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Wirklicher als der Mond

Wichtelgeschichte für Ixtli
von

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Eule und Wolf

Wirklicher als der Mond
 


 

Wenn der Sommer seinem Ende zugeht, verschwinden die Fledermäuse. Eule ist sich nie sicher, ob die warmen Tage sie vertreiben oder ob sie den Sommer einfach mitnehmen. Aber Eule weiß auch nicht, wohin die Fledermäuse gehen und fragt auch nie. Der Turm ist alles, was er kennt. Die Welt da draußen ist unheimlich.
 

“Wie weit fliegst du?”, fragt eine kleine Fledermaus, als Eule von der Jagd zurückkommt. Seine Federn sind zerzaust vom Wind und in seinem Kopf schwirren noch die Sterne herum. Er mag das Gefühl, wenn er wieder den Turm ansteuert, in seinen Krallen einen Käfer oder eine Motte, und im Herzen die Freiheit der Nacht.
 

“Bis zum Wald”, antwortet Eule und zupft sich die Federn zurecht.

Die Fledermaus sieht ihn aus schwarzen Knopfaugen an. “Nicht weiter?”
 

Eule wird Fledermäuse nie verstehen. Er hat seit Jahren keine mehr gefressen, sie schmecken ihm nicht und die Mäuse am Boden des Turms sind leichter zu erwischen. Ihre Gesellschaft ist nett. Ein bisschen laut und ein bisschen zu viel zu schnell und er wird sich wohl nie an die schnatternden Geräusche gewöhnen.

Aber er wird sie auch nie verstehen. Sie stellen komische Fragen. Besonders die kleinen.
 

“Willst du nicht die Welt sehen?”, fragt eine andere Fledermaus und hebt ihren Kopf. Sie hängt kopfüber an einem der Dachbalken, da sieht das etwas seltsam aus.
 

Eule denkt darüber nach. Über all ihre Fragen denkt er nach.
 

“Oder den Tag?”, sagt noch ein Knirps und plötzlich plappern alle auf einmal. Die kleinen Viecher haben eine seltsame Faszination für das Tageslicht. Eule schläft da lieber. Aber er denkt trotzdem nach.
 

“Willst du keine andere Eule finden?”

Diese Fledermaus scheint sogar noch kleiner zu sein als ihre Geschwister. Sie piepst leise wie eine Maus und wickelt ihre ledrigen Flügel um sich wie eine zweite Haut. Sie erinnert Eule an die Zeit im Frühjahr, wenn die dicken Raupen sich stocksteif an einen Ast hängen und grau und leicht zu erbeuten werden.
 

Eule denkt über die Fragen nach, aber er beantwortet sie nicht. Was soll er auch antworten?

Der Turm, die Felder drum herum und der Waldrand dahinter sind seine Welt. Mehr muss er nicht sehen.

Der Tag ist zu hell. Zu laut. Zu voll von all den Dingen, vor denen seine Mutter ihn immer gewarnt hat. Feinde. Menschen.
 

Nur die letzte Frage bleibt hängen, während die Sonne hinter den Bergen am Horizont auftaucht und die alten Fledermäuse die jungen schlafen schicken.

Eules Herz ist voll mit Freiheit und Sternenlicht. Und trotzdem fehlt ihm manchmal etwas. Ob es eine andere Eule ist. Weiß er nicht. Aber es kommt vor, in diesen Momenten, wenn die Fledermäuse schnarchend an den Balken hängen und er noch nicht schlafen kann, dass er gerne jemanden hätte, mit dem er sprechen kann. Mit dem er denken kann.
 

Die Sonne kriecht durch das Turmfenster und die Ritzen im Dach. Die Fledermäuse hängen so eng beieinander, dass sie nur noch ein großer grauer Haufen von Herzschlägen und spitzen Ohren zu sein scheinen.
 

Familie, denkt Eule und sieht zum Fenster hinaus. Fragt sich, ob es da draußen jemanden gibt, der auch eine Familie sucht.

Aber pffff. Er plustert sich auf. Da raus geht er ganz sicher nicht. So sehr sein Herz auch danach drängt. Da raus geht er nicht. Denn spätestens hinter dem Wald lauern die Menschen.
 

~*~
 

Wenn die Fledermäuse verschwinden, sitzt Eule in seinem Turm und vermisst das Schnattern auf einmal. Das ist blöd, das weiß er selbst, aber irgendwie… wachsen sie ihm jedes Jahr aufs Neue ans Herz. Gerade wenn er sich überzeugt hat, dass er ohne sie besser dran ist, kommen die Viecher wieder.

Nur um sich aus dem Staub zu machen, sobald es ein bisschen kälter wird.
 

“Ihr haltet nichts aus”, spottet Eule, aber er kann nicht verhindern, dass es auch ein bisschen anklagend klingt.

“Ach, Eule”, zirpt eine Fledermaus bevor sie sich zum Start bereit macht. “Du könntest auch mal aus deinem Turm raus.”
 

Das ist natürlich ein Scherz. Natürlich.
 

Eule sieht ihnen nach, sieht wie das Mondlicht sie verschluckt. Eine nach der anderen.

Es kommen nie alle zurück. Eule fragt sich, ob er sie vermisst. Oder nur ihre Gesellschaft.
 

~*~
 

An die Einsamkeit hat Eule sich gewöhnt.
 

Seine Mutter starb als er noch klein war. Ein Federball, grade alt genug zum Fliegenlernen. Seine Mutter war auch nicht mehr als ein Federball, wie sie am Waldboden lag und zuckte und ihre Federn sich langsam eigenartig rot färbten.

Er blieb als Einziger übrig. Er war der Einzige, der es aus dem Wald und zum Turm schaffte. Er war der Einzige, der sicher war.

Und das sollte auch so bleiben.
 

Manchmal träumt er von seiner Mutter. Von ihrem Schnabel, die sein Gefieder putzt. Von ihrer Stimme, die Geschichten erzählen konnte vom Wald und seinen Abenteuern.

