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Memori3s

von

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Der erste Blick

Ihre erste Anlaufstelle war die Disko, in der sie am Vorabend noch ausgelassen feiern wollte, ehe ihr Bruder aufgetaucht war und sie vorzeitig nach Hause eskortiert hatte. Ihre Jacke lag an der Garderobe aus, die sie sich dann Minuten später zufrieden überstreifte. Izumi spielte kurz mit dem Gedanken noch ein wenig zu bleiben, verwarf diesen jedoch wieder schnell; ihr Bruder würde wahrscheinlich hier als erstes nach ihr suchen und sie wollte so lange wie möglich ihre Ruhe vor ihm haben. Daher schlug sie einen anderen Weg ein, der weg von dem Tumult des direkten Kerns des Bezirks und in eine weniger belebte Gegend führte. Manche hätten sie dafür mit besorgter Miene angesehen, dass sie alleine in solchen abgelegenen Stadtteilen umherstreifte, doch sie hatte noch nie besonders viel Unwohlsein oder gar Angst hier verspürt; man musste nur richtig auftreten, dann ließen einen die meisten Leute von Anfang an in Ruhe.

Ihr Ziel lag in einer schmalen Seitenstraße, die feucht und leicht nach Abfällen roch. Fröstelnd zog sie die Schultern gegen den wehenden Wind hoch und holte nur widerwillig ihre Hand aus der warmen Jackentasche heraus, um die schwere Kneipentür aufzustoßen.

Drinnen war die Luft auch nicht viel besser; der einzige Unterschied zu draußen war, dass hier die Luft von Zigarettenrauch statt mit dem Geruch von Moder erfüllt war, was für sie allerdings keine große Verbesserung darstellte. Zumindest war es hier wärmer als auf der Straße. Ein paar Männer, die an einem Tisch über Bier und Karten zusammenhockten, sahen kurz über die Schulter zu ihr hoch, ansonsten blieb ihr Eintreten so weit unbemerkt. Ihre Stiefel ließen den alten Holzboden knarren, als sie zum Tresen ging, hinter dem ein bekanntes Gesicht sie mit einer Mischung aus Überraschung und argwöhnischen Gedanken an letzte Besuche begrüßte.

„Na, dass ich dich hier nochmal antreffe...“, sagte der alte Kneipenbesitzer heiser, zog ein letztes Mal kräftig an seiner selbstgedrehten Zigarette und warf sie anschließend in eine leere Bierflasche, die als Aschenbecher diente. Izumi versuchte sich an einem Lächeln und spürte, wie ihre Haut über den Wangen leicht spannte, was sie an ihre Tränen erinnerte und sie hoffte, dass man ihr diese nicht mehr ansah.

„Keine Sorge, ich werde brav sein“, entgegnete sie plaudernd und setzte sich auf einen der hohen Barhocker. „Ich bin heute alleine hier.“

„Aha“, war seine knappe Antwort, doch das Misstrauen in diesem Wort war nicht zu überhören. Izumi ließ sich nichts anmerken, lächelte weiterhin unbeschwert und bestellte, was ihren Erfahrungen nach mit am meisten Alkohol besaß und legal in Bars ausgeschenkt werden durfte. Hoffentlich fand Hiko sie nicht im noch stocknüchternen Zustand. Immer noch mit einer gewissen Voreingenommenheit brachte der Mann ihr Gewünschtes und zufrieden trank sie zwei große Schlucke, dass sie dachte, ihr Rachen stünde in Flammen. Nach wenigen Minuten spürte sie, wie der Alkohol begann ihre Sinne zu vernebeln und mit einem wehleidigen Gefühl dachte sie an die letzte Nacht zurück; an die Disko, an die Musik, an ihre Bekanntschaft.

Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach seinem Namen, doch er wollte ihr partout nicht einfallen, was sie irgendwie schon verärgerte. Ihr Fremder hatte wirklich gut ausgesehen, wenn man sich die von Drinks verklebten Sachen wegdachte und von seinen frechen Fingern mal absah. So, wie er sie angefasst hatte, hatte er das wahrscheinlich nicht zum ersten Mal bei einer Frau getan und Izumi war ein Stück weit neugierig geworden, was er noch so zu bieten gehabt hätte. Doch dann tauchte das entsetzt und zugleich tadelnde Gesicht ihres Bruders vor ihr auf und als würde er tatsächlich neben ihr stehen, fing sie ihre Fantasie, die den letzten Abend in ihrem Kopf hitzig weitergesponnen hatte, ertappt wieder ein. Sein Blick sprach Bände, strafte und verurteilte sie und für eine Sekunde lang senkte sie beschämt die Augen wie ein geprügelter Hund, dann aber verdrängte ihr Stolz wütend die Scham und grimmig versuchte sie die Gedanken an ihren Bruder mit einem weiteren Schluck Hochprozentigem wegzuspülen. Ihm konnte egal sein, was und vor allem mit wem oder wie oft sie etwas tat! Sie war Zweiundzwanzig! Vielleicht sollte sie Hiko bei Zeiten mal erzählen, auf was sie so alles stand und dieser Gedanke zauberte ihr ein böses Grinsen auf die Lippen. Ihrem prüden Bruder würden die Ohren abfallen und er würde vor Scham auf dem Boden zerfließen, aber vielleicht erreichte sie ja dadurch, dass er endlich begriff, dass seine kleine Schwester schon lange nicht mehr klein war.

Mit diesem Plan im Kopf wollte sie noch einen Schluck nehmen, jedoch war bis auf ein paar Tropfen das Glas bereits geleert. Mürrisch schielte sie auf den Grund des durchsichtigen Bodens und wollte beim Kellner einen neuen Whisky bestellen, als sie bemerkte, dass der Mann nicht mehr hinter dem Tresen stand. Suchend schaute sie sich in dem Kneipenraum um - und blieb an einem der hinteren Tische mit dem Blick hängen.

