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The Angel With No Name

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo zusammen,

schön, dass ihr reinschaut. Ich hoffe meine Geschichte gefällt euch und ihr habt einen Kommentar für mich übrig :-)

LG
Ivine Komplett anzeigen

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The Angel with no name

 

„Also, jetzt schlaf gut, mein Engel.“ Jamie fühlte, wie seine Mutter die Decke über ihn zog.

„Mama, ich bin 25, nicht 5! Ich kann sehr wohl entscheiden, ob und wann ich ins Bett gehe!“

„Unsinn, Schatz, du warst 5 Wochen auf Konzerttour durch Asien und bist erst vor 2 Stunden gelandet. Du musst dich jetzt ausruhen.“

Sie strich ihm durch das lange blonde Haar, das seine Fans so sehr liebten. Jamie reagierte nicht.

„Ich kann gut für mich alleine entscheiden“, meinte er schroff.

Seine Mutter ging langsam aus der Tür. „Versteh’ doch, ich will nur das Beste für dich.“ Sie lächelte mild und löschte das Licht. „Bitte verzeih’.“

Mit rollenden Augen hörte er, wie sie die Tür von außen verschloss. Einen Moment später stand Jamie auf und machte Licht. Ein süffisantes Lächeln umspielte seine Lippen. Als ob die verschlossene Tür ihn tatsächlich aufhalten könnte. Das hatte sie nie.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Halb acht. Also genug Zeit, sich fertigzumachen.

Unter dem Bett holte er einen Karton vor, den er sorgfältig vor den Augen seiner Mutter verbarg. Fast zärtlich strich er über das schwarze Leder der Jacke. Er breitete den Inhalt auf dem Bett aus. Mehrere Band-Shirts, Lederarmbänder, Nietengürtel und vor allem Musik. Alles Schätze, die er versteckt halten musste. Geheimnisse, die sie nicht erfahren durfte, wie das Geheimnis, dass Jamie auf Männer stand.

Er nahm ein altes Foto in die Hand. Abgegriffen war es an den Ecken und zerknittert, doch von all den Dingen war das Bild seines Vaters, die E-Gitarre in der Hand, sein wertvollster Besitz.

Früher hatte Jamie immer stolz verkündet, dass sein musikalisches Talent von seinem Vater stammte, aber seine Mutter hatte ihm solche Aussagen verboten. Ein angehender Superstar der Klassik könne sich nicht mit einem nichtsnutzigen Möchtegern-Rocker auf eine Stufe stellen, der sie mit dem Baby im Bauch zurückgelassen hatte.

Jamie seufzte, als er das Foto weglegte und griff nach einem schlichten Shirt, einer schwarzen Jeans und umrandete seine blauen Augen mit schwarzem Kajal. Die blonde Mähne ließ er offen und wirr, wie sie waren, hängen.

Unglaublich, was schon diese wenigen Dinge mit seinem Spiegelbild anstellten, seine Mutter würde ihren Mustersohn nicht wieder erkennen.

 

Eine Welle des Glücks überrollte Jamie, als die ersten Töne des Intros erklangen. Die Vorband war unbekannt und völlig übersteuert, aber das alles war ihm egal. Das hier war seine wirkliche Welt. Hier gehörte er hin. Keine stummen Zuhörer in einer sterilen Konzerthalle, sondern eine bewegte Menge, die im Rhythmus mitging. Grölende Stimmen, die oft falsch mitsangen, aber aus denen pure Lebensfreude sprach. Er ließ sich gerne mitreißen von den Gitarrensolos und dem harten Schlagzeugbeat. Als dann Forsaken Kingdom die Bühne betrat, befand sich Jamie in einer anderen Sphäre. Es war, als wäre er alleine mit der reinen Stimme des Sängers. Bisher kannte er nur Bilder von Derek, doch sie wurden ihm nicht gerecht. Die dunklen Locken flogen, seine Augen strahlten, er war wie eine Naturgewalt, die sein Denken und Fühlen einnahm.

 

*

 

Das Konzert war viel zu schnell vorbei und hinterließ eine schmerzhafte Leere in Jamie. Er wollte noch nicht nach Hause. Nicht wieder zurück in seinen Käfig.

Er beobachtete die anderen Leute, die in Grüppchen zusammenstanden. Zu gerne hätte er dieses Erlebnis mit jemandem geteilt. Aber er hatte keine Freunde. Jedenfalls keine echten. Für alle anderen war er nur der blonde Engel, der ihre Kassen klingeln ließ.

„Hey Schöner!“ Die tiefe Stimme ließ ihn zusammenfahren.

Jamie setzte zu einer bissigen Antwort an, als er Derek vor sich sah.

„Hallo.“ Seine Antwort war ein Krächzen. Er spürte, wie seine Wangen zu glühen begannen. Die Stille dauerte schon zu lange an. Er musste etwas sagen, bevor sich der Sänger wieder Anderen zuwandte. „Danke für euer Konzert. Ihr wart einmalig. Ich mag es, wenn deine Stimme klar über allem zu hören ist. Und man merkt, dass ihr alle Meister an euren Instrumenten seid. Allein die Soli so virtuos zu spielen, das schafft kein Amateur“, sprudelte er drauflos.

„Du scheinst etwas von Musik zu verstehen.“ Jamie spürte, wie Dereks Blick interessiert auf ihm ruhte. „Machst du beruflich etwas in der Richtung?“

„Ja etwas in der Richtung“, echote er vage und blickte in Dereks braune Augen, die ihn fixierten. „Ich mache aber eher etwas im klassischen Bereich“, fügte er noch hinzu.

„Und was hast du hier dann gesucht?“ Derek grinste ihn erwartungsvoll an.

„Ich sehe mir nur die Freakshow an“, erwiderte Jamie, bemüht ernst zu bleiben, doch es gelang ihm nicht wirklich. Es tat gut gemeinsam mit ihm zu lachen. Überhaupt einmal nicht allein zu sein.