Manchmal träumt er von diesen Abenteuern.

Und dann wacht er auf und erinnert sich an die roten Federn und den letzten Schrei seiner Mutter. So voll Schmerz und Angst. Er will niemals wieder so einen Schrei hören. Deshalb bleibt er im Turm. Deshalb fliegt er nur bis zum Rande des Waldes.
 

Deshalb ist er übrig geblieben.
 

Ganz allein.
 

~*~
 

Noch dauert es immer ziemlich lange bis Eule sich aus dem Turm wagen kann. Noch sind die Tage länger als die Nächte, auch wenn es kälter wird. Nebliger. Grauer.

Eule mag Grau. Grau schmiegt sich in seine Federn. Uns der Nebel macht das Jagen leicht, dämpft jeden Flügelschlag, macht ihn noch unsichtbarer.
 

Während er wartet, dass die Sonne untergeht, sieht Eule in die Welt und bis an den Rand des Waldes. Die Bäume stehen dicht und noch so grün. Der Wind, der an ihnen zerrt, wird stärker von Tag zu Tag, aber die Blätter halten stand.

Nicht mehr lange.

Wie der Wind an den Blättern reißt, so reißt der Anblick des Waldes an seinem Herzen. Es ist schwer zu beschreiben; besonders jetzt, wenn die Fledermäuse nicht mehr da sind, um ihn zu hören.
 

Es ist so still.
 

So still.
 

Dass Eule fast das Herz stehen bleibt, als er es hört. Dieses Geräusch, das er so noch nie gehört hat.
 

Oder doch.
 

Es erinnert ihn an den letzten verzweifelten Ruf seiner Mutter. Ein Schrei, irgendwo zwischen “Hilf mir!” und “Flieh!”.
 

So. Und doch ganz anders.
 

Ihm stockt der Atem. Eule lauscht noch mal in die Dämmerung. Aber alles ist still.
 

In dieser Nacht bleibt er in seinem Turm. Hellwach. Weil ihn so die Träume nicht jagen können.
 

~*~
 

Es vergehen viele graue Nächte bis das Geräusch wieder durch die Nacht hallt. So viele Nächte, dass Eule es fast schon vergessen hat.
 

Er will sich gerade zum Abflug bereit machen. Und fällt kopfüber aus dem Turm, als er es wieder hört.
 

Es ist näher als beim letzten Mal.
 

Eule fängt sich und schwingt sich in den Himmel. Der Mond ist noch voller als an dem Tag, als die Fledermäuse verschwunden sind. Der Wald schimmert in seinem Licht. Von dort kam das Geräusch. Eule ist sich sicher.
 

Grade hat er sich entschieden, mit leerem Magen in den Turm zurückzukehren, da hört er es wieder.
 

Ein Heulen.
 

Irgendwo zwischen “Hilf mir” und “Flieh”.
 

Aber Eule glaubt, noch etwas zu hören. Etwas das sich so tief in sein Herz bohrt, dass es wehtut. Weil es ihm bekannt vorkommt.

Weil er es kennt.
 

Einsamkeit.
 

Stundenlang kreist Eule durch die Nacht, lauscht den Mäusen in den Feldern unter ihm, den Sternen im Himmel über ihm. Kreist dem Wald entgegen.
 

Die Nacht wird schon heller, als er endlich die ersten Wipfel erreicht, aber noch hat er die Dunkelheit auf seiner Seite. Wie ein Schleier legt sie sich um ihn, um jeden seiner Flügelschläge. Und der Wald tut seinen Teil.
 

Eule erinnert sich, dass er den Wald einmal gemocht hatte. Wie es nie ruhig war, aber fast immer dunkel. Wie der Wind geflüstert hat, wie sicher er sich vorgekommen ist.

Heute scheint hinter jedem Baum ein Monster zu lauern. Und wenn es nur ein Schatten ist.
 

Irgendwann setzt Eule sich auf einen Ast. Er hört kleine Tiere über den Boden huschen, aber deswegen ist er nicht hier.
 

Zwischen all den hastigen Bewegungen ist etwas fremd. Es ist langsam und bedächtig, zumindest erscheint es so. Aber Eule ahnt, dass da ein Jäger wie er lauert. Ein Jäger, stark und schnell und bereit.

Er hört die Schritte kaum, aber sie sind da. Das leise Atmen. Die Eleganz eines Räubers.
 

Fremd.
 

Seine Augen sind gelb wie die Eules. Als er seinen Baum erreicht und zu ihm aufschaut, leuchten sie ihm entgegen. Er ist groß und grau wie die Nacht, er hat ein Maul voller spitzer Zähne und er riecht wild.

Aber seine Augen.
 

Bekannt.
 

“Hallo?”, sagt Eule leise. Seine eigene Stimme fühlt sich seltsam an, weil er sie nicht benutzt hat seit die Fledermäuse weg sind.
 

Die Augen sehen ihn an.
 

“Ich bin Eule”, sagt Eule noch leiser. Im Gebüsch unter ihm hört er ängstliche Mäuse piepsen. “Wer bist du?”
 

Da wendet der Fremde seinen Blick ab, hinauf zum Mond, der durch das Dach aus Blättern und Ästen schimmert. Eule bereut seinen Flug hierher schon, weil der andere nichts sagt, nichts tut, außer so verloren auszusehen wie Eule sich manchmal fühlt.
 

Aber dann öffnet er sein Maul und die Stimme dahinter ist so anders. Tief und grollend und anders.

“Ich weiß nicht”, sagt er.
 

~*~
 

Sie reden nur. Manchmal mit und manchmal ohne Worte. Eule mag das Schweigen fast lieber, weil die grollende Stimme ihm einen Schauer durchs Gefieder jagt. Dabei halten sie Abstand. Der Baum und die Erde darunter. Er trippelt hin und her auf seinem Ast, während der andere sich ins Gras legt.
 

