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Ferne Heimat

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Vorwort: Diese Story stammt (leider) nicht von mir sondern von Taleweaver. Diese Story wird hier mit seiner Erlaubnisse hier veröffentlicht.

Kommentare und Kritik an taleweaver@taleweaver.de mit den Betreff "Ferne Heimat".
 

Alle Charaktere die nicht von Gainax stammen, sowie die Story sind geistiges Eigentum von Taleweaver. Ich erhebe keinen Anspruch auf die Story oder die Charaktere.
 


 

Ferne Heimat

by Taleweaver
 

Kapitel 1
 

"Eintrag von Shennok, dem dreizehnten Kommandanten der Mission Vagabund, dreihundertneunundneunzigstes Jahr der Reise, Tag 287. Wie mich die Abteilung für Reproduktion informiert hat, ist die Geburtenrate immer noch im Fallen. Anscheinend nähert sich unsere Spezies allmählich dem Totpunkt, der seit drei Generationen von den Wissenschaftlern herbeigeschrieen wird. Die neueren Studien über die durchgeführten Programme sind auch nicht gerade ermutigend. Sämtliche Versuche, der allmählichen Sterilität unseres Volkes entgegenzuwirken, haben sich bisher als fehlgeschlagen erwiesen. Gegen vierhundert Jahre kosmische Strahlung kann sich selbst ein so zähes Volk wie das unsere nicht ewig zur Wehr setzen.
 

"Lasatras Berechnungen zufolge dürften die fortwährenden Mutationen in drei, spätestens in vier Generationen zur völligen Unfruchtbarkeit führen. Die ,Vagabund' ist ein altes Schiff; ewig hätte sie uns ohnehin nicht ernähren können. Aber ich hatte eigentlich immer die Hoffnung, daß unser Volk sie überleben wird. Jetzt sieht es eher so aus, als ob die ,Vagabund' irgendwann einmal das letzte Zeugnis unserer langen Reise sein könnte.
 

"Ich darf die Hoffnung nicht aufgeben, daß wir irgendwann doch noch einen Planeten finden, der sich für uns als geeignet erweist. Das Universum ist zwar unendlich, und wir sind es nicht. Aber in einem unendlichen Universum muß es auch unendlich viele bewohnbare Planeten geben. Wie schwer kann es da sein, einen geeigneten zu finden?
 

"...Computer, letzten Satz löschen. Eintrag fortsetzen. Die nächste Erkundungsmission beginnt in neununddreißig Stunden. Ich hoffe auf einen Erfolg. Drei Planeten der richtigen Größenklasse in einem einzigen System sind schon ein sehr aussichtsreicher Fund. Hoffen wir, daß sich System 232.54.172 als ein Treffer erweist. Shennok, Eintrag beenden."
 

Langsam erhob sich der Kommandant aus dem Aufzeichnungssessel und seufzte tief. Was wir hier haben, dachte er bei sich, ist wahrscheinlich eine der letzten Hoffnungen. In diesem Sektor gibt es sonst in 35 Lichtjahren Entfernung kein einziges System mehr, dessen Planeten wir nicht schon untersucht hätten. Das nächste liegt wahrscheinlich über 120 Lichtjahre entfernt. 120 Lichtjahre, machen vier Generationen aus. Und wir haben keine vier Generationen mehr.
 

Seine düsteren Gedanken wurden vom Surren seines PersoKoms unterbrochen. Er berührte den Kontakt an seinem Ärmel. "Shennok?"

"Kommandant, hier Lasatra", erklang die angenehm weibliche Stimme der Leiterin der Abteilung Astrophysik. "Ich habe gerade eben die Berichte von der Abteilung Sensortechnik erhalten. Wie es aussieht, haben wir einen überraschenden Erfolg zu vermelden!"
 

"Erfolg?" Shennok überlegte kurz. "Wieso Erfolg? Ich habe doch selbst befohlen, die Abteilung Sensortechnik vorübergehend stillzulegen! Wie können die Leute Erfolgsmeldungen liefern, wenn sie gar nicht arbeiten?"

Der Kommandant glaubte, Lasatra kichern zu hören. "Wie es aussieht", erklärte sie, "hat Harmis einen Teil der Forschungen privat und auf eigene Faust weitergeführt, ohne die Abteilung."

"Gegen meinen ausdrücklichen Befehl?!"

"Nun... sie haben nicht ihm PERSÖNLICH befohlen, seine Forschungen einzustellen, nur seiner Abteilung. Aber wie auch immer, er hat mich eben darüber informiert, daß die K1-Sonde soeben die ersten Daten von 232.54.172 zurückgesandt hat."
 

"Die K1-Sonde funktioniert wirklich?" Shennok strich sich nachdenklich über seinen grüngrauen Bart. "Nicht zu glauben. Ich dachte, das sei nur eine Spinnerei von ihm..."

"Anscheinend nicht", kam es von der Wissenschaftlerin zurück. "Unser Wunderkind hat sich bei seinen Berechnungen doch nicht geirrt. Wir haben wundervoll klare Bilder von den inneren Planeten des Systems."

Aufgeregt schluckte der Kommandant. "Und?"

"Warum kommen sie nicht auf das Aussichtsdeck und sehen es sich selbst an?"

"Bin schon unterwegs."
 

Mit einer zweiten Berührung deaktivierte Shennok den PersoKom und trat schneller als gewöhnlich in das IntraTrans der ,Vagabund'. Das Kapseltransportsystem, welches auf einem Netz von Vakuumröhren aufbaute, war die bei weitem schnellste Möglichkeit, auf dem gewaltigen Raumschiff von einem Ort zum anderen zu kommen. Über 4000 Personen lebten auf dem kilometergroßen Generationenkreuzer, und man wäre zu Fuß sicher einen Tag unterwegs gewesen, hätte man vom Bug ins Heck laufen wollen. So dauerte der Transport nur wenige Minuten.
 

Als die Kapsel auf dem Aussichtsdeck ankam, stand Lasatra schon bereit, um den Kommandanten abzuholen. Sie hatte schon wieder ihre Frisur geändert, wie er verärgert bemerkte - inzwischen trug sie ihr blaßorangenes Haar in einem hochgesteckten Pferdeschwanz. Anscheinend veränderte sie ihr Äußeres inzwischen im Stundentakt. Je mehr sie auf die Dreißig zuging, um so exzentrischer wurde diese Frau. Shennok hatte schon einen Kommentar auf den Lippen, verkniff ihn sich aber. Die wichtigen Dinge zuerst.
 

"Wo sind die Bilder?" Der Kommandant kam ohne Umschweife auf den Punkt.

Lasatra lächelte ihn fröhlich an. "Gleich hier drüben", antwortete sie und wies auf drei Projektionsschirme, auf denen tatsächlich äußerst scharfe Abbilder von drei Planeten nebeneinander zu sehen waren. Der rechte war von einer weißlichen Wolkendecke völlig umgeben, der mittlere war von größtenteils orangerötlicher Färbung mit größeren braungrünen Flächen darin, der linke schien von rostroten Gebirgen überzogen zu sein.
 

Etwas enttäuscht wandte sich Shennok der Leiterin der Astrophysik zu. "Das sieht mir aber nicht wirklich erfolgversprechend aus", meinte er mißtrauisch. "Der weiße Planet hier liegt für mein Verständnis zu nahe an dem Stern des Systems, der mittlere ist mit Sicherheit für unseren Metabolismus toxisch, und auf dem dritten erkenne ich keine Spur von Wasser. Welchen von den dreien halten sie für aussichtsreich?"
 

"Den mittleren", gab Lasatra zurück und schien etwas beleidigt über den fehlenden Enthusiasmus des Kommandanten zu sein. "Sie irren sich auf jeden Fall, was die Toxizität angeht. Das, was dort giftig aussieht, ist nichts anderes als ein Meer mit Unmengen an gelösten organischen Verbindungen. Es besteht zu über 90 % aus Wasser - genau die Grundlage, nach der wir gesucht haben! Die Temperatur ist 1,3 Punkte über den gegebenen Spezifikationen, aber das ist völlig innerhalb der Toleranz. Die Gravitation ist 103% Rhoan-Standard, und die Atmosphäre - halten Sie sich fest - ist sauerstoffreich und besteht sonst nur noch aus Stickstoff, Kohlendioxid und einem vernachlässigbaren Anteil anderer Gase. Nichts, was auch nur im Geringsten giftig wäre!"
 

Shennok zog beeindruckt die Augenbrauen hoch. "Und das alles wurde von der K1-Sonde bereits zusammengetragen?" meinte er. "Respekt! Das erspart uns mindestens acht Stunden Erfassungszeit. Was hat der Lebensformen-Scan ergeben?"

"Dazu sind wir noch nicht gekommen", erklang eine dritte, jüngere Stimme, und als sich der Kommandant und die Wissenschaftlerin umwandten, sahen sie Harmis herantreten. Der Junge sah so ungepflegt aus wie immer; sein tiefblaues Haar hing in unordentlichen Strähnen in sein Gesicht, und sein Overall war am Hals ein Stück offen.
 

"Meine Schöpfung ist zu vielem in der Lage", meinte Harmis mit einer Altklugheit, die seine vierzehn Jahre Lügen strafte, "aber komplexe Lebenszeichen kann sie noch nicht empfangen. Zumindest kann ich sie aber darüber versichern, daß sich keine höhere Zivilisation auf dem dritten Planeten aufhält."
 

"Der dritte Planet?" Shennok war verwirrt. "Ich dachte, wir würden über den zweiten..."

"Den zweiten auf dem Bildschirm", unterbrach ihn der Junge, "aber der dritte vom Stern aus gezählt. Der erste ist viel zu klein und zu heiß; völlig unbewohnbar. Der mittlere auf diesem Diagramm ist der dritte Planet von 232.54.172. Und dort gibt es garantiert keine höhere Zivilisation. Keine EM-Impulse, keine primitiven Funksignale, keine Anzeichen für irgendwelche Ansiedlungen. Mit Sicherheit gibt es dort unten Leben - pflanzliches Leben auf Chlorophyllbasis wie auf Rhoan halte ich sogar für sehr wahrscheinlich, wenn ich mir den Grünton hier ansehe - und das CO2 in der Atmosphäre weist auf tierisches Leben hin. Aber hier werden wir nichts finden, das auch nur ansatzweise Intelligenz aufweist."
 

Der Kommandant lächelte. "In 27 Stunden werden wir wissen, ob du recht hattest, Harmis", gab er zurück. "Gute Arbeit. Manchmal frage ich mich wirklich, warum ich eigentlich noch dieses Schiff steuere und nicht du."
 

Harmis grinste. "Weil du mir den Hosenboden versohlen würdest, wenn ich es versuchte, Vater?" gab er zurück.
 

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Mit einer sanften Erschütterung setzte die Landekapsel der ,Vagabund' auf 232.54.172/3 auf. Starke Metallkrallen gruben sich in das Felsgestein am Boden und arretierten das kleine Schiff auf dem Untergrund. Zischend öffnete sich die Ausgangsluke, und fünf Gestalten in Ganzkörper-Keramikpanzerungen schritten sehr langsam und vorsichtig heraus, die Mikroraketenwerfer immer im Anschlag.
 

"Ganzes Team in Sichelform", befahl der Gruppenführer, und seine Männer rückten rasch auf. Dies hier war der erste echte Einsatz der Leute; und das letzte Mal, als ein Team der ,Vagabund' einen Planeten erkundet hatte, waren noch ihre Großväter oder ihre Urgroßväter an ihrer Stelle gewesen. Das hieß nicht, daß sie nicht dafür ausgebildet gewesen wären: das Training auf dem Schiff war hart und fordernd - man wollte kein Risiko eingehen. Aber die Situation, zum ersten Mal eine völlig neue Welt zu betreten, konnte man nicht wirklich einüben.
 

Der Gruppenführer tat sein Bestes, seinen Leuten das Unbehagen zu nehmen."Ich will keine Überreaktionen sehen!" ließ er sie wissen. "Die Waffen bleiben bis auf meinen Befehl hin gesichert. Niemand schreit herum; ich will ordentliche Kommunikation hören. Wenn jemand eine Bewegung sieht, zuckt er nicht zusammen, sondern meldet das wie besprochen. Wir haben hier nicht mit Feinden zu rechnen, und wenn es hier Lebewesen gibt, so werden die mehr Angst vor uns haben müssen als wir vor ihnen. Hat das jeder verstanden?"

"Jawohl, Gruppenführer!" hörte er von vier Leuten gleichzeitig über sein PersoKom.

"Gut so!"
 

Langsam bewegte sich das kleine Team vorwärts auf den Hügel, neben dem die Landekapsel aufgesetzt hatte. Die Gegend war recht öde, aber für den ersten Einsatz war das sicherlich keine schlechte Wahl gewesen. Man mußte erst einmal mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut werden, ehe man sich in schwierigeres Gelände wagte. Wenn die Leute hier erst mal vier-, fünfmal hier unten gewesen waren, konnte man es auch wagen, sie in Einzelgruppen...
 

"Gruppenführer, sehen sie mal!" unterbrach plötzlich die Stimme eines Pioniers seinen Gedankengang. Er sah sich um. Der Späher an der vorderen linken Flanke der Sichelformation war schon fast auf der Spitze des Hügels angekommen und deutete nun über den Hügel hinweg. Was er da sah, konnte der Gruppenführer von seiner Position aus nicht erkennen.
 

"Ganze Gruppe an vorne links ohne Formation sammeln!" befahl er und setzte sich selbst in Trab. Die Pioniere taten es ihm gleich. Etwas aus dem Konzept gebracht, nahm er sich vor, nach Abschluß der Mission diesen übereifrigen Mann mal ordentlich die Meinung über Kommunikationsetikette auf dem Feld zu sagen - doch seine Vorsätze wurden jäh unterbrochen, als er aufschloß und sah, worauf der Pionier zeigte.
 

In etwa 300 oder 400 Metern Entfernung standen mehrere gigantische, auf keinen Fall natürliche Konstruktionen, die aus Stein oder Metall zu sein schienen. Sie bestanden aus einem im Boden verankerten Längsbalken und einem ihn auf 2/3 von dessen Höhe kreuzenden Querbalken. Aber nicht die Konstruktion erschreckte den Gruppenführer, sondern das, was er noch sah:
 

An jeder der kreuzförmigen Konstruktionen hing ein riesenhaftes, humanoides Wesen, dessen Hände anscheinend an den Enden des Querbalkens befestigt worden waren. Die Wesen waren leicht dreißig, vielleicht sogar vierzig Meter groß - auf jeden Fall absolut gigantisch.
 

Von diesem Anblick gebannt, bemerkte keiner aus dem Team das kleine, blauhaarige Mädchen, das in einiger Entfernung über dem Boden schwebte, einen besorgten Blick auf die Fremden warf und kurz darauf wieder ins Nichts verschwand.
 

Kapitel 2
 

"Deine Theorie von einem Planeten ohne jegliche Zivilisation hat sich ja schneller als falsch erwiesen, als du sie aufgestellt hat", spottete Shennok, während er die letzten Utensilien für die bevorstehende Mission in seinem ExploraSuit verstaute. "Jetzt verstehst du vielleicht, wieso ich immer wieder sage, du sollst nicht so vorlaut sein."

"Ist ja schon gut, Vater", murmelte Harmis und schlüpfte in die festen Stiefel, die zur Überlebensausrüstung gehörten. In seinen Ohren klang immer noch das Gelächter seiner Kameraden, vor allem von Yllira, die er eigentlich für seine beste Freundin gehalten hatte. Er war gerade dabei gewesen, sich mit der Funktionsfähigkeit seiner Sonde zu brüsten, als die Mitteilung vom Bodenteam gekommen war: Man hatte anscheinend gewaltige Monumente entdeckt, die nicht natürlich entstanden sein konnten. Und das, nachdem er sich noch so sicher gewesen war, daß es keine Zivilisation da unten gab.
 

"Auf jeden Fall kann auf der Oberfläche keine Kultur existiert haben", verteidigte sich der Junge. "Bis auf die Monumente haben auch die Sensoren der ,Vagabund' nichts entdecken können, was auf Zivilisation hinweist - keine Städte, künstliche Landschaftsveränderungen oder etwas ähnliches. Vielleicht haben die Bewohner dort alle unter der Erde gelebt. Na ja, wir werden ja sehen, was wir aus den Monolithen herausholen können."

Sein Vater lächelte und schloß die letzte Tasche seines Schutzanzuges. "Ich weiß", beruhigte er ihn, "du wirst dein Bestes tun. Deine Kenntnisse auf dem Bereich der Sensortechnik sind unbestritten - ich hätte dir keine leitende Funktion in der Abteilung gegeben, wenn ich mir da nicht sicher wäre. Und ich würde dich schon gar nicht zu den Untersuchungen mitnehmen, wenn ich glaubte, daß jemand anderes besser geeignet wäre. Ich denke einfach nur, du bist mitunter noch etwas voreilig mit deinen Schlüssen. Aber das lernst du sicher noch."
 

Harmis murmelte etwas unverständliches und klinkte den zweiten Stiefel in die Beinhalterung des Explora-Suits ein. "So, fertig", meinte er dann. "Bereit zum Hinuntergehen. Haben unsere Pioniere die Gegend gesichert?"

"Soweit das möglich war, ja", antwortete Shennok. "Das Gebiet mit den Monolithen grenzt leider an das Meer des Planeten, aber diese Richtung wird die ,Vagabund' vom Orbit aus überwachen. Um den Rest des Gebiets habe ich Beobachtungsposten einrichten lassen, und das Zielgebiet wurde in den vergangenen Tagen gründlich durchsucht. Mach dir mal keine Sorgen. Das gefährlichste, was Dir da unten passieren kann, ist eine Infektion mit irgendeinem fremden Bakterium. Die medizinische Abteilung meint zwar, es wäre sehr unwahrscheinlich, daß da unten was wäre, das sich unserem fremden Metabolismus anpassen könnte. Aber ich gehe lieber sicher; darum die ExploraSuits."
 

Der Junge nickte und griff nach seinem Helm. "Ist wohl besser so."
 

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45 Minuten später setzte die Landekapsel auf der fremden Welt auf und verankerte sich im Boden. Das wissenschaftliche Team, welches Kommandant Shennok hatte zusammenstellen lassen, bestand aus insgesamt zwanzig Leuten, ihn und seinen Sohn eingeschlossen. Im Prinzip hätte er auch einfach nur ein paar Mann herunterschicken können, um Proben zu sammeln und diese dann auf der ,Vagabund' analysieren lassen können. Aber er hatte ausnahmslos von allen wissenschaftlichen Abteilungen Anfragen erhalten, ob sie auf eine Bodenmission Vertreter mitschicken durften. Er konnte es ihnen nicht übelnehmen; keiner der Leute an Bord hatte jemals auch nur einen Fuß außerhalb des Schiffs setzen können. Und nachdem es so viele Freiwillige gab, ersparte das ihm die unangenehme Aufgabe, jemanden gegen seinen Willen schicken zu müssen.
 

Allerdings hätte er es sich niemals nehmen lassen, selbst mitzukommen. Nicht, daß er für die wissenschaftlichen Aufgaben qualifiziert genug gewesen wäre; er war in erster Linie ein Diplomat und ein Computertechniker. Aber das Privileg des Kommandanten, die letzte Entscheidung über die Zusammenstellung eines Landungsteams zu haben, bedeutete ihm viel. Er wäre dumm gewesen, es nicht auszunutzen.
 

Als sich die Luke der Kapsel vollständig geöffnet hatte, trat er als erster heraus, gefolgt von seinem Sohn. Ein Kommando von acht Pionieren, das ihn unten bereits erwartet hatte, salutierte vor ihm, und er gab den Gruß etwas tapsig zurück. Er war es einfach nicht gewohnt, sich in dem etwas unförmigen ExploraSuit zu bewegen, der im Prinzip nur aus zwei Schichten festen Materials bestand, zwischen denen eine Druckatmosphäre aufgebaut worden war und ein Antigravsystem und Manöverdüsen besaß. Aber trotzdem behinderte er noch normale Bewegungen, wenn man nicht in ihm geübt war. Die Pioniere schafften es, in ihren SecuriSuits wesentlich sicherer zu wirken, obwohl diese noch zusätzlich mit Keramikplatten gepanzert waren - alles eine Frage des Trainings, nahm er an.
 

"In Ordnung", wandte er sich an die mitgereisten Wissenschaftler, "die Sicherheitsmaßnahmen sind wir alle gemeinsam durchgegangen, dazu muß ich wohl nichts mehr sagen. Aber ich möchte sie alle bitten, keine unnötigen Risiken einzugehen. Ich weiß, sie sind in ihren Fachgebieten anerkannte Kapazitäten. Aber lassen sie sich nicht von ihrer Begeisterung angesichts dieser neuen Möglichkeiten hier zur Unvorsicht verleiten. Das gilt insbesondere für sie, Leiterin Lasatra!"

Die jüngere Frau grinste ihn durch das Visier ihres Helmes an. "Keine Sorge, Kommandant", gab sie zurück. "Ich glaube nicht, daß ich hier unten Kometen finden werde, die ich für eine Untersuchung gerne an Bord nehmen würde."
 

