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Blind

Holly x Rico
von

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Kapitel 6: Lullaby

In den folgenden Tagen kam Rico, wie versprochen, sobald die Besuchszeiten im Krankenhaus, in dem Holly lag, anfingen und ging oftmals entweder am späten Nachmittag oder wenn ihn eine Schwester darauf hinwies, dass sich Besucher doch bitte langsam verabschieden sollten. Holly hatte es aufgegeben, Rico davon zu überzeugen, sich einfach mal einen Tag Ruhe zu gönnen. Und Rico ließ im Gegenzug das Thema Zukunft auf sich beruhen. Auch wenn er sich natürlich immer noch unheimlich Sorgen um den Sänger der Instanz machte; von seinen Ängsten und dem Gefühlschaos in seinem Inneren ganz zu schweigen.

Holly erging es derweil nicht anders. Er machte sich nach wie vor Gedanken um Ricos Zustand und fragte seine restlichen Bandkollegen, wann immer er die Zeit dazu fand, nach dessen Befinden. Doch das war leichter gesagt, als getan. Denn die anderen Mitglieder der Instanz kamen abwechselnd und ohne Ankündigung. So hatte der Sänger mal viel, mal wenig Besuch. Und Rico ließ es sich nie nehmen, trotzdem bei Holly zu bleiben – auch wenn die anderen da waren. Einerseits fand der Berliner es ja irgendwie rührend, wie sehr sich der Violinist um ihn kümmerte; andererseits konnte er nicht abstreiten, dass er seine Gesellschaft sehr genoss, auch wenn sie ihm Sorgen bereitete. Denn so war er immerhin von der Situation, in der er sich momentan befand, abgelenkt – allerdings wurde er auch tagtäglich daran erinnert, wie sehr Rico sich für ihn aufopferte und wie ausgebrannt er inzwischen sein musste.

Dass das nicht nur an den ständigen Fahrten zum Krankenhaus und zurück lag, ahnte Holly jedoch nicht im geringsten…

Es dauerte fast eine Woche bis endlich die Ergebnisse der ganzen Untersuchungen feststanden, die in der Zwischenzeit gemacht wurden. Und die Diagnose bezüglich Hollys Augenlicht. Rico erzählte gerade von seiner chaotischen Fahrt zum Krankenhaus, als ein Arzt in Begleitung einer Schwester hereinkam. Nachdem Holly ihnen versichert hatte, dass er Rico ohnehin sofort von den Ergebnissen erzählen würde und er somit im Raum bleiben konnte, nickte der Arzt. Der Dunkelhaarige griff indes instinktiv nach Hollys Hand, während der junge Mann begann, dem Sänger irgendwelche medizinischen Zusammenhänge begreiflich zu machen. Die Schwester überprüfte derweil die Infusion und stellte sich anschließend wieder neben den Arzt. Holly spürte den leichten Druck an seiner Hand und musste beinahe überrascht schmunzeln. Scheinbar war Rico angespannter und nervöser als er selbst.

„Kurz gesagt: So wie es aussieht, werden Sie ihre vollständige Sehkraft zurückerlangen. Wir werden morgen noch eine abschließende Kontrolluntersuchung durchführen; aber ich denke, dass Ihrer morgigen Entlassung nichts im Wege steht. Sie haben sich wirklich schnell erholt.“

Die Schwester schenkte Holly ein Lächeln, was dieser zwar nicht sehen konnte, doch darum ging es bei der Geste ja auch nicht. Auch der Arzt war sichtlich erfreut, die gute Nachricht überbringen zu können. Und Rico war schlicht sprachlos. Er konnte in dem Moment noch weniger klar denken, als er es in letzter Zeit gekonnt hatte und wäre am liebsten dem jungen Mann oder der Schwester um den Hals gefallen… oder Holly.

Dieser grinste währenddessen gut gelaunt. „Siehst du, Stolzi? Und da machst du dir Sorgen. Mich kriegt man nicht so schnell kaputt.“

Rico wollte etwas erwidern, brachte jedoch keinen Ton hervor. In diesem Moment war er einfach nur glücklich – alles andere zählte für ihn nicht mehr! Holly würde wieder sehen können. Das war wie ein Traum.