Ein Wolf.
 

Eule kennt seine Art. Glaubt es zumindest. Er kennt sie aus Geschichten, Schauermärchen und alten Legenden, hat noch nie einen gesehen. Aber der Wolf sagt, das ist er. Nach kurzem Zögern.

Er sieht nicht halb so gefährlich aus wie Eule sich einen Wolf vorgestellt hat. Natürlich hat er spitze Zähne und Krallen, aber sein goldgelber Blick ist weich und er hat einen Riss im Ohr. Eule will ihn danach fragen und traut sich nicht.
 

Trotz allem ist er immer noch ein Wolf. Ein Fremder.
 

“Man hat mich Garou genannt”, brummt der Wolf irgendwann. Legt die Schnauze auf seine Pfoten, stößt Luft aus als würde er seufzen.
 

“Wer?”, will Eule fragen. Und: “Was heißt das?” Er hat nicht gewusst, dass Wölfe Namen haben.

Aber er kommt nicht dazu. Denn der Wolf – Garou Garou Garou, es klingt wie ein Lied in seinem Kopf - jault mit einem Mal auf und schüttelt wild den Kopf.

“Was ist?”, will Eule fragen, als er das Knacken hört. Wie von tausend brechenden Ästen. Oder Knochen.

Goldweißes Tageslicht kriecht durch den Nebel. Die Sonne schafft es grade so an den Bäumen vorbei und der Wolf leuchtet silbern im Licht. Unwirklich. Wie er sich reckt und streckt und jault. Das schwache Licht spielt Eules Augen einen Streich, das muss es, denn es sieht so aus, als würde sich der Wolf verbiegen, verformen, verlieren.

Immer weniger Wolf.

Immer mehr…
 

Eule schlägt nervös mit den Flügeln. Was soll er tun? Was soll er tun?

Was soll er tun?
 

Der Wolf nimmt ihm die Entscheidung ab, als er erst jaulend zusammenbricht und dann markerschütternd knurrt und dann kein Wolf mehr ist.
 

Eules Herz schlägt so schnell.
 

Der Mensch sieht vom Waldboden zu ihm auf. Es sind dieselben goldgelben Augen voller Traurigkeit. Er rollt sich zusammen und liegt da und zittert. Sein Körper ist ganz haarlos, ganz nackt und hell gegen die dunkle Erde gepresst.
 

Eules Herz schlägt zu schnell.
 

“Wer bist du?”, fragt er wieder.
 

~*~
 

Zuerst fliegt Eule davon. Es erscheint ihm als die normale Reaktion. Flucht. Aber er erreicht nicht mal den Turm bevor der Wind in seinen Flügeln auch sein Herz erreicht, es streichelt und beruhigt.
 

Da kehrt er um. Warum? Er ist sich selbst nicht sicher. Jeder Instinkt sagt ihm, dass es gefährlich ist. Jede Erinnerung sagt das.
 

Doch der Wolf, als er noch ein Wolf gewesen war, hat etwas gesagt heute Nacht. Eines der wenigen Dinge.
 

“Manchmal kommen zwei zusammen, von denen niemand je gedacht hätte, dass sie zusammen gehören.” Er hat traurig ausgesehen dabei. Weit weg in seinen Gedanken. “Manchmal entsteht daraus etwas, das größer ist als beide.”
 

Eule war sich da nicht sicher gewesen, was er gemeint hat.
 

“Freunde?”, hat er gefragt, den Kopf schief gelegt, die Federn aufgeplustert, weil er sich eigenartig wohl gefühlt hat.
 

“Auch”, war die Antwort gewesen.
 

Eule hat noch nie einen Freund gehabt. Seine Familie ist gestorben und die Fledermäuse verstehen ihn nicht wirklich. Der Wolf versteht ihn.
 

Der Mensch auch?
 

Er liegt noch immer da, wo Eule ihn verlassen hat. Die Haare auf seinem Kopf sind dunkel in der Dämmerung, verschmelzen mit dem Wald. Ansonsten passt er nicht hierher.
 

Eule setzt sich auf seinen Baum und ruft leise.
 

Der Mensch hebt den Kopf. “Du bist zurück.” Er klingt ungläubig und Eule kann es ihm nicht übel nehmen. Er versteht sich ja selbst nicht so recht.
 

“Freunde?”, fragt Eule leise und traut sich fast nicht, das Wort überhaupt auszusprechen.
 

Kopfschüttelnd sieht der Mensch ihn an.
 

“Ich versteh dich nicht”, sagt er. Seine Stimme ist anders. Nicht grollend wie die des Wolfs, aber noch immer tief und samtig weich. “Nur der Wolf versteht dich.”
 

“Aber warum versteh ich dich?”, fragt Eule und seufzt, als der Mensch verständnislos die Stirn runzelt.
 

Was macht das denn für einen Sinn?
 

Er breitet die Flügel aus und will zum Turm zurück, denn ehrlich, was hat er sich dabei gedacht? Ein Mensch, das ist ein Mensch.
 

Warte!”, ruft der Mensch hastig und plötzlich klingt er sehr wie Eule selbst, wenn er mit den Schatten im Turm redet.

Eule zögert wieder.

“Ich bin immer noch ich”, sagt der Mensch. Soll das eine Aufmunterung sein? “Ich bin immer noch Garou.”
 

Garou.
 

“Das ist der Name, den man mir gegeben hat. Als ich zum ersten Mal ein Wolf wurde.” Und dann erzählt er eine Geschichte.
 

