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Die Geschichte des Shinigami Will

von

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Zehn Minuten vor 16 Uhr. Es war bald soweit. Will vefolgte Thomas Wallis, der aufgeregt in Richtung Verlag rannte. Jetzt sollte sein Roman endlich veröffentlicht werden.

Aber dann passierte es. Als er über die Straße lief, fuhr eine Kutsche ihm entgegen. Zu spät bemerkte er das Fahrzeug und es kam, wie es kommen musste: Die Kutsche fuhr Thomas Wallis an, er fiel zu Boden und die Seiten des Romans, in den er so viel Arbeit gesteckt hatte, wirbelten durch die Luft, bis sie neben dem blutüberströmten Körper zu Boden fielen. Die Kutsche fuhr einfach weiter.

Sofort versammelten sich einige Menschen um den Verletzten, überall brach Gemurmel aus.

Will sprang von dem Dach, von dem aus er alles gesehen hatte, zog seine Sense und kniete sich vor Thomas Wallis in den Schnee.

„Ich beginne nun mit der vorgeschriebenen Prozedur.“ Er holte aus und stieß ihm dann die Sense in den Bauch, so fest er konnte. Sofort strömten Erinnerungen aus seinem Körper. Will sprang wieder auf ein Dach und sammelte sie mit seiner Sense ein, als Thomas Wallis mit seiner letzten Kraft nach einem der Zettel griff, die um ihn herum verstreut waren.

Eine der Erinnerungen raste jetzt auf Will zu und schlug ihm die Brille aus dem Gesicht. Verzweifelt versuchte er, sie wieder zu finden, aber er sah nichts als verschwommener Formen.

Eine der Erinnerungen umklammerte sein Bein; er stolperte und fiel. Fluchend versuchte er, sich aufzurappeln, aber jetzt schienen die Erinnerungen in ihn hineinzuströmen. Will schrie, er sah vor seinen Augen Thomas‘ Leben, wie es bis jetzt gewesen war.

Jetzt wusste er alles über diesen Menschen. Er war so gerührt, dass eine Träne aus seinem Auge rann.

Plötzlich war en lautes Geräusch zu hören, als würde jemand Papier zerschlitzen, und Will wurde aus der Umklammerung befreit.

„Wie kannst du nur?“, sagte Grell mit süßer Stimme. „Entfachst in mir das Feuer der Leidenschaft und gibst dich dann mit so einem Bürschchen ab!“ Er sprang von dem Vorsprung, auf dem er gesessen war, und ging auf Will zu, der keuchend auf dem Dach kniete. Dann beugte er sich zu ihm herunter und setzte ihm seine Brille auf die Nase. „Pass gut auf deine Brille auf“, säuselte er.

Beiden standen wieder auf. „Lass gefälligst die Hände von meinem Mann, du dreister Dieb“, rief Grell. „Hast du mich verstanden?“ Sie zückten ihre Sensen. „Wen meinen sie denn hier mit ‚meinem Mann‘?“, knurrte Will.

Die Erinnerungen griffen wieder an, beide kämpften als Team gegen sie. Immer wieder sammelten sie einige von ihnen ein.

War das das verzweifelte Strampeln eines Sterbenden? War das die Würde des Lebens?

Sie standen jetzt Rücken an Rücken und sammelten Erinnerungen ein.

„Wollen wir ihn nicht so langsam mal gehen lassen?“, fragte Grell und drehte den Kopf Will zu. „Was denkst du?“

Beide hörten auf, die Erinnerungen einzusammeln und legten ihre Sensen aufeinander. Sie begannen zu leuchten, und als sie beide gleichzeitig nach vorne stießen, schnellte ein riesiger leuchtender Ball durch die Luft und schleuderte die restlichen Erinnerungen zurück. Will sammelte diese ein und ließ sich wieder aufs Dach fallen, wo er sanft landete.

Genau in diesem Moment schlug es vier Uhr.

Thomas Wallis starb.
 

Seit Wills Abschlussprüfung waren einige Wochen vergangen. Grell und er hatten echte Shinigami-Brillen und Sensen, und Will bekam gerade in diesem Moment seinen ersten Auftrag.

Die Frau, die sterben sollte, würde er, wenn er den Anweisungen folgte, heute um Mitternacht in der Cafeteria der Shinigami-Behörde antreffen. Das kam ihm etwas seltsam vor, aber sie hatten ihm sogar den Schlüssel gegeben, also wollte er die Befehle befolgen.

