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Realitätsverlust

von

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Ein weiter Sprung und...

Perfekte Landung! Wie immer.

Ich renne über ein Dach, ein zweites und drittes und hangle mich schließlich an einer Mauer hinunter. Geschafft! Hier ist alles ruhig. In diesem kleinen Hinterhof tarnt mich die einbrechende Dunkelheit.

Hinter einem Baum ziehe ich ein Buch aus der Tasche und streiche den letzten Namen einer langen Liste durch. Die Arbeit ist getan. Vorerst.

Bald werde ich wieder eine neue Liste haben und sie wird sicher doppelt so lang sein, wie die letzte.

Ich stecke das Buch wieder ein und orientiere mich kurz. Das ist das schönste Viertel in ganz Firenze. Mein altes Haus ist gar nicht so weit weg von hier... wie das Haus der Familie Vespucci.

Cristina... Mit ihr habe ich wunderbare Stunden verbracht. Ohne auf meinen Kopf oder den Abschluss meines nächsten Auftrages zu achten machen meine Füße ein paar zaghafte Schritte. Kann ich es wagen? Diese eine Nacht kann ich bestimmt riskieren. Jetzt oder nie! Es ist schon zu lange her, dass ich ihre Haut spüren durfte.

Ohne zu überlegen nehme Anlauf und klettere an der Wand hoch, die ich vor zwei Minuten herunter gekommen bin. Eine volle Drehung, ein Sprung und zupacken in letzter Sekunde. Ich ziehe mich hoch und laufe los. Zwei Dächer, ein Sprung, ein Pfeil. Verdammt! Fast hätte ich die Dachkante nicht mehr erwischt und wäre dreieinhalb Meter in die Tiefe gefallen.

Ich drehe meinen Kopf um und sehe einen Wachposten auf einem Vorsprung stehen. Er hat schon einen neuen Pfeil gezogen und zielt direkt auf mich. Ich stoße mich von dem Haus ab, an dessen Dach ich hänge, greife hinter mich und stoße mich noch einmal ab. Die Landung war schon recht unangenehm, doch bin ich außer Sichtweite des Schützen und kann meinen Weg auf der gepflasterten Straße fortsetzen. Während ich geradeaus zu Christina gehe wandert meine Aufmerksamkeit über jeden Vorsprung, jedes Gitter und jeden Balken auf der Suche nach dem Schützen oder anderen Wachen. Leonardo bezeichnet dieses Verhalten schon als paranoid, da ich überall nach Fluchtwegen suche, selbst wenn ich „ein Buch in die Bibliothek zurückbringe“, wie er sagt. Vielleicht hat er Recht. Eine Biegung und ein Sprung über eine flache Mauer. Schon hier glaube ich ihr süßes Parfum zu riechen. Ich sammle einen Stein auf und werfe ihn an Cristinas Fenster. Unwillkürlich denke ich an einen Schuljungen, der unter dem Fenster seiner Liebsten steht und wartet. Das Fenster wird geöffnet. Ein lockiger Kopf sieht nach unten und lächelt. „Ezio“, flüstert eine süße Stimme.
 

Weiß. Meine Gedanken drehen sich. Es ist, als würden sie zerspringen, wie ein Mosaik und sich wieder neu zusammenfügen. Bin ich wirklich Ezio Auditore? Habe ich wirklich gerade noch einen Mord begangen. Und was ist mit Cristina?
 

„CRISTINA!“

„Beruhige dich, Desmond!“ Mit einem Ruck setze ich mich auf und atme schwer. Eine weiche Hand liegt auf meiner und eine Stimme - ganz anders als die süße ruhige Stimme von Cristina – spricht zu mir. „Desmond! Wach auf! Sie mich an!“ Meint sich mich? Desmond... das habe ich schon einmal gehört. Die Hand lässt meine los, packt mein Kinn und dreht meinen Kopf zu einer blonden Frau. Es war ihre Stimme, die ich gehört habe: „Desmond! Du bist Desmond Miles! Du bist nicht Ezio, du bist Desmond.“ Ich atme tief ein und begreife. Lucy nickt, lächelt erleichtert und dreht sich zu jemandem um: „Er war eindeutig zu lange im Animus! Ich weiß, wir haben Ziel, aber er braucht ein Pause und gesunden Schlaf! Shaun, bring ihn in sein Zimmer.“

