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Eine zweite Chance

Still a better Lovestory than Twilight
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Wir sind ein Schreiberduo und verfassen unsere Texte teilweise getrennt voneinander, teilweise abwechselnd oder in Zusammenarbeit. Die folgende, länger angelegte Geschichte ist ein Spin-off zu einer D&D Kampagne in einer frei erfundenen Welt, die meist nur als "Die Reiche" betitelt wird und wurde nur mit einer Leserin im Hinterkopf, mehr für uns selbst verfasst. Aber wir möchten uns gerne verbessern und nehmen konstruktive Kritik deshalb dankend an.


Die vorkommenden Personen sind, da wie bereits erwähnt ein Spin-Off, der bisher einzigen Leserin - und natürlich auch den Autoren - aus der Rollenspielkampagne größtenteils bekannt. Entsprechend kommen auch immer wieder Anspielungen auf Begriffe, Götter u.ä. aus dem D&D Universum vor. Wir hoffen, dass man der Geschichte trotzdem auch ohne längere Erklärung zu den Charakteren folgen kann und haben zudem ein Dramatis Personae angelegt, dass immer um die jeweils neu vorkommenden, wichtigsten Namen erweitert wird.

Wir wünschen viel Spaß bei der Lektüre und hoffen, wie immer, nur auf das Beste. <3 Komplett anzeigen

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Onkel Tiron

Der Abend legte sich langsam über die Felder und Hügel im Verlester Land und Amaro lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er blickte auf die letzten Tropfen Wein in seinem Glas. Süßlich mit einem leicht bitteren Nachgeschmack. Kein guter Wein, aber das Beste, was er sich in dieser Taverne noch leisten konnte.

Er streckte die Füße unter dem Tisch aus und dachte nach. Wenn er kein Lager für die Nacht mehr fände, müsste er den Heimweg noch im Laufe der Nacht antreten. Sein Proviant und seine Geldvorräte waren aufgebraucht, da er nicht geplant hatte so lange fortzubleiben. Sein ganzer Aufbruch vor wenigen Tagen war spontan und ungeplant, entsprungen einer plötzlichen Laune des fünfzehnjährigen, als der Streit der Eltern ihm zuviel wurde und sein Zuhause ihm plötzlich zum bedrängenden Gefängnis. Einfach nur raus, dachte er sich, warf ein paar Dinge zusammen und brach auf.

Ob seine Eltern sich Sorgen um ihn machten? Vermutlich ja, vorausgesetzt sie hätten endlich aufgehört zu streiten.
 

So ganz hatte Tiron noch immer nicht verstanden, warum seine Freunde ihn dauernd dazu drängten, mehr vor die Tür zu gehen - er war doch ohnehin den ganzen Tag nicht zu Hause, warum sollte er dann auch noch abends nach Feierabend rausgehen? Aber gerade Tulander konnte hartnäckig sein und vielleicht ließen es die "Jungs" ja auf sich beruhen, wenn er einen oder zwei Abende in einer Schenke verbrachte. Die Wahl war, pragmatisch, auf ein ansonsten eher wenig gut besuchtes Gasthaus nicht zu weit weg gefallen.
 

Amaro ließ sich das letzte bisschen Alkohol die Kehle herunterrinnen und stütze dann entschlossen die Arme auf den Tisch. Irgendeine holde Maid musste es in diesem Dorf doch geben, die ihm Unterschlupf für die Nacht gewähren würde! Er wäre auch nicht zu wählerisch, wenn er nur nicht die ganze Nacht durch laufen müsste. Und vielleicht spränge sogar noch ein Frühstück dabei heraus. Dass, oder er würde seine grazilen Finger dafür nutzen müssen auf dem nächsten Markt etwas zu stibitzen. Ob es Obstbäume auf der Strecke gäbe, wenn er jetzt den Heimweg einschlagen würde? Noch wäre es nicht zu spät und seine Mutter wäre mit Sicherheit schrecklich wütend, würde ihm aber trotzdem wieder alles vergeben am Ende. Ein gutes Buch, eine warme Mahlzeit und seine weiche Bettdecke warteten daheim auf ihn. Vielleicht würde seine Mutter ihm sogar selbst noch einen heißen Tee machen, bevor sie ihn ins Bett schickte. Oder ein warmes Bad... er müsste nur jetzt aufstehen, durch diese Tür gehen und am nächsten Abend wäre er daheim, wenn er sich gut anstellte.

Seine langen Finger trommelten auf dem Holz des Tisches nervös vor sich hin. Verzweifelt fuhr er sich mit beiden Händen durch das wirre Haar und drückte sich die Schläfen. Zurück, jetzt. Ja oder nein?

Und welche Maid könnte einem jungen Mann wie Amaro schon widerstehen, wenn er den Blick seiner warmen Honigaugen richtig einsetzte? Das einzige Problem schien, dass in unmittelbarer Umgebung keine Maid greifbar war, nur ein wohlhabend, wenn auch etwas steif wirkender Herr, der gerade mit einem Buch unter dem Arm den Raum betrat. "Lord de Varro, was für eine Ehre! Bitte..." Tja, entweder der Wirt hatte endlich Amaros verborgene Qualitäten erkannt und wollte ihn doch zu einem weichen Federbett und Getränken frei Haus einladen oder ...

Trotz des einsetzenden Dämmerlichts des Abends war es für Amaro klar, wenn er dort stehen sah. Er hatte seine Onkel väterlicherseits nie kennen gelernt, aber wer könnte dieser so angesprochene sonst sein, außer der Bruder seines Vaters? Die Ähnlichkeit der Zwillinge war offensichtlich, wenn auch sein Vater ein ganz anderer Typ war. Das Haar noch immer lang und dunkel. Frauen liebten es angeblich, durch langes, lockiges Haar zu fahren. Was für ein Glück, dass er solches geerbt hatte.