Als er um kurz vor Mitternacht eintraf, war es dunkel und still. Was erwartete er sich auch, mitten in der Nacht hierher zu kommen?

Die zehn Minuten, die er hier in dem sonst so belebten Raum stand und wartete, kamen ihm ewig lang vor. Bis jemand kam.

Sie war klein, dünn, und schien beinahe zu leuchten, weil sie in einen weißen Umhang gehüllt war, der genauso weiß wie ihre Haare und ihre Haut waren.

Sie sollte er töten? Seine... Nein. Das durfte nicht passieren.

Aber als sie sich umdrehte, war Will sich ganz sicher.

„Will... Du?“, hauchte sie.

„Dein Name ist... Cherina Reary?“, murmelte er mit leerem Blick und sah von seiner Todesliste zu ihr.

Sie sah ihn ausdruckslos an. „Ich habe keinen Namen.“

War sie die Person, die er töten sollte?

„Bist du der Shinigami, der mich töten soll?“, fragte sie.

Es sah danach aus. Was sollte er tun? Nein, er konnte sie nicht umbringen.

„Schaffst du es nicht?“, rief eine bekannte Stimme. Will hörte Schritte und schließlich betrat er, gelassen wie immer, die Cafeteria: Chris.

„Du?“, sagte sie ungläubig.

Plötzlich veränderte sich Chris‘ Gesichtsausdruck. „Du.“

Er ging auf sie zu, nahm sie in die Arme, und Will konnte nichts tun.

Sie sah sehr ernst aus. „Du bist nicht mehr der, den ich liebe, Caesus.“

Caesus? Der Gefallene?

„Du hast also auch die Geschichten über mich gehört, ja?“

„Was geht hier vor?“, fragte Will.

„Wir sollten es ihm erzählen“, sagte sie.

Chris‘ Augen leuchteten kurz in strahlendem weiß auf, dann nickte er. „Will, ich liebe dieses Mädchen“, sagte er.

Wie?

„Wir beide sind Engel.“

Wie?

„Ich liebe sie seit Jahrhunderten. Und ich war einer der Thronengel, also sehr mächtig. Wenn sie in Gefahr war, habe ich meine Macht ausgenützt und andere Engel dazu gezwungen, die Menschen zu töten, die ihr etwas antun wollten.

Diese Engel waren die einzigen, die für meine Taten bestraft wurden. Bis einer mich verraten hat.

Seit diesem Tag, mein lieber Will, bin ich ein gefallener Engel. Ein Wesen, das dunkel und hell zugleich ist. Ich irre für alle Zeiten auf der Erde und habe das Mädchen meines Herzens gesucht. Und jetzt habe ich dich hier gefunden, Interita.“ Chris lächelte sie an. Die Untergegangene.

Will hörte zwar, was der Engel da sagte, aber es erreichte seine Ohren nicht ganz. Engel? Er hatte Zeit mit zwei Engeln verbracht? Sie war immer nur hier bei ihm gewesen, um jetzt von Chris gefunden zu werden?

„Und jetzt“, sagte dieser, „wirst du Abschied nehmen von dieser Welt. Sieh es als Geschenk, dass es dir nicht so ergeht wie mir und deine Seele ruhen kann.“

Will wartete, ob etwas passierte, aber keiner der drei bewegte sich auch nur einen Zentimeter. Als er begriff, wurde ihm sehr kalt. „Aber... das hier ist doch nicht dein Name. Dein Name ist Interita!“

Sie schüttelte traurig den Kopf. „So werde ich nur von Bewohnern des Himmels und allen Engeln genannt. Ich bin nur ein einfacher Engel, keiner von uns hat einen Namen. Der Name dieses Körpers... ist Cherina Reary.“

Verständnislos starrte er sie an.

„Will... Dieser Körper... ist eine Leiche.“

Eine... Leiche? Er hatte eine Leiche umarmt?

„Wenn ich nicht bald aus diesem Körper verschwinde, wird er verwesen und meine Seele wird für immer in den Knochen dieser Frau gefangen sein“, presste sie hervor und schaute gequält nach oben, als wollte sie Tränen zurückhalten.

„Und deshalb“, warf Chris ein, „musst du sie töten! Wenn ich ihre ‚Hülle‘ umbringe, wird sie nur unerträgliche Schmerzen erleiden, aber dieser Körper ist ja schon tot.“ Will konnte nicht fassen, mit welcher Gelassenheit der Engel diese Worte aussprach. Er erwartete einfach, dass Will ihm gehorchte. Ja, das Gesetz war sehr wichtig. Aber es gab eines, das ihm noch wichtiger war.