„Um ehrlich zu sein – eure Musik ist nicht schlechter als Mozart oder Beethoven.“

„Mit solchen Federn möchte ich mich nicht schmücken.“

„Komponisten waren in ihrer Zeit selbst etwas wie Rockstars. Und eure Musik ist fast magisch. Das ist nicht bloß Geschrammel und sinnloses Hämmern auf das Schlagzeug, damit es schön laut ist.“ Jamie bemerkte, dass er ins Schwärmen geriet und hielt verlegen inne. „Entschuldige, ich möchte dich nicht langweilen.“

„Im Gegenteil.“ Derek strahlte ihn förmlich an. „Ich bekomme selten Gelegenheit über meine Kunst zu sprechen. Meist machen mir die Fans nur schöne Augen.“

Jamoe grinste. „Naja, das kann ich verstehen. Aber zumindest die weiblichen Fans werden nun zurückhaltender sein nach deinem Outing. Ich wünschte ich hätte deinen Mut.“

„Das hatte nichts mit Mut zu tun. Es war einfach der Augenblick da, es allen zu sagen. Dieser Augenblick kommt bei jedem. Auch bei dir.“ Er zwinkerte Jamie zu, dann schien er kurz zu überlegen.

„Ich hoffe, das kommt dir jetzt nicht aufdringlich vor. Ich habe da ein Stück, mit dem ich mir nicht sicher bin. Vielleicht könnte mir ein Experte wie du helfen?“

 

*

 

„Nicht sehr glamourös, ich weiß“, entschuldigte sich Derek, als sie die winzige Künstlergarderobe betraten.

„Kein Problem. Ich habe nicht viel übrig für Glamour.“

Die rohen Backsteine bildeten die Wandverkleidung, ein abgewetztes Sofa, ein Tisch und ein Stuhl waren die spärliche Einrichtung. An einem gebrochenen Spiegel konnten sich die Musiker noch kurz betrachten, sonst war der Raum zu nichts gut. Doch inmitten dieses einfachen Zimmers erregte sowieso nur die Gitarre Jamies Aufmerksamkeit.

„Darf ich mal anfassen?“ Aus Erfahrung wusste er, dass sehr viele seiner Kollegen höchst heikel waren, wenn es um ihre Instrumente ging.

„Klar“, antwortete Derek leichthin.

Vorsichtig nahm Jamie die Gitarre am Hals aus dem Ständer. Es war ein älteres Instrument, doch sichtlich gut gepflegt. Zur Probe strich er über die Saiten. Sie hatte einen vollen weichen Klang, wie Jamie es liebte.

„Kannst du spielen?“, wollte Derek wissen. Seine Stimme verriet, dass er sich über Jamies Erfurcht vor dem Instrument amüsierte, doch Jamie störte das nicht.

„Ich wollte schon immer Gitarre spielen lernen, aber meine Mutter hat es mir verboten, weil … ach nicht so wichtig.“

„Soll ich es dir beibringen? Es ist nicht schwer.“

„Das sagst du nur, weil du es kannst.“ Jamie lachte. „Aber werden dich deine Fans nicht vermissen? Ich will dich ihnen nicht wegnehmen.

Derek winkte ab. „Ich würde es dir gerne zeigen.“ Er lächelte ein Herzensbrecher-Lächeln und es war um Jamie geschehen.

„Ok, dann leg’ mal los.“

„Setz’ dich erstmal auf den Stuhl. Ganz locker. Die Gitarre auf den rechten Oberschenkel. Genau so.“

Mit einem Grinsen auf dem Gesicht stellte Derek sich hinter Jamie.

„Jetzt zeige ich dir, wie du sie mit der linken Hand halten musst.“

Jamie fühlte Dereks warme Hand an seiner, die langsam seinen Griff korrigierte. Die braunen Locken strichen an seiner Wange vorbei, als er Jamie über die Schulter sah, um die Haltung zu kontrollieren. Jamie hatte das Gefühl, überall, wo Derek ihn berührte zu brennen. Sein Herz klopfte schnell und er wagte kaum zu atmen. Ein Schwall von Dereks männlichem Duft wurde aufgewirbelt, als dieser auch noch den rechten Arm um seine Schulter schwang.

„So, jetzt schlag’ an.“ Dereks Stimme war direkt neben seinem Ohr und brachte ihn erst recht aus der Fassung.

Also schlug Jamie mit zittrigen Fingern in die Saiten. Der Akkord verklang und Stille breitete sich aus.

Derek machte keine Anstalten, ihn aus dieser Umarmung zu entlassen. Jamie drehte den Kopf zu ihm, bis er ihm direkt in die Augen sah.

„Und war das richtig so?“ Kratzig klang seine Stimme. Unsicher. Und doch wünschte er sich, dass dieser Moment nie endete.

„Genau richtig“, antwortete Derek fast flüsternd. Dann überbrückte er die letzten Zentimeter zwischen ihnen und küsste Jamie.

Jetzt brannten auch seine Lippen und es tat so gut. War so richtig.

Ruckartig zog Derek sich zurück. „Sorry Mann … ich … das wollte ich nicht.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du hast nichts falsch gemacht.“

„Wirklich? Ich will nicht, dass du denkst, ich würde das mit jedem machen, der mir gefällt. So einer bin ich nicht.“

„Ich weiß.“ Jamie lächelte. „Spielst du mir jetzt deinen neuen Song vor?“

Mit einem Nicken nahm Derek Jamie die Gitarre aus der Hand und setzte sich auf das verschlissene Sofa.

Ein ruhiger Rhythmus leitete das Stück ein, dann wurde es schneller und lauter. Jamie schloss die Augen, als Derek zu singen begann. Es war ein echtes Erlebnis seine Stimme pur zu hören. Rauchig. Weich. Manchmal ganz klar. Sexy.

Als der Song zu Ende war, kam es Jamie so vor, als würde er aus einem Traum aufwachen. Blinzelnd fand er wieder in die Wirklichkeit zurück.

„Wow. Das war wirklich intensiv“, brachte er nach ein paar Momenten heraus und Dereks Miene hellte sich auf.

„Es hat dir gefallen“, stellte er fest. Erleichterung klang aus seiner Stimme. „Es ist das erste Stück dieser Art, das ich geschrieben habe. Nur für Akustikgitarre und ein wenig Rhythmus. Ganz reduziert. Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Fans das mögen.“

„Sie werden es lieben. Und wenn nicht, sind es Idioten.“ Jamie ging auf Derek zu und sah ihn ernst an. „Ich kenne alle deine Songs. Jeden Einzelnen, den ihr veröffentlicht habt. Aber das hier, ist das Beste, das du bisher geschrieben hast.“

Derek antwortete erst nicht. Seine Miene wandelte sich von bloßem Staunen in Zärtlichkeit. „Wo hast du bloß gesteckt? Du weißt nicht, wie lange ich nach dir gesucht habe.“

Jamie stand still, als Derek die Gitarre weglegte und seine Hand in Jamies blonden Haaren vergrub. Langsam zog er ihn an sich, lehnte seine Stirn an Jamies.