Er erhob sich von seinem Platz am Fenster und schlich leisen Schrittes von hinten auf seinen Onkel zu, um ihn noch etwas mustern zu können.

Das Abbild eines alternden Generals, genau so sah er aus. Er strahlte Würde aus, wo sein Vater Charisma und Charme hatte. Dieser Mann hier wirkte einfach nur steif.

Vielleicht war es doch nicht so schlimm ihn nie kennen gelernt zu haben, wie ein guter Spielgefährte für Kinder wirkte er nicht gerade. Er hatte auch keine, so viel hatte er von seinen Tanten mitbekommen. Kein Wunder, dachte Amaro.

Doch dann stieg Bitterkeit in dem Jungen auf. Hier war er also, davongelaufen von zuhause, ohne Geld, Proviant und Nachtlager, weil seine Eltern sein Zuhause in einen Kriegsschauplatz verwandelten. Und dort stand sein Onkel, der Lord. Wohlhabend, kinderlos, völlig uninteressiert an seinem Schicksal und dem seiner Familie. Nicht einmal hatte er sich bei ihnen blicken lassen, keine Briefe, Einladungen oder gute Wünsche waren jemals von ihm gekommen. Das Gut und der Titel der de Varros, ein Erbe von dem er wie sein Vater ausgeschlossen war und um den ihn trotzdem die Nachbarskinder beneideten.

Lächerlich. Und doch so komisch wie das Leben spielte.

Tiron de Varro wurde zunächst vom Wirt in Beschlag genommen, so dass er den herumschleichenden Jungen gar nicht bemerkte. Im Gegensatz zu seinem Bruder wurde das Haar des Lords zumindest an den Schläfen bereits grau und auch als er sich vom Hausherren zu einem freien Tisch führen ließ, viel deutlich auf, dass seine Bewegungen die federnde Eleganz nicht besaßen, mit der sich Narsil noch immer bewegen konnte. Mit sparsamen Gesten bestellte Tiron etwas, was klang wie "alles, nur keine Bohnen mit Speck" und einen Krug mit Wein, dann setzte er sich und schien den Rest des Schankraumes einfach auszublenden.
 

Amaro fuhr sich ordnend durch die Haare, während er ,von plötzlicher Wut ergriffen, auf den Tisch zuhielt den sein Onkel angewiesen bekommen hatte.

Er wusste nicht was er seinem Onkel sagen wollte. Er wusste nicht, was er überhaupt von ihm wollte. Außer einer Konfrontation, hier und jetzt.

Der Mond stieg über den Bergen von Verlest auf, als sich Amaro de Varro mit einer katzenhaften Bewegung auf den Stuhl gegenüber dem seines Onkels schwang. Er stütze sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch ab, faltete die Hände abwartend und musterte sein Gegenüber. Der Junge legte dabei ein Selbstbewusstsein an den Tag, als ob es das selbstverständlichste sei sich unaufgefordert an fremde Tische zu setzen und den dort sitzenden abschätzende Blicke zuzuwerfen. Tiron de Varro war einen Moment sprachlos über die Unverfrorenheit dieses Jünglings. Doch noch bevor er einen Ton über dessen Verhalten verlieren konnte, formulierten diese rosigen Lippen Worte, deren Inhalt nicht zu ihm durchdringen wollte.

„Hallo Onkel. So lernen wir uns also doch einmal kennen.“

Der Junge lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Er wartete offensichtlich auf irgendeine Form der Reaktion.

Honigfarbene Augen blickten ihn an. Kämpferische, honigfarbene Augen in einem Gesicht, dass er nicht kannte, dass ihm aber dennoch sehr bekannt vorkam.

Im ersten Moment wusste Tiron absolut nicht, was er sagen sollte, während die Worte langsam vom Ohr ins Gehirn wanderten. Das war nicht sein Neffe, er kannte die Kinder seiner Schwestern, war der erste Gedanke, also was erlaubte sich der Bengel eigentlich?! Der Bengel mit den hellen Haaren. Mit den Bernsteinfarbenen Augen.

Im Gesicht des älteren Mannes zeichnete sich deutlich der Wechsel von Ärger zu Bestürzung und Erkennen ab.

„Amaro?", fragte er noch immer nicht ganz überzeugt und warf dann einen raschen Blick durch den Raum, wie um sich zu vergewissern, dass nicht noch mehr Überraschungen im Schankraum warteten.

Es ist ihm also offensichtlich unangenehm mit mir gesehen zu werden, dachte Amaro. Das befeuerte seine Wut nur. „So, meinen Namen kennst du also immerhin. Onkel Tiron...“ Angriffslust funkelte in den Augen des jüngeren, bevor sich dieser besann und eine weniger bedrohliche Haltung einnahm. Lass den Feind dich niemals vollständig durchschauen, ermahnte er sich. Eine der Lektionen, die ihn seine Mutter gelehrt hatte. Er öffnete die Arme und sagte „es wäre nett, wenn du mir wenigstens etwas zu trinken anbieten würdest, wenn ich mir schon selbst zu einem Stuhl verhelfen musste.“
 