Langsam verstehe ich, worum es geht. „Nein. Ich will raus.“

Shaun steht auf und wo eben noch für mich eine Art weißes Rauschen außerhalb meines Blickfeldes war, steht er jetzt vor einem Pult überfüllt mit Kabeln. „Ich komme trotzdem mit. Du scheinst mir immer noch ein bisschen abwesend.“

„Danke.“ Er kommt näher, reicht mir seine Hand und zieht mich hoch. Es dauert einen Moment, bis ich mich tatsächlich auf den Beinen halten kann. Shaun hat nicht einmal einen Witz darüber gemacht, dass ich so fertig bin. Sieht es wirklich so schlimm aus?

Er bringt mich raus in den Garten der Ruine. Diese Ruine habe ich in Ihrer Blüte betreten. Zeitweise habe ich hier gelebt.

Nicht Ich, versteht sich. Ezio war es, der hier gelebt und die Stadt neu aufgebaut hat. Wir setzen uns auf eine Bank und ich atme die frische kalte Luft ein. Es unterscheidet sich nichts von dem, was ich im Animus fühle, denke oder sehe. Die Luft, die Sonne, die Wärme, eine menschliche Berührung... Cristina. Mit ihr war es so intensiv. Ich habe nie so für eine Frau empfunden, wie Ezio für sie...

„Desmond?“

„Was? Hast du was gesagt?“

„Ja, ich habe dich gefragt, wie lange du glaubst im Animus gewesen zu sein.“

„Ich- ehm- ich weiß nicht...“, die Anstrengung gerade zu denken kostet mich alle Kraft, die ich aufbringen kann. „Drei... drei Wochen. Kann das sein?“ Erst jetzt sehe ich einen Notizblock auf seinen Knien, auf den er gerade sehr deutlich eine drei schreibt. Sicher. Das ist alles nur Routine. Shaun sitzt nicht bei mir um mich nicht allein zu lassen; Er arbeitet.

„Wie fühlst du dich?“

„Alles klar.“

Wieder eine Notiz.

„Und als letztes siehst du mich kurz an.“ Mit einer kleinen Taschenlampe leuchtet er mir abwechselnd in beide Augen. „Deine Pupillenreflexe werden langsamer...“ murmelt er und kritzelt auf sein Blatt. Missmutig drehe ich mich halb von ihm weg und sehe mir die Statue in dem Garten an. Vor Ewigkeiten, so kommt es mir vor habe ich sie als Ezio gesammelt. All das hier wäre nicht mehr ohne mich- ohne ihn! Ezio hat all das getan. Ich erlebe einfach nur dasselbe noch einmal. Auch wenn ich kaum begreifen kann, dass ich die Geschehnisse nicht ändern kann. Es scheint immer, als hätte ich die Wahl, doch die habe ich nicht. Erschreckt reibe ich meine Augen. Ist da nicht gerade Claudia entlanggelaufen? Blödsinn, da ist Niemand.

Eine Hand auf meiner Schulter: „Desmond!“ Kurz bin ich mir nicht sicher, ob ich nicht doch Ezio heiße und gerade meine Schwester gesehen habe. Die Hand packt härter zu: „Desmond, ich mach mir Sorgen. Du warst jetzt bestimmt zweieinhalb Tage im Animus und bist es allgemein schon seit Wochen. Ich habe lange überlegt, ob es etwas gibt, was dir vielleicht hilft, den Unterschied zwischen dem Hier und Dort besser zu erkennen...“

Er sieht mich erwartungsvoll an und ich überlege.