„Das“, sagte er mit fester Stimme, „werde ich auf keinen Fall tun.“

„Will...“, flüsterte sie.

„Aber damit tust du ihr ganz bestimmt keinen Gefallen“, meinte Chris. „Willst du wirklich, dass sie nie zur Ruhe kommt?“

„Es muss einen anderen Weg geben“, sagte Will ruhig.

„Dann sag mir doch, was du machen willst!“ Chris starrte ihn gereizt an. Warum war er heute so seltsam?

„Ich werde es herausfinden.“

„Lass mich doch damit in Ruhe! Wenn wir es nicht heute machen, ist es zu spät!“

„Nein.“

„Ich muss dich wohl belehren“, sagte Chris und hatte plötzlich ein boshaftes Grinsen auf den Lippen. Er machte einige Schritte auf Will zu und starrte ihm mit einem Blick in die Augen, bei dem ihm ganz anders wurde. Plötzlich begannen Chris‘ Augen weiß zu leuchten, und auch alles andere wurde weiß.
 

Als er wieder zu sich kam, sah Will, dass Chris, der jetzt vor ihm auf dem Boden kniete, sie auf einen Stuhl gefesselt hatte. „Oh, du bist wieder wach“, grinste der dunkle Engel. „Wirst du jetzt tun, was dir befohlen wurde?“

Will stand auf. „Ich werde sie nicht töten.“

Chris schüttelte den Kopf. „Ich muss wohl härter durchgreifen.“ Damit stand er auf und zog sein Schwert, das Will einmal für eine Todessense gehalten hatte. Ehe er wusste, wie ihm geschah, wurden seine Hände hinter dem Rücken zusammengehalten und das Schwert lag an seiner Kehle.

„Töte sie“, zischte Chris mit einer gefährlichen Stimme. Als Will den Kopf schüttelte, drückte er das Schwert fester an seinen Hals, Will spürte einen leichten Schmerz, als sein Hals leicht aufgeschlitzt wurde.

„Tu es“, flüsterte Chris.

Plötzlich drehte Will sich aus Chris‘ Griff heraus und zog in dem Moment, in dem der sich verblüfft umsah, seine Baumschere; seine Todessense. Dann sprang er so weit weg von Chris, wie er konnte. „Hiermit“, sagte er ruhig und rückte seine Brille zurecht, „kann ich auch von weiter Entfernung aus angreifen.“

Chris knurrte und rief: „Was bringt es dir, sie am Leben zu lassen?“

„Ich würde nie einer Person, die ich liebe, das Leben nehmen, egal, ob es auch für sie ein Vorteil ist.“

Seine Eltern waren nicht umsonst gestorben.

Er richtete seine Sense auf Chris,während er geschickt die Fesseln entfernte, die sie auf dem Stuhl festhielten. „Will“, flüsterte sie ihm schnell zu und sah ihn böse an, „für wen auch immer du das tust, für mich jedenfalls nicht.“

Das wusste er.

Plötzlich durchfuhr ihn ein so heftiger Schmerz, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Schreiend sank er zu Boden und sah, wie Blut an seinem Bein entlangströmte: Chris hatte ein Messer nach ih geworfen, das jetzt tief in seinem Bein steckte.

„Töte sie endlich!“, schrie er und warf mehrere Messer an ihm vorbei, das Glas der großen Fenster hinter ihm zerschellte, als sie daran abprallten.

Völlig abgelenkt von dem brennenden Schmerz in seinem Bein hatte Will seine Todessense fallen lassen, und so konnte Chris jetzt problemlos zu ihnen gelangen. Er entriss sie seinen Armen und griff nach einem der Messer, die in den Scherben am Boden lagen. Dann, ohne jegliche Warnung, stieß er ihr das Messer mit Wucht in den Bauch. Sie kreischte auf, keuchte, weinte, schrie ohrenbetäubend, dass es Will ganz schlecht wurde. Ihre weiße Kleidung färbte sich blutrot.

„Willst du sie denn noch immer nicht von dem unerträglichen Schmerz befreien?“, grinste Chris, während sie sich die Seele aus dem Leib schrie.

Es gab nur mehr einige Möglichkeit. Will zückte seine Todesliste, zog einen Stift aus seiner Jackettasche und schrieb einen Namen:

William T. Spears.



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