denken war. Der Junge beobachtete das sich streitende Pärchen mit Amüsement, bis der eine laut zeternd die Flucht ergriff.

Dann erst sah er, worum sie sich gezankt hatten: ihren Proviant. Das Ledertuch war zerfetzt und der Inhalt über den ganzen Boden verteilt. Gerade stürzte sich auch noch eine Krähe auf die Reste, als Dhaôma hochfuhr.

„Verdammt!“, rief er aus tiefstem Herzen und die Krähe, sowie der zurückgebliebene Otter machten, dass sie davonkamen. „Mistviecher!“ Den Mund verziehend hob er den Beutel auf. „Der ist auch hin. So was dummes aber auch.“
 

Mimoun wurde wie schon einige Wochen vorher durch einen lauten Schrei geweckt.

„Das darf doch nicht wahr sein.“, flüsterte er in seine Hände, die er vor das Gesicht schlug. Er war nicht müde, dafür hatte er genug Schlaf abbekommen, doch es war eine Unart des Magiers seinen Begleiter auf solch drastische Art und Weise zu wecken. Fluchend rappelte er sich auf und hielt Ausschau nach dem Grund für Dhaômas Ausbruch. Die Flüche, die er dem Magier um die Ohren hauen wollte, blieben ihm im Halse stecken, als er sah, was diesen so aufregte.

„Na prima.“, seufzte er und griff sich an den Kopf. Der Geflügelte sammelte den verstreuten Proviant wieder ein und schaute, was davon noch zu retten war. Das Frühstück würde wohl karg ausfallen.
 

„Es wird wirklich Zeit, dass wir mal längere Pause machen, damit wir ein paar Dinge erneuern können.“, meinte Dhaôma leise, als er sich neben Mimoun fallen ließ. „Ein neuer Wasserschlauch wäre auch nicht das Schlechteste.“ Und es würde eine sehr blutige Sache werden. Allerdings war dafür keine Zeit, solange über ihnen die Schwebenden Inseln drohten.

„Was hältst du von Erdbeeren?“ Schon kramte er in den verbliebenen Samen.
 

Erfreut nickte Mimoun. Er erinnerte sich noch daran wie er diese leckeren Beeren auf seiner ersten Reise vorgesetzt bekommen hatte. Und es wäre eine willkommene Abwechslung.

Die zusammengeklaubten Fleischreste trug er zum Fluss und versuchte sie von dem Sand und Gras zu reinigen. Er war mit dem Ergebnis nur bedingt zufrieden. „Soll ich schnell noch etwas jagen? Oder sollen wir während der Mittagsrast gemeinsam gehen?“
 

„Ich hätte ja Fisch vorgeschlagen, aber ohne Feuer ist mir das zu eklig.“ Entschuldigend sah der Junge auf. „Und nachdem ich hier so herumgeschrieen habe, ist es schwieriger, etwas zu finden.“

Er suchte weiter und fand endlich auch den winzigen grünenbraunen Samen, den er suchte. Schnell steckte er ihn in die Erde. „Ich hab auch den Baldachin ein wenig stabilisiert. Vielleicht kannst du dich dort oben hinsetzten und den Bogen einfach gespannt halten und auf Beute warten. Ich bin gestern an so vielen Tieren vorbeigefahren, ohne dass eines mich bemerkt hätte.“ Dass der Baum jetzt nicht mehr natürlich aussah, verschwieg er. Sicherlich hatte Mimoun das längst bemerkt und es war nutzlos, darauf herumzureiten. „Vielleicht muss ich aber auch noch ein wenig daran arbeiten.“
 

Das Wasser war ihm im Munde zusammen gelaufen, als der Fisch erwähnt wurde, und Enttäuschung kroch in ihm hoch, nachdem der Magier noch im selben Satz ablehnte. Und es wäre unfair nur für sich einen zu erbeuten. Musste er halt noch warten. Irgendwann bot sich ihm sicher noch die Möglichkeit Fisch zu essen.

„Solange du mich nicht in die Zweige mit einwebst, stört es mich nicht, wenn du weiterarbeitest. Und ich werde ja auch häufig voraus fliegen, um Ausschau zu halten. Oder nebenbei zu jagen und das Wild ausnehmen.“ Er stockte und ließ sich das durch den Kopf gehen. „Irgendwie finde ich, dass du ein sehr gemütliches Leben hast. Ich jage, ich achte auf den Weg und deine Sicherheit und du lässt dich vom Wasser treiben.“ Er grinste, um den Worten die Schärfe zu nehmen. Ihn störte dieses Leben überhaupt nicht. Er fühlte sich wohl so.
 

Der braunhaarige Junge zuckte gleichmütig mit den Schultern. Wenn es möglich wäre, würde er sofort mit ihm tauschen. Außerdem konnte Mimoun auch im Boot sitzen, wenn er das wollte.