Shennok lächelte zurück. Sie hatte genau verstanden, auf welchen Zwischenfall er angespielt hatte. "Schön, daß wir uns verstehen", meinte er. "Also, an die Arbeit. Jedes Team wird von zwei Spähern begleitet. In zwei Stunden Rhoan-Standard treffen wir uns wieder hier vor der Kapsel. Ich will über sämtliche außergewöhnlichen Entdeckungen unverzüglich unterrichtet werden. Aber ihre Gesamtberichte geben sie mir bitte erst, wenn wir zurück an Bord der ,Vagabund' sind. Und nun Abmarsch!"
 

Die Wissenschaftler teilten sich in ein geologisches, ein medizinisches und ein biologisches Team auf, der Kommandant und sein Sohn bildeten ein viertes. Zwei der Pioniere schlossen sich ihnen an und salutierten nochmals. "Unteroffizier Dritten Grades Zanhar", stellte sich der höherrangige der beiden Leute vor, "und das hier ist Späherin Tayama. Ist uns eine Ehre, unter ihnen persönlich zu dienen, Kommandant!"

"Ist schon recht", gab Shennok zurück und wies auf Harmis. "Ich nehme an, sie kennen meinen Sohn? Gut. Dann wissen sie ja, worauf sie zu achten haben."
 

"Vater!" meinte der Junge empört, während die beiden Pioniere in amüsiertes Lachen ausbrachen. "War das wirklich nötig?"

"Er meint es doch nicht so, Kleiner", antwortete Tayama lächelnd und gab Harmis einen freundschaftlichen Stoß, der ihn stolpern ließ. "Er will doch nur, daß dir nichts geschieht. Keine Sorge, Kommandant, ich habe ein Auge auf ihn."
 

Unter immer noch wütendem Gemurmel des Jungen begab sich das Team zum nächsten der Monolithen.
 

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Etwa eine halbe Stunde später war es Harmis endlich gelungen, unter Zuhilfenahme der VibroKlinge von Unteroffizier Zanhar sowohl aus dem eigenartigen steinernen Kreuz als auch aus dem riesenhaften Körper, der daran befestigt zu sein schien, eine Probe herauszuschneiden. Zuvor hatte er bereits die PowerPacks des Probenlasers geleert, als er versucht hatte, dem Giganten auch nur einen kleinen Schnitt zuzufügen. Das Ding bestand aus dem zähesten Material, das ihm jemals untergekommen war; und an dem Gestein des kreuzförmigen Monolithen war ihm der Keramikhammer zersprungen. Was war das nur für ein Zeug?
 

Vorsichtig manövrierte er seinen ExploraSuit unter Zuhilfenahme der Düsen wieder auf den Boden zu. Seine Energiereserven waren fast erschöpft; die Anzüge waren nicht für den Dauereinsatz konzipiert worden, sondern nur, um mit kurzen Flügen natürliche Hindernisse zu überwinden. Langsam setzte er auf, deaktivierte den Antigrav-Generator und packte die beiden Proben aus.
 

Sein Vater hatte in der Zwischenzeit den Tiefenscanner aufgebaut und aktiviert. Das Gerät enthielt die momentan fortschrittlichste Sensortechnologie - Positronenscanner, Resonator und Biolyse-Sensoren. Es gab kaum eine Information, die der Tiefenscanner nicht liefern konnte - wenn man wußte, wie er zu bedienen war! Ohne die nötige Justierung der Technologie auf die Umgebung war alles nicht halb so effizient. Aber kaum jemand verstand sich auf die genaue Justierung des empfindlichen Gerätes so gut wie Harmis.

Vorsichtig legte der Junge die erste Probe ins Aufnahmefach des Scanners - das Gesteinsstück aus dem Monolithen. Sorgfältig verschloß er das Gerät und aktivierte mit einem kurzen Antippen das Bedienungspanel. Geübt glitten seine Finger über die Einstellungen, justierten Wellenlänge, Strahlungsintensität und Analysealgorithmen, um dem einfachen Stück Stein seine Geheimnisse zu entreißen.
 

Es dauerte keine fünf Minuten, bis er die ersten Ergebnisse hatte und einen überraschten Pfiff hören ließ. Shennok beugte sich zu ihm herunter. "Schon was gefunden?" wollte er wissen, und Harmis nickte. "Das ist unglaublich", meinte der Junge, "dieses Gestein hier ist alt. Sehr alt!"

"Und wie alt ist ,sehr alt'?" erkundigte sich Shennok.

"Genau kann ich das nicht sagen, aber ich würde schätzen... Moment... im Bereich von etwa achtzig Millionen Jahre!"
 

"Was?!" Der Kommandant fuhr überrascht zurück. "Aber das kann doch nicht... Halt! Du meinst natürlich, das Gestein ist insgesamt achtzig Millionen Jahre alt, oder?"

Harmis schüttelte den Kopf. "Nein, das Gestein ist noch sehr viel älter", gab er zurück. "Aber die Kanten hier... ich kann nur zum Schluß kommen, das dieser Monolith vor etwa achtzig Millionen Jahren aufgestellt wurde."

"Du mußt dich irren!"

"Achtzig Millionen Jahre, plus/minus fünf Millionen. Der Resonator hat keine große Fehlerstreuung."

"Aber..."
 

"Ich weiß, worauf du hinauswillst, Vater", erwiderte der Junge. "Kein Bauwerk von diesen Dimensionen kann achtzig Millionen Jahre lang auf freier Fläche stehen, ohne dabei auch nur die geringsten Anzeichen von Verwitterung zu zeigen. Aber hier sind wir, und da steht es."

Shennok schüttelte den Kopf. "Was ist das nur für ein Material", meinte er, "aus dem man diese Monolithen errichtet hat?"

"Keine Ahnung", war die Antwort. "Der Materialscan ist... uneindeutig. Die Struktur ist eine Mischung aus kristallin und organisch. Kohlenstoff in kubischdichtester Kugelpackung, aber mit Unreinheiten. Das muß ich mir auf dem Schiff näher ansehen."
 

Harmis deaktivierte den Tiefenscanner, nahm die Gesteinsprobe heraus und ersetzte sie durch das Stück von dem Giganten. Wieder schaltete er das Gerät ein und begann mit der Justierung, als Shennoks PersoKom plötzlich zu surren begann. Eine kurze Berührung aktivierte das System.

"Shennok?"
 

"Hier... hier Tauris", ertönte eine zitternde männliche Stimme am anderen Ende, "biologisches Team. Kommandant... ich muß melden...Wir... wir haben soeben... Verluste erlitten."

"Was?!" Der Kommandant war sofort hellwach. "Brauchen sie Verstärkung?"

"Ich... ich glaube nicht", war die Antwort. "Wir... wir..."
 

Shennok verlor allmählich die Geduld. "Reißen sie sich zusammen, Tauris!" donnerte er. "Was genau ist passiert?"

"Es ist etwas mit Raimor passiert, dem Leiter der Exobiologie", kam die Antwort, diesmal etwas schneller. "Er... er war gerade dabei, eine Probe aus dem Meer zu entnehmen, als er plötzlich zusammenbrach."

"Haben sie bereits medizinische Hilfe angefordert?"

"Ja, aber..." Die Stimme schwieg einen Moment, als ob sie nicht wüßte, was sie sagen sollte.

"Was ist denn noch?"
 

"Wir haben natürlich sofort nach Raimor gesehen", gab Tauris zurück. "Aber... er war verschwunden."

"Verschwunden?!"

"Ja, verschwunden. Sein Anzug war noch da, aber... aber er war nicht mehr drin!"

"WAS?!"

"Kommandant, in seinem Anzug ist nur noch Wasser! Nichts als Wasser von der gleichen, orangenen Färbung wie die Meere hier!"
 

Shennoks Kinnlade fiel herunter.
 

Kapitel 3
 

"Verdammt! Verdammt! Verdammt! Verdammt! VERDAMMT NOCHMAL!"

Shennok vergrub sein Gesicht in den Händen, während er die Arme auf dem Arbeitstisch der Kommandatur aufstützte. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Warum war er nur so unvorsichtig gewesen, seinen Wissenschaftlern freie Hand auf 232.54.172/3 zu lassen? Wieso hatte er nicht erst Intensivscans angeordnet, ehe er Landeteams autorisiert hatte? Was, bei allen Galaxien, war nur in ihn gefahren, daß er seine Pflichten so sträflich vernachlässigt hatte?
 

"Es war nicht ihre Schuld", meinte Lasatra leise, während sie sich vorbeugte und den Kommandanten vorsichtig am Arm berührte. Er zeigte keine Reaktion. "Jeder im Landeteam kannte das Risiko", versuchte sie es nochmals. "Es war der erste Einsatz auf einem fremden Planeten für alle von uns! Niemand wird ihnen für diesen Unglücksfall die Verantwortung zuweisen!"
 

Shennoks Kopf fuhr ruckartig hoch, und die Wissenschaftlerin schrak überrascht zurück, als er sie aus wütenden Augen ansah. "Sie irren sich", zischte er. "Ich SELBST muß mir die volle Verantwortung für den Tod von Exo-alpha Raimor zuweisen! Er hat jede meiner Sicherheitsmaßnahme befolgt, war in Begleitung von zwei fähigen Spähern, hat sich wissenschaftlich absolut korrekt verhalten, und jetzt ist er trotzdem tot!" Erregt schlug er beim Wort "tot" mit der flachen Hand auf den Tisch. "Sagen sie mir mal, wie ich das seiner Frau erklären soll!"
 

Lasatra sank ein wenig in sich zusammen. "Es... es tut mir leid", gab sie leise zurück, "daß sie es so sehen. Wissen sie, die Stimmung in der Mannschaft ist gar nicht so, daß sie sich Vorwürfe machen müßten... die meisten denken, es war ein entsetzlicher Unfall, aber nichts, was man hätte verhindern können..."

"Ich bin anderer Meinung", unterbrach sie der Kommandant unwirsch, "ich HÄTTE das verhindern können, wenn wir um die Eigenschaften dieses orangefarbenen Wassers vorher gewußt hätten. Verdammt, es hätte MEINEN SOHN erwischen können! Und damit Ende der Diskussion!" Er erhob sich von seinem Sessel. "Gibt es noch einen vernünftigen Grund, warum sie mich aufgesucht haben, Lasatra, oder war das nur ein erbärmlicher Versuch, mich trösten zu wollen?"
 

Jetzt war es an der Wissenschaftlerin, etwas ungehalten zu werden. "Wenn sie glauben, ich würde meine Zeit verschwenden", schnappte sie zurück, "liegen sie schief. Ich habe auf dem Weg hierher kurz in der medizinischen Abteilung vorbeigeschaut und gleich das Log der Untersuchung von Raimor mitgebracht." Sie zog aus ihrer Gürtelhalterung ein HoloTab und warf es mit einer abfälligen Bewegung auf den Tisch. "Hier, für ihre Akten!"

"Raus aus meinem Büro!"
 

Die letzten Worte waren gefährlich leise gesprochen, und Lasatra hielt es für das beste, den Kommandanten jetzt erst einmal alleine zu lassen. Sie hatte ihn bisher noch nie so aufgebracht erlebt - vielleicht mußte er sich erst ein wenig abkühlen, ehe er wieder Argumenten zugänglich war. Nun ja. Vielleicht sah er sich ja tatsächlich das Log an - das würde ihn zumindest wieder auf andere Gedanken bringen.
 

---
 

Raimor, Leiter der exobiologischen Abteilung der ,Vagabund', war so einsam wie noch nie in seinem Leben.
 

Über ihm war Leere.

Neben ihm war Leere.

Unter ihm war Leere.

Und dorthin, wo er selbst war, war auch nur Leere.

Wo, bei allen Galaxien, war er nur?
 

In seinen zweiundfünfzig Jahren hatte der Wissenschaftler schon einiges erlebt. Er hatte eine Seuche metallfressender Parasiten auf der ,Vagabund' eigenhändig gestoppt. Er hatte vierhundertneunundzwanzig niedere Lebensformen von jungfräulichen Planeten studiert, ihren Metabolismus erforscht und daraus Rückschlüsse auf die Entstehung intelligenten Lebens ziehen können, die das Weltbild aller Exobiologen revolutionierten. Es war ihm sogar gelungen, die Existenz von Leben auf Siliziumbasis nachzuweisen.
 

Aber noch nie hatte etwas derartiges erlebt.
 

Nachdem seine Panik allmählich wieder abgeflaut war und er allmählich wieder klare Gedanken fassen konnte, versuchte er, seine Situation mit wissenschaftlicher Logik zu analysieren. Zunächst einmal mußte er wissen, welche Möglichkeiten ihm überhaupt zur Verfügung standen, um seine Lage einzuschätzen. Sehen konnte er nichts, hören konnte er nichts, und spüren... nun, wenn er sich konzentrierte, glaubte er sich sicher zu sein, daß er irgendwo... dahintrieb. Ja, das war der richtige Ausdruck. Er trieb irgendwo und konnte spüren, wie er von einer sanften Kraft hin- und hergeschaukelt wurde.
 

Also das Meer, dachte er sich. Eigentlich nur logisch. Ich stand direkt am Meer, als ich das Bewußtsein verloren habe. Jetzt scheine ich mich darin zu befinden. Irgendwo im Meer. Und ich treibe dahin.

Aber wieso sehe ich nichts? Wieso höre ich nichts? Wieso ist keine Nässe um mich?

Wieso atme ich nicht?!
 

Der Gedanke schoß wie ein Blitz durch seinen Geist, und Raimor war nahe daran, erneut in Panik zu geraten, als etwas unerwartetes geschah.

*Nanu, wen haben wir denn da?*
 

Die Stimme erklang neben dem Wissenschaftler, und augenblicklich war er sich bewußt, daß er nicht länger alleine war. Er sah immer noch nichts, er hörte immer noch nichts, aber er spürte ganz deutlich, daß nun jemand direkt neben ihm war, ganz eng an seiner Seite! Er hatte die Worte vernommen, als hätte er sie selbst gedacht, aber im selben Moment wußte er, daß er sie nicht gedacht hatte und sie von jemand anderem stammten.
 

*Wer ist da?* sagte er, und im selben Moment wurde ihm bewußt, daß er soeben nicht geredet hatte, sondern... gedacht. Ja, gedacht, aber nicht zu sich, sondern zu jemand anderem. Das Gefühl war sonderbar.

*Wer da ist?* dachte die fremde Stimme zu ihm. Sie klang amüsiert. *Das sollte ich eigentlich fragen. Nach der ganzen Zeit hier war ich eigentlich der Meinung, ich hätte so langsam jede Menschenseele hier kennengelernt. Aber anscheinend hab ich da jemanden vergessen.* Raimor glaubte, ein Kichern zu vernehmen.
 

*Mein Name ist Raimor*, dachte er zu der fremden Stimme - und dann hielt er auch schon wieder inne. Ihm kam plötzlich das Protokoll für Erstkontakte wieder in den Sinn, das er in seiner Lage fast vergessen hätte: Das hier war mit Sicherheit eine Intelligenz, die auf diesem Planeten lebte, und er war gerade dabei, zwischen ihrem Volk und seinem eine Kommunikation herzustellen. Dafür gab es strenge Richtlinien - niemand wollte wegen eines mißverstandenen Satzes einen Krieg auslösen.
 

Mühsam erinnerte er sich an die Formulierungen zurück, die er als junger Mann hatte auswendig lernen müssen. *Ich komme in friedlicher Absicht*, dachte er. *Es gibt keinen Grund zur Besorgnis. Wahrscheinlich werde ich ihnen fremd und seltsam erscheinen, aber sie müssen mich nicht fürchten. Können sie mich zu jemandem führen, der hier Verantwortung trägt?*
 

Die Antwort war ein schallendes Lachen, das in seinem Geist widerhallte. *Das ist der beste Spruch, den ich seit langem gehört habe*, dachte die Stimme zu ihm. *Das gefällt mir. Es hat irgendwie Stil. Was denkst du, Raimor, möchtest du dich mit mir vereinen?*

*Vereinen?*

*Das ist ein sehr, sehr angenehmes Gefühl.*

*Ich weiß nicht... was muß ich tun?*

*Vertrau mir und öffne dein Herz...*
 

Raimor versuchte sich zu entspannen, und im nächsten Moment kehrten plötzlich seine Sinne zurück:

Er hörte das Wasser um sich rauschen.

Er spürte die Berührung einer Hand an seiner.

Er sah, mit wem er soeben Kontakt hergestellt hatte.

Und er und die Frau schrieen gleichzeitig erschrocken auf, als sie einander sahen.
 

---
 

"Verstehe ich sie richtig - dieses orangefarbene Wasser, das ist immer noch der Körper von Exo-alpha Raimor?"
 

Med-alpha Tyrrin, eine schmächtige, silberhaarige Frau von 67 Jahren, nickte langsam. "Wir haben seine Genstruktur einwandfrei identifizieren können. Diese orangefarbene Lösung ist kein Wasser, es ist der Körper von Raimor."

"Aber das ist doch völlig unmöglich!" Shennok schüttelte ungläubig den Kopf. "Ein Körper aus Fleisch und Blut kann doch nicht nur in Flüssigkeit zerfallen! Wo, bitte, sind seine inneren Organe? Wo sind seine Knochen hin?"
 

Die Leiterin der medizinischen Abteilung zog bedauernd die Schultern hoch. "Sie sind in der Flüssigkeit gelöst", erklärte sie. "Mehr kann ich ihnen nicht dazu sagen. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie das geschehen sein kann; ich kann ihnen nur versichern, DASS es geschehen ist. Es ist, als hätte jemand die Kräfte, die seine Moleküle im Inneren zusammenhalten, plötzlich ausgeschaltet."

"Sie reden Unsinn! So etwas ist doch völlig unmöglich!"

"Unmöglich im Rahmen unseres bisherigen medizinischen Verständnisses, sicher." Tyrrin nickte bestätigend. "Aber jetzt ist es eben doch geschehen, und das heißt, daß wir unser medizinisches Verständnis grundlegend ändern müssen."
 

Der Kommandant wollte eben, etwas erwidern, als ihn sein Sohn unterbrach, der eben in das MedLabor getreten war: "Vielleicht kann ich weiterhelfen."

"Harmis? Was suchst du hier?!"
 

Der Junge blickte seinen Vater ernst an. "Ich habe von Lesatra gehört", sagte er, "daß du dir viele Gedanken wegen dem Tod von Exo-alpha Raimor machst."

"In der Tat, das tue ich." Shennok nickte langsam. "Und?"

"Vielleicht mußt du dir keine Gedanken machen."
 

Der Kommandant riß überrascht die Augen auf, aber dann witterte er etwas, und sein Blick wurde wieder finster. "Wenn das ein weiterer Versuch sein soll", grollte er, "mich von der Verantwortung für den Zwischenfall freizusprechen, dann..."

"Das ist er nicht", unterbrach ihn Harmis eilig. "Aber ich bin inzwischen mit den Untersuchungen der zweiten Probe fertig."

"Die zweite Probe?"

"Erinnerst du dich nicht? Ich hatte eine Gesteinsprobe von dem Monolithen genommen, und dann noch eine von dem seltsamen Giganten."

Shennok nickte. "Doch, ich erinnere mich schon", meinte er. "Aber was hat das mit Raimors Tod zu tun?"
 

Der Junge grinste. "Wenn meine Ergebnisse richtig sind", meinte er, "dann ist Exo-alpha Raimor vielleicht gar nicht tot..."
 

Kapitel 4
 

Der entsetzte Schrei von Raimor und der fremden Frau hallte durch das Bewußtsein der beiden miteinander verbundenen Seelen, und ihre Präsenzen entfernten sich ein Stück voneinander. Jeder blickte auf das Bild, das der andere von sich selbst hatte, und für alle beide war es ein gewaltiger Schock. Wenn auch aus sehr verschiedenen Gründen.
 

Die Frau war die erste, die ihre Sprache wiederfand. "Mein Gott", keuchte sie, "wie siehst du denn aus? Dein Haar... und..." Sie sah fassungslos auf die überlangen, spitz zulaufenden Ohren ihres Gegenübers. "Wieso siehst du so anders aus?"

"Anders?" platzte es aus Raimor heraus. "Anders?! Bei allen Galaxien - ich stamme von einem Planeten, der mehrere hundert Lichtjahre von diesem entfernt ist! Warum sehen wir beide uns so ähnlich?"
 

Die Frau zögerte. "Ähnlich?" fragte sie vorsichtig. "Ich... ich sehe dich, als hättest du tiefviolettes Haar mit weißen Strähnen und... und ich hab keine Ahnung, was mit deinen Ohren passiert ist! Wie sehe ich denn für dich aus?"

"Zwei Arme, zwei Beine, ein Kopf", gab er zurück, "und wenn mich nicht alles täuscht, scheint auch der Rest deiner Anatomie mit der einer weiblichen Rhoani übereinzustimmen." Seine Augen glitten an ihrem unbekleideten Körper herunter und wieder hinaus. "Gut, deine Ohren sind verkrüppelt, aber sonst scheinst du keine Mißbildungen zu haben..."
 

"Natürlich hab ich keine Mißbildungen!" fuhr die Frau ihn an. "Was erlaubst du dir eigentlich?"

Der Wissenschaftler schluckte. "Entschuldigung, ich wollte nicht..."

"Hast du aber!" Die Frau schien jetzt wirklich wütend zu sein. "Schönes Benehmen für das erste Treffen."

"Es tut mir wirklich leid", versuchte sich Raimor zu verteidigen. "Wie ich sagte, ich stamme nicht von diesem Planeten, und..."
 

"Moment mal", unterbrach die Fremde ihn. "Das eben war kein dummer Spruch?"

Der Wissenschaftler schüttelte den Kopf.