„Darf ich dich küssen?“

Als Antwort legte Jamie seine Lippen auf Dereks.

Vergessen war seine Mutter, der Kummer, der Schmerz. Dieser Moment war alles, was zählte.

 

*

 

Der Morgen graute schon, als Jamie sich vorsichtig aus Dereks Armen löste. Ein paar Momente hielt er inne, betrachtete dessen entspanntes Gesicht und seine Hände, die ihn an Stellen berührt hatten, wo noch niemand ihn berührt hatte.

So leise es ging, sammelte er seine Sachen auf. Wieder angezogen konnte er sich nicht dazu entschließen zu gehen.

Die Uhr zeigte halb 6. Seine Mutter würde spätestens in einer Stunde bemerken, dass er nicht im Zimmer war. Und bis zur Wohnung war es mindestens eine halbe Stunde mit dem Taxi.

Schweren Herzens griff er nach der Türklinke.

„Musst du schon gehen, Aschenputtel?“ Derek sah ihn aus schlaftrunkenen Augen an.

„Ja, leider. Bye Derek.“ Jamie wandte sich zum Gehen.

„Wo kann ich dich wiedersehen? Ich kenne nicht mal deinen Namen.“ Jetzt war er alarmiert, versuchte sich aus dem Gewirr der alten Decken zu befreien.

Jamie lächelte ihn traurig an. Er durfte ihn nicht wiedersehen. Er hätte es nie soweit kommen lassen dürfen. Sie hatte ihn so fest am Haken, Jamie würde Derek und sich selbst nur verletzen.

„Sie nennt mich Engel“, antwortete Jamie und rannte davon.

 
 

***
 

 

Die Konzerthalle war beeindruckend. Riesige Kronleuchter tauchten den Raum in goldenes Licht. Die geschliffenen Kristalle brachen das Licht schließlich in lauter kleine Regenbogen. Die Wände waren verkleidet mit dunklem Holz, in das kunstvolle Intarsien eingelassen waren. Die ganze Pracht war unglaublich. Krasser könnte der Gegensatz zu der alten Fabrikhalle vor zwei Wochen gar nicht sein.

Jamie griff sich an den Kragen, um die Fliege etwas zu lockern. Die Erinnerung an den Geschmack der Freiheit ließ seine Kehle brennen. Wasser half nicht. Nichts half dagegen. Außer Musik.

Die Musik war ihm schon immer Vater und Mutter gewesen. Am Klavier fühlte er sich zu Hause, egal wo er war.

Der Applaus des Publikums flaute langsam ab. Er hatte die vielen Leute kaum wahrgenommen, als er die Bühne betreten hatte.

Jamie setzte sich an den Flügel und begann mit den leisen melancholischen Klängen von Schuberts Klaviersonate in A-Dur. Er ließ sich von der Melodie einhüllen, wie Dereks Arme ihn gehalten hatten.

Die leisen Töne wandelten sich langsam, er spürte, wie all seine gesammelten Gefühle sich in Musik verwandelten. Da waren sie die kreischenden, schreienden Stimmen in seinem Kopf, die sich um ihn stritten. Er spürte das wilde Aufbäumen seiner Seele, die sich befreien wollte aus ihren Spinnenfäden mit denen sie ihn gefangen hielt. Und dann sein Scheitern. Ein Ton. Pause. Ein Ton. Lange Pause. Wie ein verklingender Herzschlag.

Als die Leute wieder kreischend applaudierten, hörte Jamie kaum hin. Was sie dachten, war ihm egal. Er setzte an zum nächsten Stück.

 

„Ein bemerkenswertes Programm, Jamie.“ Professor Clarke, sein Lehrer am Konservatorium kam auf der After-Show-Party mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Jamie ließ die Umarmung gerne zu.

„Gewagt, den Trauermarsch von Beethoven auf einer Veranstaltung wie dieser zu bringen, aber brillant. So etwas öffnet den Geldbeutel der Spender“, sagte sein Lehrer lächelnd.

„Ich hab’ es nicht aus diesem Grund gespielt.“

„Natürlich nicht, Jamie. Dafür bist du ein viel zu guter Mensch." Nachdenklich sah ihn der ältere Mann an. „Man munkelt ja, dass du für zwei Musikpreise nominiert wirst, junger Mann. Bester Solo-Künstler und bestes Album und das mit 25 Jahren.“

„Es soll in ein paar Wochen verkündet werden“, bestätigte Jamie. „Meine Mutter weiß es vom Leiter des Komitees. Aber es ist mir nicht wichtig, Professor, das wissen Sie.“

Sein alter Lehrer nickte und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Ich weiß.“ Er lächelte dieses Großvaterlächeln, bei dem Jamie warm ums Herz wurde. Manchmal – nein, nicht nur manchmal – glaubte Jamie, dass ihn jeder andere Mensch besser kannte, als seine eigene Mutter. Und das tat verdammt weh.

 

„Das war wunderbar mein Engel.“ Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, er musste ein Schaudern unterdrücken. Hatte sie denn nicht seinen Schmerz gefühlt? All die Wut, die daraus gesprochen hatte?

„Ich bin zufrieden. Aber ich habe an einem der Übergänge gepatzt, ich hätte mich vielleicht noch besser vorbereiten müssen.“

„Bei der Preisverleihung wird alles perfekt sein.“ Dieser Satz hätte eine Aufmunterung, vielleicht sogar ein Lob sein können. Doch er war beides nicht. Jamie überlegte, warum er sich nicht darüber freuen konnte, aber leider gab es zu viele Gründe, um nur kurz darüber nachzudenken.

„Natürlich. Perfekt wie immer.“

Seine Mutter hatte sich schon wieder von ihm abgewandt, schüttelte den wichtigen Leuten die Hand und machte Smalltalk. Sie nahm jede Gelegenheit wahr, ihn zu vermarkten. Jamie machte sich nicht die Mühe, ihrem Gespräch zu folgen, denn die sogenannten wichtigen Leute interessierten ihn nicht.

Es war allgemein bekannt, dass Jamie nach einem Konzert lieber für sich blieb. Ihm war es angenehmer als in sich gekehrter Künstler zu gelten, als von irgendwelchen selbst ernannten Musikkennern in belanglose Gespräche verwickelt zu werden.