In diesem Moment hörte Dhaôma ein leises Geräusch, das in seinem Hinterkopf Warnung auslöste. Ein kurzer Blick und er sah sie kommen. Eine Handvoll Hanebito mit direktem Kurs auf sie zu.

Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, als er sich umsah und feststellte, dass kein adäquater Sichtschutz in der Nähe war. Also tauchte er lautlos unter die Blätter seines Boots, das ihn verdecken würde. Von dort aus war es nur noch ein Schritt ins Wasser, in dem er entkommen konnte. Natürlich nur, wenn sie ihn noch nicht gesehen hatten.
 

Mimoun sah den schnellen Abgang von Dhaôma und sah sich hastig um. Nun sah auch er sie kommen. Fünf Geflügelte auf direktem Kurs. Das Herz rutschte ihm in die Hose. Seine Rüstung hatte er noch nicht wieder angelegt. Es jetzt zu tun, könnte als Provokation betrachtet werden. Dennoch wünschte er sich, er hätte sie bereits wieder an.

Langsam erhob er sich und sah ihnen aufmerksam entgegen. Alles, was er nun tun konnte, war abwarten. Hastig ballte er seine Hände zusammen und rammte sich die Fingernägel in den Handballen, um sein Zittern zu unterdrücken.

Wie zufällig wählten sie ihre Landeplätze so, dass sie im Halbkreis um ihn herum standen, hinter ihm der Fluss. Die Anspannung in dem jungen Geflügelten wuchs. Nicht eines der Gesichter kannte er. Von keinem konnte er sagen, wie sie reagieren würden. Und sie alle waren gerüstet und bewaffnet. Ihre Blicke wanderten suchend über den Lagerplatz und bei nicht wenigen ruhte er etwas zu lange auf dem Boot.

„Mimoun?“

Dieser wandte sich dem Sprecher zu, einem Mann fortgeschrittenen Alters, augenscheinlich der Anführer der kleinen Gruppe. Zögerlich nickte der Angesprochene. Er fühlte sich unwohl unter dem bohrenden Blick, der ihm direkt in die Seele zu blicken schien.

„Ich sehe, deinem Flügel geht es wieder gut.“, eröffnete der ältere Geflügelte das Gespräch.

Erneut nickte Mimoun. Schon jetzt fühlte er sich klein und verloren. Und es wurde nicht besser, als ein beinahe grausames Lächeln auf dem Gesicht seines Gegenübers erschien. Nun konnte der junge Geflügelte den Anflug eines Zitterns nicht mehr verbergen.

„Du weißt, warum wir hier sind?“

„Nein.“ Seine Stimme klang nicht ganz so fest, wie er es sich gewünscht hatte.

„Den Magier.“, verlangte der Ältere und streckte fordernd die Hand aus. Wie zufällig glitt sein Blick über das trockene Gestrüpp hinter Mimoun.

„Bitte?“ Das Beste würde es sein, sich erst einmal dumm zu stellen.

Der Gesichtsausdruck seines Gegenübers wurde spöttisch. „Der Hohe Rat wollte dir einen Auftrag erteilen, doch du warst nicht zu finden. Und deine Familie wollte nicht sofort mit der Sprache rausrücken, wo du abgeblieben bist.“, erklärte er und sprach dabei in einem Tonfall mit Mimoun, der diesen wie ein dummes, uneinsichtiges Kind wirken ließen. Er löste seinen Blick von dem jungen Geflügelten, der schlagartig blass geworden war, und begann einige Schritte vor ihm auf und ab zu gehen. „Du solltest den Magier auftreiben und zum Hohen Rat geleiten. Sie sind neugierig. Sie wollen ihn sehen. Kannst du dir vorstellen, wie erfreut ich war, als ich schlussendlich erfuhr, dass du dich bereits auf die Suche nach ihm gemacht hast?“ Er wandte sich wieder Mimoun zu. Dieser biss sich auf die Innenseite der Lippen und lauschte weiter schweigend. „Aber es war schwer, dich aufzutreiben. Es war ein Glücksfall, dass du dich mit deiner Familie in Verbindung setzen wolltest.“

„Und wie glaubt ihr, dass ich ihn gefunden habe?“ Mimoun verschränkte die Arme und ließ seinen Blick über die anderen vier schweifen, die sich bisher weder geregt, noch irgendein Wort gesagt hatten. Der junge Geflügelte wusste, dass Dhaôma Angst davor hatte, dem Hohen Rat gegenüber zu treten. Er würde es so weit wie möglich hinauszögern.

„Was ist das?“

Mimoun folgte dem Fingerzeig des Älteren und sah auf die Erdbeeren hinab. Wenn es eine Steigerungsstufe zu blass gab, hatte er sie jetzt erreicht.