Zwei Männer saßen sich an einem, in einer Nische stehenden Tischchen gegenüber. Einer der beiden drehte ihr den Rücken zu und schien mit dem anderen im Gespräch zu sein. Soweit war diese Szene nichts besonderes, doch sein Gegenüber sah wie gebannt zu ihr herüber. Er bewegte die Lippen, als würde er etwas erzählen, doch seine Augen starrten an seinem Gesprächspartner vorbei direkt in ihre Richtung. Izumi lief ein Schauer über den Rücken. Gerne hätte sie weiter nach dem Kellner gesucht, doch diese hellen Augen fesselten sie, nahmen sie gefangen und sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie nie mehr von diesen Augen loskommen würde, egal wie sehr sie sich wehrte.

Wer weiß, wie lange sie noch so dagesessen hätte.

Vielleicht hätte sich der andere Mann irgendwann stirnrunzelnd zu ihr umgedreht, um nachzuschauen, was sein Gegenüber da überhaupt so anglotze; vielleicht wäre der Mann mit den hellen Augen auch irgendwann aufgestanden und wäre zu Izumi an die Bar gekommen, um ihr einen Drink auszugeben, um in ihr einen interessanteren Gesprächspartner als seinen derzeitigen zu finden, um ihre vorherigen Fantasien Wirklichkeit werden zu lassen - obwohl… das bezweifelte Izumi dann doch stark, so verzweifelt, dass sie mit alten Typen ins Bett ginge, war sie noch lange nicht. Vielleicht wäre ihr auch nur irgendwann das Glas endgültig aus ihrem locker gewordenen Griff gerutscht und auf den Holzdielen zerschellt; doch ihre Reflexe ließen sie noch rechtzeitig die Finger fester um das schlüpfrige Glas fassen und durchbrachen so den fesselnden Bann.

Mit pochendem Herzen starrte Izumi auf den leeren Becher hinab und atmete tief durch. Um ein Haar wäre der hauchfeine Frieden zwischen ihr und dem Kellner dahin gewesen. Etwas unsicher sah sie wieder auf und suchte nach dem Typen an dem kleinen Tisch. Dieser hatte jedoch den Blick abgewandt und redete, die Hände dabei mitbenutzend, mit dem anderen Mann so vertieft, als hätte es sie nie gegeben.

Sie blinzelte verwirrt, beschloss allerdings, über ihn nicht weiter nachzudenken und stellte stattdessen mit zittrigen Fingern das Glas auf den Tresen zurück, ehe sie ein erneuter Schwächeanfall überrascht hätte und dann tatsächlich noch ein Unglück passiert wäre. Der alte Kellner war in der Zwischenzeit vom Tische bedienen und abräumen wieder zurückgekehrt und machte sich daran, saubere Gläser mit bestellten Getränken zu füllen. Er schenkte ihr ein kurzes Lächeln, als sie nach einem weiteren Whisky fragte und nahm zwischen zwei Handgriffen ihr benutztes Glas entgegen, um es zu spülen, als sein Blick auf einmal an ihr vorbeiglitt und sich augenblicklich verfinsterte.

„Na super“, sagte er leise und seine Stimme erinnerte sie dabei stark an ein Hundeknurren. Mit einem beklemmenden Gefühl im Magen drehte sie sich um und auch ihr entwich im selben Moment ein gequältes Stöhnen.

„Scheiße…“, fluchte sie zischend und drehte sich wieder mit dem Rücken zur Tür, in der Hoffnung, dass der gerade Eintretende sie nicht gesehen hatte. Jedoch sollten all ihre Hoffnungen für diesen Abend zerschlagen werden. Sie musste sich nicht noch einmal umdrehen, um sein breites Grinsen zu sehen, mit dem er auf sie zukam; sie spürte seinen Blick und das war schon ätzend genug. Der Moment, in dem sie sich vielleicht noch auf die Damentoilette hätte retten können, zog wie ein Pistolenschuss an ihr vorbei und im nächsten Moment tauchte das Gesicht des Mannes neben ihr auf, den sie weder hier noch irgendwo anders auf dieser verdammten Welt je hätte wiedersehen wollen.

„Izzy! Du bist hier?“ Sie schloss die Augen, wünschte sich, sein Kopf würde einfach platzen und somit endgültig aus ihrem Leben verschwinden.

„Du hast hier nichts zu suchen, Junge.“, kam ihr der Kellner ungewollt zur Hilfe. Seine Heiserkeit, die auf ihre eigene Art und Weise sogar sympathisch wirken konnte, hätte in diesem Moment mit Leichtigkeit durch Stahl geschnitten. Masao hob abwehrend die Hände.

„Hey, ich weiß schon, ich wollt‘ mich nur kurz hier drinnen aufwärmen. Ich trink schon nix, mach‘ dir nicht ins Hemd.“, erwiderte er und trat ein paar Schritte vom Tresen und Izumi zurück, die immer noch stur geradeaus starrte und ihn ignorierte.

„Es geht hier nicht um den Alkohol“, konterte der Mann lauter werdend, „und Aufwärmen kannst du dich wo anders. Verschwinde von hier, und zwar zügig!“

Masao zuckte genervt mit den Schultern. „Brüll mich nicht an, ich versteh‘ dich auch so. Gut, ich hau ab“ Mit einem Mal umfasste er Izumis Hüfte, dass dieselbe Wirkung auf sie hatte wie ein Stromschlag. „Aber die Kleine hier nehm ich mit, immerhin warst du damals auch auf sie verdammt sauer, wenn ich mich richtig erinnere.“, fügte er grinsend an Izumi gewandt hinzu, die sich sogleich aus seinem Griff befreite und ihn von sich stieß. Masaos Beschwerden über ihr Verhalten ausblendend, wandte sie sich mit einem entschuldigenden Blick an den Kellner.

„Ich habe nicht gewusst, dass er hier auftaucht, ehrlich!“, versuchte sie sich zu verteidigen, doch der Blick des Mannes hinter dem Tresen war auch ihr gegenüber hart und unbarmherzig geworden.