"Du stammst wirklich von einem fremden Planeten?"

Der Wissenschaftler nickte.

Die Augen der Frau weiteten sich. "Wahnsinn..." meinte sie und trat langsam wieder näher auf ihn zu. "Wie war gleich dein Name?"

"Raimor."
 

"Hallo, Raimor", meinte sie und schritt lächelnd noch näher. "Mein Name ist Misato. Hast du dich schon einmal mit jemandem vereint?"

"Nein."

"Dann wird es langsam Zeit", sagte Misato, streckte die Hand aus und berührte den Rhoani an der Schulter. Ihre Hand verschmolz mit seinem Körper.

"Was bei allen Galaxien..."

"Frag nicht, tu es einfach."

Misatos Körper glitt in Raimors und umgekehrt.
 

---
 

"Worauf bitte willst du hinaus?"

Harmis seufzte. Es war nicht leicht, ein Genie zu sein, wenn man einen Vater hatte, der von Transmolekularphysik absolut keine Ahnung hatte.

"Noch einmal langsam", meinte der Junge. "Die Probe von dem Giganten, die ich untersucht habe, war organischer Natur."

"Das HABE ich verstanden", gab Shennok zurück. "Und der Grund, warum diese Riesen in den letzten achtzig Millionen Jahren nicht zu Staub zerfallen sind, liegt darin, daß sie einer immens starken Strahlung von bisher noch unbekannter Natur ausgesetzt waren."
 

"Soweit ist es richtig", meinte Harmis. "Diese Strahlung hat das ganze Gewebe mutieren lassen, und zwar auf eine solche Art, daß das ganze Zellgewebe ultradicht geworden ist. Mit anderen Worten, es hat sich von normalem Fleisch in ein Material verwandelt, das deutlich härter ist als der Stahl, aus dem die ,Vagabund' besteht. Und nach meinen Berechnungen lag die Quelle dieser Strahlung im Inneren der Giganten selbst."
 

Der Kommandant nickte und strich sich in Gedanken über den Bart. "Soweit bin ich auch noch mitgekommen", sagte er. "Aber ich verstehe immer noch nicht, was das mit dem Tod von Raimor zu tun haben soll."

"Das liegt daran", meinte der Junge etwas bissiger als vorher, "daß du einfach nicht zuhörst! Ich hab dir gerade eben zu erklären versucht, daß die Strahlung, welche das Gewebe verhärtet hat, als Ursache mit großer Wahrscheinlichkeit ein reziprokales Feld mit von gleicher Intensität hatte! Und eben dieses Energiefeld durchzieht als Wellenmuster immer noch die Meere des Planeten!"

"Ich verstehe kein Wort!"
 

Harmis griff sich an die Stirn. "Oh Mann!", stöhnte er. "Du mußt der begriffsstutzigste Vater aller Zeiten sein!"

"Dann erklär es langsam mal so", verteidigte sich Shennok, "daß es auch jemand ohne Kenntnisse über Teilchenphysik versteht."

"Gut, dann also die Variante für Kleinkinder."

"Wenn die verständlicher ist."
 

Der Junge atmete einmal tief durch. "Du hast also diese Giganten."

"Ja."

"Und die erzeugen ein Kraftfeld, das sie durchdringt und dabei ihre Körper total verfestigt - härter als Metall."

"Ja."

"Aber dieses Feld läßt sich nicht so einfach ohne jede Nebeneffekte erzeugen. Wenn man Energie in diese verhärtende Strahlung umwandelt, dann entsteht nicht nur eine Sorte von Strahlung, sondern zwei!

"Ja?"

"Ja! Die eine Strahlung macht jegliches Material ultradicht. Die andere Strahlung verursacht das Gegenteil."

"Und das heißt?"

"Sie läßt Lebewesen zu einer Flüssigkeit zerfließen! Jetzt kapiert?!"
 

Die Erkenntnis lief förmlich wie eine Welle über das Gesicht des Kommandanten.

"Ach, SO meinst du das! Der gleiche Effekt, der diese Riesen über Jahrmillionen konserviert hat, war auch für den Tod von unserem Exo-alpha verantwortlich?"

"Nicht der gleiche Effekt", verbesserte ihn Harmis, "der umgekehrte. Aber wie ich schon sagte: die beiden Strahlungsformen entstehen immer zur selben Zeit. Man muß sie nur in unterschiedliche Richtungen lenken, und schon hat man die Möglichkeit, entweder etwas zu verhärten oder etwas zu verflüssigen."
 

"Jetzt macht es jedenfalls Sinn", schmunzelte Shennok. "Aber eins verstehe ich immer noch nicht. Du sagtest vorhin, möglicherweise wäre Raimor gar nicht tot."

Der Junge nickte. "Dazu bin ich bisher noch nicht gekommen", erklärte er. "Aber wenn du es bis hierhin verstanden hast, kriegst du das auch noch mit."

"Besten Dank für dein Vertrauen." Der Satz triefte förmlich vor Ironie.
 

"Paß auf", meinte Harmis ungerührt. "Wie ich bereits sagte, durchzieht das Wellenmuster des Verflüssigungsfeldes immer noch die Meere des Planetens."

"Ja. Und?"

"Achtzig Millionen Jahre sind eigentlich eine derart lange Zeit, daß das Muster schon lange verblaßt sein müßte. Aber es ist immer noch aktiv."

"Und was sagt uns das?"

"Daß irgend etwas - eine Energie - es weiterhin aufrecht erhält."
 

Der Kommandant schüttelte den Kopf. "Das ist unmöglich", sagte er. "Unsere Scanner haben keine Spur einer Energieform erfassen können. Auf den Planeten gibt es nichts, was sie erzeugt."

"Es sei denn", schmunzelte nun sein Sohn, "es wäre die einzige Energieform, die unsere Scanner nicht erfassen können."

Shennok blickte einen Moment lang verständnislos, dann erinnerte er sich plötzlich. "Du redest von Seelenenergie?"
 

"Kompliment, Vater", gratulierte Harmis ihm, "das war schnell. Ich habe länger gebraucht."

"Es war schon eine lange Reise", grinste der Kommandant, "und es war meine Pflicht, mich mit den Aufzeichnungen meiner Amtsvorgänger vertraut zu machen. Und ich erinnere mich noch recht plastisch daran, wie Keralis die Begegnung der ,Vagabund' mit dem Lebenden Nebel bei 64.89.351 beschrieben hat. Die vereinten Seelen eines untergegangenen Planeten glitten als eine nebelhafte Form durchs All und hätten um ein Haar die Lebenserhaltung des Schiffs in die Luft gejagt." Er lächelte. "Darum also diese weiten Meere. Das sind im Prinzip die zerfallenen Körper der vorherigen Bewohner dieser Welt. Das würde einiges erklären."
 

Der Junge nickte. "Hinter den Seelen vernunftbegabter Lebewesen steckt eine ganz schöne Kraft", bestätigte er. "Bei weitem genug, um so ein Energiefeld quasi unbegrenzt aufrecht zu erhalten, da Seelen ja unsterblich sind. Aber es geht mir eigentlich um ein anderes Detail."

"Und das wäre?" wollte Shennok wissen.

"Die Forschungen der Besatzung beschränkten sich nicht nur auf die energetische Kraft", erklärte Harmis. "Damals wurde auch der Beweis gefunden, daß Körper und Seele eines Lebewesens zwar eine untrennbare Einheit bilden, aber kurzzeitig voneinander getrennt existieren können - und trotzdem lebensfähig bleiben."

"Du meinst..."
 

Der Junge nickte heftig. "Ich bin sicher", sagte er, "die Seele von Exo-alpha Raimor steckt entweder noch in der Flüssigkeit, die jetzt sein Körper ist - oder sie wurde von den Seelen im Meer angezogen und ist nun bei ihnen."

"Hm." Der Kommandant überlegte. "Das heißt, wenn es uns gelänge, den Körper von Raimor wieder in seine ursprüngliche Form zu versetzen und seine Seele zu diesem Zeitpunkt in der Flüssigkeit ist, könnte er wieder leben. Stellt sich nur die Frage, wie wir dieses Kunststück anstellen wollen."

"Kunststück?"
 

"Ich meine das so", erklärte Shennok. "Wir wissen jetzt, daß für den Zerfall von Raimors Körper dieses obskure Energiefeld verantwortlich war, das seinen Ursprung im Meer des Planeten hat. Aber ich habe nicht die leiseste Idee, was wir tun können, um den Körper wieder in den Originalzustand zu versetzen."

"Aber Vater!" Harmis war entrüstet. "Das liegt doch auf der Hand!"

"Tut es das?"

"Aber sicher doch! Kannst du dir nicht mal mehr daran erinnern, was ich dir vor ein paar Minuten erklärt habe?"

"Doch, aber was..."

"Vater, das Energiefeld! Es hatte zwei Auswirkungen, schon wieder vergessen? Die eine verflüssigt, die andere verfestigt!"
 

Der Kommandant griff sich an den Kopf. "Natürlich... wie konnte ich das nur übersehen", stöhnte er. "Du meinst also..."

"...wir sollten versuchen, das Energiefeld zu duplizieren und damit Raimors verflüssigten Körper wieder verfestigen", vollendete der Junge den Satz.

"Und wie sollen wir das anstellen?"
 

Harmis lächelte. "Keine Ahnung", gab er zu. "Ich hab so was noch nie gemacht. Aber die Giganten da unten... die sollten das eigentlich können..."
 

Kapitel 5
 

"Faszinierend", murmelte Raimor, während er sich in Gedanken eng an die Frau schmiegte, mit der er eins gewesen war.

"Hmm?" Misato war gerade eben ein wenig weggedöst, und die Bewegungen Raimors (wenn man das so nennen konnte) hatten sie aufgeweckt.

Der Rhoani lächelte sie an. "Ich hätte nicht gedacht", meinte er, "daß wir beide so... ähnlich sein würden. Anscheinend bereiten uns die gleichen Dinge Vergnügen. Wenn ich daran denke, daß wir von zwei unterschiedlichen Planeten kommen, erscheint mir das so... unwirklich... so unwahrscheinlich..."
 

"Vielleicht sind letzten Endes die Seelen aller Lebewesen einander ähnlich", murmelte Misato und kuschelte sich an ihn heran. "Aber wen kümmert das schon? Hier sind wir alle gleich - einfach nur körperlose Geister, die in Ewigkeit ohne Sorgen oder Bedürfnisse existieren und jede Empfindung miteinander teilen können."

"Und das ist alles?"

Misato sah etwas überrascht auf. "Genügt dir das nicht?" fragte sie.

"Ich weiß es nicht", war die Antwort. "Es ist seltsam. Jetzt, wo ich mit dir eins war und weiß, was auf dieser Welt hier geschehen ist, habe ich keine Angst mehr. Ich fühle mich... zufrieden... erfüllt. Aber..." Er verstummte.

"Aber?"
 

Raimor schlüpfte ein Stück aus der Umarmung heraus und sah auf den astralen Leib der Frau herab. "Du weißt ja, wie mein Leben war", erklärte er. "Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen; eine Verpflichtung gegenüber meinem Volk. Ich hatte Freunde. Es fällt mir schwer, jetzt zu akzeptieren, daß das alles vorbei sein sollte."

"Laß dir Zeit", gab Misato lächelnd zurück. "Am Anfang ist es uns allen schwergefallen, unser früheres Leben zu vergessen. Aber mit der Zeit fängt man einfach an, sein neues Dasein zu akzeptieren... und dann merkt man auch, um wieviel besser es hier ist."

"Und was genau ist besser?"

Die Frau lachte hell auf. "Oh, wo soll ich denn da anfangen?" kicherte sie. "Zunächst mal, keine Schmerzen mehr. Nie wieder. Keine Bedürfnisse mehr. Nichts, was dich dazu zwingt, etwas zu tun. Du hast noch Gefühle, aber sie nehmen nicht mehr von dir Besitz - du weißt, daß du sie hast, aber sie können dich nicht mehr verletzen. Und das gleiche gilt für alle anderen Menschen: niemand mehr kann dich verletzen oder wird von dir verletzt. Wenn du dich mit jemandem vereinigst, teilst du mit ihm alles - dein Herz, deine Seele, deine innersten Wünsche. Und du beginnst, alles zu verstehen."
 

Der Rhoani überlegte einen Moment lang. "Da ist noch etwas", meinte er dann.

"Ja?"

"Eins verstehe ich noch nicht völlig", erklärte er. "Während unserer Vereinigung habe ich gespürt, daß ich jederzeit die Freiheit habe, diesen Zustand wieder zu verlassen. Ist das wirklich wahr?"

Misatos Gesicht wurde nachdenklich. "Ich glaube schon", meinte sie leise.

"Hast du es denn niemals versucht?"

"Doch, schon. Ganz am Anfang, kurz nach dem Third Impact."

"Aber es hat nicht geklappt?"

"Das ist nicht ganz der richtige Ausdruck..."
 

Raimor beugte sich vor. "Erklär's mir."

"Ich habe es schon versucht", meinte Misato leise. "Aber ich glaube, in meinem Innersten wollte ich es nicht wirklich. Und darum ging es nicht."

"Das verstehe ich nicht ganz."

Die Frau seufzte. "Wenn wir wollen", sagte sie. "können wir unsere Körper wieder annehmen. Aber nur, wenn wir es wirklich wieder wollen - mit jeder Faser unseres Daseins. Das ist Teil des Third Impact - wir werden erst in der Lage sein, diese Form zu verlassen, wenn wir die nötige Willensstärke haben, um uns aus dieser perfekten Welt ohne Leid, Schmerz und Bedürfnisse wieder zu lösen."

"Und das hat noch niemand geschafft?"
 

"Doch, einer." Misato lächelte traurig. "Und ich glaube, wir haben ihn alle sehr enttäuscht..."
 

---
 

Mit skeptischem Blick sah Shennok zum Gerüst hoch, welches die technische Abteilung in den vergangenen Tagen um den Giganten auf der Oberfläche von 232.54.172/3 aufgebaut hatten. Die Arbeitsplattform war erst vor einer Stunde fertig aufgestellt worden, und nun hatte das Team damit begonnen, die Ionenfluxgeneratoren aus dem Reaktor der ,Vagabund' mit dem seltsamen runden Zentralorgan zu verbinden, welches laut seinem Sohn die Quelle des Kraftfeldes war. Wenn alles gutging, würde schon bald Exo-alpha Raimor wieder unter den Lebenden sein und möglicherweise von einem Erlebnis berichten können, das in der Geschichte der Rhoani einzigartig war. Falls nicht alles gutging...

Der Kommandant entschied, daß für diesen Fall besser jemand wissen sollte, was schiefgelaufen war und stellte über sein PersoKom eine Verbindung zur Datenbank der ,Vagabund' her.
 

"Eintrag von Shennok, dem dreizehnten Kommandanten der Mission Vagabund, dreihundertneunundneunzigstes Jahr der Reise, Tag 298. Die letzten Vorbereitungen an dem Giganten sind soeben beendet worden. Die technische Abteilung wird nun mit der Installation der Energiesysteme beginnen. Wir hoffen, auf diesem Weg das unbekannte Energiefeld erzeugen zu können, welches nach unseren Erkenntnissen für das Verschwinden des Exo-alphas verantwortlich war.
 

Die Abteilung Sensortechnik hat mich vor einer halben Stunde darüber in Kenntnis gesetzt, daß sie sich nunmehr hinsichtlich des Metabolismus des Giganten sicher ist. Das Wesen, was immer es einmal war, hat sich von reiner Energie ernährt. Sein Körper enthält keine Organe, die diese Energie aus etwas anderem umwandeln könnten; insofern sind wir uns nicht sicher, wie es überhaupt lebensfähig sein konnte. Wir sind uns jedoch sicher, das Organ, welches für die Erzeugung des Feldes verantwortlich ist, wieder in Betrieb nehmen zu können, wenn wir es mit Energie versorgen. In Kürze werden wir mehr wissen. Shennok, Eintrag beenden."
 

Mit einem Druck auf sein PersoKom beendete der Kommandant die Verbindung und wählte aus der Liste seiner Kontakte einen neuen Gesprächspartner aus. Ein kurzes Antippen des Gerätes, und das Signal wurde ausgesandt.

"Tyrrin?"
 

"Kommandant Shennok hier", meldete er sich bei der Leiterin der medizinischen Abteilung. "Wie weit sind sie mit ihren Vorbereitungen?"

"So viel war das nicht vorzubereiten", war die leicht schnippische Antwort. "Es ist nicht wirklich sinnvoll, einer großen Pfütze lebenserhaltende Systeme anzulegen, meinen sie nicht auch?"

"Lassen sie die Witze, Med-alpha!" fuhr Shennok sie an. "Sind sie in Bereitschaft, um sich um Raimors Körper sofort medizinisch zu versorgen, wenn er wieder hergestellt ist?"
 

Die Antwort kam erst nach einer kurzen Pause. "Natürlich, Kommandant. Aber ich muß sie noch einmal darauf hinweisen, daß es meiner Meinung nach keine gute Idee ist, einen Körper wiederherzustellen, dessen Seele sich irgendwo außerhalb befindet. Je länger er sich in seinem Normalzustand befindet, um so geringer ist die Chance, daß die Seele wieder zurückfindet. Da kann auch die beste medizinische Versorgung nichts daran ändern."

"Wenn sie keine konstruktiven Vorschläge haben", meinte Shennok kalt, "dann sollten sie sich am besten einfach nur den Anweisungen folgen."

"Und wenn ich einen Vorschlag hätte?"
 

Der Kommandant sah interessiert auf. "Ich höre?"

"Wir gehen davon aus, daß Raimors Seele sich irgendwo in diesem Meer befindet, richtig?" merkte die Med-alpha an. "Ich würde vorschlagen, wir fügen seinen Körper ebenfalls dem Meer zu, ehe wir die Wiederherstellung einleiten. So wären sein Körper und seine Seele sich so nah wie möglich."

"Das ist Unfug!" schnitt Raimor ihr das Wort ab. "Wie wollen sie dann den Körper mit dem Energiefeld genau erfassen?"

"Wir lassen einfach den ExploraSuit, in dem er sich befindet, auf das Meer hinaustreiben."
 

Der Kommandant öffnete schon wieder den Mund zu einer Erwiderung, schloß ihn aber sogleich wieder. Das war in der Tat nicht die schlechteste aller Möglichkeiten... nur eins fehlte. "Und wie wollen sie ihn dann medizinisch überwachen?"

"Eine leichte Aufgabe", hörte er die Leiterin der medizinischen Abteilung sagen. "Wir statten einfach das Lebenserhaltungssystem des Anzugs mit umfassenden Bioscannern aus. Den Umbau kann ich in einer halben Stunde durchführen."

Shennok lächelte. "Machen sie das so", sagte er. "Und informieren sie mich, sobald sie fertig sind. Ich werde dann die Aktion koordinieren. Ausgezeichnete Arbeit, Tyrrin!"

"Danke."
 

Der Kommandant beendete die Verbindung und blickte dann wieder nach oben, wo soeben die ersten Schweißarbeiten begonnen hatten.
 

---
 

"Das ist die traurigste Geschichte, die ich jemals gehört habe", murmelte Raimor betrübt. "Da hat dieser Junge die Macht, die ganze Welt so zu gestalten, wie er es möchte. Und er entscheidet sich dazu, so wie bisher zu leben - obwohl der Rest seines Volkes die andere Daseinsform vorzieht. Er muß entsetzlich einsam gewesen sein."
 

Misato nickte langsam. "Ich glaube auch nicht, daß sich Shinji seine neue Welt so vorgestellt hat. Er wird gehofft haben, daß wir anderen durch unsere Verbindung miteinander auch die Angst vor Schmerz und Verletzungen verlieren würden und uns ihm anschließen. Aber statt dessen sind wir einfach bei der Form geblieben, in welcher Schmerz und Verletzungen unmöglich sind. Wir Menschen wählen einfach immer den leichtesten Weg. Das ist unser Dilemma."

"Was ist jetzt mit dem Jungen geschehen?"
 

"Ich weiß es nicht." Die Frau senkte den Blick. "Er ist nie mehr zu uns zurückgekommen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit seither vergangen ist - man verliert hier das Gefühl für die Zeit - aber ich bin mir fast sicher, daß es mehr als die Lebenszeit eines Menschen ist."

Der Rhoani legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Erschrick jetzt bitte nicht", sagte er, "aber wenn ich von meinem Volk ausgehe - ich war ja gerade dabei, euren Planeten zu erforschen, als ich hier gelandet bin - würde ich sagen, es sind ungefähr eine Million Lebenszeiten vergangen, seit ihr euch in dieser Gestalt befindet."

Misatos Augen weiteten sich. "So viel? Mein Gott... Wenn ich das nur gewußt..."
 

In diesem Moment griff plötzlich eine gewaltige Kraft wie eine riesige Pranke nach Raimor und begann, ihn fortzuzerren.
 

"Misato!" schrie der Rhoani, als er spürte, wie seine Seele mit Gewalt aus der Verbindung gerissen wurde, in der er sich gerade befand. Es war ein Schmerz, wie er ihn noch nie verspürt hatte: als wäre sein Herz von einem Fleischerhaken durchbohrt worden und er würde nun an diesem Fleischerhaken weggezogen werden.