Jamie machte es wie sonst auch und besah sich von einer stillen Ecke aus die Freakshow. Im sanften Kerzenlicht tummelten sich adlige und nicht-adlige Stars und Sternchen. Gealterte Geschäftsmänner mit ihren 20-jährigen Begleiterinnen labten sich an Champagner und Lachshäppchen. Hoffentlich konnten die Spendeneinnahmen dieses Abends wenigstens die Kosten für den teuren Kaviar tragen.

Hielt Jamie diese Veranstaltung eigentlich als Einziger für lächerlich? Vielleicht war ja auch er der wirkliche Freak hier?

 
 

***
 

 

„Ich höre dich nicht üben, mein Engel.“ Dieser nett klingende Satz hatte einen scharfen Unterton. Jamie hasste das, er war doch kein kleines Kind mehr. Er war in der klassischen Musikszene ein Star. Nicht, dass es ihm viel bedeutete, berühmt zu sein. Die Musik war es, die ihn am Leben hielt, wenn er glaubte, am Ehrgeiz seiner Mutter ersticken zu müssen.

„Schatz, ich will mir nicht wieder deine Klagen anhören, wenn du den Einsatz beim Allegretto verpasst, ausgerechnet bei der Verleihung eines Musikpreises.“

Sie wurde ungeduldig. Es würde nicht lange dauern, bis sie ihn anschrie.

Manchmal fragte sich Jamie, warum er sich das antat, er tobte innerlich und dann hatte sie ihn wieder mit einem Satz. „Du bist doch alles was ich habe, mein Engel.“

Er brachte es nicht fertig seine Mutter zu verlassen.

„Jamie!“ Sie stand in der Tür und blickte ihn missmutig an.

Er hatte jetzt wirklich keine Lust mehr auf einen weiteren Streit.

„Ich kann mich hier nicht konzentrieren – ich übe im Konservatorium.“ Kurzerhand griff er nach den Noten und ging an ihr vorbei auf den Gang.

„Soll ich dich fahren?“

„Nein, ich gehe zu Fuß.“ Nur ein paar Momente für sich haben, das war alles, was Jamie wollte. Warum verstand sie das nicht? Mit ihrer besitzergreifenden Art trieb sie ihn praktisch von sich fort – war ihr das nicht klar?

 

Seine Schritte führten ihn fort von der Wohnung, doch nicht zu seinem Proberaum im Konservatorium. Jamie hatte nur wenig Zeit, deshalb nahm er sich ein Taxi und stieg bei einem kleinen Plattenladen aus.

Gleich an der Tür fiel ihm das Plakat auf. Derek prangte unübersehbar darauf und warb für ein neues Album. Sein Atem stockte bei dem Titel „The Angel with no name“.

„Hi Jamie, lange nicht gesehen!“ Natürlich kannte der Besitzer seine Stammkunden und meist ließ sich Jamie gerne auf einen kleinen Plausch ein. Aber nicht heute.

„Hatte viel zu tun in letzter Zeit. Kann ich in das neue Album von Forsaken Kingdom reinhören?“

Ein paar Minuten später war er in den Tönen von Dereks Musik versunken. Wenn Jamie es nicht besser gewusst hätte, hätte er geglaubt, die Lieder handelten von ihm.

Ein Vogel, gefangen im Käfig. Ein Mensch, der nur eine Maske trägt.

Als hätte Derek auf den Grund seiner Seele gesehen in dieser Nacht und Jamies Innerstes zu Musik gemacht. Nicht nur Musik, sondern Melodien, die ihm das Herz zerrissen vor Traurigkeit und Sehnsucht.

 

Als er zu Hause ankam, war seine Mutter nicht da. Und Jamie war froh darüber. Die Traurigkeit von vorhin hatte sich auf dem Nachhauseweg in Wut verwandelt. Sein erster Weg führte ans Klavier, wie immer, wenn er sich etwas von der Seele spielen wollte.

Dereks Songs hatten ihm einen Spiegel vorgehalten, nie vorher war ihm so klar vor Augen geführt worden, dass er ein Gefangener war in einem riesigen Netz aus Schuldgefühlen und Verpflichtungen. Vielleicht war das nötig gewesen, um zu begreifen, dass er das nicht mehr wollte. Es musste aufhören.

Seine Finger flogen über die Tasten, hämmerten dann beinahe darauf ein. Bald spielte er nicht mehr Wagner, sondern kreierte eine wilde Symphonie seiner Wut. Wut über seine eigene Hilflosigkeit.

Schwer atmend brach er nach einem schrillen Akkord ab, stürmte in das Zimmer, wo die Zeugnisse seiner Gefangenschaft in Reih und Glied standen. Pokale von Jugendmusikwettbewerben, Urkunden, Preise – alles Dinge, die Jamie nichts bedeuteten. Mit der rechten Hand wischte er einen der Pokale von der Kommode. Scheppernd landete das Blechteil am Boden und löste sich vom hölzernen Sockel.

Jamie nickte zufrieden. So gefiel es ihm besser. Dann griff er wahllos nach weiteren Trophäen, warf sie achtlos zu Boden. Klirrend zerbrach das Glas der Urkunden, bis sich alles in einem ungeordneten Haufen am Boden sammelte.

Die Wut schwelte noch in ihm, aber er fühlte sich seltsam besänftigt, als er sich das Chaos näher besah. Er kniete daneben, sein Blick strich ungläubig auf das Ergebnis seines Ausbruchs.

„Jamie? Bist du da?!“ Die hysterische Stimme seiner Mutter ließ ihn hochfahren. Ein Schmerz durchzuckte seine rechte Hand. Aus Unachtsamkeit hatte er sich an einer der Glasscherben verletzt.

„Ich bin hier!“, rief er zurück. Er schloss die Tür hinter sich, steckte den Schlüssel erstmal ein. Sie musste das jetzt nicht sehen.

„Ich wollte dich im Konservatorium abholen, aber man hat mir gesagt, du wärst gar nicht dagewesen – ich hab’ mir riesige Sorgen gemacht!“ Seine Mutter kam ihm von der Haustür entgegen. Vor lauter Aufregung hatte sie rote Flecken im Gesicht. „Bitte gib’ mir das nächste Mal Bescheid, wenn du deine Pläne änderst.“ Sie sah in forschend an. „Wo warst du überhaupt? Bei einer Frau? Du weißt doch, für so was hast du keine Zeit“, sagte sie vorwurfsvoll.