Tiron de Varro hatte sich vergewissern wollen, dass nicht auch noch andere Schatten aus der Vergangenheit anwesend waren. So wie der Junge sich benahm konnte er nicht leugnen, dass das Narsils Sohn war. Unverschämt und gewohnt, damit durch zu kommen. Einen Moment runzelte Tiron die Stirn, dann deutete er dem Wirt wortkarg, zu dem Krug zwei Weingläser zu bringen. Während der Wirt davoneilte, nutzte Tiron die Chance, seinen Neffen aufmerksam zu mustern und er konnte kaum umhin, den Knaben an den etwa gleichalten Kadetten in der Akademie zu messen. Das Ergebnis war für Amaro wenig vorteilhaft: er brauchte einen ordentlichen Haarschnitt, er hatte Grasflecken am Ärmel und er hatte sich auch nicht in irgendwelchen Schenken herumzutreiben. "Was machst du hier, Amaro?", fragte er deshalb, vielleicht ein bisschen barscher als beabsichtigt. Aber er wollte den Jungen auch nicht merken lassen, wie sehr ihn dessen plötzliches Auftauchen aus der Bahn geworfen hatte.
 

„Das könnte ich dich auch fragen lieber Onkel. Aber ich möchte dich nicht in Verlegenheit bringen und nehme einfach mal an, dass wir hier sitzen und gemütlich ein paar Gläser Wein trinken wollen. Oder ist dem nicht so?“

Amaro griff galant nach den Gläsern die der Wirt brachte, goss vom roten Wein für beide Männer ein und reichte seinem Onkel mit einem nonchalanten Lächeln ein Glas herüber.

„Wie geht es dir Onkel? Oh, warte. Ist das nicht vielleicht eine Frage, die du mir auch soeben stellen wolltest und die ich dir nach 15 Jahren ohne ein Lebenszeichen einfach aus dem Mund genommen habe? Wundervoll geht es mir. Was ich hier tue? Das Leben genießen, was sonst? Vielen Dank der Nachfrage.“

Die Lippen des Jungen formten einen säuerlichen Schmollmund, dem man nur allzu gut ablesen konnte, was dieser eigentlich zu verbergen suchte. Wäre seine Mutter hier um das zu sehen, sie würde den Kopf schütteln und an ihre eigenen Anfänge zurückdenken.

Doch Vater und Mutter waren nicht hier. Nur ein Onkel und sein Neffe und lange Jahre aufgestauter Emotionen.

Emotionen, von denen Amaro zu viel und Tiron zu wenig zeigte. Vor allem hatte er keine Ahnung, warum der Junge so angriffslustig war. Normalerweise sollte man doch gegen einen Mann, den man nicht kannte, auch nichts haben. Ja, er hatte sich von seinem Bruder und dessen Familie abgeschottet, aber alles andere hätte die Situation nur umso komplizierter gemacht. Das Glas mit Wein nahm er entgegen, nippte daran und stellte es dann beiseite. "Nachdem wir das geklärt hätten, dass es dir "wundervoll" geht - wissen deine Eltern, dass du dich hier rumtreibst?" Eigentlich hätte Tiron aus der Erfahrung mit Narsil wissen müssen, dass der schulmeisterhafte Tonfall auf taube Ohren stoßen würde, aber die Gewohnheit von der Akademie, störrischen Kadetten den Kopf zu waschen, ließ sich schwer ablegen.

Amaro lachte kurz und bitter auf. „Nein, meine Eltern haben keine Ahnung, nehme ich an.“ Er nahm einen tiefen Schluck vom schweren Wein und forcierte dann wieder seinen Onkel. „Ich bin mir nicht einmal sicher, dass sie mein Fehlen in der Zwischenzeit wahrgenommen haben. Ich denke ja, aber dafür hätten sie zumindest lange genug aufhören müssen zu streiten um auch nur einen Gedanken an mich verschwenden zu können. Und dafür lohnt es sich dann schon wieder.

Probleme die du nicht hast Onkelchen, nicht wahr? Keine Frau, keine Kinder, keine Sorgen, nehme ich an? Und die Familie des Bruders und dessen Sorgen, was ist das schon?“ Der Junge verschränkt wieder die Arme und das Licht der aufgestellten Kerzen funkelt in seinen Augen.

Nein, Onkel Tirons Probleme fingen gerade erst an. Ein kleines Zucken ging durch die bisher so ruhige Mimik des Lords.

Ihm fielen zwar ein Dutzend Gründe ein, wegen derer man sich mit Hildegard und noch deutlich mehr, weswegen man sich mit Narsil streiten konnte, aber so sehr, dass man das Fehlen des, seines Wissens, einzigen Kindes nicht bemerkte? Auf die Frage nach solchen Problemen schüttelte Tiron automatisch den Kopf, während er darüber nachdachte, wie er Amaro dazu bewegen könnte, mehr zu erzählen. Direkt nachzufragen schien eher nicht angebracht, also musste er... diplomatischer vorgehen. Mit ein bisschen Glück tickte der Junge im Großen und Ganzen wie sein Vater. "Vermutlich machen sie sich mittlerweile Sorgen! Hast du überhaupt schon etwas zu Abend gegessen?"

Er hatte vielleicht einige mögliche Reaktionen erwartet oder erhofft, aber Belustigung war keine davon gewesen. Jetzt rief der Junge sogar schon dem Wirt eine Bestellung für sie beide zu, die er mit einem Nicken bestätigte. Was auch immer, er wollte diesen Jungen ergründen und mehr Informationen bekommen
 

Er klang wie seine Mutter, dieser Onkel. Und reizen ließ er sich auch schwierig. Immerhin spendierte er schon mal ein Abendessen, damit wäre das Problem wenigstens gelöst.