"Raimor!" schrie auch Misato. Erst im letzten Moment wurde ihr bewußt, was da gerade geschah. Sie streckte die Hand nach ihm aus, bekam gerade noch seine Finger zu fassen und hielt sich verzweifelt an ihm fest, während ihn die unsichtbare Macht davonriß. Auch in ihr begann es nun zu pochen, als sie spürte, wie ihre Seele ebenfalls von der gewaltigen Kraft erfaßt wurde, die den Rhoani umschlungen hatte.
 

---
 

"Intensität erhöhen!" befahl Shennok.

Harmis nickte und justierte den Energieregler um zwei weitere Einheiten nach oben. Die Ionenfluxgeneratoren arbeiteten zwar bei weitem noch nicht am Limit, aber es wurde allmählich schwieriger, die negative Strahlung abzuleiten. Während die positive, die verfestigen konnte, punktgenau auf den im Meer treibenden ExploraSuit ausgerichtet worden war, wurde die negative, verflüssigende möglichst breit in den Körper des Giganten zurückgestreut. Der Körper des Riesen war härter als alles, was man von der ,Vagabund' hätte herunterschaffen können und sollte theoretisch jeder Belastung standhalten.

Theoretisch.
 

"Immer noch keine Lebenszeichen", erklang es über das PersoKom von Med-alpha Tyrrin, und der Kommandant schüttelte mißmutig den Kopf.

"Noch weiter erhöhen!"

"Vater, das könnte..."

"TU ES!"
 

Der Junge erhöhte die Intensität um noch zwei Einheiten. Neben ihm begann eine Warnleuchte aufzuglühen, die den Beginn der Instabilität im Giganten anzeigte.

"Eine Reaktion!" ertönte Tyrrins Stimme plötzlich. "Im ExploraSuit tut sich was! Die Moleküle beginnen, sich in Form zu begeben!"

"Hervorragend!" platzte es aus Shennok hinaus. "Wenn wir nun..."
 

In diesem Moment schrillte der Alarm los, der die kritische Schwelle der Destabilisierung des Giganten anzeigte.
 

"Abschalten! Abschalten!" brüllte der Kommandant seinen Sohn an, aber der Befehl war schon gar nicht mehr nötig. Beim ersten Kreischen des Alarms hatte Harmis bereits die Abbruchroutine aktiviert und die Notabschaltung der Generatoren eingeleitet. In weniger als einer Sekunde wurde die Energiezufuhr auf Null heruntergefahren, und die Strahlung verlosch.
 

Und keine Sekunde später verlor der Gigant jegliche Form und ergoß sich in einer gewaltigen Flutwelle orangefarbener Flüssigkeit über den Boden.
 

Das Gerüst schwankte bedenklich, als die Wassermassen dagegenschwappten, blieb aber stabil. Vater, Sohn und das Technikerteam hielten sich krampfhaft oben fest, und Shennok gratulierte sich selbst dazu, das ganze Gebiet um das Gerüst herum vorher evakuiert zu haben. Nicht auszudenken, was die Sturzflut hätte anrichten können, wenn unten jemand gestanden hätte.
 

"Sind sie noch da?" erklang die Stimme der Med-alpha besorgt über das PersoKom.

"Worauf sie wetten können, Tyrrin", bestätigte der Kommandant. "Was ist bei ihnen passiert? Hatten wir Erfolg?"

Die Antwort ließ einen Moment auf sich warten.

"Ich... ich denke schon."

"Wie meinen sie das?"
 

"Nun... nach meinen Anzeigen ist Exo-alpha Raimor innerhalb seines Anzuges unversehrt und lebendig wieder erschienen. Seine Gehirnwellenmuster sind aktiv."

"Und was ist dann noch?"

"Er... er ist nicht die einzige Person, die erschienen ist..."
 

In diesem Moment gellte ein Entsetzensschrei über den Planeten, wie ihn noch niemand jemals vernommen hatte.
 

Kapitel 6
 

Rei schrie.

Sie schrie vor Entsetzen über das, was eben geschehen war.

Sie schrie, weil Jahrmillionen von Entwicklung in einem Augenblick zunichte gemacht worden waren.

Sie schrie, weil nun die Vernichtung der Menschheit eingeleitet war.

Unwiderruflich.

Und sie hatte es nicht verhindert.
 

---
 

Shennok, Harmis, Tyrrin und alle anderen Wissenschaftler, Techniker und Pioniere fuhren zusammen und bedeckten ihre Ohren mit den Händen, als der Schrei mit unglaublicher Lautstärke über den Planeten hallte. Er war so voller Entsetzen, voller Schmerz, voller Agonie, daß keiner der Rhoani auch nur zu einem klaren Gedanken in der Lage war.
 

Schließlich, ebenso plötzlich wie er begonnen hatte, verstummte der Schrei wieder.
 

"Was, bei allen Galaxien, war das?" fragte Shennok, der als erster seine Sprache wiedergefunden hatte.

"Es klang... wie ein Schrei", versuchte Harmis zu erklären.

Der Kommandant schüttelte den Kopf. "Unmöglich", meinte er. "Kein lebendes Wesen könnte derart laut schreien. Das muß etwas anderes gewesen sein. Vielleicht..." Er hob rasch sein PersoKom an den Mund. "Tyrrin, können sie mich verstehen?"
 

"Ja, gerade so", ertönte die Stimme der Med-alpha. "Meine Ohren klingen immer noch von diesem... Etwas eben."

Shennok nickte in Gedanken. "Wir haben es auch gehört. Könnte es etwas mit dem Wiedererscheinen von Raimor zu tun haben?"

"Sehr unwahrscheinlich. An den Anzeigen hat sich nichts verändert. Er ist immer noch da, immer noch ohne Bewußtsein. Und diese Frau ist auch noch da."

"Frau?! Was denn für eine Frau?"
 

Tyrrins Stimme schwieg für einen kurzen Moment, ehe sie weitersprach. "Wie es aussieht", meinte sie dann, "hat unser Versuch mit der Verfestigungsstrahlung nicht nur den Körper von Exo-alpha Raimor wiederhergestellt, sondern außerdem noch einen weiteren Körper erscheinen lassen."

"Was?!" Der Kommandant war entgeistert. "Etwa einen der ursprünglichen Bewohner des Planeten?"

"Unwahrscheinlich. Soweit ich das von hier aus erkennen kann, dürfte es sich um eine weibliche Rhoani handeln. Ihr Körper liegt oben auf dem ExploraSuit. Anweisungen?"
 

"Holen sie alle beide an Land", befahl Shennok kurzentschlossen. "Ich will sie aus diesem Meer so schnell wie möglich raushaben. Stabilisieren sie den Kreislauf von Raimor, und wenn diese Frau noch lebt, auch ihren. Ich bin sofort bei ihnen. Shennok Ende."

Der Kommandant deaktivierte sein PersoKom und wandte sich an Harmis. "Ich fliege jetzt da rüber und sehe zu, daß wir Raimor so schnell wie möglich transportfähig bekommen. Du sorgst dafür, daß hier alle Anlagen abgebaut werden und sich die Techniker in ihre Landekapseln begeben. Verstanden?"

"Aber Vater..."

"Kein aber, das hier ist jetzt wichtig. Ich muß mich auf dich verlassen können. Ja?"

Der Junge nickte wenig begeistert.
 

Shennok lächelte, klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken und aktivierte dann den Antigrav-Generator seines ExploraSuits. Mit einem raschen Sprung hob er von der Plattform ab und manövrierte sich mit den Lenkdüsen in Richtung Küste.

"Nie bin ich dabei, wenn es spannend wird", murmelte Harmis.
 

Keine fünf Minuten später setzte der Kommandant am Rand des Meeres auf, wo Med-alpha Tyrrin und ihr Ärzteteam inzwischen den ExploraSuit Raimors an Land geholt hatten und dabei waren, die Versiegelung vorsichtig zu öffnen. Neben ihm lag die Frau, von der die Leiterin der medizinischen Abteilung kurz zuvor gesprochen hatte...

"Aber sie ist ja nackt!" meinte Shennok überrascht und wandte sich peinlich berührt ab.
 

"Die Kleidung gehörte offensichtlich nicht zu ihrem Körper dazu", meinte Tyrrin sarkastisch. "Sie wußten doch, daß sich die Strahlung nur auf Lebewesen auswirkt, oder?"

Shennok errötete leicht. "Schon, aber..."

"Jetzt drehen sie sich schon wieder um", forderte die Med-alpha ihn unwirsch auf, "ich rede nicht gerne mit dem Rücken von anderen Leuten, und außerdem habe ich ihnen etwas zu zeigen."
 

Der Kommandant drehte sich langsam um und sah den Körper der fremden Frau wieder an. Sie war wirklich gut gebaut, kam es ihm in den Sinn, und mit Sicherheit nicht älter als 30 oder 35 Jahre. Ihr recht langes Haar war von einem exotischen Schwarzton, eine Seltenheit bei Rhoani; und wenn er das Heben und Senken ihres Brustkorbes - ihres ebenfalls sehr wohlgeformten Brustkorbes - richtig deutete, war sie unzweifelhaft am Leben.
 

"Sehen sie her", meinte Tyrrin und strich das Haar der Fremden am Kopf beiseite.

Shennoks Augen weiteten sich. "Ihre Ohren!" meinte er. "Was ist mit ihren Ohren passiert?"

"Nichts", gab die Med-alpha zurück, "soweit ich das feststellen kann. Das hier ist die natürliche Form ihrer Ohren. Und das bringt mich zu der Erkenntnis, daß sie mit ihrer Annahme vorhin doch recht hatten, Kommandant."

"Meine Annahme vorhin?"

"Daß es sich bei ihr um eine Bewohnerin dieses Planeten handelt", erklärte Tyrrin. "Ich bin kein Exobiologe und habe nur geringe Kenntnisse über fremde Lebensformen, aber das hier scheint mir keine krankhafte Veränderung zu sein. Sobald Raimor wieder bei..."
 

In diesem Moment wandte sich einer der mitgereisten Ärzte seiner Vorgesetzten zu. "Alpha", meinte er aufgeregt, "Raimor kommt wieder zu sich!"

"Schon?!" Die Leiterin der medizinischen Abteilung stand sofort auf und wandte sich dem Patienten im ExploraSuit zu. "Lassen sie mich durch." Sie griff nach einem Diagnosepad und beugte sich über ihn. Shennok nutzte die Gelegenheit, sich aus dem am Boden stehenden MediPack eine Rettungsdecke zu nehmen und sie über dem Körper der fremden Frau auszubreiten. Es kam ihm einfach nicht richtig vor, sie so nackt hier liegenzulassen.
 

"Mi... Misato?" erklang Raimors Stimme schwach.

"Ganz ruhig", sagte Tyrrin, "versuchen sie sich nicht zu bewegen, Raimor. Sehen sie mich einfach nur an. Erkennen sie mich?"

Der Leiter der Exobiologie blinzelte einige Male, dann fokussierten sich seine Augen auf das Gesicht vor ihm. "Med-alpha?"

Die Ärztin lächelte. "Willkommen zurück, Exo-alpha", sagte sie. "Sie haben ein ganz schönes Abenteuer hinter sich. Ein Glück, daß wir sie zurückbringen konnten."
 

"Zurück... bringen?" Der Rhoani schien immer noch nicht ganz bei Sinnen zu sein. "Aber... ich... Misato... wo..."

"Ihr Körper war von einem Energiefeld verflüssigt worden", erklärte Tyrrin. "Ihre Seele war vorübergehend von ihrem Körper getrennt. Aber wir waren in der Lage, ein entgegengesetztes Energiefeld zu erzeugen und sie wieder ins Leben zurückzuholen. Entspannen sie sich. Der Alptraum ist jetzt vorbei."
 

"Alptraum?" Raimor schüttelte den Kopf. "Das war kein Alptraum! Ich... ich war wirklich dort!"

Shennok, der es endlich geschafft hatte, sich durch die Ärzte hindurchzudrängen, beugte sich über den Exobiologen. "Dort?" wollte er wissen. "Wo ,dort' waren sie?"

Der Rhoani öffnete den Mund zu einer Antwort, kam aber nicht weiter, weil sich in diesem Moment mit einem erschrockenen Laut Misato ruckartig aufsetzte und sich entgeistert umsah. Alle Augen richteten sich auf die Frau, die sich krampfhaft die Notdecke vor den Körper preßte.
 

"Wo bin ich hier, wieso bin ich nackt, wer seid ihr alle und warum sind eure Haare so bunt?" wollte sie wissen.

Keine Antwort kam.

Tyrrin war die erste, die ihre Worte wiederfand.
 

"Woher, bei allen Galaxien, beherrscht diese Frau unsere Sprache?"
 

---
 

Harmis war wütend. Ernsthaft wütend.

Dumme, ungebildete Techniker! fluchte er zu sich selbst. Na gut, sie wissen es halt nicht besser. Aber das ist kein Grund, mich so zu behandeln!
 

"Ist ja schon gut, Kleiner."

"Ich glaube, wir kommen auch ohne dich ganz gut zurecht."

"Wir bauen das hier schon ab. Kannst ruhig gehen."

"Komm, geh ein bißchen spielen."

Wenn sein Vater nicht in der Nähe war, behandelte ihn jeder wie ein dummes Kind.
 

Erbost drückte Harmis auf den Schubregler der Steuerdüsen seines ExploraSuits und lenkte den Anzug auf einen Hügel zu. Gut, sollten sie halt alleine weitermachen. Wenn er ihnen nur im Weg war, dann würde er eben aus dem Weg gehen. Sollten sie sich doch mit den Feldspulen abschleppen! ER würde ihnen jedenfalls nicht verraten, daß sie Antigrav-Felder störten und deshalb auf traditionelle Art mit Winden transportiert werden mußten. Zusammen mit seinem Vater hatte er den Aufbau der Generatoren ganz alleine bewerkstelligt! Wenn sich diese Trottel wirklich für etwas besseres hielten...
 

Mit einem letzten Korrekturschub bremste der Junge seinen Flug ab und schaltete den Antigrav-Generator ab. Er hatte noch ein wenig Geschwindigkeit, als seine Füße den Boden berührten und mußte recht tief in die Knie gehen, um sich abzufangen, aber das machte ihm im Moment auch nichts mehr aus. In ihm kochte es förmlich. Warum hatte ihn Vater auch nicht mitgenommen? Was brachte es überhaupt, die Leitung einer ganzen wissenschaftlichen Abteilung innezuhaben, wenn einen niemand so behandelte? Nur, wenn der Kommandant anwesend war, bekam er den nötigen Respekt.
 

Mißmutig setzte Harmis sich hin und zog die Beine an den Körper. Erwachsene! Hielten sich immer für was besseres, bloß weil sie aufgehört hatten, sich weiterzuentwickeln. Als wäre es so wünschenswert, sich nicht mehr zu verändern. Ohne Veränderung keine neuen Ideen, war ihnen denn das nicht klar?
 

In diesem Moment stieg in dem Jungen das unbestimmte Gefühl auf, daß ihn jemand beobachtete. Er seufzte. Wahrscheinlich hatte einer dieser Techniker seinem Vater wieder brühwarm erzählt, daß er wütend davongeflogen war. Und nun war sein Vater auf dem Weg hierher und würde sich gleich besorgt erkundigen, ob mit ihm alles in Ordnung war. Und wie üblich würde er gar nicht wirklich wissen wollen, wie es ihm ging, sondern nur, daß er ein guter Vater war, der sich um seinen Sohn kümmerte.
 

Gelangweilt wandte sich Harmis um und blickte in das Gesicht eines nackten Mädchens mit hellblauen Haaren, das keinen halben Meter hinter ihm in der Hocke saß.
 

Der Junge schrak mit einem überraschten Schrei zurück und fiel rücklings hin. Das Mädchen beugte sich vor und begann, auf ihn zuzukrabbeln. Ihr Gesicht verriet keine Emotionen. Harmis wollte rückwärts wegrobben, aber er war in seiner Panik zu keiner vernünftigen Bewegung fähig. So scharrten seine Füße nur nutzlos über den Erdboden, während das Mädchen sich über ihn schob.
 

Sie streckte langsam die Hand aus, griff ohne den geringsten Widerstand durch den Helm des ExploraSuits hindurch und streichelte Harmis über die Wange.
 

Und dann sank sie auf ihn herab, und ihr Körper verschmolz mit seinem.
 

---
 

"Das ist unglaublich."

Shennok mußte sich angesichts der Neuigkeiten erst einmal hinsetzen, also schloß er das MediPack und nahm auf der stabilen Truhe Platz. "Ihre Seele war also im Prinzip... verschmolzen mit der von dieser... Frau hier..."

"Mein Name ist Misato!" erinnerte ihn ,diese Frau' ungehalten.

"Mit der Seele Misatos", verbesserte er sich eilig, "und sie haben alles miteinander geteilt?"

Anstelle Raimors antwortete Misato auf die Frage. "So ist das immer bei einer Vereinigung", erklärte sie. "Wie Raimor alles über mich und meine Welt weiß, so weiß ich jetzt alles über sie, Rhoan und die ,Vagabund'. Und die Sprache ist das erste, was zwei Seelen miteinander austauschen. Sie ist der Schlüssel zu vielen anderen Dingen."
 

"Das heißt aber auch", kam es Tyrrin in den Sinn, "daß Raimor nun ihre Sprache beherrschen müßte, nicht wahr?"

Raimor nickte und öffnete den Mund. Ein unverständliches, gutturales Gewirr von Lauten und Silben quoll hervor.

"Was?"

Misato lachte. "Er hat eben auf Japanisch gesagt, daß er annimmt, daß das meine Sprache ist", übersetzte sie. "Und damit hat er recht. Japanisch war meine Muttersprache."

"Japanisch?" Shennok ging kurz sein Wissen über Sprachwurzeln durch und kam dann zu dem Entschluß, seine Vermutung einfach auszutesten. "Ihr Planet heißt also ,Ja-Pan'"?

Die Frau lachte. "Nein, unser Planet heißt ,Erde'", erklärte sie. "Japan hieß nur das Land, aus dem ich kam. Im Gegensatz zu Rhoan wurden auf der Erde zu meiner Zeit viele verschiedene Sprachen gesprochen, und es gab noch verschiedene Länder, die sich als voneinander unabhängig betrachteten."
 

"Faszinierend..." murmelte der Kommandant. "Warten sie - ich bin sicher, das dürfte meinen Sohn interessieren. Er ist wissenschaftlich ungeheuer begabt; wenn es ihnen nichts ausmacht, würde ich ihn gerne bei diesem Gespräch dabeihaben. Wenn sie gestatten?"

Misato nickte lächelnd.
 

Shennok aktivierte sein PersoKom und wählte die Verbindung zu Harmis aus.

Niemand antwortete.

"Harmis...?"
 

Kapitel 7
 

"Dann suchen sie den Planeten eben quadratkilometerweise ab!"

"Aber Kommandant..."

"Keine Widerrede! Oder sind sie nicht in der Lage dazu, meine Befehle auszuführen, Sens-beta?"
 

Der stellvertretende Leiter der Sensortechnik hob verzweifelt die Arme. "Wie ich ihnen bereits zu erklären versucht habe", meinte er, "benötigen wir für den Orbitalscan nach einer einzelnen bestimmten Lebensform auf dem ganzen Planeten etwa zehn Minuten pro Quadratkilometer. Das macht auf die gesamte Oberfläche gerechnet..."

"Und wenn sie eine ganze Jahreswende dafür brauchen: sie werden meinen Sohn wiederfinden! Haben sie mich verstanden?"

Der Sens-beta ließ den Kopf sinken. "Jawohl, Kommandant."
 

"Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte?" ließ sich Lasatra vernehmen.

Shennok fuhr zornig herum. "Was denn noch?"

"Wir könnten die K1-Sonde einsetzen", meinte die Leiterin der Astrophysik.

"Was? Aber ich dachte..."

Lasatra nickte eilig. "Sie ist noch nicht auf Lebensformen justiert", stimmte sie eilig zu, "aber sie kann schneller zu punktgenauen Ergebnissen kommen. Ich bin sicher, Sens-beta Karzan kann sie innerhalb weniger Stunden einstellen."

"Und wie soll uns das weiterbringen?"
 

Der stellvertretende Leiter der Sensortechnik räusperte sich. "Ich denke", meinte er, "der Vorschlag der Astro-alpha läuft darauf hinaus, die Scanner der ,Vagabund' auf ein größeres Erfassungsgebiet einzustellen und den Mangel an Feininformationen mit der K1-Sonde auszugleichen."

"Mit anderen Worten", ergänzte Lasatra die wie üblich zu wissenschaftliche Erklärung Karzans, "wir lassen uns von der ,Vagabund' auf einem großen Gebiet alle vage möglichen Ziele nennen - also etwa alle Lebensformen, deren Masse grob mit der von Harmis übereinstimmt - und schicken die K1-Sonde zu jedem der Kontakte, um sie damit genauer zu überprüfen."
 

Der Kommandant überlegte einen Moment. "Und um wieviel schneller ist das?" wollte er wissen.

"Sehr viel schneller", meinte der Sens-beta. "In drei Tagen können wir mit bei größtmöglicher Streuung die gesamte Oberfläche mit der ,Vagabund' abgetastet haben, und wenn wir zeitgleich die K1-Sonde einsetzen, sehe ich beste Chancen, innerhalb einer nur wenig kürzeren Zeitspanne ihren Sohn wiederzufinden."

Shennok nickte, nun etwas gefaßter als vorher. "Gute Arbeit, Astro-alpha", lobte er Lasatra und überging Karzan geflissentlich. "Sie kümmern sich um alles. Ich will die Resultate unverzüglich haben, egal zu welcher Tages- oder Nachtstunde, verstanden?"