“Ich war noch jung, als es passierte. Ein Kind. Meine Familie lebte in einem Haus am Rande eines Waldes. Weit weg von hier. Aber dieser Wald ist ihm so ähnlich.” Dabei streicht er über das Moos. “Ich hatte zwei Schwestern. Die ältere passte immer auf uns auf, wenn unsere Eltern mal weggingen. Einmal sind sie in die Stadt gefahren und sehr lange nicht zurück gekommen. Eine Vollmondnacht. Wir hörten das Heulen bevor wir ihn sahen. Den Wolf, der vor unserem Haus stand. Meine Schwester wollte nicht, dass ich nach draußen gehe, aber sie war nicht schnell genug. Ich war bei ihm, bevor sie die Tür verschließen konnte.”
 

Ein Zittern geht durch seinen Körper. Ob er das schon mal jemandem erzählt hat?
 

“Er stand ganz ruhig da. Ganz eigenartig ruhig. Er sah mich an und ich sah ihn an. Heute weiß ich, dass das Zeichen waren. Wenn du so ein Tier vor dir stehen hast, solltest du rennen. … Obwohl es dir wahrscheinlich nicht viel bringt.”
 

Er lacht auf. Es klingt bitter.
 

“Sein Biss kam unerwartet. Ich bin mir nicht ganz sicher, was danach passiert ist, aber… meine Schwestern hatten Angst vor mir seitdem. Meine Eltern auch. Sie konnten mich nicht mehr ansehen. Ich entschied mich zu gehen, weil ich es nicht ertragen konnte. Ich spürte, was passieren würde, was unumgänglich war, und ging. Ich hätte sie nie verletzen können. Und ich wollte ihnen keine Angst mehr machen…”
 

Eule sieht ihn an, den Menschen. Wie er da liegt, so bloß und klein und verletzlich. Wie könnte er jemals jemanden verletzen?

Dann denkt er an seine Mutter.

Und dann denkt er an den Wolf, und an all die Gruselgeschichten über ihn.
 

“Bei Vollmond”, fährt der Mensch fort, “muss ich ein Wolf sein. Ich rede und jage wie ein Wolf, jetzt schon seit Jahren. Irgendwann… hab ich auch angefangen, zu fühlen wie ein Wolf. Und irgendwann später fühlte ich mich wie der Wolf, auch wenn ich gerade der Mensch war.”
 

~*~
 

Warum schlägt ein Herz?

Warum schlägt sein Herz?
 

Wann schlägt es am schnellsten:

Wenn er den Wind in seinen Flügeln spürt?

Wenn er eine Maus unter sich rascheln hört?
 

Wofür schlägt sein Herz:

Für die Jagd, für das Fliegen?

Für die Nacht, für die Freiheit?
 

Für den Mond, die Sterne?
 

Für wen schlägt sein Herz?
 

Eule?


 

~*~
 

Nacht für Nacht fliegt Eule in den Wald. Irgendwann ist der Mensch nicht mehr nackt, er trägt Stoffe um sich, die ihn fast unsichtbar machen, die verschmelzen mit dem Braun und Grün und Grau des Waldes.

Zusammen mit seinen Augen, denkt Eule, sieht er jetzt fast wieder aus wie ein Wolf.
 

Dabei ist er menschlicher denn je.
 

Er geht aufrecht, er benutzt seine Hände, die wie bleiche Spinnen über die Haut der Bäume huschen, wenn er klettert. Er klettert. Und manchmal glaubt Eule, dass sein Mund sich verzieht, wenn er näher kommt. Er versucht es zu verbergen, aber na ja. Eulen haben bessere Augen als ein Mensch - und sei er noch so wolfsartig - sich vorstellen kann.
 

Er strahlt Ruhe aus.

Das ist wohl das Entscheidende. Am Anfang war er irgendwie… aufgewühlt. Erst saß er auf allen Vieren gegen einen Baum gepresst und ins Leere starrend. Eule konnte seine Gedanken fast schon rasen sehen. Dann irgendwann lief er durch den Wald, langsam hin und her, hin und her.

Hin.

Und.

Her.

Es hat Eule wahnsinnig gemacht.
 

Mit jeder Nacht wird er ruhiger. Eule fragt sich, fragt sich ernsthaft, ob er etwas damit zu tun hat.

Dann schüttelt er sich, stößt sich von seinem Ast ab und fliegt dem Himmel entgegen, um die Gedanken aus seinem Kopf zu treiben.
 

Der Mond verschwindet mehr von Tag zu Tag. Der Mensch sieht ihm hungrig nach. Er heult nicht, aber es sieht so aus, als würde er gerne.
 

“Du bist der einzige Freund in einer langen Zeit”, gesteht er irgendwann. Er weicht Eules scharfem Blick aus, malt mit den Fingern Zeichen in die Erde.
 

Eule wünscht sich, es wäre Vollmond. Damit er sagen kann, was er denkt, damit der Mensch ihn versteht.

Stattdessen breitet er die Flügel aus und sinkt dem Boden entgegen. Vorsichtig kommt er dem Menschen näher. Aus dieser Entfernung sieht er viel größer aus.
 

“Garou”, sagt er.

Als der Mensch aufblickt, glaubt er fast, er habe ihn verstanden.
 

~*~
 

Der Vollmond rückt näher. Eule sieht es, weil Garous Blick immer öfter zum Himmel huscht, weil die Unruhe in seine Augen zurückkehrt. Aber er ist anders unruhig als zuvor. Es ist keine Angst. Es ist keine Anspannung.
 

Er erwartet den Wolf.
 

Und Eule wartet mit ihm, aufgeregt und mit klopfendem Herzen. Bis Garou in einer Nacht über sein Gefieder streicht und das Lächeln auf seinem Gesicht einen traurigen Zug annimmt.
 

“Mit jedem Vollmond”, sagt er leise, “mit jeder Verwandlung ziehe ich weiter.”
 

Wie?
 

“Ich bin auf der Suche.” Sein Blick ist in die Ferne gerichtet. “Manchmal höre ich sie, wenn ich träume. Die Wölfe. Ein Rudel. Sie heulen und wollen mir sagen, wo sie sind. Aber ich verstehe sie nicht, weil…”
 

Er sieht Eule an.
 