„Bezahl, was du getrunken hast, und verschwindet dann.“

Seine Worte ließen keinen Widerspruch zu und damit war die Sache gelaufen. Ihre innere Wut herunter kämpfend, tat sie, was von ihr verlangt worden war und ging, gefolgt von ihrem Exfreund, vor die Tür der Kneipe. Dort drehte sie auf dem Absatz zu Masao um und hätte ihm beinahe eine Ohrfeige gegeben - was sie davon abhielt, wusste sie selbst nicht so ganz genau; vielleicht die Tatsache, dass seine Dummheit vielmehr auf seinen Cannabiskonsum als auf einen angeboren niedrigen IQ zurückzuführen war und er, in einem gewissen Stadium, einfach nichts mehr für seine Aktionen konnte… zumindest redete sie sich das, damals wie heute, immer wieder ein. Ihre zurückgehaltende Rechte juckte, dennoch beließ sie es dabei, Masao einen guten Meter weit von sich weg zu stoßen, als er sie in diesem Moment wieder in die Arme zu schließen versuchte.

„Was willst du von mir?“, keifte sie den schlaksigen Mann giftig an. Dieser versuchte sich mit ungelenken Bewegungen auf den Beinen zu halten und strich sich einige fettige Strähnen aus dem Gesicht.

„Warum bist du so mies drauf? Darf ich nicht einmal mehr Hallo sagen?“

Ihre Hand zuckte immer noch verführerisch. „Nicht nach dem, was du damals abgezogen hast! Ich habe dir gesagt, dass ich dich nie wieder sehen will, Masao.“

„Es war wirklich nur Zufall, dass ich dich da drin‘ gerade getroffen habe“, nuschelte er und rieb sich mit der Hand über den Nacken. „Das musst du mir glauben, ich sollte dort eigentlich wen treffen und…“ Er brach seinen Satz ab, als er bemerkte, dass sich Izumi inzwischen augenverdrehend von ihm abgewandt hatte und wegging. Etwas unschlüssig trabte er hinter ihr her. „Izzy, warte!“

„Du kannst dir dein Izzy sonst wo hinschmieren, ich lasse mich nicht noch einmal in deine Geschäfte mit hineinziehen.“

„Izumi, bitte…“

Schnaufend blieb sie stehen und deutete anklagend mit einem Finger auf ihn. „Du hast mich benutzt, Masao! Ich war dein verdammter Lockvogel, den du irgendwo an einer gottverlassenen Straßenecke abgestellt hast, um deine Geschäftspartner zu ködern!“, rief sie wütend und trat immer weiter auf den Älteren zu, der mit jedem Wort mehr zusammenschrumpfte.

„Es tut mir leid, Izz…Izumi“, verbesserte er sich schnell, als er ihren mahnenden Blick bemerkte, „Ich… ich hätte das nicht tun sollen, das weiß ich jetzt. Bitte verzeih mir. Hör mir bloß einen Moment lang zu, ich flehe dich an! Bitte… ich möchte nur kurz mit dir reden…“ Seine Stimme wurde zunehmend dünner, bis sie nur noch ein Wispern war. Izumi starrte ihn mit zusammengepressten Lippen an und kämpfte ihren Zorn herunter. Ein winziger Teil in ihr, der, der auch nach so vielen Jahren noch an ihm zu hängen schien, bemitleidete den Mann vor ihr, der kaum noch Ähnlichkeiten mit dem Jungen hatte, in den sie sich einst halsüberkopf verliebt hatte. Diese Zeit schien so weit zurück zu liegen… die Zeit, in der sie der Illusion von einer Beziehung mit einem Jungen, mit dem einen perfekten Jungen, nachgerannt war; sie dachte mit einer bitter schmeckenden Ironie daran, jetzt, da das ernüchternde Ziel ihrer Suche von damals nun vor ihr stand und mehr einem Straßenköter glich, als dem erträumten edlen Ritter auf weißem Ross. Ihre Erinnerung ließ sie über sich selbst den Kopf schütteln und frustriert blies sie die angehaltende Luft aus der Lunge. Warum brachten ihr eigentlich alle Männer Unglück?

„Es wird weiterhin dabei bleiben, dass ich dich nicht sehen will“, sagte sie ernst und verengte misstrauisch die Augen. „Spuck also schon aus was du willst, aber wenn du jetzt auf Knien herumrutschst und mir sagst, dass du mich liebst, trete ich dich ins nächste Viertel, kapiert?“

Masao nickte unterwürfig und wagte es, ihr in die Augen zu sehen, nur für einen kurzen Moment, ehe er wieder auf seine nestelnden Hände herabsah.

„Ich bin diesen Monat… nicht so flüssig wie sonst und da dachte ich-“

„Nein!“, fauchte sie energisch und brachte Masao somit vorzeitig zum Verstummen. Innerlich schlug sie sich selbst für ihre Gutgläubigkeit und Geduld ihm gegenüber. Sie hätte sich doch denken können, dass es dem Kerl nur um Geld ging. Masao klappte den Mund auf, was bei ihm an einen nach Wasser schnappenden Karpfen erinnerte, und brachte kein Wort heraus. Er begann irgendwann stammelnd von neuem seine Argumente vorzubringen, doch da hatte sich Izumi schon wieder zum Gehen abgewandt. Sie hörte, wie er hinter ihr herlief und verzweifelt ihren Namen rief, allerdings reagierte sie nicht darauf. Mit solchen Typen zu diskutieren hatte sie noch nie sonderlich weit gebracht.

Eine weitere kleine Seitenstraße kreuzte ihre und ohne auf Autos oder andere Passanten zu achten, die hier eh nicht vorbeigekommen wären, überquerte sie die Kreuzung, ihr winselnder Anhang weiterhin im Nacken wissend, doch auf einmal wurde Masao von jemanden gerufen, was auch sie etwas verwirrt abbremsen ließ.