"Verstanden!"
 

Der Kommandant nickte. "Und jetzt werde ich mir einmal diese Erdenfrau vornehmen..."
 

---
 

Als Shennok den Gefangenentrakt betrat, sprang Misato augenblicklich auf. "Endlich!" rief sie. "Kommandant, da muß ein Fehler passiert sein! Ihre Leute haben mich, kurz nachdem sie gegangen waren, plötzlich festgenommen! Anscheinend war einer ihrer Soldaten etwas übereifrig, oder jemand hat etwas mißverstanden, oder..."

"Der Befehl kam von mir", meinte Shennok kalt.

Die Augen der Frau wurden groß. "Was? Aber..."

"Sie haben sich nicht zu beschweren", schnitt der Kommandant ihr das Wort ab. "Schätzen sie sich lieber glücklich, daß unser Volk zivilisierter als das ihre ist."

"Zivilisierter?!"

"Hat man sie etwa mißhandelt? Wurden sie verletzt oder gedemütigt?"
 

Misato blickte sich um. Die Zelle, in die sie gesperrt worden war, war zumindest mit einer passablen Liege und einem Waschbecken ausgestattet; und in einer Nische war etwas, das sie als Toilette erkannte. Der beigefarbene Overall, den sie trug, entsprach nicht unbedingt ihren Vorstellungen von modischer Kleidung, aber immerhin war er in ihrer Größe gewesen; und auf dem Schiff hatte sie zahlreiche andere Leute gesehen, die die gleichen Sachen getragen hatten. Mißhandlung konnte man das kaum nennen. Aber trotzdem...
 

"Ich wurde ohne jeglichen Grund festgenommen!" beschwerte sie sich. "Ich habe zu keinem Zeitpunkt jemanden bedroht oder auch nur gegen ihre komischen Vorschriften verstoßen. Habe ich nicht wenigstens das Recht, daß mir jemand sagt, wieso ich eingesperrt werde?"

Shennok trat näher an die Zelle heran. "Mein Sohn ist verschwunden", sagte er, "und ich habe Grund zur Vermutung, daß sie mit seinem Verschwinden zu tun haben."

"WAS?!"
 

Der Kommandant drehte sich um und kehrte der Frau demonstrativ den Rücken zu. "Nach unseren Forschungen gibt es kein Anzeichen für irgendein intelligentes Leben auf ihrem Planeten", erklärte er. "Und dann verschwindet der Leiter unserer Exobiologie, und als er wieder auftaucht, hat er plötzlich doch intelligentes Leben gefunden. Sie. Und kurz darauf verschwindet mein Sohn spurlos - wo es doch auf dem ganzen Planeten nichts gibt, was ihn so verschwinden lassen könnte." Er fuhr plötzlich wieder herum und starrte Misato direkt an. "Außer ihnen!"
 

"Aber..." Die Frau war entgeistert. "Aber Raimor hat doch eine Vereinigung mit mir geteilt! Er weiß doch alles, was auf dieser Welt hier geschehen ist, und er weiß auch, daß ich dazu gar nicht in der Lage wäre! Hat er ihnen nicht..."

"Seinen Bericht haben wir", stimmte Shennok ihr zu. "Aber sie geben selbst zu, daß ihre Seele Kontakt zu seiner hatte. Wer sagt mir, daß sie ihn nicht das haben sehen lassen, das er sehen sollte? Sie hatten mehrere Tage Zeit für eine ordentliche Gehirnwäsche."

"Das ist ja..."
 

Der Kommandant verschränkte die Arme vor der Brust. "Bestreiten sie immer noch, etwas mit dem Verschwinden meines Sohnes zu tun zu haben?"

"Ja, verdammt!" Misato war nun ernsthaft wütend. "Was bitte, sollte ich davon haben, ihren..."

"Dann haben wir uns nichts weiter zu sagen", unterbrach sie Shennok. "In einer Stunde wird man ihnen etwas zu essen bringen. Vielleicht überlegen sie sich noch einmal, ob sie nicht kooperativer werden wollen. Sie können ihre Aussage jederzeit vom Computer aufzeichnen lassen. Einen guten Tag noch."
 

"Warten sie!" rief ihm die Frau hinterher, doch der Kommandant ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, und das schwere Schott schloß sich hinter ihm.

"Verdammt!" fluchte Misato und ließ sich auf die Liege fallen. "Warum muß ich bei Männern mit Vollbart immer Pech haben?"
 

---
 

"Aber das können sie doch nicht tun!" empörte sich Exo-alpha Raimor. "Ich habe eine Aufgabe an Bord zu erfüllen!"

Med-alpha Tyrrin seufzte. "Es tut mir leid", erklärte sie, "aber das ist ein ausdrücklicher Befehl des Kommandanten. Bis die genauen Umstände geklärt sind, müssen sie unter medizinischem Arrest bleiben."

"Aber Misato..."

"Wird gut behandelt werden. Es ist nur nicht sicher, in wiefern wir ihr vertrauen können."
 

Raimor schüttelte wütend den Kopf. "Das ist sogar absolut sicher!" schimpfte er. "Hören sie, Tyrrin, ich habe alles mit ihr geteilt; jede kleinste Faser ihrer Existenz. Ich weiß genau, wie sie denkt und was in ihr vorgeht. Sie ist nicht gefährlich oder hinterhältig."

"Es war wirklich nicht meine Entscheidung", entschuldigte sich die Ärztin. "Das hier ist eine Frage der Sicherheit, und die liegen alleine im Ermessen des Kommandanten."

"Und wie stellen sie sich das vor? Haben sie bewaffnete Wachen vor meinem Krankenzimmer postiert?" meinte der Wissenschaftler und gestikulierte wild in Richtung Tür.

"Das natürlich nicht", antwortete Tyrrin schmunzelnd und sah ebenfalls in Richtung Tür. "Sie sind wohl vernünftig gen..."
 

In diesem Moment traf sie die Faust des Exo-alphas exakt an der Schläfe, und sie fiel wie ein Stein um.

"Danke für die Kampferfahrung, Misato", murmelte Raimor lächelnd, als er die Beine aus dem Bett schwang.
 

---
 

Shennok war schon fast eingeschlafen, als ihn das schrille Pfeifen des schiffsweiten Alarms aufweckte. Mit einem Satz war er auf den Beinen und aktivierte sofort sein PersoKom. "Brücke, hier Shennok! Bericht!"

"Ungenehmigter Start einer unserer Landekapseln!" kam prompt die Meldung. "Zwei Lebensformen an Bord."

"Analyse?"

Die Brücke schwieg einen Moment; wahrscheinlich führte sie gerade mit den inneren Sensoren eine Anwesenheitsanalyse an Bord durch. "Exo-alpha Raimor und die Gefangene Misato!" kam dann die Antwort. "Kurs auf die Tagseite des Planeten! Sollen wir das Feuer eröffnen?"
 

Der Kommandant überlegte einen Moment. "Negativ", sagte er dann. "Die beiden wissen wahrscheinlich, wo mein Sohn ist. Halten sie die Kapsel in den Scannern und bereiten sie eine Sturmkapsel vor, 12 Pioniere mit Gefechtsausrüstung. Ich will sie in zehn Minuten in Hangar 3 antreten sehen. Wir folgen ihnen!"

"Verstanden!", kam die Antwort. "Sturmteam wird zusammengestellt. Gruppenführer Darrim übernimmt das Kommando."

"Negativ", widersprach Shennok. "Ich übernehme selbst das Kommando."
 

Dreizehn Minuten Rhoan-Standard später löste sich die Sturmkapsel aus dem Bauch der Vagabund.
 

---
 

Raimor und Misato standen Hand in Hand am Ufer des weiten, orangefarbenen Meeres, als die Sturmkapsel mit mächtigem Getöse keine 50 Meter hinter ihnen aufsetzte und sich knirschend in den Untergrund grub. Die beiden sahen sich nicht um; auch nicht, als das Zischen der Öffnungsluke ertönte und kurz darauf vom charakteristischen Pfeifen der Manövrierdüsen abgelöst wurden, die jeder ExploraSuit und jeder SecuriSuit hatte.
 

Der Rhoani und die Menschenfrau trugen nur ihre Overalls.
 

"In Ordnung", bellte hinter den beiden die elektronisch verstärkte Stimme Shennoks aus dem Anzug, "das war's dann mit ihrer kleinen Flucht! Sie werden sich jetzt beide umdrehen und uns dann friedlich zurück auf die ,Vagabund' folgen!"

"Das werden wir nicht."

"Sie sind ganz ruhig, Raimor!" fuhr der Kommandant ihn an. "Ich habe gleich geahnt, daß mit ihnen etwas nicht stimmt. Aber daß sie uns an diese... Seelendiebe verraten würden, hätte ich nicht gedacht!"
 

"Wir sind keine Seelendiebe!" verteidigte sich Misato, und nun drehten sich sie und der Rhoani langsam um. Sie blickten in die Mündungen von dreizehn Mikroraketenwerfern.

Shennoks wütende Grimasse war unter seinem massiven Keramikhelm nicht zu sehen, doch seine Stimme verriet seinen kaum verhüllten Haß. "Wo ist mein Sohn?"

"Das wissen wir nicht", antwortete nun Raimor. "Aber wir haben vor, es herauszufinden."

"Was?"

"Wir werden zurück in das LCL gehen."

"Wohin?"

"Das große Meer, sie Idiot!" fuhr ihn nun Misato an. "Was meinen sie denn, warum wir ausgerechnet hierhin geflogen sind? Wenn ihr Sohn auf diesem Planeten ist, dann wird es eine der Seelen im Meer wissen."
 

Der Kommandant nahm den Mikroraketenwerfer in den Anschlag und aktivierte den Ziellaser, so daß er genau auf Misatos Bauch zeigte. "Ein Schritt in die falsche Richtung", zischte er, "und ich verteile ihren Körper auf einer größeren Fläche, als es ihnen jemals angenehm vorkam!"

"Bitte verstehen sie doch!" versuchte Raimor zu erklären. "Wir haben nicht vor, sie zu verraten, wir wollen nur..."
 

In diesem Moment verfinsterte sich die Sonne mit einem Schlag.

Vierzehn Rhoani und eine Menschenfrau standen plötzlich im Dunkeln.

Und von dort, wo bis eben noch die Sonne zu sehen gewesen war, glitt ein gewaltiger Schatten in Form einer riesenhaften, geflügelten Schlange auf die Erde zu.
 

"Was, bei allen Galaxien ist das?" keuchte Shennok.

"Das ist Aftiel, der Engel der Dämmerung", erklärte eine leise Stimme direkt neben ihm.
 

Der Kommandant fuhr herum und wollte eben seine Waffe auf das plötzlich erschienene Wesen richten, als er bemerkte, daß es sein Sohn war.
 

"Harmis? Aber..."

"Er ist gekommen, um allem ein Ende zu setzen", sprach der Junge weiter, doch seine Stimme war nicht die, die Shennok kannte. Sie war heller... weiblicher... als spräche ein Mädchen.

"Ein Ende? Aber... wieso?"

Der Junge sah ihn aus unsagbar traurigen Augen an.

"Um das Werk zu schützen", erklärte er, "das ihr zerstört!"
 

Kapitel 8
 

Shennok schüttelte fassungslos den Kopf. "Wovon redest du?" fragte er. "Etwa von dem Giganten? Aber... aber das war..."

In diesem Moment surrte sein PersoKom, und das Geräusch wurde sofort von einem dreifachen Piepen ergänzt, welches eine Notfallverbindung anzeigte.

"Brücke an Landungsteam. Kommandant, hören sie mich?"

Shennok hob den Arm zum Mund. "Laut und deutlich", antwortete er. "Was gibt es?"
 

"Wir haben soeben ein fremdes Objekt geortet, das sich ihrer Position nähert. Es kommt von 321.5..."

"Ich sehe es", schnitt der Kommandant seinem Offizier das Wort ab. "Analyse?"

"Eine Lebensform", war die Antwort, "von Kopf bis Schwanzspitze etwa achtzig Meter lang, Flügelspannweite etwa sechzig Meter. Es scheint von einer riesenhaften Kugel aus... aus Dunkelheit umgeben zu sein!"

Shennok zog die Augenbrauen noch. "Eine Kugel aus Dunkelheit? Haben sie keine wissenschaftliche Erklärung?"

"Negativ", war die Antwort. "Im Bereich von mindestens fünf Kilometern um das Wesen wird alles sichtbare Licht absorbiert. Nur das dunkelrote Glühen, welches von ihm selbst ausgeht, scheint davon ausgenommen zu sein."
 

Harmis trat zu seinem Vater und blickte zu ihm hoch. "Er wird alle Seelen einsammeln und ins Jenseits führen", sagte der Junge mit der Stimme, die nicht seine war.

"Was war das eben?" ertönte die Stimme des Brückenoffiziers. "Bitte wiederholen."

"Einen Moment", sagte Shennok ins PersoKom und stellte die Verbindung auf Lautlos. Dann wandte er sich seinem Sohn zu. "Was weißt du über das Wesen?" fragte er. "Was ist dieser ,Engel'?"

"Er ist ein Bote Gottes, des Schöpfers dieser Welt", antwortete Harmis, und seine Augen schimmerten in der Dunkelheit rötlich. "Gott gab den Menschen das Potential, so zu werden wie er und die Wahrheit hinter allem zu erkennen. Dazu mußten sich die Menschen aber erst entwickeln. Die große Verbindung aller Seelen, die Menschen nennen sie ,Third Impact', sollte diese Entwicklung ermöglichen. Aber eure Ankunft auf diesem Planeten hat die ganze Entwicklung aus der Bahn geworfen."

Der Kommandant verstand allmählich. "Weil wir Misato aus der Verbindung herausgeholt haben, natürlich! Was genau wird jetzt dieser ,Engel' tun?"
 

"Aftiel wird seine Schwingen über der Erde ausbreiten", sagte Harmis leise, "und alle Seelen zu sich nehmen, die er findet."

"Du meinst", fragte Shennok, "er wird sie töten?"

Der Junge schüttelte den Kopf. "Die Seelen werden erhalten bleiben.", erklärte er. "Aber er führt sie in die Welt hinter dem Ende des Lebens."

"Wo ist da der Unterschied?"
 

Harmis öffnete den Mund zu einer Antwort, doch in diesem Moment ertönte wieder das Surren von Shennoks PersoKom, und der Kommandant aktivierte es wütend. "Was ist denn jetzt?" donnerte er.

"Das Wesen ist soeben in die Atmosphäre des Planeten eingedrungen", meldete der Brückenoffizier, "und wie es aussieht, vergrößern sich seine Flügel. Als wollte es diese Welt damit umschließen. Sollen wir reagieren?"

Shennok brauchte keine zwei Sekunden für seinen Befehl. "Hauptgeschütz auf das Wesen ausrichten und Feuer!" befahl er.
 

Misatos Augen weiteten sich. "Kommandant", rief sie, "das ist vielleicht keine gute Idee! Wir hatten in der Vergangenheit zahlreiche Kontakte mit Engeln, und der Einsatz von konventionellen Waffen war jedes Mal erfolglos. Wahrscheinlich ziehen sie damit nur seine Aufmerksamkeit auf sich und riskieren das Leben ihrer..."

"Feuerbefehl wird ausgeführt", ertönte es aus dem PersoKom.

Und ein Strahl aus gleißend hellem Blau zuckte über den verfinsterten Himmel, durchschlug den Engel und trat auf der anderen Seite wieder aus ihm aus. Mit einem heiseren Kreischen verblaßte das Wesen und zerstob in einer Rauchwolke. Die Sonne kam wieder zum Vorschein.
 

Shennok drehte sich lächelnd zu Misato um.

"Sie wollten sagen?"

Der Mund der Frau stand vor Verblüffung offen. "Was... was WAR das für eine Waffe?" stotterte sie.

"Ein Partikelbeschleuniger", erklärte der Kommandant. "Ein Geschoß von etwa fünf Kilogramm Gewicht wird durch magnetische Induktion auf etwa halbe Lichtgeschwindigkeit gebracht und dann zielgerichtet abgefeuert. Hat schon einige Leute mit feindseligen Absichten davon überzeugt, sich nicht mit der ,Vagabund' anzulegen, und auch diesen ,Engel'. Ich schätze, der Weltuntergang fällt für heute aus."
 

Misato wandte sich zu Raimor um. "Warum wußte ich nichts von dieser Waffe?" fragte sie irritiert.

"Tja..." Der Exobiologe blickte peinlich berührt zu Boden. "Ich habe mich noch nie für die militärischen Daten der ,Vagabund' interessiert..."

Die Frau kicherte. "Na, das war ja ein ganz schöner Schrecken. Wenn ich geahnt hätte..."

In diesem Moment umfaßte eine Hand von hinten ihren Fußknöchel.
 

Misato schrie überrascht auf, riß sich los und fuhr herum. Hinter ihr lag ein Mann auf dem Boden, unbekleidet und naß, der anscheinend völlig entkräftet war. Er atmete schwer und hob nur mühsam den Kopf zu ihr.

"Misato...?"

Ihre Augen weiteten sich. "Makoto?!"
 

"Es beginnt", sagte Harmis traurig.
 

---
 

Hyuga Makoto nahm einen tiefen Schluck aus der Trinkflasche, die man ihm gereicht hatte und wickelte sich enger in die Notdecke. Misato saß neben ihm und redete in der fremden Sprache - Japanisch - beruhigend auf ihn ein.

Der Kommandant verstand allmählich gar nichts mehr.

"Könnte mir langsam mal jemand erklären, woher jetzt plötzlich dieser andere Mann kommt?"

"Er stammt aus dem Meer", ließ sich die fremde Stimme in Harmis vernehmen.
 

Shennok schüttelte den Kopf. "Das ist unmöglich", widersprach er. "Die Seelen dieses Volkes leben doch in einer Vereinigung dort, aus der sie nicht wieder hinauskönnen, oder hab ich das mißverstanden?"

"Sie haben nicht gefragt", ließ sich nun Exo-alpha Raimor vernehmen. "Die Seelen hatten jederzeit die freie Wahl, ihren Zustand beizubehalten oder ihn zu verlassen. Aber die Verbindung im Meer war perfekt - frei von jeglichen Bedürfnissen. Niemand hatte den wirklichen Wunsch, sie zu verlassen."

"Und was ist jetzt anders?"
 

"Die Verbindung ist nicht mehr perfekt", beantwortete Harmis die Frage. "Die Seelen spüren, daß ihnen etwas fehlt. Sie beginnen, danach zu suchen, und wenn sie es nicht finden, dann werden sie ihre Verbindung verlassen, um außerhalb weiterzusuchen."

Die Augen den Kommandanten weiteten sich. "Aber... je mehr Seelen die Verbindung verlassen, um so mehr Seelen fehlen!"

"Das stimmt."

"Und je mehr Seelen fehlen, um so mehr andere werden ihnen folgen..."

Der Junge nickte.

"Das heißt..."

"Irgendwann wird die gesamte Menschheit aus der Vereinigung zurückgekehrt sein."

Shennok schluckte. "Wie viele Menschen..."

"Sechs Milliarden."
 

Der Kommandant schüttelte den Kopf und strich sich entgeistert den Bart. "Sechs Milliarden", murmelte er. "Und dieser Planet hat nicht den Hauch von Zivilisation - keine Städte, keine Ansiedlungen, keine Infrastruktur - keine Möglichkeit, sechs Milliarden Menschen zu ernähren. Bei allen Galaxien, was haben wir nur getan?"

"Es wird dauern", ließ sich Harmis wieder vernehmen. "Es werden zuerst nur die Menschen zurückkehren, die den Verschwundenen am nächsten standen. Das sind nicht wirklich viele - Katsuragi-san und Hyuga-san..."

"Wer?"

"Misato und der Mann", erklärte Raimor rasch.
 

Der Junge fuhr ungerührt fort. "...haben abseits vom Rest der Menschheit zusammen mit einigen hundert Leuten damals die Erde verteidigt. Im Laufe von ein oder zwei Wochen könnten sie alle auftauchen. Aber bis die anderen Seelen bemerken, daß sie fehlen, können noch Jahre vergehen, vielleicht sogar Jahrhunderte."

"Das heißt", meinte Shennok, "wir hätten im Prinzip viel Zeit, diesen Planeten auf die Rückkehr seines Volkes vorzubereiten, wenn wir..."
 

Ein plötzliches Husten vom Rand des Meeres unterbrach ihn, als sich ein junges Mädchen mit rotblondem Haar erschöpft aus dem Wasser zog.

"Asuka!" Misato war sofort aufgesprungen und lief zu ihr.

"...wenn wir langsam damit anfangen", beendete der Kommandant seinen Satz mit einem Hauch von Ironie in der Stimme." Er aktivierte sein PersoKom und stellte eine Verbindung zur Brücke her.

"Ja?"

"Shennok hier", meinte er. "Schicken sie uns zehn Versorgungskapseln runter, und zwanzig Techniker zum Aufbau einer Bodenbasis."

"Verstanden!"
 

---
 

Zwei Tage auf der Erde vergingen, bis die Arbeiten abgeschlossen waren. Inzwischen waren noch fünfundzwanzig andere Menschen aus dem Meer aufgetaucht. Misato und Raimor hatten ihr bestes getan, ihnen die Lage der Dinge zu erklären, und die meisten schienen es recht gut aufgenommen zu haben. Allerdings saß der Schock in einigen doch recht tief, und mehrmals wäre es beinahe zu Unglücksfällen gekommen, als die Zurückgekehrten in Panik ausgebrochen waren.
 