„Vielleicht haben sie mich in der Zwischenzeit auch vergessen, wer weiß. Oder Vater läuft schon jede Taverne der umliegenden Dörfer nacheinander ab, selbstverständlich nur aus Sorge um seinen geliebten Sohn.“ der Spitze Tonfall des Jungen ließ Tiron de Varro stocken.

„Die Götter allein wissen, was meine Eltern jetzt tun, ich weiß es jedenfalls nicht.“

Amaro nahm genüsslich einen weiteren Schluck Rotwein, bevor er entschied weiterzusprechen.

„Und du wirst es wohl auch nicht wissen lieber Onkel. Du, der du deinen Neffen nach 15 Jahren zum ersten mal siehst und keine anderen Dinge zu sagen weißt, als ,was treibst du hier und wissen das deine Eltern?'. Du lieber Onkel, du weißt wohl am wenigsten.

Der Wirt brachte das bestellte Essen, dass der Junge trotz seines Hungers ignorierte. Er versuchte die Gefühle in ihm zu ordnen. Wut war da, aber auch Trauer, Enttäuschung, Bitternis. Und sie verleidete ihm in diesem Moment jeden Bissen.

Sein Gesicht wurde Ruhig, seine Züge entspannten sich. In diesem Licht sah er unschuldig aus und jung. Verletzlich.

Es war die Ruhe vor dem Sturm.
 

Tiron ging es mit dem Essen ebenso und so schob er den Teller zunächst an den Rand des Tisches. Wenn er Amaro so ansah, hatte er dem Jungen vielleicht doch Unrecht getan. Das war immerhin auch Hildegards Sohn und gerade sah er schrecklich jung aus. Und verletzlich. Tiron fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und sah Amaro dann wieder an. "Es tut mir leid. Ich wusste einfach nicht, wo ich anfangen sollte. Dein Vater und ich verstehen uns nicht sonderlich gut." Als wäre das eine geeignete Erklärung, 15 Jahre kein Lebenszeichen von sich zu geben. Und er war beunruhigt über Amaros Aussage. Sollte Narsil nicht sein Vagabundenleben längst aufgegeben haben und ein treusorgender Familienvater geworden sein?
 

„Oh, ihr versteht euch nicht gut!“ platzte es ungewollt aus Amaro heraus. „Na das erklärt natürlich alles!“ Er atmete einmal tief ein und setzte dann ruhiger fort. „Dein Bruder, mein Vater, ist ein Ausgestoßener in eurer Familie. Und ich ebenso. Nicht wert sich in 15 Jahren auch nur einmal nach ihm zu erkundigen. Und dass nur, weil meine Mutter eine Bürgerliche ist. Aber klar, ihr versteht euch nur einfach nicht gut. Das ist bestimmt der Grund, warum wir nicht auf Anlässen geduldet sind oder auf eurem Land. Warum meine Tanten mich immer heimlich besuchen kommen müssen und ich die Familie meiner Mutter als meine einzige kenne. Warum trage ich überhaupt euren Namen?“
 

Er setzt kurz ab und wirft einen abwesenden Blick auf den Tisch vor sich. Er hatte sich als kleiner Junge häufiger ausgemalt wie das Gut seines Vaters aussehen mag und nie verstanden, warum er nicht einfach dorthin und seine Großeltern besuchen könnte. Es hat viele Jahre gedauert, bevor die Tragweite seiner Situation Amaro klar wurde. Und jetzt wäre der Moment um sich einmal richtig Luft machen zu können. Aber was sollte er schon tun? Seinen Onkel beschimpfen und hoffen, dass nicht alles einfach an diesem abperlen würde, sobald er aus dieser Taverne herausging, zurück zu seinem Gut, seinem Land und Titel? Unwahrscheinlich.

Amaro wusste, dass er einen Mann der so viele Jahre seine eigene Familie ignorieren konnte nicht mit ein paar bösen Worten aus dem Mund eines dahergelaufenen Jungen treffen könnte, den er morgen wohl nie wieder sähe.

Was hatte seine Mutter ihn gelehrt? In einem Kampf mit einem unbekannten Gegner ist alles was du weißt ein Vorteil für dich. Also denk nach Amaro, schau hin, begreife. Was ist seine Schwäche, wo ist er angreifbar? Sein Ruf?

„Ich trage den Namen eines Mannes der den guten Ruf seiner Familie beschmutzt hat, indem er eine Bürgerliche ehelichte, richtig? Dafür wurden wir alle bestraft. Aber dem „guten Namen“ der Familie hat das nichts genützt. Oder war es Eifersucht Onkel, dass mein Vater offensichtlich schon immer mehr Erfolg bei Frauen hatte als du? Dich wollten sie nie, ihn schon. Noch heute. Bist du deshalb nicht verheiratet lieber Onkel?“
 

Wenn man so wenig Ahnung hat, Amaro, sollte man in Erwägung ziehen, den Mund zu halten brachte Tiron nach einem Moment der Sprachlosigkeit zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Gleichzeitig verriet seine Körpersprache, das leichte Zurückweichen, ein Flackern in den blauen Augen, dass Amaro getroffen hatte. Tiron hatte nie gewusst, auch nicht wissen können, dass diese Zurückweisung den Jungen so hart traf. Seine Eltern waren damals entsetzt gewesen und Tiron hatte in seiner Wut auf den Bruder nichts getan, um irgendetwas daran zu ändern. Überhaupt, was sollte das Narsil oder Amaro bedeuten? Ein Gut war auch nur ein großes Haus und ein Titel auch nur ein Wort vor dem Namen. Tiron war nie in den Sinn gekommen, dass das von der anderen Seite der Standesgrenze durchaus anders aussehen könnte. „Und warum ich nicht verheiratet bin, geht dich auch nichts an.“

Jetzt wachte der Instinkt in Amaro auf, er hatte Blut geleckt und wollte noch mehr. Sein vergifteter Pfeil hatte getroffen. Aber was war schon ein bisschen Gift wert, wenn man noch mehr nachsetzen konnte?