“Ich verstehe sie nicht, wie ich dich nicht verstehe, wenn ich ein Mensch bin. Nur der Wolf weiß, wo sie sind und…”
 

Eule weiß nicht, was er davon halten soll. Die Finger in seinen Federn sind warm und schwer. Er will sich gegen sie schmiegen und sagen, dass alles gut wird.

Aber wer ist er schon, dass er das Recht hat, so etwas zu sagen?

Er kann Garou verstehen. Seine Einsamkeit. Den Wunsch nach einer Familie. Er versteht ihn so gut.

Und trotzdem. Trotzdem sträubt sich etwas in ihm gegen den Gedanken, ihn gehen zu lassen. Vielleicht ja gerade weil er ihn versteht.
 

~*~
 

Die Fledermäuse nennen sie Fürchterlich oder den Schrecken. Sie haben keine besonders guten Erfahrungen mit ihr gemacht, Eule kann das nachvollziehen.

Wenn er im Wald ist, hört er manchmal die Füchse flüstern. Ihr Name für sie ist Menschenviech, aber Füchse hatten noch nie wirklich viel Fantasie.

Den Name, der ihm letzten Endes im Gedächtnis bleibt, hat er aufgeschnappt, als er eine Nachtigall und eine Lerche belauscht hat.
 

“Sie könnte uns helfen”, sagte die Nachtigall. “Sie könnte dafür sorgen, dass wir uns nicht nur in der Dämmerung sehen können.”

Die Lerche schüttelte den kleinen Kopf. “Ich hab Angst vor ihr.”

“Ich werde dich beschützen.”

“Vor der Katze? Vor dieser roten Hexe willst du mich beschützen? Wie?”
 

Eule flog davon, bevor er die Antwort hören konnte. Manche Dinge sollten zwischen Nachtigall und Lerche bleiben.
 

Aber die Hexe geht ihm jetzt nicht mehr aus dem Kopf.
 

~*~
 

Die Katze erwartet ihn schon. Sie sitzt auf der Steinmauer, die den Wald vom ersten Haus der Menschen trennt, und putzt sich die Pfoten, als gäbe es nichts Wichtigeres auf dieser Welt.

Aber sie erwartet ihn. Eule kann es sehen, weil ihr Schwanz aufgeregt zuckt, als er sich nähert. Normalerweise würde er sich niemals – nie nie nie - so nah an die Menschen heranwagen.
 

Wann hat er aufgehört, in Garou einen Menschen zu sehen?
 

“Guten Abend”, seufzt die Katze schließlich, als sie von ihren Pfoten ablässt. “Kleine Eule.”

Eule macht ein seltsames Geräusch, das wohl eine Begrüßung darstellen soll. So ganz wohl ist ihm nicht beim Anblick der träge blinzelnden Augen, in denen das Sternenlicht sich spiegelt. Sie sieht furchtbar gelangweilt aus.

“Ich… wollte etwas wissen”, sagt Eule irgendwann vorsichtig.

Die Katze lächelt scheinheilig. “Ach.

“Ja.”
 

Mehr bringt er nicht heraus. Ihr hin und her wippender Schwanz ist hypnotisch, ihr Fell schimmert im Glanz der Nacht.
 

Hexe. Ja.
 

“Ich hörte”, sagt sie, als er nicht weiterspricht, “dass du dich mit einem Menschwolf angefreundet hast.”
 

“Er heißt Garou.”
 

“Und hier haben wir schon das erste Problem.” Hexe legt den Kopf schief und leckt sich mit ihrer kleinen Zunge über die Nase. “Wie heißt du?”
 

Bitte?
 

“Nun ja”, fährt Hexe fort, weil sie seinen verwirrten Blick ganz richtig deutet. “Du wirst einen Namen brauchen?”
 

“Wofür?”
 

“Für den Handel, den ich dir vorschlagen werde. Deshalb bist du doch da, oder? Für einen Handel?”
 

Eule nickt, weil es sich nicht so anhört, als habe er eine andere Wahl.

Hexes Augen leuchten. Sie steht auf und sie ist klein, kleiner als Eule, aber die Krallen, die sich aus ihren samtweichen Pfoten schieben, blitzen.
 

“Du willst wissen, wo du die anderen finden kannst. Die anderen Menschwölfe. Wo du eine Familie für ihn findest. Und – ach, ist das niedlich - für dich auch.”

Sie lächelt. Zeigt spitze Zähne dabei.
 

Eule schluckt. Er weiß nicht, was er sagen soll oder muss oder kann, und es macht ihn wahnsinnig, weil er sich noch nie so hilflos gefühlt hat. Und noch nie so stark und noch nie so lebendig. Es macht ihm Angst und es fühlt sich großartig an und er will es nicht verlieren.

Die Katze lächelt.
 

“Es ist erstaunlich”, sagt sie endlich, “wie einige Vögel sich an einen Weg erinnern können, den sie noch nie in ihrem Leben geflogen sind. Wie sie diesen Weg immer wieder fliegen können, ohne sich zu verirren.”
 

“Sie fliegen nach Hause”, bringt Eule heraus. So haben es ihm die Fledermäuse erklärt. Fledermäuse unterscheiden sich gar nicht so sehr von Vögeln.
 

“Hm”, macht Hexe. Sie sieht ihn eindringlich an. “Ich kann dir einen Weg geben. Einen Weg, der dich… nach Hause führt. Wenn du es genug willst.”
 

Er kann sich nicht vorstellen, etwas mehr zu wollen.
 

Aber.
 

“Was willst du dafür?”
 

Jetzt grinst sie und sie sieht menschlicher dabei aus, als Garou es je getan hat.

“Deine Federn.”
 

~*~
 

Garous Nasenflügel beben, als Eule sich nähert. Der Ausdruck in seinem Gesicht ist diffus, zu viel auf einmal, Verwirrung und Erkenntnis und Angst; und die Tatsache, dass Eule all das lesen kann, verstört ihn.
 