„Eigentlich gibt es nur eins.“ Ich brauche nicht einmal nachzudenken. „Dich.“

Shaun stutzt und sieht zum ersten mal wirklich von seinem Papier auf. „Was?“

„Naja... Manchmal gibst du mir Informationen über die Orte an denen ich gerade bin oder über die Menschen. Und wenn ich deine Stimme höre ist es mir bewusst: das hier ist nicht real.“

Er atmet kurz ein, unterdrückt ein Lächeln und wird sofort wieder sachlich. Er beginnt über einen Gegenstand zu reden, den ich immer bei mir tragen soll um zu überprüfen ob ich im realen Leben oder im Animus bin, doch verhaspelt er sich immer wieder und verliert den Faden.

Ich stehe auf und reiche ihm die Hand. „Komm! Du musst auch mal ins Bett. Schließlich warst auch du am Stück wach.“

Er ergreift meine Hand, ich ziehe ihn von der Bank hoch und zusammen betreten wir die Villa.

„Hast du das ernst gemeint?“

Ich habe den Faden verloren. „Hm?“

„Dass ich dir helfe, den Unterschied festzustellen.“

Wir beginnen die Stufen zu den Schlafzimmern aufzusteigen und ich bin froh, dass meine Finger das Geländer entlangfahren und so beschäftigt sind.„Ja. Weißt du... ich sehe Dinge, fühle sie, sage sie , ja ich tue schreckliche Dinge. Aber all das fühlt sich so an, als wären es meine eigenen Entscheidungen. Wenn ich dort bin, dann bin ich ein anderer. Dann morde ich und stehle und ich liebe diese Frau abgöttisch.“ Im nächsten Moment will ich mir auf die Zunge beißen. Super! Das war eine tolle Idee. Shaun schweigt und wir erreichen den oberen Treppenabsatz. Er dreht sich zu mir und seine Bewegungen sehen aus, wie die eines Roboters. „Das ist alles nur da drin- also im Animus, ja?“

Erleichtert muss ich fast grinsen „Ja. Stimmt genau.“

Auch er scheint erleichtert und fragt: „Dann bist du nicht in Cristina verliebt, richtig?“

Was? Der Schock trifft mich. Ist das jetzt eine Art Geständnis? Er hat nicht schüchtern gefragt, sondern eher fordernd. Nein, das war nicht so gemeint, wie ich dachte... Was dachte ich denn?

„Nein. Nein, ich fühle nur, was er fühlt.“

Er nickt. „Es ist hart so lange im Animus zu sein, das wussten wir schon. Du musst sogar schon das zweite Leben miterleben. Zum Glück war Altaïr damals nicht verliebt.“

Ich spüre Hitze in mein Gesicht steigen. Das ist so nicht ganz richtig....

Er wendet sich zu seiner Zimmertür und öffnet sie.

Ich halte ihn am Arm fest und sage: „Doch, das war er. Sogar sehr. Nur wurde seine Liebe damals nicht geduldet und er hatte eine Scheißangst, dass er verstoßen wird, wenn er sich der Person offenbart.“

Neugierig dreht sich Shaun zurück: „Der Person?“ Er ist nicht dumm. Er sieht mir genau in die Augen und versucht abzuschätzen, was ich sagen wollte. „Du hast nicht über eine Frau gesprochen. Er war in einen Mann verliebt, richtig?“

Richtig. Er ist wirklich nicht auf den Kopfgefallen. Kurz schienen seine Augen aufzuleuchten.

„In wen? Ich habe dort alles gesehen, was du gesehen hast und ich habe nichts gemerkt!“

Es ist ein Fehler gewesen ihm das zu sagen, aber jetzt ist es zu spät.

„Malik. Es war nicht nur Bewunderung, die er für ihn empfand. Es ist mit der Zeit Liebe geworden.“ Einen Moment lang denke ich, dass er jetzt seinen Notizblock herausholt und weitere Fragen stellt, doch schon im nächsten Augenblick scheint mir der Gedanke absurd.