„Oder will Lord de Varro vielleicht gar keine Frau, ist es das? Wobei... das kann ja nicht sein, nach dem was man sich so erzählt. Vielleicht will Lord de Varro auch nur keine Lady de Varro, sondern nur käufliche Frauen. Oder andere, die nicht erwarten können einmal die Lady zu werden.

Vielleicht ist mein Onkel ja schlauer als er aussieht und hat begriffen welchen Fehler sein Bruder gemacht hat, als er heiratete. Keine Ehefrau bedeutet weniger Ärger, habe ich Recht?

Und Frauen wie meine Mutter bedeuten nur Ärger, wenn man ihnen angetraut ist. Aber wenn sie bereits mit jemand anderem verheiratet sind, ist das kein Problem mehr, richtig?“
 

„Was genau willst du damit sagen?“ Tiron hätte die Anspielungen auf seine Ehelosigkeit und Amaros Lästereien einfach übergehen können, hätte darüber gelacht und sie abgeschüttelt wie Wasser von einem kostbaren Pelz abperlte. Aber Hildegard als Ärger zu bezeichnen, ging zu weit und alles was danach kam, hoffte Tiron gar nicht verstanden zu haben. Amaros Pfeile hatten getroffen und saßen tief, aber der Knabe sollte Vorsicht walten lassen - zu viel Blutdurst war auch gefährlich, vor allem jetzt, wo sich in Tirons Blick etwas mischte, das Stahl war
 

„Nun...“ Amaro kostete diesen Moment der Überlegenheit kurz aus und ließ seine Antwort in der Schwebe. Dann beugte er sich zu seinem Onkel über den Tisch und sprach in einem ruhigen Tonfall weiter „vielleicht solltest du meinen Vater fragen, was ich damit meine. Sofern du ihn überhaupt findest. Er ist nicht der häuslichste.“

Er lehnte sich vorsichtshalber wieder zurück, bevor er weitersprach. Seinem Onkel wird wohl kaum etwas an einer öffentlichen Szene gelegen sein, aber bevor er weiter an seiner Ehre kratzte, sollte er sich vielleicht ein wenig aus der Gefahrenzone für instinktive Übergriffe bringen. Gereizte Tiere konnten schneller zubeißen als einem lieb war, selbst alte.

„Ich hörte du würdest es ihm gleich tun und dein Glück außerhalb der Ehe suchen. Angeblich hast du es auch mal bei meiner Mutter versucht. Aber angeblich haben das einige andere auch schon getan. Nur für diese Männer würde ich meine Hand ins Feuer legen, selbst wenn die Leute reden.“
 

Tiron musste sich sichtlich zwingen, tief durch zu atmen, bevor er auch nur an etwas anderes denken konnte. Dass Hilde ihr Ehegelübde nicht ernst nahm, war undenkbar, bei Narsil dagegen sah das ganz anders aus. Offenbar ließ die Katze das Mausen nicht. Tiron griff nach dem Weinglas, nahm einen tiefen Schluck und stelle es mit etwas mehr Nachdruck als nötig war wieder auf den Tisch.“Du tätest besser daran, für deine Mutter die Hand ins Feuer zu legen. Wer sollen diese Männer sein? Und statt solche Lügen weiter herumzuerzählen solltest du besser dafür sorgen, dass der Ruf deiner Mutter davon keinen Schaden nimmt.“
 

Der Mond stand schon hoch über Verlest. Um zurückzugehen war es jetzt zu spät.

„Und wie sollte ich das tun, lieber Onkel? Sie haben sich selbst in diese Situation gebracht, sollen sie doch selbst sehen wie sie wieder herauskommen. Und wenn meine Eltern schon nicht in der Lage sind ihre eigene Ehe auf die Reihe zu bekommen, wie sollte ich daran etwas ändern können?

Die eben erwähnten Männer, deren Namen dich rein gar nichts angehen, sind ebenfalls gescheitert. Aber immerhin tauchen sie im Gegensatz zu dir ab und an mal auf und leisten meiner Mutter Gesellschaft. Immer wenn mein Vater sich Gesellschaft außerhalb des Hauses sucht. Was nur natürlich ist, wenn man mich fragt. Ist doch klar, dass die Leute reden.“

Die honigfarbenen Augen funkeln wütend. Man merkt, dass diese Sache dem Jungen nahe geht, auch wenn er versucht es mit lockeren Worten zu überspielen. Verbitterte Jugend ist so bedauernswert, wenn man auf sie stößt.

„Und es ist mir auch egal was meine Eltern tun. In ihrem Alter sollten sie wissen was sie da machen.“

Um die aufsteigende Feuchtigkeit in seinen Augen zu kaschieren, griff der Junge Amaro beherzt nach dem verschmähten Essen und tat so als ob nichts sei. Plötzlich war er wieder der harmlose Junge mit den goldbraunen Locken. Erstaunlich, dachte sich Tiron. Wenn er nur den Mund nicht aufmachte..