“Was…?”, fängt Garou an. Er starrt. “Wie… Wieso… Eule.”
 

Eule ist irgendwie nicht erstaunt, dass er ihn erkennt. Es ist fast seltsamer, dass es ihn nicht überrascht.
 

“Hallo”, sagt Eule. Seine Stimme klingt so ungewohnt. So fremd und Garous Augen werden immer größer.

Alles an ihm ist ungewohnt. Wie weit der Waldboden aus dieser Höhe entfernt ist. Er schaut auf seine Füße - er hat Füße - und wackelt mit den Zehen - er hat Zehen. Die Welt sieht anders aus durch diese Augen. Dunkler. Vielleicht liegt es auch daran, dass er nicht mehr so gut hört, dass der Geruch ein ganz anderer ist.
 

Dunkler.
 

Garou streckt zaghaft die Hand nach ihm aus. Er hat jetzt auch Hände, stellt Eule fest. Sie erscheinen ihm nicht ganz so bleich wie die Garous, als er den Arm hebt und sich ihre Fingerspitzen berühren.

Er zittert.

Sie zittern beide.
 

Genauso zaghaft breitet sich ein Lächeln auf Garous Gesicht aus. Unsicher. Was soll er nur davon halten.
 

“Ich weiß, wo wir die Wölfe finden”, sagt Eule mit einer Stimme, die im Hals kratzt.
 

~*~
 

Eule nennt sich Samson.
 

“Das war die letzte Geschichte, die mir meine Mutter erzählt hat. Bevor sie… na ja…” Er verzieht das Gesicht und Garou sieht zur Seite.
 

“Worum geht es?”, hakt er nach.
 

Fast muss Eul… Fast muss Samson lachen. “Ich weiß es nicht mehr. Es ist so lange her. Aber ich mochte, wie ihre Stimme klang, wenn sie das Wort sagte.”
 

“Samson”, sagt Garou nickend.
 

Ja, denkt Samson. Genau so.
 

~*~
 

Sie reisen tagsüber, weil Menschen nicht für die Nacht geschaffen sind. Es ist eine wunderbare neue Welt, die Samson da entdeckt. Auch wenn sie unheimlich ist und anders und hell. Auch wenn er sich jede Minute seine Flügel zurückwünscht, weil gehen anstrengend ist und seine Füße schmerzen.
 

Aber die Sache ist die.
 

Er wünscht sich seine Flügel zurück, weil es bequemer wäre. Doch um nichts in der Welt würde er tauschen wollen.
 

Hexe hat ihm einen Gedanken gegeben, der in seinem Kopf immer da zu sein scheint. Wie ein innerer Kompass, wie eine Karte, die er mit Herzblut schreibt. So führt er sie. Erst durch den Wald, später durch offene Graslandschaften, bis sein Weg immer steiniger wird und die Berge am Horizont größer werden.
 

Garou geht immer neben ihm. Egal wie langsam Samson ist, wie sehr er sich noch an diesen Körper gewöhnen muss. Er ist immer da. Gerade so nah, dass sie sich nicht berühren. Gerade so weit entfernt, dass Samson ihn spüren kann. Seine Wärme.
 

Menschen sind so warm.
 

Das erschreckt ihn am meisten. Eines Nachts liegt Samson neben Garou auf der Erde, den Blick in den Himmel gerichtet. Mit offenen Augen träumt er vom Fliegen, wie er den Wolken näher und näher kommt, wie der Wind ihn streichelt. Jetzt beißt er nur und sticht in seine dünne, federlose Haut.
 

Garou atmet gleichmäßig, aber mit einem Mal seufzt er, und rückt näher an Samson heran. Jetzt atmet er in seinen Nacken, schlingt den Arm um ihn.
 

Er ist warm.
 

~*~
 

Die Berge rücken näher und so auch der Herbst. Noch ist es immer noch warm genug, um draußen zu schlafen, aber Samson fürchtet sich vor der Kälte. Wie überstehen die Menschen den Winter ohne Gefieder?
 

“Kleidung”, antwortet Garou schlicht. Als wüsste Samson das nicht selbst. “Feuer. Andere Menschen.”
 

Samson lächelt. Denkt an die Nächte mit Garous Haut an seiner, es hat sich angefühlt wie früher im Nest mit seinen Geschwistern. Er hat schon lange nicht mehr so viel Nähe gespürt.
 

Die Berge rücken näher und so auch der nächste Vollmond.
 

Als Garou sich verwandelt, sieht Samson zu, auch wenn er ihm gesagt hat, er solle weggehen. Es sei zu gefährlich. Samson glaubt ihm nicht. Er erinnert sich an Garous weiche Hände und kann nicht begreifen, wie sie ihm wehtun könnten.
 

Das Fell wächst zuerst in seinem Nacken, auf seinen Armen, auf der Brust. Der Körper krümmt sich, scheint gleichzeitig zu schrumpfen und sich in die Länge zu ziehen, die Schnauze wächst und mit ihr die Zähne.
 

Ein Knurren.
 

“Hey”, sagt Samson. Der Wolf funkelt ihn an. Bleckt die Zähne und legt die Ohren an. Er sieht gruselig aus. Hätte er nicht Garous Augen, vielleicht hätte Samson dann wirklich ein bisschen Angst vor ihm.
 

“Hey”, wiederholt er. “Ich bin’s. Samson.”
 

Das Knurren hört nicht auf.
 

“Eule.”
 

Der Wolf kommt einen bedrohlichen Schritt näher.
 

“… Garou!
 

Und plötzlich ist es vorbei. Plötzlich blinzelt der Wolf und schnuppert und kommt näher. Er scheint zu lächeln, als er vorsichtig auf Samson zutappst, dann auf die Hinterbeine steigt und die Vorderpfoten auf Samsons Schultern ablegt.
 