„Wir werden Ihnen den Verband trotzdem heute schon entfernen, um zu sehen, ob mit Ihren Augen wirklich alles in Ordnung ist und dass Sie keine bleibenden Schäden davontragen. Am Anfang wird Ihnen wahrscheinlich alles sehr grell vorkommen, auch ein leichter Druck auf den Augen und Kopfschmerzen sind häufige Folgen. Und denken Sie daran, dass Ihre Augen sich erst langsam wieder daran gewöhnen müssen, zu arbeiten. Sie werden also erst mal noch etwas verschwommen sehen. Aber das gibt sich sehr schnell, keine Sorge. Sie sollten Ihre Augen aber noch nicht zu sehr anstrengen und sie stattdessen ein bisschen schonen – Kino, Disco, zu langes Fernsehen oder zu lange Arbeit vor dem PC würde ich also erst mal bleiben lassen. Und Sie sollten in regelmäßigen Abständen Nachsorgeuntersuchungen machen lassen. Zumindest über einen gewissen Zeitraum. Aber das erklären wir Ihnen dann morgen, wenn die letzten Untersuchungen durch sind.“ Lächelnd wandte er sich an die Schwester. „Also dann…“ Sie nickte und ging um Hollys Bett herum. „Wir bringen Sie jetzt in ein anderes Zimmer, dass man besser abdunkeln kann. Das macht es Ihren Augen leichter, sich langsam wieder an das Sehen zu gewöhnen.“

Rico, der immer noch nicht ganz glauben konnte, was er gerade erfahren hatte, lief wie in Trance neben Hollys Bett her, als dieser verlegt wurde. Das Zimmer, in das man den Sänger brachte, war mit Jalousien und Vorhängen versehen und konnte so je nach Bedarf verdunkelt werden. Als der Arzt den Raum eilends verließen, da er zu einem Notfall gerufen worden war, herrschte schummeriges Halbdunkel. Eine kleine Lampe brannte auf dem Nachttisch, die jedoch in ihrer Helligkeit gedimmt war und nur ein schwaches Leuchten von sich gab. Die Schwester begann derweil Holly den Verband abzunehmen. Nach und nach kamen dessen Augen darunter zum Vorschein, die er noch immer geschlossen hatte.

„Sie können die Augen ruhig öffnen.“

Langsam, wie in Zeitlupe hob Holly die Lider, schien jedoch im ersten Moment immer noch so orientierungslos zu sein wie zuvor.

„Das könnte jetzt ein bisschen unangenehm sein. Aber ich muss Ihnen in die Augen leuchten, um zu sehen, ob ihre Reflexe richtig funktionieren.“ Mit einer kleinen Stablampe leuchtete die Schwester Holly kurz in beide Augen, der diese daraufhin leicht zusammenkniff. Es schien wirklich nicht besonders angenehm zu sein und Rico war erneut kurz davor, die Hand des Sängers zu ergreifen.

„Au! Das tut ja wirklich weh.“, jammerte Holly genau in diesem Moment.

„Sehr gut. Dann ist alles ganz normal.“ Die Schwester lachte beim Anblick des leicht schmollenden Hollys. „Auch wenn es sich komisch anhört: das ist wirklich ein gutes Zeichen – wäre es nicht ein wenig schmerzhaft, wenn ich Ihnen nach so langer Zeit in völliger Dunkelheit direkt in die Augen leuchte, dann müssten wir uns ernsthafte Sorgen um Ihre Nerven machen. Aber keine Sorge: mehr mache ich nicht. Ab jetzt können sich Ihre Augen ganz in Ruhe daran gewöhnen, wieder etwas zu sehen. Sollten Sie später immer noch Schmerzen haben, rufen Sie uns einfach.“

Lächelnd verließ sie den Raum. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, wandte sich der Sänger an Rico, der sich gerade – immer noch sprachlos – auf einen Stuhl neben Hollys Bett fallen ließ. Er war froh darüber, dass der Raum dunkel war. Denn einerseits konnte Holly so seine Erschöpfung und seine Augenringe nicht sofort sehen und andererseits blieben auch seine Tränen, die in seinen Augen glitzerten, so im Verborgen. Zwar machte sich der Violinist nach wie vor ein bisschen Sorgen, da er wusste, dass Holly Arztbesuche nicht besonders mochte; doch momentan war er vor allem eins: erleichtert. Und so hatte er auch die Tränen der Freude nicht zurückhalten können, als er endlich wieder in die wunderschönen Augen des Sängers hatte blicken können. Zum Glück war der Schwester das Ganze entgangen und jetzt wischte er sie schnell weg und tat so, als würde er sich nur durch die Haare streichen. Immerhin konnte er nicht mit Sicherheit sagen, wie viel Holly schon erkannte und sicher war sicher.