Shennok war vollauf mit der Organisation der Bodenbasis beschäftigt. Er stürzte sich förmlich auf jede Arbeit, die er bekommen konnte und machte sich nützlich, wo immer das möglich war. Unter seiner Anleitung entstanden Wohnanlagen, Energiegeneratoren, Wasseraufbereiter und Nahrungssynthetisierer. Harmis, der ständig an seiner Seite war, beobachtete alles aus seinen fahl rötlich leuchtenden Augen, schwieg aber.

Dem Kommandanten brannte zwar die ganze Zeit über eine Frage auf den Lippen, aber er fürchtete sich zu sehr vor der Antwort, um sie wirklich zu stellen.

"Was ist mit der Seele meines Sohnes geschehen?"
 

Die Techniker hatten gerade begonnen, das Baugerät zusammenzuräumen, als sich Shennoks PersoKom meldete.

"Ja?"

"Hier Brücke", meldete sich der diensthabende Offizier. "Kommandant, wir haben einen neuen Sensorkontakt von 43.0.129."

Shennok blinzelte verblüfft. "Analyse?"

"Ein... nun... es sieht aus, wie ein riesenhafter Wassertropfen", war die Beschreibung. "Durchmesser etwa dreißig Meter. Es bewegt sich stetig auf den Planeten zu."
 

"Charbiel", sagte Harmis unvermittelt.

"Was?"

"Der Engel, der alles Wasser sammelt."

Der Kommandant blickte den Jungen mit großen Augen an. "Wie bitte? Es kommt noch ein zweiter Engel?"

"Es werden weitere Engel folgen", erklärte Harmis. "Sie werden zwölf an der Zahl sein, und sie wollen die Menschheit erlösen."
 

"Aber nicht mit mir!" meinte Shennok empört und hob sein PersoKom zum Mund. "Brücke, Hauptgeschütz ausrichten und Feuer!"

"Verstanden!"

Shennok blickte seinen Sohn an und wollte etwas sagen, doch dessen ernster Blick ließ ihn verstummen.

"Stimmt etwas nicht?"

Harmis schwieg.
 

"Feuerbefehl wird ausgeführt", erklang die Stimme des Offiziers.

Einige Sekunden vergingen, ehe die nächste Meldung kam.

"Kommandant, Beschuß zeigt keinen Effekt!"

Shennok riß die Augen auf. "WAS?!"

"Das Geschoß hat das Ziel durchschlagen, ohne sichtbare Schäden zu hinterlassen", ertönte es aus dem PersoKom. "Das Ziel hat die Richtung gewechselt und bewegt sich nun auf die ,Vagabund' zu. Befehle?"
 

"Großalarm geben!", donnerte der Kommandant. "Feuer mit allen Waffen eröffnen!"

Wieder vergingen einige Sekunden. "Keine Wirkung!" kam dann die Antwort, dieses Mal schon etwas unsicherer. "Geschosse durchschlagen das Ziel, Energiewaffen werden von einem... einem Kraftfeld abgelenkt! Wir haben... Moment! Kommandant, neuer Sensorkontakt!"

"Wie?" Shennok lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Warum war er nur nicht an Bord seines Schiffes? "Wiederholen!"

"Neuer Sensorkontakt, Kommandant", kam die Bestätigung. "Ein großes Objekt nähert sich uns von 33.91.281 mit hoher Geschwindigkeit! Den Anzeigen nach ist es eine Lebensform."

"Verdammt!" fluchte Shennok. "Noch ein Engel?"

"Nein", meinte Harmis sehr leise.
 

Der Kommandant sah verständnislos auf seinen Sohn herab.

"Ikari-kun kehrt zurück."
 

Kapitel 9
 

"Kommandant, wie sollen wir reagieren?"

Brückenoffizier Chauris blickte sorgenvoll auf die den inzwischen geteilten Sichtschirm, der auf der einen Seite den seltsamen "Wasserklumpen" und auf der anderen Seite den violetten Riesen zeigte. Eingeblendete Daten ließen keinen Zweifel daran, daß sich beide aus unterschiedlichen Richtungen der ,Vagabund' näherten.

"Kommandant?"

Keine direkte Antwort kam. Statt dessen konnte Chauris die Stimme Shennoks schwach hören, der sich anscheinend gerade mit jemandem unterhielt.

"...deutet das für uns?"

"Kommandant!!!"

"Lenken sie das Schiff aus dem Orbit", kam endlich der Befehl, "und versuchen sie, den beiden davonzufliegen!"
 

Der Brückenoffizier nickte. "Verstanden!", bestätigte er und wandte sich dann an Lasatra, die an den Kontrollen saß. "Volle Energie auf die Manöverdüsen", befahl er. "Ich will so schnell wie möglich hier weg."

"Bin schon dabei", gab die Astro-alpha zurück. "Das wird ganz schön eng, aber wir sollten aus dem kritischen Bereich heraus sein, bevor uns einer der beiden erreicht. Wenn auch nur um elf komma drei Sekunden."

"Aber dann können wir das Haupttriebwerk zünden", meinte Chauris, "und ich möchte mal sehen, wie die uns bei einem Zehntel Lichtgeschwindigkeit noch einholen wollen. Berechnen sie schon mal einen Kurs auf diesen großen Gasriesen da vorne; wir werden sein Gravitationsfeld zur Wende..."
 

In diesem Moment ertönte der Annäherungsalarm.

"Was ist denn jetzt?"

Lasatra keuchte auf. "Das wasserartige Objekt hat etwas von seiner Masse von seinem Körper gelöst! Es kommt mit hoher Geschwindigkeit auf uns zu!"

"Ausweichmanöver!" brüllte der Brückenoffizier, aber in diesem Moment kollidierte das ,Wassergeschoß' auch schon mit der ,Vagabund'. Ein Ruck ging durch das Schiff, aber sonst geschah zunächst nichts.
 

"Schadensbericht!" schrie Chauris.

"Keine Schäden", meldete sich die elektronische Stimme des Diagnosesystems.

Der Deckoffizier atmete erleichtert aus. "Uff. Dann haben wir es ja überstanden..."

"Das würde ich nicht sagen", widersprach ihm Sens-beta Karzan. "Die Scanner zeigen an, daß das Objekt sich immer noch auf der Oberfläche der ,Vagabund' befindet. Und im Moment ist es dabei, sich auf der äußeren Hülle auszubreiten."

"Was?"
 

In diesem Moment ging ein weiterer Ruck durch das Schiff.

"Ausfall der Steuerbordmanövriertriebwerke!" keuchte Lasatra. "Dieser... Wasserklumpen blockiert sie! Wir gewinnen nicht weiter an Höhe!"

Der Brückenoffizier schluckte und aktivierte die Verbindung zu Shennok wieder. "Kommandant, Befehl nicht ausführbar", meldete er, "wiederhole, Befehl nicht ausführbar. Erbitte neue Anweisungen."

Keine Antwort kam.

"Kommandant?"
 

---
 

"Lenken sie das Schiff aus dem Orbit und versuchen sie, den beiden davonzufliegen!"

"Verstanden", kam die Antwort durch Shennoks PersoKom, und der Kommandant schaltete die Verbindung wieder ab. Dann wandte er sich wieder Harmis zu.
 

"Noch einmal", begann er seine Frage wieder. "Was bedeutet das für uns, wenn ,Ikari-kun' zurückkehrt?"

Harmis blickte zum Himmel auf. "Das ist schwer zu erklären", sagte er.

"Dann versuch es, bei allen Galaxien!"

"Wie du willst", sagte Harmis und ergriff kurzentschlossen die Hand seines Vaters.
 

Shennoks Bewußtsein explodierte in tausend Fetzen.
 

---
 

Hilflos sahen die fünf Leute auf der Brücke der ,Vagabund' zu, wie sich die beiden fremden Objekte ihrem Schiff näherten. Die Anzeigen machten deutlich, daß es weniger als eine Minute bis zum Kontakt dauern würde, bis sie ihr Ziel erreicht hatten.
 

"Wollen sie nicht langsam irgend etwas tun?" fuhr Lasatra Chauris an.

Der Brückenoffizier sah entgeistert zu ihr. "Was kann ich denn tun?" schnappte er zurück. "Dieses... Ding da vorne ist ja anscheinend immun gegen jeden Beschuß! Und ohne die Manövriertriebwerke können wir das Hauptgeschütz auch nicht auf diesen Riesen ausrichten!"

"Wirklich großartig!" schimpfte die Astro-alpha. "Wozu sitzen sie dann hier überhaupt auf der Brücke, wenn sie sowieso nichts tun können?"

"Haben sie etwa eine Idee? Ich bin für jeden Vorschlag offen!"

Lasatra öffnete den Mund zu einer Erwiderung, schloß ihn aber gleich wieder.

"Wußte ich's doch!"
 

In diesem Moment sprang Karzan plötzlich auf. "Bei allen Galaxien", keuchte er und zeigte auf den Sichtschirm, "sehen sie nur!"

Der Sichtschirm zeigte keine zwei geteilten Bilder mehr, sondern nur noch eins.

Und das lag daran, daß das riesenhafte, humanoide Monstrum die Wasserkugel erreicht hatte und nun kurz vor dem Kontakt mit ihr stand.
 

Sprachlos beobachteten die Leute auf der ,Vagabund', wie der violette Riese gegen eine Wand aus roten Sechsecken zu prallen schien, seine Klauen in die Wand grub und sie auseinanderriß. Ein wäßriger Tentakel, den das Kugelwesen ausschickte, wurde von ihm kurzerhand gepackt und in feinen Wassernebel zerquetscht, und dann griff der Gigant in den Körper des nunmehr quallenartigen Engels und zog ihn an sich heran. Oder besser: er zog sich selbst ins Innere des Wesens.
 

Der Engel begann heftig zu erzittern, während sich das Monstrum in ihm bewegte und nach irgend etwas greifen zu schien. Schließlich hatte es Erfolg und fand den transparenten, fast unsichtbaren Kern, der im Inneren des Wasserwesens frei hatte treiben können. Es packte ihn und zerquetschte ihn mit einer einzigen Bewegung.
 

Charbiel platzte, und der Gigant wurde in Richtung Erde weggeschleudert.

Der Aufprall der Wassermassen auf der ,Vagabund' aus nächster Nähe ließ das Schiff erbeben.
 

---
 

Sehr langsam lösten sich Harmis' Finger wieder von der Hand seines Vaters. Shennok zitterte am ganzen Körper, und Schweiß lief seine Stirn herunter.

"Verstehst du es nun?" meinte die fremde Stimme aus dem Mund seines Sohnes.

Der Kommandant nickte langsam. "Ich... ich glaube schon... Rei?" fragte er.

Das Wesen nickte.

"Was... was war das, was du eben mit mir gemacht hast?"

"Ich habe meine Seele mit deiner vereint", war die Antwort. "Wenn man noch einen Körper hat, kann das unangenehm sein, aber du hast nach einer Erklärung gesucht. Ich konnte sie dir nur so geben."
 

Shennok schluckte. "Mein Sohn... Harmis... was hast du mit ihm..."

"Ich bin jetzt ein Teil von ihm", erklärte Rei. "Er war der einzige auf diesem Planeten, dessen Seele offen genug war, so daß ich mich ihm mitteilen konnte."

"Aber... du hast doch eben mit mir..." warf der Kommandant ein.

Das Wesen schüttelte den Kopf. "Mit dir konnte ich mich nur vereinen, weil du in mir deinen Sohn gesehen hast", meinte es. "Du hattest vor ihm keine Angst."

"Wo ist er jetzt?"

"Bei mir."

"Erklär mir das."

"Keine Zeit. Ikari-kun kommt", meinte Rei und deutete hoch zum Himmel.
 

Shennok blickte auf und sah, wie sich eine leuchtende Sternschnuppe rasend schnell vom Himmel abwärts auf den Planeten zu bewegte.

"Bei allen Galaxien..."
 

In einem spektakulären Feuerball schlug EVA-01 etwa hundert Kilometer entfernt vom Basislager der Rhoani auf der Erde auf.

Minuten später ließ die Druckwelle des Aufpralls die provisorische Siedlung erbeben.
 

---
 

"Das Ding hat es ÜBERLEBT?!"

Die Antwort von der ,Vagabund' kam unverzüglich. "Positiv, Kommandant."

"Es ist aus dem Orbit des Planeten durch die Atmosphäre gerast, unten aufgeschlagen, und es lebt immer noch?! Das ist doch unmöglich!"

"Aber es ist unwiderlegbar der Fall", war die Antwort. "Im Moment bewegt es sich gerade mit sehr hoher Geschwindigkeit auf ihre Position zu. Es sollte sie in weniger als einer halben Stunde erreichen. Was sollen wir tun?"

Shennok warf einen Blick auf das Wesen im Körper seines Sohnes. "Nichts", antwortete er. "Bleiben sie in Bereitschaft. Nach meinen Informationen ist uns das Wesen nicht feindlich gesonnen."

"Sind sie sicher?"

Der Kommandant seufzte. "Shennok, Ende", sagte er, ohne die Frage zu beantworten.
 

Die inzwischen insgesamt sechzig Bewohner der kleinen Siedlung - Menschen, Techniker und Wissenschaftler zusammengenommen - hatten sich alle im Zentrum versammelt, als EVA-01 aufgeschlagen war. Jetzt stand die Gruppe mehr oder minder unsicher beisammen - die Rhoani, weil sie nicht wußten, was sie von diesem fremden Wesen zu erwarten hatten, die Menschen, weil sie allesamt Mitarbeiter bei NERV gewesen waren und nicht nur einmal erlebt hatten, wozu ein unkontrollierter Evangelion fähig war.
 

Nun konnten sie nur noch abwarten.
 

Minute um Minute verstrich.

Shennok strich nervös seinen Bart.

Raimor hielt Misatos Hand.

Misato sehnte sich nach einem Bier.

"Wie lange braucht dieser Blödmann noch?" murmelte Asuka, die an Misatos Seite saß.

"Ich bin mir nicht sicher", murmelte Misato zurück, "ob ich ihn tatsächlich wiedersehen will."

Asuka wandte ihr überrascht den Kopf zu.

"Ich frage mich", erklärte Misato leise, "ob er uns nach all den Jahren wiedererkennt."

Asukas Augen wurden groß.
 

In diesem Moment ertönte in der Ferne Donner.

Shennok erhob sich.

Der Donner wurde lauter. Jetzt konnte man hören, daß er regelmäßig war. Es war das Geräusch unglaublich mächtiger Schritte, die sich eilends näherten.

Einige der Leute wichen etwas zurück.

Der Donnerhall wurde noch lauter.

Hinter einem Hügel kam der Kopf von EVA-01 zum Vorschein.

Das Donnern hörte auf.
 

Mit einem gewaltigen Satz sprang Shogoki über den Hügel und landete nur wenige hundert Meter von der Ansiedlung entfernt. Der Aufprall ließ den Boden erbeben.

Die Bewohner der Siedlung hielten den Atem an.
 

Und EVA-01 riß den Kopf hoch und gab einen gewaltigen Wutschrei von sich, der die Luft erzittern ließ.
 

Kapitel 10
 

"Mein Gott..."

EVA-01 blickte mit vor Zorn funkelnden Augen über die kleine Gruppe von Menschen und Rhoani, die dicht gedrängt im Zentrum ihrer kleinen Siedlung stammten. Das riesige Wesen atmete schwer - der lange Sprint, den es hinter sich hatte, schien es etwas erschöpft zu haben. Aber trotzdem sah man ihm die Wut noch deutlich an.

Es riß den Mund auf, fletschte knurrend die Zähne und begann dann, auf die Siedlung zuzustapfen.

"Er erkennt uns nicht..." keuchte Misato.

Raimor schüttelte den Kopf. "Nein", meinte er, "er erkennt UNS nicht! Er hat noch niemals Rhoani gesehen - er muß uns für Feinde halten."
 

Wie um die Worte des Kommandanten zu bestätigen, griff EVA-01 herab, packte eins der Versorgungsgebäude, zerquetschte es in seiner Hand und schleuderte es davon.

"Weg hier!" schrieen Misato und Raimor gleichzeitig, sie auf Japanisch, er auf Rhoanisch. In heilloser Panik stieben alle Leute auseinander, Menschen und Rhoani gleichermaßen; und als EVA-01 knurrend in das Basislager hineinstampfte, waren sie alle aus der Anlage geflohen.

Fast alle.
 

"Harmis!" brüllte Shennok, als er zu seinem Entsetzen bemerkte, daß sein Sohn - nein, Rei im Körper seines Sohnes - stehengeblieben war und mit unbewegter Miene zu dem Giganten vor sich aufsah. Er fuhr herum und rannte auf das Monstrum zu, doch noch ehe er es erreicht hatte, griff EVA-01 nach dem Rhoani-Jungen und packte ihn.

"NEEEEEEEIN!"
 

Das riesige Wesen hob Harmis hoch, bis er ihn auf Höhe seines Kopfes hatte und begutachtete argwöhnisch sein wirres, tiefblaues Haar und seine spitzen Ohren. Die Augen des Riesen verengten sich zornig, und er öffnete langsam das Maul. Der Junge in seiner Hand zeigte keine Reaktion.
 

"HAAAALT!" kreischte in diesem Moment eine helle Stimme auf Japanisch.

Die Köpfe von Shennok und EVA-01 fuhren im gleichen Moment herum, um die Person zu begutachten, die in Windeseile auf das Dach einer Wohnbaracke geklettert war.

"Bist du doof?" brüllte sie.

Es war Asuka.

Die Augen des Evangelions weiteten sich vor Überraschung.
 

"Verdammt, wir sind doch keine Engel", schrie das Mädchen weiter, und obwohl Shennok kein Wort verstand, konnte er deutlich hören, daß sie wütend klang. "Was denkst du dir nur? Hast du vergessen, was wir uns versprochen haben?"

EVA-01 stand völlig still da und blickte Asuka an.

Und dann, ohne Vorwarnung, fiel das Wesen plötzlich auf die Knie und sank in sich zusammen. Seine Hand öffnete sich; Harmis fiel heraus und landete unsanft, aber unverletzt auf dem Boden. Sofort war Shennok bei ihm und schloß seinen Sohn in die Arme, während er unsicher zu dem riesigen Monstrum neben ihm aufsah.
 

Im nächsten Moment ertönte plötzlich ein Zischen, die Panzerung des Evangelions öffnete sich, und eine weiße Kapsel fuhr heraus.

Dann war Stille.
 

---
 

Es war zum Glück kein großer Aufwand gewesen, die Kapsel mit Hilfe eines mobilen Antigrav-Generators aus dem Körper des EVAs herauszuholen und zu öffnen. Der Insasse, ein schmaler, dunkelhaariger Junge, war zwar gesund und am Leben, aber nicht bei Bewußtsein. Med-alpha Tyrrin, die sofort von der ,Vagabund' heruntergekommen war, hätte ihn am liebsten gleich auf der Notstation des Schiffes isoliert, aber die heftigen Proteste Misatos und vor allem Asukas hatten sie dazu gebracht, ihn doch vor Ort zu versorgen und den beiden Zugang zu ihm zu gestatten.
 

Shennok hatte sich in der Zwischenzeit zusammen mit Rei in eine der Wohnbaracken zurückgezogen. Er hatte sich in den letzten zwei Tagen viele Gedanken gemacht, was er für seinen Sohn tun konnte. Er hatte sich schon beinahe selbst davon überzeugt, daß es vielleicht das beste gewesen wäre, auf die guten Absichten des fremden Geistes in ihm zu vertrauen.

Bis vorhin.
 

"Rei, wir müssen reden."

Die Augen des Wesens blickten ihn unbewegt an.

"Ich habe es mir lange überlegt, aber ich komme nur zu einem Ergebnis: Du mußt den Körper meines Sohnes freigeben."

"Das geht nicht", antwortete Rei.

"Warum nicht?"

"Ich benötige einen Körper. Ohne einen Körper kann ich den Menschen nicht helfen, und ich muß ihnen helfen."

"Dann nimm meinen!"
 

Das Wesen blinzelte. "Das geht nicht", meinte es. "Deine Seele würde das nicht ertragen."

"Dann nimm..."

"Keine der Seelen hier würde es ertragen", erklärte Rei. "Alleine die Seele von Harmis war bereit, sich mir zu öffnen. Wir können zusammen in einem Körper existieren, ohne uns zu verletzen. Jeder andere würde daran zerbrechen. Du hättest es beinahe nicht ertragen, daß ich deine Seele nur berührt habe."

Shennok blickte verwirrt. "Warum mein Sohn?" wollte er wissen. "Warum ist nur er in der Lage dazu?"

"Wir sind uns ähnlich", war die Antwort.
 

Der Kommandant dachte darüber einen Moment nach, kam aber zu keinem Ergebnis, das plausibel gewesen wäre. Statt dessen hatte er aber eine Idee.

"Du brauchst also einen Körper", griff er das Gespräch wieder auf. "Einen Körper, von dem du Besitz ergreifen kannst, ohne dabei die Seele in ihm zu verletzen."

"Richtig."

Shennok strich sich in Gedanken über den Bart. "Dann gibt es vielleicht eine Möglichkeit", sagte er, "wie ich dir weiterhelfen kann... wenn du dafür meinen Sohn freigibst."
 

Rei blickte interessiert auf.
 