Ein zweiter Mann stand, als sie sich zu ihrem Exfreund umdrehte, neben ihm und irgendetwas zog sich in Izumi schmerzhaft zusammen. Sie hatte den Mann schon irgendwo mal gesehen, damals, als sie mit Masao zusammen war. Er war ein kleines Stück größer als Masao und sein Haar war heller, aber trotz des verschlafenden Blickes in dem Gesicht des Kleineren war die Ähnlichkeit der beiden nicht zu übersehen. Sein Bruder, fiel es Izumi schlagartig wieder ein. Sie hatte ihn nur ein paar Mal in den zwei Monaten, in denen sie Masaos Freundin war, gesehen und dennoch verspürte sie kein gutes Gefühl bei seinem Anblick. Minoru schien sie für den Moment allerdings nicht zu beachten, denn er war damit beschäftigt, den konfusen Schilderungen seines Bruders zu folgen.

„Und was ist jetzt mit dem Deal?“, fragte Minoru ungeduldig, was sein kleiner Bruder mit einem Schulterzucken beantwortete, das ihm ziemliches Unbehagen zu bereiten schien.

„Ich hab die Kerle da drinnen nicht gesehen, aber…“, sagte Masao in seinem nuschelnden Tonfall, was ihn einen nicht grad zaghaften Schlag auf den Hinterkopf einbrachte.

„Du Idiot, was kannst du eigentlich?“, brummte Minoru gereizt und hielt den taumelnden Masao am Hemdkragen, damit er nicht umfiel. „Du solltest weniger kiffen, ansonsten muss ich dir demnächst noch wieder beibringen, wie man ins Klo scheißst!“

„Du tust mir weh, lass mich los!“, wimmerte Masao lautstark und hielt sich den Hinterkopf. Izumi hatte genug gesehen. Sie wollte sich nicht weiter in diese Geschichte mit reinziehen lassen und die beiden schienen sie nicht zu beachten, deshalb drehte sie einfach wieder auf dem Absatz um und ging weg. Du empfindest nichts mehr für diesen Waschlappen, geh einfach und lass ihn weiter sein Leben ruinieren, es geht dich nix an! Eine Kreuzung noch und sie würde wieder in den belebteren Teil des Bezirks kommen; auf die Gesellschaft dieser beiden Idioten konnte sie verzichten.

„Du bist ein Volltrottel! Wir brauchen die Kohle, falls du dich erinnern kannst!“ Minorus wütende Stimme hallte von den Häuserwänden der leeren Straßen wider, und gab ihr den Eindruck, als stünde er direkt hinter ihr. Das ließ ihre Schritte schneller werden. Masao war nicht sehr schlau, aber sein Bruder dagegen hatte schon immer etwas bedrohliches an sich gehabt…

Sie hat Geld!“

Masaos Worte durchzuckten sie mit der Härte einer Eisenstange und ließen ihr Herz schneller schlagen. Minoru schien etwas zu erwidern, was Izumi aber nicht verstand, worauf Masao dann mit überschnappender Stimme antwortete: „Doch, doch, ihr Alter ist Anwalt oder so! Die Kleine schmeißt mit Kohle um sich, glaub mir!“

Als sei es ein geheimes Stichwort, rannte sie los. Sie sah sich nicht um, sie rannte einfach, angetrieben von den donnernden Echos der Schritte, die hinter ihr laut wurden. Die rettende Kreuzung, voll mit Menschen, die ihr vielleicht sogar geholfen hätten, kam immer näher, aber es sollte nicht reichen. Nach vierzig Metern umklammerten sie Minorus riesige Hände, die sie beinahe durch den Zusammenstoß zu Boden gerissen hätten. Sie begann aus Leibeskräften heraus zu schreien und um sich zu treten, doch da packte seine rechte Hand nach ihrer Kehle und drückte zu, dass ihre Stimme gurgelnd abbrach und letztendlich verstummte. Die Linke klammerte sich um ihren Bauch und presste sie an den Körper des Mannes hinter ihr.

Minoru schnaufte hörbar und fluchend wartete er auf seinen viel langsameren Bruder, der von hinten an die beiden heran getrabt kam.

„Hilf mir!“, blaffte er Masao an und zerrte sie von der Straße runter in eine Gasse. In Panik riss Izumi an Minorus Armen und versuchte ihn irgendwo mit Tritten und Schlägen zu treffen, doch da packte Masao ihre Beine, sodass sie auch die nicht mehr benutzen konnte. Angst umfasste ihr Herz endgültig und ließ die grausame Welt vor ihr durch Tränen verschwimmen. In der dunklen Gasse ließ Masao ihre Beine los, was sie sofort zum Anlass für einen neuen Befreiungsversuch nahm; als Dank dafür presste Minoru sie gegen die nächste Häuserwand und keilte sie mit seinem Körper ein, die Rechte nun auf ihren Mund gedrückt. Erst jetzt schien er sie näher im Zwielicht zu betrachten und Erkenntnis leuchtete in seinen Augen auf, die nur wenige Zentimeter vor ihr schwebten.

„War das nicht mal `ne Freundin von dir?“, fragte er seinen Bruder außer Atem und drehte sich zu diesem um. Ob Masao nickte oder nicht, konnte sie nicht genau erkennen; den ungläubigen Blick dagegen, den Minoru ihr daraufhin kurz zuwarf, erkannte sie mit erschreckender Genauigkeit.

„Hast du sie geknallt, kleiner Bruder?“, fragte er laut, ohne den Blick von ihr zu nehmen. Seine Augen musterten ihr verweintes Gesicht, seine freie Hand presste sie näher an seinen Körper.

„Sie wollte nie…“, kam es nuschelnd aus der Dunkelheit und das Leuchten in Minorus Augen bekam etwas amüsiertes, etwas belustigtes… etwas gefährliches.