„Wie ist das so? Ich meine; einen Mann zu lieben?“

STOPP! STOPP! RÜCKZUG! Was soll das denn jetzt? Was ist das denn bitte für eine Frage? Als wüsste ich das so genau! Alles in meinem Kopf dreht sich und wird gleich darauf wieder langsamer.

Naja. Bei Cristina wusste ich es auch. Im Grunde genommen ist es das erste Mal, dass ich die Gefühle für Malik und die für Cristina vergleiche.

„Ich- eh...“, unbewusst war ich an meine Tür zurückgewichen. Was soll ich sagen? Ja, jetzt wo ich darüber nachdenke erscheint es mir besser gewesen heimlich Malik zu lieben, als immer wieder zu Cristinas Fenster hineinzuklettern. Shaun mach einen Schritt auf mich zu.

„Ich habe dich etwas gefragt.“

Will er mich jetzt wieder ärgern? Weiß er Bescheid und will mich quälen? Wobei, was soll er denn wissen? Will er vielleicht selbst nur herausfinden, wie es ist? Oder ist das einfach der Wissenschaftler in ihm, der eine neue Situation analysieren will? Innerhalb seines einen Schrittes schießen mir all diese Fragen durch den Kopf. Unwillkürlich muss ich an Cristinas Parfum denken. Sein Aftershave riecht zwar nicht im Entferntesten so, doch es hat dieselbe Wirkung. Ich atme tief ein und schließe kurz die Augen. Es riecht gut. Und echt. Nichts scheint mir so real, wie Shaun, der gerade vor mir steht und mich ansieht. „Es war... besser.“

Er lächelt. „Besser Malik zu lieben und sich vorzustellen, was sein könnte oder besser Cristina zu lieben und immer wieder mit ihr zu schlafen und sie zu küssen?“ Er fragt nicht wirklich. Er weiß die Antwort schon und will nur, dass ich es sage.

„Malik...“, nuschle ich und werde noch im Wort leiser.

Er kommt noch einen Schritt auf mich zu und die Aufregung steigt mir den Rücken hinauf. Wieder mischen sich die Fragen in meinem Kopf zusammen mit einem unaussprechlichen Gedanken.

Er greift meine Hände, zieht mich von der Tür weg und küsst mich. Der Bart der letzten zweieinhalb Tage kratzt, seine Lippen sind spröde und schmecken nach Kaffee, doch der Kuss ist unglaublich. Ich will seine Hände nie wieder loslassen.

„SHAUN?“ Lucys Stimme schallt von unten und unsere Lippen lösen sich. Ich weiß nicht, wie lang der Kuss war. Ob zwei Sekunden oder ein ganzes Leben. Es ist egal. „Ich muss noch mal runter.“

Er stockt und sein Griff um meine Hände lockert sich. „Schlaf gut.“

Mit diesen Worten rennt er die Treppe hinab. Ich atme tief durch und lehne mich an meine Tür. Jetzt habe ich etwas, was mich an die Realität erinnert. Ich betrete das Zimmer, schlüpfe im Gehen aus meinen Schuhe und lasse mich ohne viel Federlesen aufs Bett fallen. Ich fühle mich wieder völlig bereit den Animus zu nutzen, in jedes Leben zu schlüpfen, Leute zu ermorden und mit Frauen zu schlafen. Nichts von alledem wird so real sein, wie dieser eine Kuss in einer verfallenen Villa in Monteriggioni. Denn diesen Kuss hat nicht Altaïr Ibn-La'Ahad bekommen oder Ezio Auditore, sondern ich. Desmond Miles.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2012-08-02T19:09:12+00:00 02.08.2012 21:09
Danke für deine Einsendung in meinem WB :D
Mir hat die FF gut gefallen, du hast die Gefühle von Desmond sehr gut rüber gebracht :3
ZWar waren teilweise ein paar kleine Fehler drin (Cristina einmal mit H) und "Sie mich an" ohne xD. (ist bestimmt darüber gelaufen xD)
Aber alles in allem eine sehr gute Fanfic.

Und da du die einzige bist, die was eingesendet hat, haste gewonnen :D


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