„Erdbeeren.“, erklärte er locker. „Wollt ihr welche?“

„Mir ist hier so etwas noch nie untergekommen.“, erklärte der Anführer. Sein Ton war lauernd und jagte Mimoun einen Schauer über den Rücken. Dennoch konnte er sich zu einem Schulterzucken durchringen.

„Vielleicht hat sie der Fluss angetrieben.“

Der alte Geflügelte seufzte und rieb sich die Nasenwurzel.

„Ich habe keine Lust mehr, mit dir zu spielen. Rück den Magier raus.“ Sein Ton war eindeutig befehlend und fast zwingend.

„Ich weiß nicht, wovon du redest.“, erwiderte Mimoun fest. Was danach kam, war zu schnell, als dass er darauf richtig reagieren konnte. Die zwei zu seinen Seiten sprangen vor, packten ihn an den Armen und verdrehten sie mit einem harten Ruck auf den Rücken. Mit einem erstickten Keuchen ging er in die Knie. Zeitgleich griff der Älteste nach einem von Mimouns Flügeln. Mit Schrecken spürte der junge Geflügelte die kühle Klinge an seinem Flügelansatz anliegen.

„Das ist deine letzte Chance für eine friedliche Lösung.“, hörte Mimoun die gezischten Worte an seinem Ohr. „Wir können ihn uns auch einfach holen.“
 

In dem Moment, in dem Dhaôma hörte, dass es um ihn ging, glitt er ins Wasser. Es war wahrlich besser, sie fanden ihn nicht. Dann konnten sie Mimoun nicht deswegen bestrafen, dass er mit ihm reiste.

So leise er konnte, verdeckt von den Blättern des Bootes, watete er in die kühlen Fluten, in denen es zu seinem Glück sehr schnell tief wurde, dann holte er noch einmal tief Luft und tauchte unter. Erdbeeren waren das letzte Wort, das er hörte, bevor das kalte Wasser ihn vollständig umspülte. So kräftig er konnte stieß er sich ab, um in die Mitte des Flusses zu kommen. Inbrünstig wünschte er sich, das Wasser möge ihn schnell davon tragen, damit sein Freund in Sicherheit war.

In ihm erwachte eine Erinnerung. An eine ähnliche Situation, in der er im Wasser gewesen war, vollkommen von diesem eingehüllt. Damals hatte er Magie gewirkt, die nun unter seiner Haut brannte. Dhaôma ließ sie frei in der Hoffnung, dass sie etwas bewirken mochte. Sofort spürte er, dass der Fluss stärker an ihm zerrte.
 

Mimoun schluckte mehrfach schwer, bevor er auch nur ansatzweise in der Lage war, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Sie wussten doch offensichtlich, wo Dhaôma steckte. Warum holten sie ihn sich nicht einfach? Der Magier hatte sich zum Glück noch immer verborgen gehalten. Es war gut, dass er nicht den Kopf verlor.

Ernst und entschlossen sah er dem Anführer der kleinen Gruppe ins Gesicht, erwiderte den Blick nun ohne Furcht. „Warum zögerst du?“, fragte er eisig. „Ich überlasse ihn euch nicht. Da könnt ihr mir noch so sehr drohen. Es bringt euch rein gar nichts, mir meine Flügel zu nehmen. Er wird zum Hohen Rat gehen, wenn er selbst bereit dazu ist. Richtet ihnen das aus.“

Es vergingen einige Augenblicke vollkommener Stille, in denen Mimoun nichts außer dem rasenden Klopfen seines eigenen Herzens hörte. Schließlich zog sein Gegenüber die Klinge zurück und musterte den am Boden Knienden voll unverhohlener Wut über diese Widersetzung und Spott über den Versuch, einen wertlosen Magier zu schützen. Mit einem Ruck wandte er sich ab und strebte auf das Boot zu. Mimoun wehrte sich gegen seine Bewacher, doch gegen zwei und in seiner ungünstigen Position konnte er nichts ausrichten. Hilflos musste er zusehen, wie der Kerl sich hineinbeugte und mit der Hand den Hohlraum in dem Geflecht abtastete. Er griff nach etwas.

Mimoun biss sich auf die Lippen. Es gab nichts, was er tun konnte, um Dhaôma nun noch zu helfen. Umso größer war sein Erstaunen, als die Hand nur den Rucksack des Magiers zum Vorschein brachte, begleitet von einem unbändigen Wutschrei.

„Wo ist er?“ Mit Schwung landete die Tasche im Dreck vor Mimoun.