Jamie hätte beinahe gelacht. Seine Mutter ließ kein weibliches Wesen näher als fünf Meter an ihn heran. Selbst wenn er es also gewollt hätte, gab es wenig Möglichkeiten, jemanden zu treffen.

„Ich war nicht bei einer Frau, Mum“, antwortete er schließlich belustigt. „Nur im Park unterwegs. Ich brauchte einfach etwas Luft.“ Er machte eine ausholende Geste. „Hier ist es mir einfach zu eng!“

Seine Mutter hatte die Bewegung mit finsterer Miene verfolgt und blickte nun mit aufgerissenen Augen auf Jamies rechte Hand. Erst begriff er nicht, was der Anlass war, doch dann sah er das Blut an seinem Ärmel.

„Willst du etwa deine Karriere zerstören? Ich wette das hast du wieder nur aus Trotz getan. Ich rufe sofort Dr. Meyer an.“ Sie schüttelte verärgert den Kopf. „Warum tust du mir das an Jamie? Warum? Ich tu’ doch alles für dich!“

Jamie wollte am liebsten wieder wegrennen, um sich das nicht weiter anhören zu müssen. Doch er blieb. Wie immer.

 
 

*
 

 

„Dieses Interview vor der Preisverleihung ist äußerst wichtig, vergiss’ das nicht, Jamie.“ Seine Mutter zerrte am Kragen seines Hemds.

Jamie nickte nur. Mit Dereks Stimme im Ohr konnte er ertragen, dass irgendeine Stylistin ihn für Fotos schminkte und seine Haare herrichtete. Die Kopfhörer des MP3-Players hatte er in den letzten Tagen nur noch zum Schlafen aus den Ohren genommen.

„Bitte achten Sie darauf, dass die rechte Hand nicht zu sehen ist. Diese Wunde ist nicht gerade repräsentativ“, wies sie die Stylistin ruppig an. Selbst durch die harten Gitarrenriffs von Forsaken Kingdom hindurch konnte er das Keifen seiner Mutter hören. Entnervt verdrehte er die Augen. Die „Wunde“ war nicht der Rede wert. Nur ein kleiner Schnitt, schon fast verheilt. Doch er äußerte sich nicht dazu.

„Was hörst du da überhaupt für ein schreckliches Zeug?“ Sie riss ihm einen der Ohrstöpsel heraus und lauschte selbst daran.

„Du solltest lieber die Stücke für die Preisverleihung anhören, als diesen Schund!“, fauchte sie. Bevor er recht reagieren könnte, zog sie ihm auch den zweiten Stöpsel mitsamt dem daran hängenden MP3-Player heraus und nahm alles an sich. „Das hier ist vorerst gestrichen!“

Jamie stand auf, die Stylistin wich in den Hintergrund zurück.

„Und gibst du mir dann als nächstes Fernsehverbot und Hausarrest? Ach ja, ich hatte vergessen, dass du mich bereits einsperrst!“

Er feuerte einen eisigen Blick auf seine Mutter ab und stürmte dann an ihr vorbei aus dem Raum.

„Darüber sprechen wir noch, junger Mann!“, hörte er sie hinter sich herrufen.

Jamie eilte vor Wut schnaubend den Gang entlang Richtung Ausgang.

„Hallo, Sie sind Jamie? Ich bin Mark vom IMT-Magazin.“ Ein Mann, nicht viel älter als er selbst, kam lächelnd auf ihn zu.

Natürlich, das Interview. Einen Moment lang überlegte er, ob er den Journalisten einfach stehen lassen sollte. Doch dieser konnte eigentlich nichts für seine Lage.

„Ja, ich bin Jamie. Schön Sie kennenzulernen“, lenkte er ein. Wenigstens würde er diesmal das Interview ohne seine Mutter bestreiten.

 

Ein paar Fotos machten sie für den Artikel, bevor sie sich auf ein gemütliches Sofa niederließen.

Mark packte seine Unterlagen aus und lächelte ihm zu. „Die Fragen haben wir Ihnen ja bereits vorab zur Durchsicht geschickt. Natürlich können Sie jederzeit die Beantwortung einer Frage verweigern.“

„Natürlich.“

„Also beginnen wir.“

Jamie beantwortete die üblichen Fragen zu seiner Musikausbildung, wie er das Stipendium am Konservatorium erhalten hatte und es zum jetzigen Erfolg gekommen war. Mit seiner Mutter hatte er die Antworten zu solchen Standard-Fragen schon so oft geübt, dass er sie im Schlaf beantworten könnte.

„Welche Musik hören Sie privat, Jamie?“ war die erste „neue“ Frage.

Die vorbereitete Antwort darauf lautete in etwa so: „Klassische Musik ist für mich der Inbegriff von Musik. Die Popkultur hat für mich deshalb keinen Reiz.“ Oder etwas anderes Engstirniges in der Art.

Aber heute war der Tag, etwas zu riskieren und auszubrechen: „Ich persönlich liebe Metal-Musik.“ Mark zog die Augenbrauen hoch, während er weitersprach. „Metal ist hart und schroff, manchmal auch ganz weich, genauso wie klassische Musik. Beim Klavierspielen kann ich meine Gefühle ausdrücken – im Metal kann ich mich verlieren. Das ist wie in eine fremde Welt einzutauchen. Es gibt keine Barrieren, wie bei der Klassik.“

„Dann werden wir vielleicht bald eine Kooperation von Piano und Metal hören?“

„Musik ist so vielfältig wie die Menschen, einfach alles ist möglich, jede Mischung erlaubt. Das ist es, was ich daran liebe.“

„Ein schönes Schlusswort, Jamie. Vielen Dank für das Interview.“

Jamie fühlte, dass Mark ihn damit nicht necken wollte. Er nahm das Gesagte durchaus ernst. Das war generell eine neue Erfahrung. Wirklich ernst nahm ihn sonst nur Professor Clarke.

 

Seine Mutter wartete schon im Auto, den Mund missmutig zu einem Strich zusammengepresst.