Tiron de Varro lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, ließ den Wein im Kelch kreisen und beobachtete seinen Neffen dabei, wie er mit gesenktem Kopf den Teller leerte, mit einem Nachdruck, als habe der kalte Braten und der Käse ihm etwas getan und als führe er zudem eine persönliche Vendetta gegen eingelegte Gurken. Zum zweiten Mal an diesem Abend sah er sich gezwungen, seine Meinung über den Knaben zu korrigieren. Amaro war wie ein verletztes Tier, er schnappte einfach nach allem, was ihm zu nahe kam. Und jemand, der irgendeinen Bezug zu seinen Eltern hatte, war offenbar schon zu nahe. Nachdenklich nahm Tiron noch einen Schluck Wein. Narsil hatte es also verbockt, ja? Hätte er das nicht kommen sehen müssen? Und hätte er etwas dagegen tun können? Hatte seine Wut und seine Enttäuschung etwa dazu geführt, dass er Hildegard im Stich gelassen hatte? Hätte sie ihn gebraucht? "Ich denke, ich weiß ohnehin, von wem du sprichst." Das war ein Schuss ins Blaue, aber vielleicht zeigte der Junge ja bei wenigstens einem der Namen eine Reaktion. "Alarik Maness, Dvalinn Dornssohn, Tulander Lord Lierich und Barenor Lord Makam. Um nur ein paar zu nennen" Um nur die allerwahrscheinlichsten zu nennen. "Und dein Vater ist der größte Idiot, den die Erde jemals getragen hat, wenn er außer Haus etwas sucht." Es war eine Blöße und auf dem Turnierplatz hätte er das nicht getan, früher, aber er konnte es auch schlecht für sich behalten, musste dem Druck wenigstens ein bisschen Luft machen.
 

Amaro stutze, hielt inne. Dass er die Männer die er tatsächlich als seine Onkel empfand, die für ihn da waren seit er klein war, in irgendwelche Schwierigkeiten manövriert hatte hoffte er nicht. Es war aber auch unwahrscheinlich. Was sollte Lord de Varro ihnen schon tun können? Und schließlich waren es Männer die auf sich allein acht geben konnten. Aber dass Lord de Varro sich die Dreistigkeit herausnahm ihm gegenüber seinen Vater so zu beleidigen, das war zuviel.

„Lasst meinen Vater aus dem Spiel!“ giftete Amaro seinen Onkel an. „Ihr nehmt euch wirklich zu viel heraus, Lord de Varro.“ Aus seinem Mund klang der Titel schon längst wie eine Beleidigung, die er seinem Onkel vor die Füße warf so oft er konnte.

Wie einen Fehdehandschuh, dachte Tiron. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass ein kurzes, zufriedenes Lächeln über seine Züge huschte. Gut, er hatte keine Ahnung, wo Alarik steckte, aber es war sicher auch nicht nötig mit dem Waldschrat zu reden. Der Zwerg würde reichen und selbstverständlich würde er sich Tulander vorknüpfen. Als Ehemann von Amaros Tante wusste der sicher mehr als er Tiron in den letzten Jahren gesagt hatte. Einen Moment erwog er, seine Gedanken zu Narsil noch weiter auszuführen, aber letztendlich verteidigte der Junge nur seinen Vater, was wohl hieß, dass Narsil nicht auf ganzer Linie versagt hatte. Auch, wenn der Knabe die eine oder andere Lektion in Demut und gutem Benehmen übersprungen zu haben schien. Den Fehdehandschuh ignorierte er bewusst. Immerhin konnte ein Bürgerlicher keinen Lord fordern, nicht mal im übertragenen Sinne "Solange du meinen Wein trinkst, nehme ich mir heraus, was ich will", erwiderte er kalt. Einen Dämpfer musste man dem Jungen schließlich verpassen.
 

Amaro erstarrte in der Bewegung wie eine Salzsäule. Hart, kalt und arrogant war dieser Onkel. Und beleidigend bis aufs Blut. Er, Amaro, war nur ein Parasit für ihn, nicht mehr. Keinen Moment länger wollte Amaro dessen Wein trinken, oder irgendetwas anderes von ihm annehmen. Schlimm genug, dass sie sich einen Namen teilten.

Er verzog das Gesicht und schob Teller wie Glas demonstrativ von sich weg.

Tiron de Varro staunte fast darüber, dass es ihm gelungen war den Jungen so zu treffen. Obwohl er das gar nicht wollte. In aller Seelenruhe schenkte er Amaros Glas aus dem Krug wieder voll und schob es zurück. "Hier. Hör nicht auf einen alten Mann, der - wie du ja schon festgestellt hast - nur neidisch auf deinen Vater ist. Ich denke, wir können uns darauf einigen, dass ich nichts mehr über meinen Bruder sage, wenn du nichts gegen deine Mutter sagst."

Der so völlig überraschte rang nach Fassung, war aber zu erstaunt um es verstecken zu können. Wieso um alles in der Welt meinte Tiron de Varro seine Mutter verteidigen zu müssen. Und was hatte er schon gegen sie gesagt? Und als ob er das überhaupt in Erwägung ziehen würde. Immerhin liebte er seine Mutter genauso sehr wie seinen Vater. Es gab nichts schlechtes über sie zu sagen, außer dass sie ihren Mann nicht bei der Stange halten konnte. Und das war bei seinem Vater auch eher schwierig, wie der Junge sich eingestehen musste. Er war einfach nicht geschaffen für die Ehe, das war nicht die Schuld seiner Mutter, wie sein Vater es manchmal zu sagen pflegte. Gut, Hildegard de Varro konnte sehr streng, sehr wütend und auch sehr verletzend sein ihrem Mann gegenüber. Das hatte Amaro zu seinem Bedauern mitbekommen müssen. Nachbarskinder hatten mal gesagt seine Mutter hätte Haare auf den Zähnen. Mittlerweile wusste Amaro, was sie meinten. Das machte sie doch nicht zu einer schlechten Frau, oder? Nunja, er selbst würde sich auch keine solche Frau wünschen..aber immerhin war sie seine Mutter!