Dieser ließ alle Anspannung aus seinen Muskeln verschwinden und ein leises Lächeln erschien auf seinen Lippen, das sich bald zu einem Kichern ausweitete. Dieser Magier hatte es tatsächlich geschafft zu entkommen. „Viel Glück.“, murmelte der junge Geflügelte in den Wind. Er wusste, dass er nun nicht mehr so schnell zu seinem Freund zurückkehren konnte.

„Sucht ihn!“, herrschte der Alte seine Gruppe an. Sofort wurde Mimoun losgelassen und alle vier erhoben sich ohne Widerspruch in die Luft. Der junge Geflügelte selbst blieb dort hocken, wo er war. Mit einem zufriedenen Lächeln sah er zu seinem Gegenüber hinauf.
 

Dieser rotzfreche Blick war es, der den Mann letztlich dazu brachte, der unterdrückten Wut Freiraum zu lassen. Unwillkürlich holte er aus und schlug dem Aufsässigen ins Gesicht, dass ihm der Kopf herumflog. Mit Genugtuung bemerkte er, dass Blut aus seiner Nase tropfte.

Unterdessen waren zwei der Männer flussaufwärts und zwei flussabwärts geflogen. Erstere konnten freilich keinen Erfolg haben, doch letztere suchten das Wasser ab. Dem logischen Menschenverstand war es zu schulden, dass sie keine Zeit damit verschwendeten, die nähere Umgebung abzusuchen, die doch nur aus halbhohem Gras und vereinzelten Büschen bestanden. Sie hatten den Magier gesehen, bevor er unter den Blättern des toten Baumes abgetaucht war, also musste er zwangsweise entweder dort oder im Wasser sein.

Als Dhaôma zum Luftholen auftauchte, waren sie in Sekunden bei ihm. Einer packte den Jungen an seiner Tunika und hob ihn aus dem Wasser. Der gellende Schreckensschrei ging schnell in ein heftiges Zappeln und Fluchen über. Vor Schreck ließ der Mann ihn wieder los, befürchtete einen magischen Angriff, der nicht erfolgte. Der Braunhaarige verschwand nur mit einem weiteren Schrei im Wasser, bevor er prustend und planschend wieder an die Oberfläche kam.

„Es wäre besser, du gibst auf, sonst passiert deinem Freund noch Schlimmeres!“, rief der eine, während der andere seinen Bogen spannte.

Dhaôma war sofort ruhig, seine dunklen Augen angstvoll geweitet. Mit ruckartigen Schwimmbewegungen hielt er sich an der Oberfläche, bevor er schließlich nickte und ans Ufer schwamm. Schon als er triefend aus dem Wasser trat, waren die beiden da.

„Keine Mätzchen!“ Ein Bogen zielte auf seine Brust und Dhaôma verzichtete darauf, sich trocken zu schütteln. Er hob nicht einmal die Hände, um seine Haare aus dem Gesicht zu streichen, senkte nur den Kopf.

„Ich mache nichts. Lasst dafür Mimoun in Ruhe. Er hat nichts getan.“

Die beiden Hanebito wechselten einen zweifelnden Blick. Na, ob man dem glauben konnte? Warum sollte sich ein Magier tatsächlich damit erpressen lassen, einem seiner Feinde zu schaden? Oder sollte etwa wahr sein, was Mimoun erzählt hatte? Sollte dieser Junge tatsächlich pazifistische Veranlagung haben?

Der kleinere von beiden kam näher. Er ging Dhaôma gerade bis zur Schulter, war aber wesentlich breiter gebaut. In seiner Hand hielt er einen Dolch. „Los!“, fauchte er und deutete flussaufwärts. Es hätte nicht der Drohung mit dem Messer bedurft. Der Magier setzte sich in Bewegung. „Wage es nicht, deine Magie gegen uns einzusetzen!“, sagte der Mann dennoch und Dhaôma nickte.

Er hatte Angst. Viel schlimmere Angst als damals, als er Mimouns Mutter kennen gelernt hatte. Sie hatte keine Mordlust gezeigt und war nicht bewaffnet gewesen. Diese Männer aber hatten schon getötet, das konnte er in ihren Augen sehen. Und nur der Sorge um Mimoun war es zu verdanken, dass er noch gehen konnte und der Schwäche in seinen Beinen nicht nachgab.

Es war nicht weit zu ihrem Lagerplatz zurück. Dreihundert Meter hatte die Strömung ihn gerade mal getrieben, bevor er Luft brauchte und aus dem Wasser musste. Das war einfach keine geeignete Fluchtmöglichkeit, wenn man nicht unter Wasser atmen konnte. Schon von weitem sah Dhaôma Mimoun am Boden knien und Wut stieg in ihm auf. Was sollte das? Seine Stirn legte sich in Falten.

„Liebt ihr Gewalt so sehr, dass ihr selbst eure eigenen Leute auf die Knie zwingt?“, fragte er und seine Schultern strafften sich.



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