„Ich verstehe absolut, dass du wegen der Preisverleihung gestresst bist, aber du darfst mich nicht vor anderen Leuten so bloßstellen. Ich musste dem Mädchen natürlich Geld geben, dafür, damit sie nicht zu irgendeinem Presseheini geht. Und das allein ist natürlich auch keine Garantie dafür, dass sie es nicht doch tut. Das musst du doch verstehen, Jamie.“

„Ach ja? Aber du kannst mich vor anderen bloßstellen?“ Jamie gab sich nicht die Mühe, seinen Ärger zu verbergen. „Und jetzt gib’ mir den MP3-Player zurück.“

„Also dein Verhalten ist wirklich kindisch in letzter Zeit.“

„Wenn du mich behandelst wie eines, dann musst du damit rechnen, Mutter.“ Er hielt seine Hand fordernd offen. „Den MP3-Player bitte. Ich steige sonst aus und kaufe eben einen Neuen – und es gibt nichts was du dagegen tun kannst.“

„Glaube ja nicht, dass ich deine Albernheiten ewig toleriere“, gab sie den Kampf vorerst auf und reichte ihm das Gerät.

Sie hatte noch mehr zu schimpfen über seine Verletzung und das verwüstete Pokalzimmer, aber Jamie hatte schon längst wieder Derek im Ohr und hörte nicht weiter hin. Eine Kooperation von Piano und Metal, die Worte hallten noch immer in ihm nach.

 
 

***
 

 

Es klopfte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Jamie reagierte nicht. Sie hämmerte gegen die Tür.

„Jamie!!“ Noch war sie nur wütend.

„Lass mich!“, schnappte er.

Sie versuchte es noch eine Weile mit Rufen und Klopfen, doch nach einer Weile gab seine Mutter auf. Darauf hatte Jamie spekuliert. Nur kein Aufsehen erregen. Nur den Journalisten nichts zum Fraß vorwerfen. Jamie wäre es egal gewesen, sollten die Schreiberlinge machen was sie wollten. Natürlich hatte er auch in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht. Selbstredend hatte sie die Antwort zur Frage nach seinem persönlichen Musikgeschmack streichen lassen. Immer schön winken und lächeln und jeden Kommentar von ihr absegnen lassen, dann war sie zufrieden.

Wie er es hasste, so bevormundet zu werden! Aber damit war heute Schluss. Endgültig.

Jamie sah an sich herunter. Seine Mutter würde toben, wenn sie es wüsste. Er trug seine geliebte Lederjacke mit den Nieten und eine abgewetzte Jeans. Er hatte genug von Anzügen und Krawatten.

Seine Mutter ging davon aus, dass er Mozarts Klavierkonzert zum Besten gab, wie besprochen, und hatte ihn zu den Proben nicht begleitet. Ungewöhnlich genug, dass sie seinen Wunsch respektiert hatte. Also war sie vollkommen unwissend. Das zauberte ein Lächeln auf seine Züge.

 

Jamies Hände zitterten wie Espenlaub hinter dem Vorhang. Er glaubte schon, dass er nicht spielen könne. Die Geiger, der Schlagzeuger und der Gitarrist nickten ihm aufmunternd zu, doch das beruhigte ihn wenig. Endlich kam die Ankündigung der Moderatoren. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Er richtete sich auf und wartete auf den Einsatz. Das Licht im Saal erlosch, der Vorhang wurde gelüftet. Es herrschte Totenstille.

Dann die Geiger mit beinahe überirdischem Klang. Jamie schloss die Augen. Hörte, wie nach dem Intro das Schlagzeug mit der Gitarre brachial einstieg.

Schließlich er, der mit dem Klavier Dereks Stimme imitierte. Es war, als ob Jamie ihn über all dem hören würde. Als hätte Derek das Lied nur für ihn geschrieben:

 
 

A pair of broken wings,
 

Still ready to fly,
 

Dead eyes staring,
 

into the blue sky.
 

 
 

Finally broken out of the cage,
 

Finally free…
 

 
 

Seine Finger flogen über die Tasten, sein Körper bewegte sich mit der Musik, seine Haare flogen in alle Richtungen, sein Herz pochte voller Freude – als wäre er zum ersten Mal lebendig!

Und es war, als würde er sterben, nachdem der letzte Ton gespielt war und im Saal verklang.

 

Nur am Rand bemerkte Jamie, dass die Zuschauer begeistert tobten und eine Zugabe forderten. Er verbeugte sich, bedankte sich bei den Mitmusikern, dann ging er in Richtung seiner Garderobe, um den Zorn zu ernten, den er absichtlich gesät hatte.

„Was hast du dir dabei gedacht?“ Auf seine hysterische Mutter war er gefasst, er ertrug die erste Welle ihrer Standpauke mit einem gelassenen Lächeln.

„Reg dich bitte nicht so auf. Hast du nicht gesehen, dass die Leute begeistert waren? Wie es sie mitgerissen hat, mehr als Mozart es je könnte – weil es ihre Herzen berührt hat!“ Jamie redete sich nun doch in Rage. „Überhaupt wäre Mozart heute am Leben, wäre er Rockmusiker.“

Seine Mutter zitterte vor Wut. Ihre Hand zuckte, als wollte sie ihm eine Ohrfeige geben.

„Du wirst dir jetzt etwas Anständiges anziehen und morgen gebe ich eine Presseerklärung raus. Einen Auftritt wie diesen wird es niemals mehr geben“, presste sie durch zusammengekniffene Lippen. „Niemals mehr.“

Er hatte sich auf jede Reaktion seiner Mutter vorbereitet, doch nicht auf die Kälte, die auf einmal in ihm hochstieg, so eisig wie die Arktis. Keine kochende Wut. Kein heißer Hass. Nur Kälte.

„Du wirst nicht weiter über mich bestimmen, Mutter.“ Der Frost hatte auch seine Stimme erreicht. Jamie wandte sich zum Gehen.

„Du wirst jetzt nicht gehen, junger Mann!“ Er hörte die Panik in ihrer Stimme, die Panik, die Kontrolle über ihn zu verlieren.

„Es reicht, Mutter! Ohne mich wärst du Nichts! Wir würden noch immer in dem 1-Zimmer-Appartment leben und nicht wissen, wie wir die Miete bezahlen sollen.“

Seine Mutter verstummte, die Farbe wich aus ihrem Gesicht, aber er machte keine Anstalten, sie zu trösten.

Jamie konnte und wollte nicht mehr so weitermachen. Diese ganze verkorkste Sache musste jetzt ein Ende haben.

„Aber … Engel … “ Sie stockte.

Jamie sah sie lange an. „Ich bin kein Engel. Nur dein Sohn.“

Er hatte nichts mehr zu sagen. Diesmal hielt sie ihn nicht auf, als er aus dem Zimmer stürzte.