„Nachsorgeuntersuchungen – na toll…“ Der Sänger seufzte theatralisch, doch Rico war sich ziemlich sicher, die Erleichterung darin hören zu können. Wahrscheinlich war auch Holly einfach froh, dass alles gut ausgegangen war. „Als hätte ich die Zeit für sowas, wenn wir auf Tour sind.“

„Holly!“, entfuhr es dem Violinisten sofort. „Wie kannst du jetzt schon wieder ans Touren denken?! Hast du dem Arzt nicht zugehört? Du sollst deine Augen schonen und erst mal wieder richtig fit werden. Die Tournee ist doch völlig unwichtig – die kann warten. Deine Gesundheit nicht.“

Holly lachte. „Du führst dich wirklich auf wie meine Mutter, Stolzi. Wärst du 'ne Frau, würde sie dich als Schwiegertochter sofort nehmen.“

Es war nur ein einfacher Satz, dessen eigentliche Bedeutung Holly sich wohl kaum im vollen Umfang bewusst war. Doch Rico spürte sofort wieder einen leichten Stich im Herzen. Für Holly würde er sich auch als Frau ausgeben… doch er könnte nie hundertprozentig weiblich sein. Denn er fühlte sich ja nicht in den falschen Körper hineingeboren und war eigentlich nicht enttäuscht darüber, ein Mann zu sein. Es machte manche Dinge im Leben lediglich komplizierter…

„Aber ehrlich mal, Holly. Solche Untersuchungen sind wichtig. Wenn du später doch noch Folgeschäden davonträgst, können die so wenigstens rechtzeitig bemerkt und behandelt werden.“

„Ist ja schon gut – das war doch nur ein Scherz. Ich mag halt einfach keine Arztbesuche… Aber ich weiß doch selbst, dass man unsere Sinneswahrnehmung nicht so einfach wieder herstellen kann, wenn man sie einmal verloren hat. Du machst dir einfach zu viele Gedanken, Stolzi.“ Holly lächelte den Violinisten warmherzig an, der sich daraufhin ziemlich zusammenreißen musste, um nichts falsches zu sagen. Doch er konnte diesem wunderschönen Lächeln einfach nicht standhalten und so erhob er sich vom Stuhl, setzte sich auf die Kante von Hollys Bett und legte vorsichtig die Arme um den Sänger.

Dieser schien im ersten Moment etwas überrascht zu sein, erwiderte die Umarmung jedoch. „Alles okay, Stolzi?“, fragte er leise. Seine Stimme klang besorgt.

„Das wird es erst wieder sein, wenn bei dir auch alles wieder in Ordnung ist.“, murmelte Rico. In diesem Moment war es ihm egal, dass man die Verzweiflung in seiner Stimme deutlich hören konnte. „Ich mach mir halt immer noch Sorgen. Das war alles einfach… irgendwie… zu viel. Es hätte sonst was passieren können bei diesem Unfall! Und… und… allein der Gedanke daran lässt mich nachts nicht mehr schlafen. Ich will einfach nur, dass es dir besser geht.“ Nur mit Mühe konnte der Violinist ein Schluchzen und die erneut in ihm aufsteigenden Tränen unterdrücken.

„Hey… schhhh, das wird schon wieder. Es ist doch nichts passiert. Und es macht auch keinen Sinn, sich darüber Gedanken zu machen, was hätte passieren können. Seien wir doch lieber froh, dass alles noch mal gut gegangen ist.“

Es klang ein wenig unbeholfen und wahrscheinlich fühlte sich Holly auch so – immerhin glich Ricos Zustand stark einem Nervenzusammenbruch und auch wenn der Sänger nicht so unsensibel war, um das zu übersehen, hatte er dennoch keine Ahnung, wie er am besten damit umgehen sollte. Rico klammerte sich indes regelrecht an ihm fest; als wollte er ihn gar nicht mehr loslassen. Und im Grunde war es auch so. Doch er bekam kein Wort heraus und schluckte nur, um seine Tränen auch weiterhin zu unterdrücken.