---
 

Abenddämmerung. Das Rauschen der Wellen. Ein leichter, warmer Wind vom Meer aus.

Ansonsten Stille.
 

"Ich fühle mich schrecklich."

Salzige Tränen auf seinem Gesicht. Immer noch das Gefühl von ihrer Hand auf seiner Wange.

"Asuka, es tut mir leid..."

Keine Antwort.
 

Er steht auf, dreht sich langsam um und atmet tief durch. Jeder seiner Gedanken ist bei dem Mädchen, das hinter ihm liegt. Bei Asuka. Warum hat er sie nur gewürgt? Warum hat er ihr Schmerzen zugefügt? Er weiß es nicht; weiß nur, daß er sich selbst dafür haßt. Er dachte, er würde sie hassen. Jetzt weiß er, daß er es selbst war.
 

"Shinji..."

Er fährt herum und blickt sie an. Sie scheint sehr schwach zu sein. Langsam, sehr langsam kniet er neben ihr nieder.

"Asuka...?"

"Ich... ich bin noch nicht soweit."

Seine Augen werden groß.

"Ich... gehöre noch nicht wieder in diese Welt", flüstert sie. "Ich bin noch nicht geheilt."

"Oh..."
 

Er blickt zur Seite; kann den Anblick ihrer gebrochenen Augen nicht ertragen. So lebensfroh, so glitzernd, so voller Feuer waren sie einmal. Jetzt sind sie müde und erloschen.

"Asuka... ich brauche dich." Worte, die er immer gefürchtet hat. Jetzt kommen sie über seine Lippen, und er spürt, wie die Tränen in ihm wieder aufsteigen.
 

Da plötzlich: ihre Hand auf seiner. Er sieht sie verblüfft an.

"Ach Shinji, ich brauche dich auch", sagt sie. "Aber ich brauche auch Misato, und Touji, und Hikari, und die anderen... verstehst du?"

Er schüttelt den Kopf.

"Sie alle warten auf mich. Ich kann sie spüren, tief in mir. Ich muß ihnen noch so viel sagen. Bitte, laß mich wieder zu ihnen gehen."
 

Die Tränen brechen wieder aus ihm heraus. "Asuka..."

Sie drückt seine Hand sanft. "Bitte", sagt sie.

Er blickt auf, seine Augen gerötet. Langsam dreht er seine Hand um und ergreift ihre. "Wenn du gehen willst", flüstert er leise, "dann geh. Aber versprich mir, daß du wiederkommst."

Asuka nickt kaum wahrnehmbar. "Versprochen", sagt sie. "Und ich bring die anderen mit."
 

Shinji lächelt. "Dann lasse ich dich gehen", sagt er.

"Ich werde dich vermissen", antwortet sie.

Sein Lächeln verschwindet.

"Ist etwas?"
 

Er blickt sie besorgt an. "Bitte nicht."

"Hm?"

"Bitte vermiß mich nicht."

"Aber..."

"Asuka, ich will nur, daß du glücklich bist", sagt er. "Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas fehlt. Auch nicht, wenn ich es bin."
 

Sie muß kichern. "Idiot", sagt sie, aber liebevoll.

"Versprichst du mir, mich nicht zu vermissen?" fragt er.

Asuka nickt. "Versprochen."
 

Er lächelt.

Ihr Körper zerfließt und wird zu einem Teil des Meeres.
 

"Asuka..."
 

---
 

"Wann wird er wieder aufwachen?"

Med-alpha Tyrrin hob bedauernd die Arme. "Das kann ich nicht sagen", antwortete sie mit einem nachdenklichen Blick auf den Jungen. "Er ist in körperlich gutem Zustand, und seine Gehirnwellenmuster deuten auf einen gesunden Geist hin. Aber wie es um seine Seele bestellt ist, das wissen nur die Sterne."
 

"Hmpf." Misato ließ ein unzufriedenes Grummeln hören. "Gibt es gar nichts, was sie für ihn tun können?"

Die Ärztin schüttelte den Kopf. "Leider nein", antwortete sie. "Ein Fall wie dieser hier ist undokumentiert. Ich weiß nicht, welche Folgen es haben könnte, Jahrmillionen in körperlich verflüssigter Form ohne jeden Kontakt zu anderen Lebewesen zu haben. Im besten Fall hat sich sein Bewußtsein..."
 

Sie wurde plötzlich unterbrochen, als ihr PersoKom surrte.

"Tyrrin?"

"Hier Oratas", war aus dem Gerät zu hören. "Med-alpha, auf Anweisung des Kommandanten haben sie sich sofort im Biolabor II zu melden."

Die Ärztin blickte überrascht auf. "Biolabor II? Med-beta, was hat das zu bedeuten?"

"Ich weiß es selbst nicht", war die Antwort. "Der Kommandant hat mir nur gesagt, ich sollte diese Anweisung an sie weiterleiten."

Tyrrin schnaubte. "Na, der bekommt was zu hören", sagte sie, deaktivierte ihr PersoKom und wandte sich an Misato. "Es tut mir leid", sagte sie, "aber sie haben es ja gehört. Ich muß leider fort."

Die Frau nickte. "Ist schon in Ordnung. Wir passen auf Shinji auf."
 

Kaum, daß die Med-alpha das provisorische Krankenzimmer verlassen hatten, stieß Asuka Misato an. "Was hat sie denn jetzt gesagt?" verlangte das Mädchen von ihr zu wissen. "Wie geht es Shinji?"

"Sie weiß es auch nicht", gab sie zurück. "Sie konnte mir nicht mal sagen, wann er wieder aufwachen wird."

"Laaaaaaangweiliiiig!" sagte Asuka mit einem tiefen Seufzer. Sie beugte sich vornüber, lehnte ihre überkreuzten Arme auf das Bett und sag zu, wie sich Shinjis Brustkorb regelmäßig hob und senkte.
 

"Was er wohl gerade denkt?"
 

Kapitel 11
 

"Das ist gegen die Vorschriften!"

"Ich kenne die Vorschriften sehr gut, und sie wissen genau, welchem Zweck sie dienen sollen. Und..."

"Das spielt keine Rolle. Der Kodex enthält strenge Regeln, auf denen unsere gesamte Gesellschaftsform basiert. Sie können doch nicht ernsthaft verlangen, daß ich diese Regeln jetzt breche, nur weil sie..."

"Nach den Buchstaben des Kodex wäre es vielleicht ein Bruch, aber doch nicht nach dem moralischen Inhalt!"
 

Die Augen von Med-alpha Tyrrin verengten sich. "Gerade sie, Kommandant, sollten eigentlich nicht versuchen, mit der Moral zu argumentieren!" zischte sie. "Gerade sie!"

"Wieso?" wollte Shennok wissen. "Ich habe mein ganzes Leben nach dem Kodex ausgerichtet!"

"Daß ich nicht lache! Was war daran moralisch, daß sie Harmis..."

"Der Kodex richtet sich nur gegen den Mißbrauch von Etherium!"

Die Ärztin schnaubte verächtlich. "Und Harmis war also für sie kein Mißbrauch?"
 

"Ich werde mit ihnen nicht weiter diskutieren!" donnerte der Kommandant. "Ich habe ihnen befohlen, einen Körper für Rei zu züchten, und dafür müssen sie das Etherium nicht mal antasten! Wollen sie etwa meine Befehle verweigern?"

Tyrrin nickte eisig. "Sie zwingen mich dazu", gab sie zurück. "Der Kodex sagt einwandfrei aus, daß jeder Rhoani das Anrecht auf einen und nur einen gezüchteten Nachkommen hat. Sie haben bereits Harmis."

"Geht das nicht in ihren sturen Schädel?" fuhr sie Shennok an. "Das Gebot soll verhindern, daß zukünftige Generationen kinderlos bleiben, weil sich ihre Vorfahren frei aus dem Etherium bedient haben! Wer, bitte, will schon Kinder ohne Seele?"

"Sie, wie mir scheint."
 

Der Kommandant atmete tief durch und riß sich zusammen. "Hören sie, Med-alpha", sagte er, "ich sehe ein, daß das hier eine außergewöhnliche Bitte ist. Aber niemand - weder auf diesem Schiff noch auf der Erde - wird Schaden davontragen, wenn sie sie mir erfüllen. Können sie nicht eine Ausnahme machen und den Kodex freier interpretieren?"

"Wenn es die erste Ausnahme wäre", antwortete Tyrrin, "vielleicht. Aber ich kann nicht ignorieren, was geschehen ist, als ich für Harmis eine Ausnahme gemacht habe."

"Aber heute wissen wir, was geschehen ist", gab Shennok zurück, "und wie wir es in Zukunft verhindern können. Außerdem, hätte ich nicht angefangen, wäre ein anderer gekommen, vielleicht in fünf Jahren, vielleicht in zehn Jahren. Ich bin bei weitem nicht der einzige auf diesem Schiff, der unfruchtbar ist."

Die Ärztin blickte ihn unsicher an. "Ein seelenloser Körper", meinte sie, "und noch dazu der einer fremden Rasse. Glauben sie wirklich, das wird klappen?"
 

"Denken sie wirklich", fragte der Kommandant zurück, "ich könnte die ,Vagabund' noch führen, wenn ich meinen Glauben verloren hätte?"
 

---
 

Fünf Tage verstrichen. Während immer mehr Menschen aus dem LCL-Meer erschienen und in der kleinen, provisorischen Siedlung untergebracht wurden, ließ Shennok ständig Material und Spezialisten von der ,Vagabund' heruntertransportieren. In kurzer Zeit entstand eine Generatoranlage auf Basis von Wind- und Solarkraft, und mehrere Technikerteams in schweren ConstruSuits machten sich daran, in einigen Kilometern Entfernung von der ersten Ansiedlung das Gelände zu ebnen.
 

In der Zwischenzeit versuchten die zurückgekehrten Menschen, ihre eigene Lage so gut wie möglich zu erfassen. Aber das brachte gewisse Probleme mit sich.
 

Es war der Abend des sechsten Tages seit dem Auftauchen von EVA-01 und Shinji, und Shennok wollte gerade die Landungskapsel besteigen und zur ,Vagabund' zurückkehren. Er hatte eben die Zugangsplattform betreten, als ihn jemand ansprach.

"Hätten sie noch einen Moment Zeit?"
 

Der Kommandant drehte sich um und sah Misato und Asuka am Fuß der Rampe stehen. Während die Menschenfrau recht ruhig zu sein schien und die Arme hinter dem Rücken verschränkt hatte, trat das Mädchen immer wieder von einem Bein auf das andere und lief hin und her.

"Kann ich ihnen helfen?" fragte er.

Misato nickte. "Ich denke schon, Kommandant", antwortete sie. "Ich würde gerne wissen, welche Aufgabe sie uns zugedacht haben."
 

"Ich dachte eigentlich, das wäre klar", meinte Shennok. "Sie haben schon in den vergangenen Tagen bewiesen, daß sie hervorragend dazu geeignet sind, sich um die Betreuung ihres eigenen Volkes zu kümmern. Meiner Meinung nach sollten sie dabei bleiben und auch weiterhin..."

Er hielt inne, als die Frau den Kopf schüttelte. "Das habe ich nicht gemeint", sagte sie. "Ich wollte wissen, welche Aufgabe sie uns Menschen zugedacht haben. Bisher sind es ja anscheinend nur sie und ihre Leute, die hier unten arbeiten. Allmählich werden einige von uns unruhig, und wenn ich ehrlich sein soll, ich auch."

"Unruhig?" Der Kommandant blinzelte irritiert. "Aber wir tun doch unser Bestes, ihnen hier Schutz und Sicherheit zu gewähren.
 

Misato nickte. "Genau das ist es", erklärte sie. "Viele Menschen fangen langsam an, sich unnütz zu fühlen. Wir sehen tagtäglich, wie sie hier Häuser, Anlagen, technisches Gerät aufbauen, und wir können nicht daran teilhaben."

"Wie sollten sie auch?" gab Shennok zurück. "Sie sind im Vergleich zu uns, entschuldigen sie die Wortwahl, recht ungebildet. Ihre Technologie war im Vergleich zu unserer antiquiert, ihre Gesellschaftsform überholt, und ich glaube nicht, daß ihr Volk uns eine große Hilfe wäre."

Die Augen der Frau verengten sich wütend. "Sie haben ja noch nicht einmal versucht", warf sie ein, "uns zu integrieren! Langsam habe ich das Gefühl, sie nehmen uns alle nicht wirklich für voll! Haben sie sich schon mal überlegt, was passieren soll, wenn noch ein paar..."
 

"Hast du ihn schon gefragt, was sie eigentlich auf der Erde machen wollen?" unterbrach sie Asuka auf Japanisch.

"Asuka! Es ist unhöflich..."

Shennok lächelte. "Wir möchten euren Planeten wieder aufbauen", erklärte er auf Japanisch.

"He, sie können mich ja verstehen!" entfuhr es dem Mädchen überrascht. "Wieso..."

"Ich kann es noch nicht lange", meinte der Rhoani. "Eine der Seelen von der Erde hat es mir beigebracht."
 

Asuka betrachtete ihn mißtrauisch. "So? Gut. Aber warum wollen sie hier alles wieder aufbauen?"

"Weißt du", erklärte Shennok, "das ist eine ziemlich lange Geschichte."

"Gibt's eine Kurzfassung?"

Der Kommandant lachte. "Ich versuche es", meinte er. "Also, wir - das heißt, eigentlich unsere Vorfahren - sind vor vier Jahrhunderten von unserem Heimatplaneten aufgebrochen, um herauszufinden, ob es irgendwo im All andere Welten gibt, auf denen wir leben können. Nur für den Fall, daß wir einmal gezwungen sein würden, Rhoan - unsere Heimat - zu verlassen. Unser Raumschiff ist groß genug, daß viele tausend Leute darauf leben können. Und nicht nur leben - unsere Vorfahren haben Kinder bekommen, und deren Kinder wieder Kinder, und so weiter, bis schließlich wir geboren wurden, die heute hier vor dir stehen."
 

"Ihr habt also ganze Familien ins All geschickt? Aber warum das denn?" wollte das Mädchen wissen.

Shennok seufzte. "Der Weltraum ist eine ziemlich große Angelegenheit", erklärte er. "Selbst mit unseren Antrieben, mit denen wir uns fast so schnell wie das Licht bewegen, dauern Reisen immer noch sehr, sehr lange. Wahrscheinlich viel länger, als ein einzelner Rhoani lebt. Und darum mußten wir uns etwas überlegen, um so lange Strecken fliegen zu können. Darum die Familien."

"Und jetzt, wo ihr hier seid?"

"Werden wir wohl hier bleiben", antwortete der Kommandant. "Weißt du, dein Planet ist ziemlich groß, und wir sind nur ungefähr viertausend Leute. Wir werden bestimmt einen schönen Platz finden."
 

Asuka kniff skeptisch die Augen zusammen. "Und wer sagt uns", meinte sie, "daß sie nicht vorhaben, uns alle zu versklaven?"

"Asuka!" unterbrach sie Misato sofort und hob entschuldigend die Arme. "Kommandant, sie meint es nicht so", wandte sie sich an Shennok, "bitte verzeihen sie..."

Der Rhoani schmunzelte. "Ist schon gut", gab er zurück. "Ich verstehe schon, daß wir auf sie alle sehr fremdartig wirken müssen. Aber Asuka, ehrlich, wir sind schon lange darüber hinaus, andere Leute dazu zu zwingen, für uns zu arbeiten. Unsere Gesellschaft hat schon vor langer Zeit erkannt, daß es falsch ist, den freien Willen zu unterdrücken."

"Ehrlich?"

"Ehrlich. Frag doch Misato; sie hat sich eben erst bei mir darüber beklagt, daß wir euch Menschen gar nichts zu tun geben und ihr nur untätig herumsitzt."
 

Misato lächelte. "Womit wir wieder bei meinem Punkt wären", fuhr sie fort. "Also, was ist jetzt mit uns Menschen?"

"Ich werde darüber nachdenken", meinte Shennok. "Bitte verstehen sie, wenn ich ihnen keine festen Zusagen machen kann. Vielleicht wäre ihr Volk dazu in der Lage, tatsächlich einfache Arbeiten auszuführen. Oder wir könnten versuchen, ihnen den Umgang mit unserem Arbeitsgerät beizubringen. Aber bitte verstehen sie, daß die Sachkenntnis aus ihrer Welt ihnen nicht weiterhelfen wird."

Die Frau nickte. "In Ordnung; ich denke, das kann ich den anderen vermitteln", gab sie zurück. "Danke, daß sie Zeit für uns hatten."

"Gern geschehen", gab der Kommandant zurück und wollte sich gerade zum Gehen wenden, als Asuka noch etwas einfiel.

"Wo ist eigentlich ihr Sohn hin?"

Shennok hielt kurz inne, ehe er sich umdrehte und Asuka ansah. "Er wird auf dem Schiff gebraucht", erklärte er so harmlos wie möglich. Aber aus seinen Augen sprach etwas anderes.

"Was..." wollte Asuka noch nachhaken, doch der Kommandant hatte sich schon abgewandt.
 

"Komischer Kerl..."
 

---
 

In einigen Kilometern Entfernung blickten zwei Techniker aus einem kleinen Waldstück auf, als das Dröhnen von Triebwerken erklang und die Kapsel mit dem Kommandanten in den Himmel aufstieg.

"Und wieder ein Hausbesuch vorbei", ulkte der ältere der beiden.

Der jüngere grinste unter seinem ConstruSuit heraus. "Privileg des Kommandanten, nehme ich an", meinte er. "Wir dürfen die nächsten Wochen hier unten auf diesem öden Brocken schuften, und er hüpft tagsüber herunter und kehrt abends in sein bequemes Bett auf der ,Vagabund' zurück."

"Wo seine bequeme Lasatra auf ihn wartet", fügte der ältere hinzu.
 

Beide lachten ein wenig über den Gedanken. Schließlich ergriff der jüngere Techniker wieder das Wort.

"Glaubst du", sagte er, "die Gerüchte stimmen? Er und die Astro-alpha?"

Der ältere Techniker nickte. "Du bist noch nicht so lange im Team", erklärte er, "aber als ich vor fünfzehn Jahren angefangen hab, hat Shennok ganz schön heftig mit ihr geflirtet. Sie hat ihn aber damals abblitzen lassen. Du weißt ja, er hat sich nie eine andere Frau gesucht. Und jetzt, wo er den Ruhm hat, diesen Planeten entdeckt zu haben, hat sie sich bestimmt noch mal überlegt, ob sie nicht doch mit dem großen Helden von Rhoan zusammen sein will."

"Ob er noch will?"

"Hätte er sonst fünfzehn Jahre lang keine Frau angesehen?"

"Hm..."
 

Einen Moment lang standen beide Techniker still da, ehe der ältere dem jüngeren einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter gab. "Na komm, wir haben noch Arbeit vor uns", meinte er. "Bis zum Sonnenuntergang ist es keine Stunde mehr, und wir haben noch zweihundert Quadratmeter Arbeitssoll."

"Hast recht", gab der jüngere Rhoani zurück und aktivierte die Ionenschneider seines ConstruSuits. "Was denkst du, fangen wir mit dem dicken Brocken an?" fragte er und wies auf eine riesige, bestimmt jahrhundertealte Eiche, die sich in einigen Metern Entfernung in den Himmel erhob.

Der ältere Techniker nickte. "Warum nicht", stimmte er zu. "Mit etwas Glück macht das Ding ein paar von den kleineren platt, wenn es umfällt. Auf geht's!"
 

---
 

Mit einem unmenschlichen Schrei fuhr Shinji aus dem Bett auf. Mit seinem nächsten Atemzug füllten sich seine Lungen wieder mit Luft, die er sogleich in einem weiteren panischen Kreischen ausstieß.

Keine fünf Sekunden später flog die Tür der Notunterkunft auf, und Hyuga Makoto stürzte herein. "Shinji", keuchte er, rannte zum Bett und packte den kreischenden Jungen an den Schultern.

"Shinji, was ist denn?"
 

Der Junge blickte mit glasigen Augen durch ihn hindurch. Und er schrie weiter.
 

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Sehr langsam färbte sich der Waldboden rot, als das Blut der Techniker durch ihre zerquetschten ConstruSuits nach außen rann.
 

Kapitel 12
 

Shinji hörte nicht auf zu schreien.
 

Misato hatte keine Minute gebraucht, um ebenfalls in sein Krankenzimmer zu stürzen und versuchte momentan verzweifelt, den Jungen zu beruhigen. Aber nichts schien zu helfen - anstelle aus seinem Anfall herauszukommen, begann Shinji auch noch zu strampeln und um sich zu schlagen. Makoto und Misato taten ihr Bestes, ihn so vorsichtig wie möglich zurückzuhalten, damit er sich nicht selbst verletzte, aber in seiner Panik schien der Junge gewaltige Kräfte zu entwickeln.
 

In diesem Moment rannte Asuka ins Zimmer.

"Shinji? Was zum Teufel..."

Misatos Kopf fuhr herum. "Asuka, raus hier!" fuhr sie das Mädchen an. "Sieh zu, daß du einen Arzt findest und hol ihn sofort her!"

"Was ist denn los?" wollte Asuka wissen und trat besorgt ans Bett. "Ist was mit Shinji pas..."
 