„Kein Wunder, die Kleine scheint so viel Würde und Verstand zu besitzen, um zumindest dich nicht ranzulassen.“, raunte er grinsend und ging mit ihr ein paar Schritte von der Wand zurück. Mit letzter Kraft, die ihre Angst ihr noch gelassen hatte, versuchte sie sich wimmernd aus seinem Griff zu winden, doch Minoru übertraf sie sowohl in Körperkraft als auch –masse um Längen. „Ich hab’s dir doch schon so oft gesagt, Masao: wasch dich ein bisschen öfter, und vielleicht rennen die Püppchen, auf die du so stehst, dann nicht sofort weg, wenn sie dich riechen.“ Masao grummelte daraufhin etwas leise und Minoru lachte.

„Weißt du“, sagte er dann erklärend an Izumi gewandt, „mein Bruder und ich teilen uns vieles - außer Weiber, da bin ich ein wenig eigen.“ Er begann wieder zu grinsen und mit einem Mal stieß er sie von sich, sodass sie kraftlos zu Boden viel und für zwei Sekunden nach Luft schnappend dort lag, bis sich Minoru auf sie setzte und sie an den Schultern vollends auf den kalten Asphalt herunter drückte. „Tja, Glück für mich, würde ich da mal sagen!“

Izumi hätte gerne um Hilfe geschrien, diesen Kerl über ihr angespuckt oder um sich getreten, aber sie starrte nur mit weit aufgerissenen Augen zu ihm hoch. Ihr Körper fühlte sich an, als hätte er noch nie so etwas wie Kraft besessen.

Dann meldete sich Masao auf einmal zu Wort. „Hey, was soll das werden? Ich dachte, wir wollten ihr Geld, davon, dass du-“

Minoru warf ihm das Portemonnaie zu, das sie in der Innentasche ihrer Jacke getragen hatte. „Da hast du und nun gib Ruhe!“

Tatsächlich sah Masao stumm auf die Geldbörse herab, die vor ihm im Dreck lag, dann bückte er sich danach und wandte sich von ihr und seinem Bruder ab, den Inhalt des Täschchens im Schein der Straßenlaternen untersuchend. Die Hoffnung, die sich einen kurzen Moment lang in Izumi aufgebäumt hatte, viel lautlos im nächsten wieder in sich zusammen. Sie konnte Masao immer noch nicht leiden, aber sie hätte jede Hilfe, egal von wem sie gekommen wäre, dankend angenommen. Sie sah dem Jüngeren der Brüder einige Augenblicke nach, wie er sich schweigend immer weiter von ihr entfernte, ehe Minoru sie aus ihren Gedanken ins Hier und Jetzt zurückholte.

Seine kalte Hand schob sich unter ihr Kleid und die Berührung rüttelte ihre paralysierten Instinkte wieder wach. Sie holte japsend Luft und wollte schreien, doch der Mann über ihr presste ihr seine andere Hand abermals auf Mund und Nase, sodass sie nur noch schwer atmen konnte. Sie zerrte mit ihren frei gewordenen Händen an seinem Handgelenk, drückte seinen Oberkörper weg, kratzte über sein Shirt, in der Hoffnung, ihn so zu verletzten, doch Minoru schien das alles nicht weiter zu bemerken. Ein Schluchzen kroch ihre Kehle hinauf, was ihr, gedämpft durch die Männerhand, wimmernd entwich. Mit einem Mal tauchte Minorus in Schatten getauchtes Gesicht wieder über ihr auf.

„Hör auf zu zappeln!“, zischte er zornig und erhöhte den Druck seiner Hand auf ihren Mund, dass sie beinahe vor Schmerz aufgeschrien hätte. „Je mehr du dich wehrst, umso unangenehmer wird das hier - für uns beide, also hör auf!“

Izumi starrte Minoru aus geweiteten Augen an. Sie spürte, wie heiße Tränen an ihren Wangen herabliefen, an Minorus Hand entlang, ehe sie zu Boden fielen und dort in Vergessenheit gerieten. Der fast volle Mond schob sich hinter den Wolken hervor, als sei er neugierig geworden, und zerrte das Gesicht des Mannes über ihr aus seinen Schatten. Das Licht ließ seine Augen dunkel wirken, bräunlich, wie dunkles Holz. Normalerweise fiel es ihr nicht schwer, in dem Gesicht eines anderen zu lesen, aber jetzt, in diesem Moment, schien ihr Körper, einer Schutzreaktion gleich, einfach alles auszublenden und ließ sie nur noch das braune Augenpaar sehen.

Rehaugen. Die Farbe von Augen voller Unschuld. In ihren jugendlichen Träumen hatte der Junge immer Rehaugen gehabt, egal wie gewöhnlich andere Menschen braune Augen fanden, sie hatte das ruhige, tiefe Braun schon immer fasziniert. Jetzt jedoch verspürte sie nur noch tiefsitzende Angst. Am Rand ihres Bewusstseins bekam sie mit, wie seine kalte Hand ihren Oberschenkel von innen entlangfuhr, immer höher, bis sie sich um den Stoff ihrer Unterwäsche legte. Einem Reflex folgend wollte sie die Beine zusammenpressen, doch Minoru drückte sie mit seinen Knien eisern auseinander. Izumi hörte ihren gequälten Atmen, das rauschende Blut in ihren Ohren, ihr Herz, das in ihrer Brust schmerzhaft stolperte. Sie sah, wie Minoru über ihr die schmalen Lippen zu einem breiten Grinsen verzog und die Rehaugen gierig leuchteten. Bei ihrem Anblick drehte sich Izumi der Magen um, sodass sie die Augen schloss und in ihrem Inneren gab etwas den verzweifelten Widerstand endgültig auf. Minorus Hände schlossen sich um ihren Slip, als er auf einmal in seiner Bewegung verharrte. Sie spürte, wie er sich auf ihr über die Schulter umschaute und sich leicht verdrehte, sodass auch sie die Augen wieder aufriss und an ihm vorbei zurück zur beleuchteten Straße starrte.

Ein Passant war stehen geblieben und versuchte nun an Masao vorbei in die Gasse zu schauen, der sich ihm in den Weg stellte und in seinem nuschelnden Tonfall auf ihn einredete. Minorus Körper verkrampfte sich.