 

Er brauchte jetzt einen Drink. Ins Hotel wollte er nicht zurück. Nicht noch mal auf sie treffen. Blieb noch die After-Show-Party.

Zum Glück war noch nicht viel los, sodass er erleichtert auf die Bar zusteuerte. Nur eine Stimme hielt ihn auf.

„Hallo, Aschenputtel!“

Derek.

 

***

 

Jamie riss überrascht die Augen auf. Ihn hatte er wirklich als Letztes hier erwartet. Metal-Bands ließen sich in der Regel nicht auf Preisverleihungen sehen.

„Ich bin wegen dir gekommen. Das Management hat uns mitgeteilt, dass heute ein Klassik-Cover unseres Songs gespielt wird. Wir waren neugierig“, antwortete Derek auf die Frage, die er nicht gestellt hatte. Nur ein Satz blieb an ihm hängen. Er war wegen Jamie gekommen. Er fühlte, dass zu viele Blicke auf ihm ruhten. Die Energie, die er während des Auftritts gespürt hatte, war aus ihm gewichen.

„Alles in Ordnung?“ Derek griff nach seinem Arm, als hätte er Angst, Jamie würde ihm wieder entfliehen. Doch das hatte er nicht vor. Nicht wieder.

Er lächelte traurig. „Sagen wir so. Meine Mut ..., meine Managerin war über meinen nicht von ihr abgesegneten Auftritt nicht wirklich begeistert.“

„Aber du hast dich wohlgefühlt. Du sahst glücklich aus.“

Jetzt verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. „Ja.“

Langsam wurde es voller, schweigend leerten sie die Drinks. Jamie sah sich immer wieder nervös um. Natürlich war zu erwarten gewesen, dass er nach diesem Auftritt im Mittelpunkt stand. Es gefiel ihm trotz allem nicht. Er fühlte sich fehl am Platz.

„Willst du gehen?“, fragte Derek verständnisvoll.

„Ich weiß nicht wohin, wenn ich ehrlich bin.“

„Bei mir im Hotelzimmer ist genügend Platz, wenn du willst“, bot Derek ihm an und biss sich gleich darauf auf die Lippen. „Du musst nicht … ich will nicht, dass du denkst, ich würde das ausnützen.“

„Gerne“, willigte Jamie verspätet ein.

„Dann komm.“ Derek griff nach Jamies Hand, er wies ihn nicht zurück.

 
 

*
 

 

„Du zitterst ja.“ Erst nachdem Derek es ausgesprochen hatte, bemerkte Jamie es auch. Die Kälte, die ihn seit dem Streit mit seiner Mutter erfasst hatte, war langsam durch seinen Körper gekrochen, hatte jede Pore durchdrungen. Es war nötig gewesen, sagte er sich wieder, er hatte sich endlich von ihr lösen müssen, doch er hatte nicht erwartet, dass es so weh tun würde.

„Es war wohl alles zu viel heute“, sagte er tonlos.

„Du gehst jetzt erst einmal duschen“, beschloss Derek und schob Jamie in Richtung Bad. Er wehrte sich nicht. „Ich bestelle uns inzwischen etwas zu Essen aufs Zimmer. Du siehst aus, als ob du mir gleich umkippst.“

Derek ließ Jamie allein und er war froh für die einsamen Momente. Jamie schälte sich aus seinen Klamotten, ließ selbst seine Lederjacke achtlos zu Boden fallen.

Derek hatte Recht. Das warme Wasser vertrieb das Eis aus seinen Adern, er beruhigte sich langsam wieder. Schließlich hüllte er sich in einen flauschigen Bademantel. Er wollte schon hinaus ins Zimmer gehen, als sein Blick in den Spiegel fiel. Durch den Wasserdampf sah Jamie einen Mann im Spiegel, den er selbst kaum erkannte. Etwas war anders an diesem Bild als noch vor ein paar Stunden. Die blonde Mähne fiel über seine Schultern, wenn auch noch nass, seine Augen blickten ihn erstaunt an. Der schwarze Kajal lief in schwarzen Tränen über seine Wangen.

Ein gefallener Engel. Das stimmte nicht an dem Bild.

Ein Lächeln breitete sich auf seinem blassen Gesicht aus. Er war endlich von dem Podest gestürzt, auf das seine Mutter ihn erhoben hatte. Jamie kamen wieder die Textzeilen von Derek in den Sinn: Gebrochene Flügel. Noch immer bereit zu fliegen.

Doch etwas störte ihn an seinem neuen Spiegelbild. Sein Blick streifte die Utensilien auf der Ablage, bis er fand, was er gesucht hatte. Für einen Moment zögerte er, dann griff Jamie nach der Schere.

 

„Um Gottes Willen! Jamie! Was machst du denn da?“

Jamie fuhr herum und blickte in Dereks geschocktes Gesicht.

Dicke Strähnen blonden Haars lagen am Boden, hingen an seinen Schultern, an der Brust und im Waschbecken.

„Bitte, Jamie, mach’ jetzt keinen Blödsinn und leg’ die Schere weg.“

Derek hatte die Hände erhoben, um ihn zu beruhigen. Schreckgeweitete Augen huschten ruhelos über Jamies Körper.

Verwirrt blickte er zurück. „Schon gut. Den Rest kann morgen ein Friseur erledigen, wenn du es so grässlich findest.“ Jamie legte die Schere zurück auf die Ablage.

Derek entfuhr ein Laut zwischen Lachen und Weinen, dann zog er ihn in die Arme.

„Ich dachte … du kamst so lange nicht raus … Gott, ich habe gelaubt, du würdest dir was antun.“ Ein erleichtertes Lachen hallte durch das Bad.