Uff”, macht Samson, aber er muss lachen. “Du bist schwer.”
 

Es ist kein Wunder, dass er den Wolf nicht verstehen kann. In den letzten Wochen hat er sich daran gewöhnt, dass alle Vögel plötzlich fremde Sprachen sprechen, fremde Lieder singen.

Ein bisschen seltsam ist es. Aber das ist okay.
 

Denn Garous Fell ist weich und warm, sein Herzschlag ist regelmäßig. Sie liegen in der Nacht und dieses Mal ist es Samson, der Geschichten erzählt und Garou, der schweigend zuhört.
 

~*~
 

Eine Woche später passiert etwas. Samson ist sich nicht sicher, was es ist. Er ist sich mit nichts mehr sicher.
 

Garou und er machen Rast. Die Berge sind inzwischen so nah, dass Samson den Schnee auf den Gipfeln riechen kann. Zumindest bildet er sich das ein. Er hört die Tannen im Wind rauschen, spürt den ausklingenden Sommer auf seiner Haut.
 

Es geht ihm gut. Er legt den Kopf in den Nacken, schließt die Augen, lächelt.
 

Als er die Augen wieder öffnet, fängt er Garous Blick auf. Die gelben Augen mustern ihn. Ernst. Und verwirrt. Und zufrieden. Es ist eine eigenartige Mischung, die Samson nicht deuten kann.
 

“Was?”, fragt er.
 

Garou blinzelt und schüttelt den Kopf, als habe er ihn geweckt. “Nichts. Nur…” Er zögert, kneift die Lippen zusammen und kann nicht aufhören, Samson anzusehen. “Ich dachte am Anfang, du wärst ein Mädchen.”
 

Samson zieht die Stirn in Falten. Eine nette Sache, findet er. Wie viel er mit dem Gesicht aussagen kann, wenn er ein Mensch ist.
 

“Na ja”, fährt Garou fort, “es heißt ja auch ‘die Eule’.”
 

“Ja, und?”
 

Wieder schüttelt Garou den Kopf. Jetzt wendet er sich doch ab. “Nichts. Du hast recht. War dumm von mir.”
 

Samson versteht ihn nicht. Das ist vielleicht das erste Mal, dass er nicht schlau aus ihm wird. Er sieht so verschlossen aus.
 

Etwas zieht sich in ihm zusammen.
 

Ob das sein Herz ist?
 

~*~
 

Warum schmerzt ein Herz?

Warum schmerzt sein Herz?
 

Warum schmerzt es am meisten:

Weil er nicht versteht?

Weil er sich unverstanden fühlt?

Weil er vermisst, was war?

Weil er vermisst, was sein könnte?
 

Wann schmerzt es:

Wenn er nicht bei ihm ist?

Wenn er bei ihm ist?
 

Menschen haben komische Gefühle. Ein Eulenherz tut nicht so weh.


 

~*~
 

Sie erreichen den Pfad, den Samson in sich spürt, ein paar Tage vor Neumond. Die Sichel schwebt dünn und kaum sichtbar am Himmel. Aus irgendeinem Grund macht es Samson nervös. Er weiß nicht, warum. Die Dunkelheit zittert mehr als sonst durch seine Knochen.
 

Und Garou hält ihn nicht, wie sonst, wenn er nachts erwacht und sein ganzer Menschenkörper bebt, weil er vom Fallen und nicht vom Fliegen geträumt hat.
 

Garou hält ihn nicht. Garou hält Abstand.
 

~*~
 

In der Neumondnacht liegt Garou genau so weit von Samson entfernt, dass es seltsam wirkt. Samson kann nicht anders, als wütend zu sein, zumindest ein bisschen. Es ist ein neues Gefühl und es gefällt ihm nicht.
 

Wut ist ein dichter roter Schleier, der die klare Sicht erschwert, und sich um seine Brust windet. Atmen tut weh.
 

Warum macht er das?, fragt sich Samson, aber er traut sich nicht, die Frage laut zu stellen, denn mit der Wut kommt auch die Angst. Sie sind inzwischen am Fuß der Berge angelangt und Garou wird mit jedem Tag unruhiger.

Ob er die Wölfe spürt?

So nah war er ihnen noch nie.

Und damit stellt sich die nächste Frage und vor ihr fürchtet Samson sich noch mehr, deshalb denkt er nicht mal daran. Oder versucht es zumindest.

Denn hin und wieder lauert die Stimme der Katze ihm auf und flüstert ihm zu, was sie ihm schon damals gesagt hat.
 

“Bist du sicher, dass du das willst? Im Moment bist du seine einzige Familie. Das könntest du bleiben. Du könntest ihn ganz für dich allein haben. Wenn du ihn zu ihnen führst, wird er dich vergessen. Dann braucht er dich nicht mehr. Dann will er dich nicht mehr.”
 

Samson rollt sich ein bisschen mehr zusammen, sieht in den Himmel hinauf. Die Sterne dort oben kommen ihm wie Sommersprossen vor. Das hat er als Eule noch nie gedacht. Das denkt er erst, seitdem Garou gesagt hat, dass er seine Sommersprossen mag.
 

“Was sind Sommersprossen?”, hat Samson gefragt. Und Garou hat seine Finger auf Samsons Arme gelegt. Hat auf die kleinen Punkte gedeutet, die seine Haut besprenkeln. Erst auf seine Arme, dann hoch bis zu seinem Hals und endlich - endlich endlich endlich - auf sein Gesicht.

Er hat gelächelt.
 

Und Samsons Herz hat so schnell geschlagen, so lebendig.
 

Wie glücklich er sich gefühlt hat. Damals. Es kommt ihm wie damals vor, dabei war es erst vor ein paar Wochen. Es hat sich einiges geändert seither.
 

Samson sieht die Sterne an und wünscht sich den Mond herbei. Vielleicht würde der Wolf ihm mehr Trost spenden. Besseren Trost. Vielleicht würde der Wolf neben ihm liegen und ihn wärmen.