„Was glotzt du so?“, rief er dem Fremden wütend zu, „Hau ab, das hier geht dich nichts an!“

Doch der Mann blieb stehen und endlich erkannte Izumi ihn. Die Unvorsichtigkeit von Minoru ausnutzend, riss sie in einem letzten Versuch an seinem Handgelenk, dessen Pranke er ihr auf den Mund gepresst hatte. Sie befreite sich aus seinem locker gewordenen Griff und holte tief Luft.

Hiko!

Ihre Stimme klang schrill und brüchig. Durch die dunkle Silhouette am Gasseneingang ging ein Ruck. Sie wollte noch einmal seinen Namen rufen, doch da fuhr Minoru zu ihr herum und schlug ihr ins Gesicht, sodass ihr Schrei abrupt erstickte und sie einen Moment lang nur bunte Lichtflecken tanzen sah. Sie hörte den Mann über ihr Verwünschungen und Flüche zischen, die wahrscheinlich ihr gegolten haben, doch sie verstand sie in der Unruhe nicht, in die sich im nächsten Moment ihre Welt verwandelte. Lärm erfüllte die Gasse, aus der sie ihren Namen heraushörte, Masaos Stimme, die dagegen hielt und Minorus wütende Befehle.

„Bring ihn zum Schweigen, verdammt!“

Izumis gelähmte Instinkte erwachten zum neuen Leben. Sie begann sich wieder unter Minoru zu winden, drückte ihn weg, doch auch der Mann war aufmerksamer geworden. Mit einem zornigen Knurren presste er ihr seine Hand abermals auf den Mund, dass sich seine Finger schmerzhaft in ihre Wangen gruben.

„Halt dein scheiß Maul!“, zischte er und seine zweite Hand legte sich um ihren Hals und drückte zu, dass ihr ganzer Körper mit einem Mal erstarrte. Die wegbleibende Luft versetzte sie in Panik, ihre Augen weiteten sich verängstigt und mit einem hysterischen Wimmern griff sie nach seinen Handgelenken, zerrte daran, schlug nach ihnen, vergrub ihre Fingernägel in seiner Haut, sodass blute Striemen zurück blieben, doch Minorus eiserne Fesseln lösten sich nicht.

Hinter dem Rücken des Mannes hörte sie ihren Bruder wütend rufen, sie vernahm Geräusche eines Kampfes, Schläge, Tritte, schmerzhaftes Schnaufen und Stöhnen. Über ihr zischte Minoru. Sie hatte Angst in seine verdammten Rehaugen zu schauen, aber genauso viel Angst hatte sie davor die Augen wieder zu schließen und sie nie wieder öffnen zu können. Ich bekomme keine Luft! Ihr Widerstand verlor zunehmend an Kraft, vor ihren Augen begann die Welt zu flackern. Ihr Blick blieb ungewollt an Minoru haften, an seinem vom Zwielicht erhellten Gesicht, an den vor Hass und Wut entstellten Augen. Der Druck auf ihre Kehle wurde unerträglich.

Ein gurgelnder, vor Schmerz verzerrter Laut schwappte zu ihr in ihren Dämmerzustand herüber, dann ein zweiter, direkt darauf, und beinahe im selben Augenblick peitschte ein Schuss durch die Luft. Minorus Körper erbebte kurz, sein Kopf machte eine nickende Bewegung und etwas Nasses spritzte Izumi ins Gesicht. Dann gaben seine Hände sie frei, ehe er sie mit seinem Körper unter sich begrub.

Panisch schnappte sie nach Luft, hustete und starrte in den wolkenverhangenen Himmel hinauf. Sie wusste nicht, wie lange sie so da lag, ehe ihr Verstand wieder zu arbeiten begann und die vorangegangenen Geräusche zuordnen konnte. Jemand hat geschossen!

Eine neue Angst ergriff sie und so schnell es ihre verbliebenden Kräfte zuließen, schob sie Minoru zur Seite. Er starrte sie nicht mehr an; vielmehr schienen die verdrehten, glanzlosen Augen zu dem Loch auf seiner Stirn hinauf zu schielen, als wunderte er sich, wie es dort hingekommen war. Immer noch nach Atem ringend, sah sie in sein Gesicht. Ihr war nach schreien zu Mute, doch dafür fehlte ihr einfach die Luft. Haarsträhnen klebten ihr im Gesicht, die sie beiläufig hinters Ohr streichen wollte, als ihre zitternden Finger etwas nasses auf ihrer Haut fühlten. Die Erkenntnis traf sie beinahe im selben Augenblick und erschrocken starrte sie auf ihre blutverschmierten Fingerkuppen hinab, mit denen sie zuvor durch ihr Gesicht gegangen war. Ein ersticktes Keuchen kroch ihre Kehle hinauf.

Plötzlich hörte sie Schritte und dieses Geräusch ließ sie aufschauen. Am Anfang der Gasse lagen zwei Männer auf dem Boden, zwei weitere standen um sie herum. Einer von ihnen kam auf sie zu, mit zielgerichtetem Gang, der andere hielt einen merkwürdigen, langen Gegenstand in der Hand und verharrte an Ort und Stelle. Und keiner von den beiden konnte Toshihiko sein… was war ihr los?

Das Echo seiner Schritte verstummte neben ihr und als würde sie aus einem Traum erwachen, zuckte sie erschrocken zusammen, als der Fremde auf einmal direkt vor ihr in die Hocke ging, Minorus Leiche kurz untersuchte und ihr dann in die Augen sah. Izumi brauchte ein paar Momente, bis ihr Verstand das helle Irispaar in dem kantigen Gesicht richtig zuordnen konnte. Und wieder war sie zu nichts anderem fähig, als ihn anzustarren.