„Es fiele mir nicht im Traum ein soetwas zu tun.“ brachte Amaro also nur brüskiert vor, nachdem er einige Momente lang ungelenk um Fassung und Worte gerungen hatte. Und strafte damit seine früheren Taten lügen. Oder er begriff schlicht und einfach nicht, dass er in den Augen seines Onkels eine Beleidigung geübt hatte.

Verwirrt griff er nach dem Weinglas, aber schaute es an als ob er nicht wüsste wie er mit diesem obskuren Objekt in seiner Hand jetzt eigentlich zu verfahren habe.

Tiron de Varro beobachtete einigermaßen amüsiert die Verwirrung auf dem Gesicht des Jungen. Eigentlich war er ja der Meinung, dass er über Narsil sagen durfte, was er wollte, den zum einen war das sein Bruder und zum anderen war es die Wahrheit. Aber um des lieben Friedens willen... trank er lieber noch einen Schluck von seinem Wein. "Dann verstehen wir uns ja." Er nickte Amaro über den Rand des Glases hinweg zu, als wollte er sagen 'Wir sind ja schließlich auch beide erwachsene Männer'
 

So ganz schlau wurde Amaro jetzt nicht mehr aus seinem Onkel. War das eine ungewöhnliche Finte? Oder was wollte er damit bezwecken? Er verstand das Friedensangebot zwar als ein solches, aber der Inhalt war ihm keinesfalls verständlich.

Der tiefrote Wein spiegelte sich in seinen hellen Augen, als er den Blick auf den Kelch geheftet den Wein schwenkte. Ein tiefer Schluck. Deutlich besser als der Wein den er sich für den Rest seines Geldes hatte kommen lassen, das musste er eingestehen.

Eine Weile musterte er die Maserung des Tisches, denn das Heft war ihm entglitten und schien ihm auch nicht wieder zuzufallen. Dann heftete er die Augen wieder auf seinen Onkel und schaute diesen fragend an. Er hatte die Augen seiner Mutter, das sagten alle. Und auch sonst sah er ihr ähnlicher als seinem Vater, den er um die blauen Augen beneidete. Sein Onkel hatte die gleichen Augen. Und markantere Züge. Ob er ihm eines Tages auch ähnlich sehen würde?

Amaro suchte nach Familienähnlichkeit und vergaß dabei, dass er seinen Onkel bereits eine unhöflich lange Zeit gemustert hatte.

Sein Vater war weniger grau, dachte sich Amaro, und er wirkte nicht so unterkühlt. Dieser Mann hier war Stahl, wurde ihm klar.

Tiron de Varro ließ den Knaben ihn mustern so viel er wollte, es ging ihm ja ganz ähnlich. Er suchte selbst im Gesicht Amaros nach Narsil, und nach Hildegard. Die Augen hatte er von ihr, ohne Frage, der warme Honigton war so identisch, dass es fast schmerzte. Dann die hellen Haare, die Sommersprossen. Aber die Nase hatte er eher von seinem Vater und die Lässigkeit, sich auf einen Stuhl zu lümmeln, als gehörte ihm die Welt und diese Art, nur einen Mundwinkel hochzuziehen, so dass es fast, fast ein Lächeln war. An seinem Onkel dagegen würde Amaro gut erkennen, dass dieser und sein Vater unterschiedliche Leben gelebt haben. Statt Narils Lachfalten waren in den ernsten Zügen die Falten tiefer eingegraben, die Haare früher grau geworden. Die Haltung war steifer, aufrechter, der Körper wirkte etwas breiter, muskulöser als bei dem ewig wendigen, sehnigeren Narsil - nun, manche Frauen mochten das wohl. Und einem genauen Beobachter würde wohl auch die alte, verblasste Narbe auffallen, die dort zu sehen war, wo sich der Ärmel etwas vom Handgelenk hochgeschoben hatte - sicher nicht die einzige, die der Ritter in seinem Leben gesammelt hatte. Um die Stille zwischen ihnen etwas zu überspielen, nahm Tiron noch einen Schluck Wein und schenkte sich dann selbst nach, den Blick auf seine Hände gerichtet
 

Es war ein seltsames Gefühl dem Abbild seines Vaters gegenüber zu sitzen, das doch kein so getreues Abbild war. Amaro schluckte. Ihm wurde in diesem Moment schmerzlich bewusst, dass er nur zwei Tagesmärsche von zuhause entfernt war und doch, solche Sehnsucht wie er gerade nach seinem Heim empfand, hätte er auch auf dem Mond sitzen können. Nichts kam ihm wünschenswerter vor als jetzt von seiner Mutter in die Arme geschlossen zu werden und die melodische Stimme seines Vaters zu hören.
 