„Hey… du machst mir langsam wirklich Angst, Rico. Ich komm mir so vor, als wäre ich todkrank, wenn du dich so an mich klammerst.“

„Holly…“ Es glich mehr einem Wimmern, doch Rico war schon froh, dass er wenigstens alles andere, was ihm auf der Zunge lag, zurückhalten konnte.

„Schhh, ist ja gut.“

Beruhigend strich der Sänger dem völlig neben sich stehenden Violinisten über den Rücken. Inzwischen machte er sich ernsthafte Sorgen um dessen Zustand und überlegte, ob er vielleicht eine Schwester bitten sollte, ihm ein leichtes Beruhigungsmittel zu geben. Doch er kannte Rico und wusste, dass dieser damit nie und nimmer einverstanden wäre. Allerdings wusste er langsam wirklich nicht mehr, was er noch sagen oder tun konnte, damit Rico sich wieder beruhigte. Es kam ihm sogar fast so vor, als würde er alles nur noch schlimmer machen. Er musste ja wirklich ein toller Freund und Kollege sein… Doch dann wurden seine Gedanken von etwas anderem unterbrochen: Ricos Schultern bebten leicht. Zitterte er oder…?

„Rico?“, fragte Holly vorsichtig.

Keine Antwort.

„Hey…“

Langsam verzweifelte auch Holly an der Situation, die ihn immer mehr überforderte. Er hatte keine Ahnung, was er sagen oder tun sollte. Also machte er einfach das, was ihm als erstes in den Sinn kam: er nahm Rico vorsichtig an den Schultern und drückte ihn sanft ein kleines Stück von sich weg, so dass er ihm in die Augen sehen konnte. Der Violinist ließ es geschehen, schloss jedoch die Augen. Holly konnte schwer sagen, ob er ihn nicht ansehen wollte oder konnte… oder beides. Doch der Anblick des Dunkelhaarigen schockierte ihn mehr, als er erwartet hatte. Obwohl ihm klar gewesen war, dass er Tränen und mit Sicherheit auch diverse Anzeichen von Erschöpfung sehen würde, hatte er nicht damit gerechnet, wie schlimm Ricos Zustand offensichtlich war. Seine Augen waren gerötet, sein Gesicht nahezu leichenblass, er hatte dunkle Augenringe und scheinbar sogar einiges an Gewicht verloren, denn irgendwie wirkte er ausgezehrt und völlig fertig. Die Tränen untermalten dieses abstrakte Abbild des sonst so fröhlichen Violinisten auf makabere Art und Weise. Hollys Herz zog sich schmerzhaft zusammen. So hatte er seinen Freund und Bandkollegen wirklich noch nie erlebt. Und es tat ihm in der Seele weh, ihn so zu sehen.

Nachdem er den Dunkelhaarigen einige Sekunden völlig entgeistert angestarrt hatte, holte ein leises Schniefen ihn wieder in die Realität zurück. Noch immer liefen Tränen über Ricos Wangen und es schienen nicht die ersten zu sein, die er wegen Holly vergoss. Vorsichtig legte Holly eine Hand an Ricos Wange und hielt mit dem Daumen eine Träne des Violinisten auf.

„Hey… Bitte, Rico… Du weißt doch, dass ich Menschen nicht leiden sehen kann. Nicht wegen mir. Nicht wegen sowas.“

Langsam öffnete Rico die Augen und wieder zuckte Holly innerlich zusammen. Sie waren so voller Verzweiflung und Sorge, dass der Sänger ihn am liebsten nie wieder losgelassen hätte – zumindest nicht, bis auch das letzte Fünkchen Schmerz daraus verschwunden war. In diesem Moment wurde ihm eines klar: er hatte noch nie so qualvolle Augen gesehen, die offensichtlich so viel Leid miterlebt hatten. Und dass es ausgerechnet Ricos Augen waren, machte die Sache nicht unbedingt besser. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er scheinbar völlig am Ende und durcheinander war und ihn jetzt auch noch aus diesen Augen, in denen immer noch Tränen glitzerten, zutiefst verzweifelt ansah. Irgendwie hatte er das Gefühl, es wäre das erste Mal seit langem, dass Rico wirklich seine wahren Gefühle zeigte. Doch dieser Anblick sorgte dafür, dass sich seine Brust nur noch mehr zusammenzog. Warum hatte er denn nie etwas gesagt, wenn er doch offensichtlich so sehr litt? Und weshalb musste Rico überhaupt leiden, was war der Grund dafür? Holly hätte die Antworten auf diese Fragen gern gewusst.