„Alles in Ordnung?“ Seine Stimme erinnerte sie an einen besorgten Jungen und ließen den Mann um etliche Jahre verjüngen. Einem Reflex folgend wollte sie nicken, doch dann wurde ihr wieder bewusst, was beinahe und was tatsächlich passiert war, und diese Erinnerungen ließen sie den Kopf schütteln, den Blick dabei starr auf ihren fremden Gegenüber geheftet. Sie spürte ihren Körper zittern, ob vor Kälte, Furcht oder Erschöpfung, konnte sie nicht sagen, ihre Kehle wurde immer enger, dass selbst das aufkommende Schluchzen keinen Weg mehr nach draußen fand. Sie hätte am liebsten die Augen geschlossen und hätte sich auf den kalten Asphalt gelegt; wie oft hatte sie schon Filme oder Serien gesehen, in denen Frauen stets in den schrecklichsten Situationen einfach in Ohnmacht fielen… warum konnte sie das nicht auch tun?

Der Fremde umfasste behutsam ihre Oberarme, um ihr aufzuhelfen, als auf einmal die viel dunklere Stimme des anderen Mannes die zerbrechliche Stille durchbrach.

„Der hier lebt noch.“

Der Mann stellte sie auf wackeligen Beinen ab und drehte sich zu dem zweiten Anwesenden um. „Welcher? Der kleine Bruder?“

Das letzte Wort durchfuhr ihren Verstand wie eine tödlich geführte Streitaxt.

Bruder…

Bruder!

„Nein, der andere.“

Ihr Kopf schnellte herum, sah zurück zu den Gestalten, die am Boden lagen und erst jetzt, jetzt, nach so quälend langen Minuten bemerkte, hörte sie die leisen, röchelnden Laute und die kleinen, windenden Bewegungen der linken Person.

„Hiko.“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern. Sie riss sich von dem wohl gemeinten stützenden Griff des Fremden los und rannte zu den anderen Männern, immer wieder den Namen ihres Bruders stammelnd. Woher besaß ihr Körper eigentlich noch die Kraft sie auf den Beinen zu halten? Doch nach den lächerlich wenigen Metern schienen auch diese wundersamen Reserven aufgebraucht gewesen zu sein, sodass Izumi kraftlos und über ihre eigenen Füße stolpernd neben Toshihiko auf die Knie fiel. Das viele Blut erinnerte in der Dunkelheit der Nacht an schwarze, glänzende Farbe.

Die fiebrig trüben Augen ihres Bruders hefteten sich sofort auf sie, als sie den panischen Aufschrei hinter ihren verklebten Händen verstecken wollte. Die schwarze Flüssigkeit quoll aus seinem Mund, aus dem weiterhin das leise unmenschlich klingende Röcheln drang, das sie zuerst gar nicht wahrgenommen hatte. Seine Hände griffen zittrig nach seinem Hals, seine Finger fuhren an den Rändern der klaffenden Wunde entlang, als wolle er die Ausmaße der Verletzung ertasten. Izumi konnte durch das Schwarz des Blutes kaum etwas erkennen, doch ein Blick in seine vor Angst und Schmerz geweiteten Augen, verriet ihr mehr, als sie ertragen konnte. Hikos Lippen formten Wörter; einmal meinte sie ihren Namen in dem leichten Verziehen seines Mundes erkennen zu können, doch die meiste Zeit schrie er nach Hilfe, obwohl nie ein artikulierbarer Laut seine aufgeschnittene Kehle verließ. Wieder wünschte sie sich in die Arme der Bewusstlosigkeit.

„Ich war nicht schnell genug. Verzeih.“, sprach jemand leise neben ihr.

Izumi wandte den Kopf in Richtung der Geräuschquelle, die so unwirklich in ihre Welt aus Schmerz und Verzweiflung passen wollte. Der andere Fremde hielt immer noch den langen, schmalen Gegenstand in der Hand, von dem es verräterisch tropfte und der Anblick fesselte sie für Sekunden. Beinahe automatisiert drehte sie dann doch den Kopf zur anderen Seite und suchte Masao. Ein blutiges Messer blitzte in seiner Hand auf, doch das lenkte sie nur kurzweilig von seinem glänzenden Körper ab. Schnell wandte Izumi den Blick wieder ab, ihren rebellierenden Magen unter Kontrolle haltend, doch die Bilder hatten sich auf ihre Netzhaut gebrannt, dass sie kurz die Augen zusammenkniff und die frische Erinnerung zu verdrängen versuchte.

Auf einmal fasste etwas nach ihrem Handgelenk, sodass sie erschrocken die Augen wieder aufriss und verbittert zulassen musste, dass sich neue Bilder in ihrem Gehirn festsetzten. Hikos Hand war eiskalt. Sein Blick flehte sie an. Und sie hätte am liebsten einfach nur angefangen zu weinen. Wie hilflos sie sich doch fühlte, wie überfordert.

„Er braucht Hilfe“, flüsterte sie mit kratzender Stimme, schaffte es weiterhin nicht die Augen von ihrem blutenden Bruder abzuwenden. Hilfe, echote ihr narkotisierter Verstand immer wieder leise vor sich hin, als sei er froh darüber, überhaupt so weit gedacht zu haben.

„Ich fürchte, es ist zu spät dafür…“

Sie spürte, dass sich ihre Augen nach so langer Zeit doch endlich mit Tränen füllten. „Jemand muss Hilfe holen“, wiederholte sie heiser, die vorangegangenen Worte des Fremden ignorierend. „Er braucht einen Arzt.“ Izumis Hand umfasste Hikos.

„Miss, er wird… wir können nichts mehr für ihn tun…“ Nun erklangen wieder Schritte. Der zweite Mann kam näher, bis sie seine Präsenz hinter ihrem Rücken wahrnehmen konnte. Langsam sickerte die Bedeutung der Worte in ihr Bewusstsein und entfachte dort ein rauchendes Feuer. Die Panik umklammerte ihr Herz und ließ sie zischend nach Luft schnappen.