Diese Sache war eher von Hildegard, da kam er eher nach Narsil... und mittendrin ging Tiron auf, dass nach Narsil genauso gut heißen könnte nach ihm. Würde man Amaro für seinen Sohn halten können? Immerhin waren Narsil und er Zwillinge. Und eine kleine Stimme in seinem Kopf beharrte darauf, dass Amaro sein Sohn hätte sein sollen. Oh, sicher, Narsil hatte sich über das Kind gefreut, aber hatte er es verdient? Und hatte Tiron es verdient, an diesem Abend in ein leeres Herrenhaus zurück zu kehren, ein Haus, in dem seit Jahren kein Kinderlachen durch die Zimmer geklungen war? In dem nur kalte Asche im Kamin auf ihn wartete? Mit einem tiefen Seufzen schob er den Gedanken zur Seite. Der Schmerz war fast ein alter Bekannter, wie ein alter, treuer Jagdhund, der einem in den langen Abendstunden Gesellschaft leistete, der aber zwei oder drei Aufforderungen mit der Fußspitze brauchte, damit er das Zimmer verließ.Warum zur Hölle hatte er auf seine Freunde gehört und was hier her gekommen? Jetzt hatte dieser alte Schmerz zwei neue, scharfe Messer in Form von bernsteinfarbenen Augen.

„Onkel Tiron?“ kam es ein wenig zögerlich von der anderen Seite des Tisches. Amaro hatte bereits seinen Wein getrunken und starrte auf den schimmernden Glasboden, als ob dieser Antworten auf ungestellte Fragen hätte. Nacht lag über Verlest, die Taverne hatte sich um die beiden Männer herum weiter geleert. Die Angriffslust des Jungen war offenbar verflogen für diesen Abend und ihm gegenüber saß nur noch ein unruhiger Fünfzehnjähriger.

„Was denn, mein Junge?“ Amaro seufzte leicht. Ja, was denn? Er wusste es einfach nicht.

„Was nun?“ sagte er, aber er meinte „wie soll es jetzt mit uns weitergehen?“

Tiron rang einen Moment mit sich, dann stellte er fest, dass es niemanden mehr gab, der ihm solche Entscheidungen abnahm. "Glaubst du, das wäre in Ordnung, wenn ich euch demnächst mal... besuchen käme?" Er war ja mindestens so durcheinander und unruhig wie Amaro, aber als der Erwachsene musste er dem Jungen doch zumindest das Gefühl vermitteln, dass er wusste, wie es weitergeht. "Und du solltest dich wirklich auf den Weg nach Hause machen", gemahnte er noch an.

Amaro schenkte ihm ein schiefes Lächeln für diese hilfreiche Belehrung.

„Klar Onkel, mitten in der Nacht...Lieben Dank aber auch.“ Er ging auf den Vorschlag eines Besuches nicht ein, wirkte aber sichtlich erleichtert. Offenbar hatte Onkel Tiron genau das richtige gesagt.

"Komm vorbei wann immer du willst. Mutter ist meist zuhause. Vater...ich weiß es nicht. Aber ich glaube, er würde sich auch freuen.“ Jetzt nur nichts falsches mehr sagen, schien sich Amaro de Varro zu denken.

Tiron de Varro scheint es ähnlich zu gehen, denn er nickt nur auf die Zeitangaben. Jetzt bloß nichts sagen, was die andere Seite wieder als Beleidigung auffassen könnte. Aber über das Mitten in der Nacht stutzt er doch ein bisschen. "Die Straßen sind gut, wenn du jetzt losreitest bist du mit dem ersten Frühlicht zu Hause" , wendete er also ein und hatte dabei gedankenverloren wohl vergessen, dass es keine Voraussetzung ist, dass Amaro überhaupt zu Pferde unterwegs war.

Fragend erhob Amaro nur eine Augenbraue. „Danke Onkel, aber du solltest nicht davon ausgehen, dass jeder Mensch auf dieser wundervollen Erde auf einem Ritterpferd daherkommt. In meinem Falle ist dies leider nicht so. Auch wenn ich absolut davon ausgehe, dass mir ein solches Pferd ausgezeichnet zu Gesicht stände.“

Wollte sein Onkel ihn jetzt allen Ernstes nachts zu Fuß heimschicken? Nicht, dass die Straßen in Verlest dauernd von Räubern heimgesucht werden würden. Dennoch konnte er sich bessere Dinge vorstellen, die er lieber mit dieser Nacht anfangen würde.

„Sicherlich stünde dir das ganz ausgezeichnet.“ Tiron hatte keinesfalls vor, sich die endlich lockere Atmosphäre kaputt machen zu lassen und zudem ergaben sich... Möglichkeiten. Man musste nur taktisch denken. Letztendlich war das wie Krieg. „Deshalb leihe ich dir heute Abend meines und wenn es dir tatsächlich so gut steht, können wir eventuell über ein paar verpasste Geburtstage verhandeln, wenn ich komme, um es abzuholen.“

Nun war es an Amaro doch ernsthaft erstaunt zu sein. Aber besser er fragte gar nicht groß nach, es interessierte ihn auch nur mäßig. Wie heißt es so schön, einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul? Auch wenn dieser nur geliehen war, er käme damit schnell nach hause. Und vielleicht waren seine Eltern auch weniger wütend auf ihn, wenn er mit so umwerfenden Neuigkeiten käme wie der, dass der Familienkrieg endlich beiseite gelegt werden könnte. Vielleicht.

Und ganz vielleicht würde das sogar den Streit in ihrer Familie schwinden lassen. Wenigstens eine zeitlang - flehte Amaro die Götter um Hilfe an.

Der junge Mann zeigte seinem Onkel das wärmste Lächeln, mit dem er, wie er ganz genau wusste, schon härtere Brocken zum schmelzen gebracht hatte. „Einverstanden!“ Und dann fügte er noch ein „ich wette, dass meine Eltern froh sein werden ihren einzigen Sohn wohlbehalten und mit guten Neuigkeiten zuhause vorzufinden“ hinzu. Aber er dachte „und dann wird mich meine Mutter hoffentlich nicht umbringen“.



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