Doch im Moment zählte das alles für ihn nicht.

Sanft zog der Sänger Rico wieder in seine Arme und drückte den Kopf des Dunkelhaarigen ebenso vorsichtig gegen seine Schulter. Mit einer Hand hielt er seinen Freund fest, mit der anderen strich er ihm zärtlich durch die leicht verwuschelten Haare. Er wusste nicht, ob es Rico helfen würde, sich zu beruhigen, aber der Violinist wehrte sich auch nicht dagegen und klammerte sich stattdessen an das Krankenhaushemd Hollys. Immer wieder hörte der Sänger das leise Schluchzen, das zwar nur gedämpft zu ihm drang, aber dennoch deutlich zu erkennen war. Allein die Vorstellung, was Rico wohl gerade durchmachen musste, jagte ihm einen unangenehmen Schauer über den Rücken. Er konnte es kaum ertragen, den Dunkelhaarigen so verzweifelt zu sehen; also begann er, leise zu singen:

„Schlaf, schlaf. Schlafe ein. Du bist auch heute Nacht nicht allein. Schlaf, schlaf. Schlafe ein. Ich werde jede Nacht bei dir sein.“

Er wiederholte den Text immer und immer wieder, bis Rico irgendwann wirklich ruhiger wurde und auch das Schluchzen nicht mehr zu hören war. Dennoch rührte sich der Violinist nicht und auch Holly ließ ihn nicht los.

„Danke, dass du die ganze Zeit über bei mir warst, Rico.“, flüsterte der Sänger nach einer Weile, in der sie von einer nicht unbedingt unangenehmen Stille umgeben waren. „Du hast mir damit wirklich geholfen. Deine Anwesenheit hat mir Kraft gegeben… Und es war schön, als erstes ein bekanntes Gesicht zu sehen.“ Er lächelte sanft. Und auch wenn er es niemals zugegeben hätte: es war umso schöner, dass es ausgerechnet Ricos Gesicht gewesen war. „Denn die Schwester habe ich im ersten Moment gar nicht richtig erkannt – meine Sicht war noch viel zu verschwommen. War schon echt seltsam.“

Rico schwieg und hob nur vorsichtig den Kopf, um Holly in die Augen schauen zu können. Dieser erwiderte den Blick des Violinisten und für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt und wieder nahm Holly ganz deutlich den ihm so vertrauten Geruch Ricos wahr. Doch diesmal lag es eindeutig an der Nähe zu ihm – immerhin hatte er sein Augenlicht ja jetzt zurück. Hollys Hand, die bis eben noch auf dem Hinterkopf des Dunkelhaarigen gelegen hatte, berührte nun zärtlich seine Wange. So wie vorhin, als er die Tränen aus Ricos Gesicht gewischt hatte. Der Sänger strich über Ricos Haut, als sei sie aus zerbrechlichem Porzellan. Und während letzterer sich in den Augen seines Geliebten verlor, verfolgte Holly die Bewegungen seiner eigenen Hand mit dem Blick.

„Rico…?“ Seine Stimme war leise, fast nur ein Flüstern. Doch da es im Zimmer vollkommen still war, verstand der Violinist ihn klar und deutlich. Er sah den Sänger fragend an und schluckte. „Versprichst du mir etwas?“

„Was denn?“

„Bitte… gib mehr auf deine Gesundheit Acht. Ich weiß, dass du dir Sorgen gemacht hast und dass finde ich auch sehr rührend von dir. Aber ich würde es mir nie verzeihen, wenn dir etwas zustoßen würde, weil du dich für mich völlig aufgibst. Ich kann es nicht mit ansehen, wie du leidest! Das ist für mich selbst auch eine Qual. Besonders wenn ich der Auslöser für deinen Schmerz bin. Und momentan siehst du aus wie eine wandelnde Leiche. Ich hab Angst, dass du mir hier jeden Moment zusammenklappst. Du brauchst Ruhe und Entspannung, damit dein Körper sich erst mal ordentlich von dem ganzen Stress erholen kann!“