„Nein“ Energisch schüttelte sie den Kopf und sah zu dem Mann mit dem Schwert auf. Natürlich ist es ein Schwert, du hohle Nuss, erkennst du nicht einmal das mehr? „Sie müssen einen Krankenwagen rufen! Bitte!“ Jedes Wort kam hysterischer aus ihr heraus als das vorangegangene. Mitleid spiegelte sich in dem Gesicht ihres Gegenübers wider, das fast milchweiß im Mondschein wirkte.

„Es tut mir leid, aber das können wir nicht.“ Sie hörte ihren hektischen Atem und Hikos klägliche Versuche, dasselbe zu tun, die verzweifelten Worte des Mannes, denen sie mit ungläubig aufgerissenen Augen begegnete. Angst und Wut ergriffen die Übermacht in ihr und ließen sie erstaunlich kraftvoll aufspringen.

„Warum nicht?“, japste sie und packte den Kragen seines langen Ledermantels. „Er erstickt, sehen Sie das nicht?! Er braucht Hilfe!“ Wild schüttelte sie den Mann, riss an dem Mantel und schrie immer wieder dieselben Sätze, die in dem Mann keine Reaktion hervorrufen konnten. Wie lange stand sie hier eigentlich schon? Wie lange kämpfte Hiko schon gegen den Tod? Bei dem Gedanken flossen weitere Tränen. Er durfte nicht sterben. Nicht wegen ihr, seiner dummen, törichten Schwester.

Wieder berührte eine Hand sie; diesmal an der Schulter, mit derselben Vorsicht, wie sie zuvor ihre Arme berührt hatten, dennoch ließ diese Nähe Izumi mit ihren aufgekratzten Emotionen unnatürlich stark zusammenfahren. Die Hand des Mannes mit den hellen Augen brannte auf ihrer Haut.

„Es gäbe eine Möglichkeit.“, sagte dieser mit ruhiger Stimme und tatsächlich horchte Izumi hoffnungsvoll auf, nur der Blasse schien von den Worten des anderen wesentlich weniger begeistert zu sein.

„Das wären leere Versprechungen.“, knurrte er, doch sein Gegenüber quittierte dies nur mit einem Kopfschütteln.

„Wenn wir ihn jetzt sofort zu uns bringen-“

„Nein!“

Erschrocken über den energischen Tonfall fuhr Izumi zu dem Blassen herum, allerdings nur kurz, denn die Verzweiflung ließ sie sich augenblicklich wieder an den anderen Fremden wenden.

„Bitte! Wenn Sie etwas tun können, dann bitte!“

Der Blick des Mannes wurde ernst. Kurz sah er schweigend zu dem Mann mit dem Schwert, dann senkten sich seine hellen Augen auf Izumi und bohrten sich in ihr Innerstes.

„Würdest du alles für ihn tun?“

Sie antwortete ohne zu Zögern.

„Er ist mein Bruder. Ich würde… wirklich alles tun, nur bitte… retten Sie ihn.“ Als sie die Worte sprach, veränderte sich der Blick des Mannes, als sie wieder verstummte, trat er dichter auf sie zu und Izumi meinte sich ein Lächeln auf seinen Zügen einzubilden - kein zufriedenes Lächeln, kein belustigtes; es war mehr etwas, das Izumi einen Schauer über den Rücken jagte, bis der Fremde so nahe stand, dass er sich zu ihr runter und an ihr Ohr beugen konnte.

„Ich nehme dich beim Wort, Kleine.“

Danach verschwamm das letzte Licht, das die Nacht der Welt gelassen hatte, um sie herum, begleitet von einem dumpfen Schmerz, der in ihrem Nacken pulsierte.

„Nein! Hades, was-“ Die Worte drangen gedämpft an ihr Ohr, als sei sie von Wasser umgeben.

Hades?

… Würde sie jetzt sterben?
 

Izumi Katos letzter Gedanke war ein belustigter. Sie hatte noch nie viel für Geschichte übrig gehabt. Noch weniger hatte sie sich für Religion interessiert. Dementsprechend hatte sie in diesen Fächer selten richtig aufgepasst. Daher fand sie es einen doch äußerst sarkastischen Wink ihres angeschlagenen Verstandes, dass ihr ausgerechnet in ihrem letzten Moment auf dieser Erde die Bedeutung dieses verdammten alten Wortes wieder einfiel. Und dann auch nur mit der Absicht, dass sie jetzt darüber nachdachte, ob sie nun wirklich in die Hölle kam – in die griechische Hölle, den Hades, wohl gemerkt. Dabei war sie noch nie in Griechenland gewesen…

Habe ich das wirklich verdient?

Sie dachte an die letzten Stunden zurück, an die letzten Jahre, an ihre Taten, an die vielen verletzenden Worte, die sie ihrem Bruder bei so verdammt vielen Gelegenheiten an den Kopf geworfen hatte. Ein verzweifelter Teil in ihr, der an dem Leben weiterhin krampfhaft festhielt, stellte sich die Frage erneut.

Der Rest ihres Bewusstseins brach in schallendes, überschnappendes Gelächter aus.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Thuja
2013-06-20T11:35:50+00:00 20.06.2013 13:35
Gänsehaut pur….
und zwar am ganzen Körper
was für ein Kapitel!!!!!!
Ich fühl mich von der Genialität deines Stils und des Inhaltes erschlagen


Schon als Masao in die Kneipe kam, hatte ich ja irgendwie ein übles Gefühl und zwar so richtig übel
und doch hat der Verlauf meine Erwartungen übertroffen
Einfach nur schockierend und gleichzeitig total fesselnd und spannend
Mir lief es einige Male heiß und kalt den Rücken runter
Auch wenn das nebensächlich ist: ich wüsste ja zu gerne, wie der Vater der beiden reagiert, wenn sein Sohn nicht mehr zurückkommt. Oder ob er sogar vielleicht auch um seine Tochter trauert? Wer weiß. Auch wenn ich das nicht so recht glaube

Auch wenn sich das Leben der beiden Geschwister nun total ändert, ich bin froh, dass Orpheus und Ares aufgetaucht sind



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