Samson sieht die Sterne an und wünscht sich seine Flügel. Denn zum ersten Mal seit dem Beginn dieser Reise möchte er fort von hier. Fort von Garou.
 

Und dann.

Plötzlich.

Einfach so.
 

Wachsen ihm Federn. Und er ist wieder eine Eule.
 

~*~
 

“Ich kann dich verstehen”, sagt Samson am nächsten Morgen.

Garou sieht ihn verständnislos an. Verständnislos und… er glaubt ihm nicht. Das tut am meisten weh.
 

“Ich bin wie du”, sagt Samson und kann es selbst noch nicht richtig begreifen. Dann erzählt er ihm von der letzten Nacht, der Neumondnacht, und wie er fliegen konnte, wie er fast den schwarzen Himmel berührt hat, wie er über die Berge geschwebt ist.
 

Wie alles so einfach war.
 

Er erzählt ihm, dass jede Sorge, die er hat, wenn er ein Mensch ist, nichts wert ist, wenn er fliegt. Die Eule fühlt nicht. Nicht so. Nicht so stark. Der Eule ist die Freiheit wichtig, der Eule tut die Einsamkeit nicht weh.

Nicht so sehr wie dem Menschen, zumindest.
 

Er erzählt, wie er irgendwann bei Tagesanbruch wieder zum Menschen wurde.
 

Samson erzählt und während er erzählt, verändert sich Garous Gesicht. Diese Maske, die er seit Tagen trägt, fällt ab. Das Böse, das Unnahbare verschwindet und dahinter ist er weich und verletzlich und genauso einsam wie am Tag ihrer ersten Begegnung.
 

“Ich hatte immer Angst vor Menschen”, sagt Samson irgendwann. Schüttelt den Kopf, weil er es selbst nicht mehr ganz nachvollziehen kann. “Aber du bist anders. Du bist ein Freund, du bist Familie, meine Familie. Ich hab gedacht, dass ich so was nie wieder haben kann. Und ausgerechnet du…”
 

Er stockt. Garous Augen sind weit und offen. Er kann in ihnen alles lesen. Das “Hab ich auch nicht gedacht”, das “Du bist meine Familie”, das… andere. Das mehr.
 

“Ich kann dich verstehen”, wispert Samson, denn irgendwie macht seine Stimme nicht mehr mit. “Also lass mich auch.”
 

~*~
 

Die Eule und der Wolf.
 

Vielleicht wird man irgendwann über sie berichten. Vielleicht wird man ihre Geschichte verbreiten. Wie zwei einsame Seelen, die äußerlich so verschieden waren, aber innerlich so gleich, sich fanden und eine Reise unternahmen. Um eine Familie für den einen zu finden, nur um zu entdecken, dass sie für einander Familie geworden waren.
 

Vielleicht wird man davon erzählen.
 

Vielleicht auch nicht.
 

~*~
 

Als Garou die Wölfe entdeckt, fallen gerade die ersten Blätter von den Bäumen, wirbeln im Wind, riechen nach Herbst. Fünf Wölfe umkreisen sie langsam, scheinen mit den Blättern zu verschmelzen.

Eigentlich entdeckt nicht Garou die Wölfe. Die Wölfe entdecken Garou. Aber das wird er immer abstreiten.
 

“Wer seid ihr?”, fragt einer. Seine Stimme grollt noch tiefer als die Garous, vibriert durch Samsons Körper hindurch und wieder hinaus, lässt ihn ein bisschen leerer zurück.
 

“Garou und Samson”, sagt Garou. “Wir möchten uns euch anschließen.”
 

Der Menschwolf sieht sie scharf an. Seine Augen sind rot und bedrohlich, er läuft wie ein Tier, so anmutig wie es ein gewöhnlicher Mensch nie könnte.

“Du bist wie wir”, brummt er Garou an. Sein Kopf zuckt in Samsons Richtung. “Er ist anders.”
 

Noch bevor Samson anfangen kann, sich Sorgen zu machen. Noch bevor Hexes Stimme seinen Kopf belagert. Noch bevor sein Herz auch nur schneller schlagen kann, nimmt Garou seine Hand und drückt sie.
 

“Doch”, sagt er. “Er ist Familie.”
 


 

ENDE



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Ur
2012-11-06T13:22:13+00:00 06.11.2012 14:22
Hallo! :)

Hier komme ich mit meinem mehr oder minder konstruktiven Kommentar. Zuallererst gibts Krittelkram:

>>Uns der Nebel macht das Jagen leicht...<<
Und

>>Den Name, der ihm letzten Endes im Gedächtnis bleibt, hat er aufgeschnappt...<<
Namen

>>Noch ist es immer noch warm genug,...<<
Ein (immer) noch weg

Mehr hab ich nicht gefunden, ein Hoch auf deine Orthographie! Und auf deinen Schreibstil. Es gab so viele schöne Sätze, ich hab erst überlegt, ob ich meine Lieblinge rauskopieren soll, aber das wäre wohl ein wenig viel geworden. Das Ganze lässt sich sehr schön lesen, ich bin auch großer Fan der Er/Präsens-Sache. Irgendwie macht es die Perspektive ein wenig kindlich, das gefällt mir.

Die beiden sind sehr niedlich zusammen. Ich liebe Eulen und Wölfe, also ein Hoch auf deine Tierwahl! Und die Suche nach der Familie und die Andeutung, dass Garou Eule eigentlich gern als Partner(in) hätte. Süß! Außerdem musste ich an Teen Wolf denken, bei der Sache mit den 'zwei verschiedene Leute, von denen man nie dachte, dass sie zusammenpassen könnten...' :)

Alles in allem ein Yay! für all den Plüsch, mehr krieg ich jetzt leider nicht zu Stande, weil ich in der Uni sitze und noch Dinge tun muss.

Liebe Grüße,
Ur



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