„Aber…“, begann Rico. Ich würde mich nun mal völlig für dich aufgeben… nur für dich und für niemanden sonst wäre ich bereit, ein solches Opfer zu bringen. „… du weißt doch ganz genau, dass ich das nicht kann. Nicht solange du noch hier drin bist. Ich kann keinen Gedanken an eine Ruhepause verschwenden, wenn ich weiß, dass sie mir außer Alpträume eh nichts bringt. Außerdem hatte ich Angst – Angst um dich, Angst um die Zukunft, Angst um die Instanz. Wie soll ich mich denn da entspannen?“

„Dann versprich mir bitte wenigstens, dass du dich ab jetzt ein bisschen erholst. Jetzt weißt du ja immerhin, dass bei mir alles in Ordnung ist und morgen bin ich ohnehin hier raus.“

„Meinetwegen, ich werd's versuchen. Aber gib mir nicht die Schuld, wenn es nicht funktioniert. Wenn ich dich morgen abgeholt hab-“

Doch Holly unterbrach ihn. „Mich abgeholt!? Mein Gott, Rico! Ich kann mir doch ein Taxi nehmen, verdammt. Sonst komm ich mir so vor, als würde ich dich nach Strich und Faden ausnutzen. Schon schlimm genug, dass du es wirklich durchgezogen und mich jeden verdammten Tag hier besucht hast. Jetzt willst du auch noch Fahrservice spielen!?“

„Aber du hast doch gesagt, dass es gut war, dass ich dich besucht hab. Und so kann ich dir wenigstens erst mal ein paar Sachen von mir leihen, bis du wieder zu hause bist.“, meinte Rico nahezu kleinlaut und wich dem Blick Hollys aus. „Es wär vielleicht ohnehin besser, wenn du die ersten paar Tage nicht unbedingt allein bleibst. Immerhin sind deine Wunden noch nicht vollständig verheilt und… man weiß ja nie… Es… wäre mir zumindest lieber, wenn ich wüsste, dass… jemand da ist.“ Der letzte Teil kam ziemlich stockend und Holly befürchtete schon, dass Rico wieder in Tränen ausbrechen würde. Doch eigentlich lag es eher daran, dass der Violinist sich zusammenreißen musste, um die Worte neutral klingen zu lassen. Denn eigentlich gefiel ihm die Vorstellung, dass irgendjemand bei Holly war, ganz und gar nicht…

„Es war ja auch schön, jemanden zum Quatschen zu haben und so. Aber ich hab dir damit doch auch eine ganz schöne Last auferlegt – jeden Tag den ganzen Weg hierher und zurück… Mein schlechtes Gewissen hat sich schon gemeldet, als ich dich nicht davon abhalten konnte, am zweiten Tag wiederzukommen.“ Holly seufzte. „Also ich denke, ich komm auch allein zu recht. Ist ja nicht so, dass ich auf Krücken durch die Gegend humpeln muss oder sonst was. Und mal ehrlich: wer soll denn für die paar Tage bei mir einziehen? Ich kann doch niemanden um sowas bitten.“

Rico sah wieder zu ihm auf. Ihre Blicke trafen sich für einen Moment und Holly legte fragend den Kopf schief.

„Dann muss ich eben ein Auge auf dich haben.“

Der Satz kam ganz automatisch und keine Sekunde später biss sich der Dunkelhaarige auf die Zunge. Eigentlich hatte er es nicht aussprechen wollen, doch nun war es zu spät… Schnell wandte er den Blick wieder ab.

Erneut hörte er Holly seufzen. „Du gibst wohl nie auf, was Stolzi?“ Vorsichtig riskierte der Angesprochene einen Blick zu dem Sänger. Doch statt eines genervten Gesichtsausdrucks sah er nur das warmherzige Lächeln Hollys. „Na schön, ich gebe mich geschlagen. Aber nur weil ich keine Lust auf endlose Diskussionen hab – damit das klar ist!“



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