„Warum sollte ich das denn tun? Jetzt, wo ich bei dir bin? Jetzt fängt das Leben doch erst an.“ Jamie lächelte leicht. „Ich dachte nur, dass die langen Haare nicht mehr passen für einen gefallenen Engel ohne Namen.“

„Du hast die Botschaft verstanden. Ich dachte, ich würde dich niemals wiedersehen. Es war meine einzige Chance, dass du dich zeigst, wenn du meine neuen Lieder hörst.“

„Ohne deine Musik hätte ich nie den Mut gefunden, mich aus dem Käfig zu befreien.“

„Und was wirst du jetzt machen? Weiter Brahms und Beethoven spielen? Und manchmal etwas von Forsaken Kingdom?“

„Ich denke, ich werde mir erstmal eine Pause von der klassischen Musik nehmen. Vielleicht gründe ich ja eine Band?“

„Das soll dich jetzt nicht unter Druck setzen, aber unser Keyboarder Paul wird bei der nächsten Tour nicht mehr dabei sein. Wir haben noch keinen Ersatz gef ...“

Jamie ließ Derek nicht weitersprechen, sondern küsste ihn stürmisch. „Ist das dein Ernst?“

„Mir war nie etwas ernster.“

 

***

 

„Lampenfieber?“ Derek legte seinen Arm um Jamies Schultern und grinste ihn schelmisch an. „Du hast in Konzerthallen gespielt, die dreimal so groß waren, wie das hier. Schon vergessen?“

„Nein“, antwortete Jamie gedehnt. „Aber das hier ist etwas ganz anderes.“ Er lehnte sich in die vertraute Umarmung und spürte, wie er wieder ruhiger wurde.

„Glaubst du, sie kommt?“, fragte Jamie nach einer Weile.

„Du hast ihr die Karten vor ein paar Wochen geschickt, sie konnte sich darauf einstellen.“

„Aber auf meinen Brief hat sie nicht geantwortet.“

„Sie hat auch Zeit gebraucht, dich loszulassen. Genau wie du. Es war nicht leicht für sie, da bin ich sicher, aber sie hat nicht versucht, dich aufzuhalten. Nicht einmal, als wir deine Sachen abgeholt haben.“

Jamie blickte zu Boden bei der Erinnerung an den Tag seines Auszugs vor drei Monaten. „Es hat ihr wehgetan – als würde sie meinen Vater noch mal verlieren.“

„Damit muss sie alleine klarkommen, das hat nichts mit dir zu tun. Du musst aufhören, dich deswegen schuldig zu fühlen.“

„Derek hat Recht, Jamie.“ Die Stimme seiner Mutter ließ Jamie hochschrecken. Er hatte nicht bemerkt, dass sie in die Garderobe gekommen war.

Verlegen stand sie vor ihm, den Kopf gesenkt. Beide wussten nicht, was sie sagen sollten. Jamie war klar, dass es sie viel Überwindung gekostet hatte, diesen Schritt zu gehen. Also gab er sich einen Ruck und nahm seine Mutter in den Arm.

Derek berührte ihn kurz an der Schulter. „Ich lasse euch für ein paar Minuten allein. Wir sehen uns auf der Bühne“, flüsterte er ihm ins Ohr und war auch schon verschwunden.

Erst nach einer Weile löste sich Jamie von seiner Mutter. Sie fuhr ihm durch die kurzen Haare, die wilder als je zuvor von seinem Kopf abstanden. Ihr Blick strich über sein leicht geschminktes Gesicht, über das schwarze Shirt, das von Rissen durchbrochen war, bis hinunter zu den klobigen Boots.

„Kannst du damit leben, Mutter?“, fragte Jamie forsch. „Damit, dass ich schwul und ein Rockmusiker bin?“ Er bereute die groben Worte im gleichen Moment.

Doch sie lächelte. „Jamie, du siehst aus wie dein Vater, als wir uns kennenlernten, wie könnte ich damit nicht leben?“ Sie hatte Tränen in den Augen. „Mir war nicht klar, dass du das hier wolltest, weil ich nur an mich gedacht habe.“

„Wir sollten aufhören, immer die Schuld für unsere verkorkste Beziehung auf uns nehmen zu wollen. Es ist jetzt Zeit, nach vorne zu sehen. Mit dieser Band – mit Derek - auf Tour zu gehen, das ist alles, was ich mir wünsche. Musik wird immer mein Leben bleiben und du immer meine Mutter.“

Sie war sichtlich gerührt und wollte gerade etwas erwidern, doch ein Klopfen an der Tür unterbrach sie.

„Es geht los, Mum. Wir haben später noch Zeit. Bitte hör es dir an. Metal ist besser als sein Ruf.“

Jamie zwinkerte ihr zu und folgte dem Rest der Band auf die Bühne. Das Intro startete und er hatte noch kurz Zeit einen zärtlichen aufmunternden Blick mit Derek zu wechseln. Und als Jamie mit dem Piano-Solo einstieg, wusste er, er war angekommen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  demona1984
2013-06-23T22:35:59+00:00 24.06.2013 00:35
So, da du mich ja eingeladen hast, auch hier mal rein zu gucken - da bin ich und hinterlasse dir auch ein Kommi.

Eine schöne GEschichte, vorallem die Wandlung von Jamie. Schön geschrieben, diese Anfänge im goldenen Käfig, der Ausbruch aufs Konzert und diese, scheinbar sehr leidenschaftliche Nacht, die alles ins Rollen brachte.

Mutig, mutig, auf einer Preisverleihung für klassische Musik ein Rock-Cover zu spielen aber hey, Mut gehört zum Leben dazu.

Und schön fand ich auch, dass seine Mama es zum Schluß noch eingesehen hat - hat ja lange genug gedauert.

Jetzt hat er endlich was er immer wollte. Schön. Mal sehen ob dir noch mehr einfällt, wie schon erwähnt, ich freue mich auf mehr.

LG Demona
Von:  Akumako-chan
2013-04-29T19:01:09+00:00 29.04.2013 21:01
Das hast du aber gut gemacht, Lumi ^.^

Ich konnte richtig mit leiden, fieber, mich freuen, die Mutter hassen, heulen...
Kurzum, die Gefühle kamen echt gut rüber.
Der arme Jamie, der einfach nicht so sein durfte, wie es es doch so umbedingt wollte.
Derek, der sich in einen blonden Süßen verguckt und ihn nach einer, wohl sehr leidenschaftlichen Nacht nicht mehr gefunden hat. Armer Kerl *drück*
Aber das Lied muss der Hammer sein! *hören will*
Und die Mutter erst!
Antisympathiefigur Nr.1!!! Boah, der hätte ich nur zu gerne mal eine gescheuert!!!
Aber immerhin hatt sie gaaaanz am Schluß eingesehen, dass wohl doch einiges schief gelaufen ist.
Und die beiden Schnuckelchen haben sich auch wieder *seufz*

Auch dein Schreibstil hat enorme Fortschritte gemacht *patt*
Nur hier und da ist ein Leerzeichen zuviel, aber ansonsten echt sehr schön ^.^

So, nun bin ich aber gespannt was du dir noch so alles einfallen läßt.
Weiter so!!! *anfeuer*

Dickes Busserl, dat Aku


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