In diesem Moment entglitt Shinjis Bein dem Griff Hyugas, und als er austrat, traf sein Fuß mit voller Wucht die Nase des Mädchens. Asuka taumelte mit einem Schmerzensschrei zurück, und als sich die beiden Erwachsenen erschrocken nach ihr umschauten, gelang es Shinji, sich vollends loszureißen und mit einem unmenschlichen Brüllen auf die Tür loszustürmen.
 

Wo ihn Asuka mit einem wütenden Fausthieb aufs rechte Auge stoppte.

Der Junge ging getroffen zu Boden.

Während Misato und Makoto zu ihm sprangen und ihn rasch festhielten, dieses Mal sicher, baute sich das Mädchen über ihm auf. Ihr lief das Blut aus der Nase, und ihre Zähne waren im Zorn gefletscht.
 

"Sag mal, bist du blöd?" fuhr sie ihn an, während sie an ihre Nase griff und dann verständnislos ihre Hand ansah, dann endlich begriff und die Fäuste ballte. "Ich blute ja! Na warte, das kriegst du zurück..."

"Nicht, Asuka!" schrie Misato zurück. "Er hatte irgendeinen Anfall! Hol endlich einen Arzt; Shinji braucht einen."

Makoto nickte. "Und laß ihn gleich nach deiner Nase schauen", fügte er hinzu, "falls sie gebrochen ist."
 

Das Mädchen stand einen Moment lang mit geballten Fäusten da, ehe sie mit einem wütenden Knurren herumfuhr und aus dem Zimmer stürmte.
 

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"Fünf-Minuten-Warnung", ertönte die elektronische Stimme des Autopiloten der Kapsel, in der Shennok gerade auf dem Weg zurück zur ,Vagabund' war. "Das Andockmanöver findet in fünf Minuten statt."

Der Kommandant streckte sich in der schwerelosen Kapsel wohlig aus. Die Erde, das hatte er sehr schnell festgestellt, hatte eine minimal größere Masse als Rhoan und damit auch eine geringfügig höhere Schwerkraft. Es war nicht genug, um es zu merken, wenn man dort war, aber es war genug, um für entsetzlich verspannte Muskeln zu sorgen, wenn man sich körperlich anstrengte. Jede Minute Schwerelosigkeit war da eine Wohltat.
 

Shennok wollte gerade zurück auf seinen Sitz schweben, als das interne Komgerät der Kapsel ein Rufsignal von sich gab.

"Ja?"

"Kommandant", hörte er die Stimme von Brückenoffizier Chauris, "es gibt ein Problem mit ihrem Sohn."

Shennok blickte verständnislos. "Was für ein Problem?"

"Sie hatten doch angeordnet, ihm fürs erste keine Kommandoautorisationen mehr zuzugestehen und ihn nicht länger in Sicherheitsbereiche des Schiffes zu lassen."

"Und?"

"Er hat soeben versucht, Hangar 1 zu betreten. Und jetzt verlangt er, sie zu sprechen."

Der Kommandant schluckte. "Verbinden sie ihn mit mir."
 

"Hallo, Vater", erklang die Stimme Harmis' durch das Komgerät.

Die Stimme Harmis'. Nicht die Stimme Reis.

Shennoks Augen weiteten sich überrascht. "Bist... bist das du?" fragte er.

"Ja, Vater", war die Antwort. "Schön, deine Stimme wieder zu hören."

"Warum... wie hast du... wo ist Rei?"

"Sie ist hier bei mir, Vater. Sie weiß, daß du niemandem von ihr erzählt hast, aber sie muß dich ganz dringend sprechen. Jetzt sofort. Geht das?"

Der Kommandant schluckte. "Sicher..."

"Gut. Also, bis bald..."

"Harmis!" Es war fast ein Schrei.

"Ja, Vater?"

"Ich... ich liebe dich..."

"Ich weiß, Vater."

"Harmis..."
 

"Shennok?" erklang nun wieder die sanfte, helle Stimme Reis.

Der Kommandant atmete tief durch, um die Rührung aus seiner Stimme zu verbannen. "Was ist, Rei?" meinte er.

"Ich muß sofort hinunter auf die Erde", war die Antwort. "Aber deine Männer lassen mich nicht."

"Weil ich es ihnen befohlen habe", erklärte Shennok. "Ich werde nicht zulassen, daß du Harmis noch einmal in Gefahr bringst."

"Es muß aber sein."

"Und warum?"

"Maktiel kommt."
 

---
 

Shennok war kaum aus dem IntraTrans auf die Brücke getreten, als sich auch schon Sens-beta Karzan zu ihm umdrehte. "Kommandant", meldete er, "ein neuer Sensorenkontakt auf der Oberfläche des Planeten. Ein sehr großes Objekt bewegt sich auf das Meer zu."

"Bekommen wir es auf den Schirm?" wollte der Kommandant wissen.

Karzan nickte. "Ich vergrößere", sagte er, und auf dem Sichtschirm erschien das Bild der Erde. Als flöge man durch die Atmosphäre nach unten, kam die Oberfläche immer näher, bis der Entfernungsmesser am unteren Bildrand ,Äquivalent zu 120 m über dem Meeresspiegel' anzeigte.

Auf dem Schirm war eine riesige Eiche zu sehen, die sich langsam vorwärtsbewegte, auf ihren Wurzeln schlurfend.
 

"Ist er das?" wandte sich Shennok an den Jungen neben ihm

Rei nickte langsam. "Das ist Maktiel, der Beschützer der Bäume", sagte sie. "Wenn er das Meer erreicht, werden seine Wurzeln die Seelen trinken, die darin leben."

Lasatras Augen weiteten sich. "Harmis, was ist mit deiner..."

"Dann darf er das Meer nicht erreichen", unterbrach sie der Kommandant. "Karzan, wieviel Zeit bleibt uns noch?"

"Weniger als zwanzig Minuten."

"Chauris, können wir ihn mit dem Partikelbeschleuniger unter Feuer nehmen?"

"Könnten wir", meinte der Brückenoffizier, "aber damit würden wir auf jeden Fall auch die Erde treffen. Und das wird im Umkreis von mehreren Quadratkilometer schwerste Erdbeben auslösen. Das würde keiner der Leute unten in der Siedlung überleben!"
 

Shennok überlegte einen Moment. "Lasatra, wie schnell können wir alle am Boden evakuieren, wenn wir alle Kapseln einsetzen?"

"Fünfundvierzig Minuten", antwortete die Astro-alpha, "schnellstens in fünfunddreißig. Das reicht uns nicht aus."

"Verdammt!" Der Kommandant strich sich aufgeregt den Bart. "Andere Vorschläge?"

Harmis legte ihm wortlos eine Hand auf den Arm. "Ich muß hinunter auf den Planeten", hörte er Rei in seinem Geist sagen.
 

"Vergiß es!" fuhr ihn Shennok an und ignorierte die verwunderten Blicke der Brückenbesatzung. "Ich werde dich nicht noch mal in so eine Gefahr bringen!"

"Dann mußt du alles in die Wege leiten", erklang Reis Stimme in seinem Kopf.
 

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"Ich wäre froh", meinte Med Corian, "wenn ich mehr für ihn tun könnte, aber wir wissen noch zu wenig über den Metabolismus von Menschen. Unsere Medikamente könnten Gift für ihn sein."

Misato nickte traurig und blickte auf Shinji hinab. Um den Jungen war ein Dämpferfeld errichtet worden, das seine Gliedmaßen umgab und sie - mit sanfter Gewalt - in eine Ruhehaltung brachte. Die neumodische Variante einer Zwangsjacke, kam es der Frau in den Sinn. Ein Glück, daß die Technologie auf der Erde noch nicht so weit war; SEELE hätte bestimmt einen Weg gefunden, das hier als Folterwerkzeug zu gebrauchen.
 

"Geschieht ihm recht", meinte Asuka grimmig, wenn auch ein bißchen näselnd - weiche Pfropfen steckten in ihrer Nase, um den Blutfluß zu stoppen, und eine kleine Schiene oberhalb hielt ihr Nasenbein gerade. Der Fußtritt hatte ihr wirklich die Nase gebrochen.

"Wann wird es ihm besser gehen?" erkundigte sich Misato.

Der Arzt überlegte einen Moment. "Ich denke", sagte er, "in sechs Stunden kann ich anhand der jetzt gesammelten Daten eine Liste von Medikamenten aufgestellt haben, die der Junge verträgt. Und dann können wir ihm etwas geben, was seine Verkrampfungen im Gehirn löst und ihn beruhigen wird. Bis dahin ist aber das Dämpferfeld das sicherste. Ich weiß, es sieht entsetzlich aus, wie er sich dagegen wehrt, aber wenigstens wird er sich nichts antun."

"Gut", meinte Misato, auch wenn sie so aussah, als sei gar nichts gut. "Gibt es nicht wenigstens etwas, das wir für ihn tun können?"

"Bleiben sie in seiner Nähe", empfahl Corian. "Reden sie mit ihm; machen sie ihm klar, daß er nicht alleine ist. Vielleicht beruhigt er sich wieder, wenn er vertraute Situationen erlebt. Sie könnten zum Beispiel..."
 

In diesem Moment surrte das PersoKom des Arztes.

"Corian?"

"Shennok hier", ertönte es aus dem Gerät. "Ich höre, sie kümmern sich gerade um den Menschenjungen, der mit dem Riesen ankam?"

Der Arzt nickte. "Das ist richtig, Kommandant", gab er zurück. "Shinji hat das Bewußtsein wiedererlangt, und ich habe ihn gerade ruhiggestellt, damit er..."

"Sparen sie sich die Erklärungen", unterbrach ihn die Stimme, "wir haben keine Zeit dafür. Der Junge muß sofort zurück in den Riesen, haben sie mich verstanden?"

"Was? Aber sie..."

"Das ist ein Befehl! Schaffen sie den Jungen in diese lange Kapsel, in der er saß, und sorgen sie dafür, daß die Kapsel in den Riesen eingeführt wird. Und zwar sofort!"

Ungläubig schüttelte Corian den Kopf. "Das kann doch nicht ihr Ernst..."

"Es ist mein voller Ernst", donnerte der Kommandant ihn an. "Und jetzt los, oder sie sind für den Tod von sechs Milliarden Menschen verantwortlich!"
 

Langsam ließ der Arzt den Arm sinken, an dem sein PersoKom befestigt war. Er sah auf den Jungen, der sich im Dämpferfeld wand, und er blickte zu der Frau, die ihn mit großen Augen ansah.

"Ist ihr Kommandant eigentlich verrückt geworden?" fragte sie leise.

"Ich bin mir nicht sicher", gab Corian zurück. "Macht es für sie irgendeinen Sinn, was er gesagt hat?"

Misato nickte. "Es macht Sinn", sagte sie, "aber fragen sie lieber nicht, welchen. Shinji ist in der Lage, den Evangelion - diesen ,Riesen', wie sie ihn nennen, zu kontrollieren, und er hat in der Vergangenheit oft gegen Bedrohungen gekämpft. Aber ihn in diesem Zustand in die Zugangskapsel zu setzen... das ist Wahnsinn!"

"Haben wir denn eine andere Möglichkeit?"
 

"Was zum Teufel plappert ihr denn schon wieder?" mischte sich Asuka auf japanisch wütend in die Unterhaltung ein, da sie kein Wort verstand.

Misato blickte besorgt zu ihr hinab. "Wie es aussieht", erklärte sie, "ist wieder ein Engel im Anmarsch auf die Erde. Und Kommandant Shennok verlangt, daß wir Shinji mit EVA-01 gegen ihn kämpfen lassen."

"WAS?" Asukas Kinnlade fiel herunter. "Ist der blöd? Shinji kriegt doch nichts auf die Reihe!"

Die Frau nickte. "Ich halte es auch für keine gute Idee. Er ist gerade erst wieder bei Bewußtsein, und im Moment glaube ich nicht, daß er einen EVA unter Kontrolle halten könnte."

"Der Doofmann kann im Moment noch nicht mal sich selbst unter Kontrolle halten!" pflichtete Asuka ihr bei. "Ich würde sagen, wir pfeifen auf diesen tollen Shennok und lassen Shinji, wo er ist."

"Ich glaube aber", seufzte Misato, "wir haben gar keine andere Möglichkeit, als auf ihn zu hören.

Das Mädchen grinste. "Doch, die haben wir", meinte sie.

"Und welche?"
 

Asukas Grinsen wurde noch breiter. "ICH kämpfe gegen den Engel..."
 

Kapitel 13
 

Die Frau stand einen Moment lang überrascht da. "Du?" fragte sie. "Bist du sicher?"

"Wer außer Shinji kommt sonst noch in Frage?" gab Asuka zurück.

Kurzentschlossen nickte Misato. "In Ordnung", stimmte sie zu. "Mach, daß du zur Zugangskapsel kommst. Ich seh inzwischen zu, daß mit dem Start alles glatt läuft."

"Ja!" jubelte Asuka und rannte aus dem Raum.
 

Med Corian blickte ihr verblüfft hinterher. "Wohin will sie denn so eilig?"

"Ich hab ihr gesagt, sie soll sich in Sicherheit bringen", log Misato. "Es ist nicht ungefährlich, einen Evangelion zu starten; da kann einiges schiefgehen."

Der Arzt nickte verständnisvoll. "Dann wollen wir mal den Jungen hinüberbringen", meinte er.

"Einen Moment noch", warf die Frau ein. "Wir können den Jungen in die Zugangskapsel setzen, aber ohne Hilfsmittel bekommen wir die Kapsel niemals in den EVA. Wir brauchen einen von den Schwerkraftaufhebern, und so ein Fluganzug wäre auch praktisch."

"Einen Antigrav-Generator und einen Explora-Suit, meinen sie."
 

"Wie die Dinger auch immer heißen", gab Misato zurück, wobei sie sich innerlich halb tot lachte, da sie die richtigen Namen natürlich von Raimor kannte. "Können sie die schnell besorgen? Ich hab keine Ahnung, wen ich da fragen muß; ich könnte Shinji inzwischen in die Kapsel bringen."

Corian nickte. "Einverstanden", meinte er. "Aber brauchen sie mit dem Jungen nicht Hilfe?"

"Ich werd es schon schaffen", sagte die Frau.

Der Arzt nickte noch einmal. "Gut, bis gleich dann", antwortete er, dann wandte er sich ab und eilte fort.
 

"Tut mir schrecklich leid, Shinji", meinte Misato, kaum daß er außer Hörweite war, dann zog sie eine Decke von einem der Betten und breitete sie über dem unbeweglichen Körper des Jungen aus, daß er vollkommen verdeckt wurde. Dann streifte sie ihren Overall ab, öffnete den großen Schrank des Krankenzimmers und griff nach dem ExploraSuit Raimors, den der Exobiologe hier vor einigen Tagen abgelegt hatte.
 

---
 

"Bist du sicher, daß alles gut ablaufen wird?" fragte Shennok Rei, nachdem er sich mit ihr in sein Büro zurückgezogen hatte.

"Das tut es immer", antwortete Rei.

Der Kommandant blickte das Wesen im Körper seines Sohnes durchdringend an. "Wie kannst du so sicher sein?" fragte er. "Dieser Shinji hat gerade erst ein gewaltiges Trauma hinter sich. Was, wenn er den Engel nicht aufhalten kann?"

Rei blinzelte. "Das Schicksal wird sich erfüllen", sagte sie, "und Ikari ist ein Teil davon. Darum muß auch er an seinem Platz sein."
 

"Wenn du dich da mal nicht irrst", seufzte Shennok.

"Niemals", antwortete Rei.
 

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Als Corian schwer atmend mit einem Antigrav-Generator und an der Seite eines Technikers auf den großen Platz lief, wo EVA-01 in sich zusammengesunken dasaß, war er höchst verblüfft, bereits jemanden in einem ExploraSuit durch die Luft fliegen zu sehen, der dabei die recht große Zugangskapsel ziemlich geschickt vor sich her bugsierte. An der Seite war bereits ein Antigrav-Generator befestigt.
 

Noch verblüffter war er, als er sah, daß die Person im Explora-Suit Misato war.

"Was, bei allen Galaxien, tun sie hier?" rief er zu ihr hoch.

Die Frau winkte ihm kurz zu und manövrierte dann die Zugangskapsel in den dafür vorgesehenen Platz am EVA. Nachdem die Kapsel eingedrungen war, schwebte sie zum Generator, löste die Magnetverankerung und flog danach mit dem großen Gerät zurück zum Boden. In der Zwischenzeit glitt die Zugangskapsel mit metallischem Klicken in den Evangelion.
 

"Entschuldigen sie bitte", meinte Misato, als sie gelandet war und den Helm abgenommen hatte, "aber ich dachte, es wäre das beste, so schnell wie möglich mit der Arbeit anzufangen. Tut mir leid, daß ich nicht auf sie gewartet habe."

Der Arzt schüttelte verständnislos den Kopf. "Woher hatten sie die Ausrüstung?" wollte er wissen.

"Der Antigrav-Generator war noch an der Kapsel", meinte Misato, "anscheinend hat ihn seit dem letzten Mal niemand abmontiert." Das war sogar die Wahrheit, auch wenn die Frau dabei verschwieg, daß sie genau gewußt hatte, daß der Generator noch dagewesen war. "Und was den ExploraSuit angeht", fuhr sie fort, "ich habe zufällig in einem Schrank einen gefunden."
 

"Woher wußten sie, wie man damit um..." wollte Corian weiter fragen, als EVA-01 sich plötzlich aufzurichten begann.
 

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"Nur ruhig", murmelte Asuka, als die Zugangskapsel in den EVA eindrang und das LCL in die Kapsel zu fließen begann. Sie atmete es ein und wunderte sich über den eigentümlichen Geruch, den es an sich hatte - EVA-02 war ganz anders gewesen. Aber dann verbannte sie den Gedanken aus ihrem Kopf und konzentrierte sich auf die Synchronisation. Es war das erste Mal, daß sie so etwas ohne Plugsuit versuchte, und es fiel ihr erschreckend schwer.

"In Ordnung", wisperte sie zu dem Evangelion, "du magst mich nicht, und ich mag dich auch nicht. Aber jetzt müssen wir zusammenarbeiten. Ein Engel kommt, und nur wir beide können ihn aufhalten."

Keine Reaktion kam.
 

"Verdammt", fluchte Asuka und riß an den funktionslosen Kontrollen. "Beweg dich schon! Ich weiß, du kennst mich nicht, aber du kannst mir vertrauen!"

Keine Reaktion.

"Jetzt sei nicht so wählerisch!" schimpfte das Mädchen. "Du hast dich auch schon von dem Roboter lenken lassen; jetzt mach mal für mich eine Ausnahme! Oder willst du, daß sie diesen Idioten Shinji wieder in dich hineinsetzen und er vollends durchdre..."

In diesem Moment schloß sich die Verbindung zwischen ihrer Seele und der des EVAs, und während die internen Systeme des Giganten hochfuhren, glaubte Asuka, für einen kurzen Moment ein ihr bekanntes Gesicht vor sich zu sehen...

"...Rei...?"
 

Aber der Moment verging, und nichts weiter geschah.

"Muß mich wohl geirrt haben", murmelte Asuka zu sich selbst, während sie den EVA aufstehen ließ.
 

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Misato trat vorsichtshalber gleich mehr als nur ein paar Schritte zurück, während sich das riesenhafte Wesen neben ihr erhob, und der Arzt und der Techniker taten es ihr unwillkürlich gleich. Sie wußten zwar im Gegensatz zur Frau nichts von den gelegentlichen Berserkergängen des Evangelions, aber alleine der Anblick des Giganten war genug, um ihnen Ehrfurcht, ja sogar Angst einzuflößen.
 

Langsam drehte EVA-01 den Kopf hin- und her, schien sich suchend umzusehen, und dann setzte er sich langsam und vorsichtig in Bewegung, stieg über die Gebäude der Siedlung hinweg und wurde erst schneller, als er schon ein Stück entfernt war.

Misato atmete auf und wollte sich unauffällig davonstehlen, ehe noch mehr Fragen kamen, doch in diesem Moment ertönte ein markerschütternder Schrei durch das ganze Basislager.

Shinjis Schrei.
 

Misato tat ihr Bestes, um ebenso verblüfft zu wirken wie der Arzt und der Techniker, die neben ihr standen.
 

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Asuka war wieder ganz in ihrem Element. EVA-01 flog förmlich über die Oberfläche der fast urtümlichen Erde, mit Kurs auf das tonnenschwere Ding, welches auf den Anzeigen als ,Muster Blau' angezeigt wurde.

Es war ein Gefühl von unglaublicher Freiheit, wie es das Mädchen nie erlebt hatte.

Damals, als sie EVA-02 gesteuert hatte, war ihr immer bewußt gewesen, daß sie auf ihr Umbilikalkabel achten mußte. Sie durfte sich nicht zu weit von der Basisstation entfernen, und wenn es ausgeklinkt wurde, hatte sie noch höchstens fünf Minuten, um ihren Auftrag zu Ende zu bringen. Doch jetzt, wo sich das S2-Organ im Evangelion befand, gab es keine solchen Beschränkungen mehr, und Asuka wußte es. Nein, mehr als das: Sie war sich mit jeder Faser ihres Wesens bewußt, daß sie FREI von solchen Einschränkungen war.

Es war ein großartiges Gefühl.
 

Fast hätte sie über ihr Entzücken hinweg vergessen, weshalb sie eigentlich unterwegs war, und ihr Ziel lag nur noch 500 Meter voraus, als sie es endlich bemerkte.

"DAS ist ein Engel?" wunderte sich das Mädchen, als sie den Baumriesen vor sich bemerkte. Sicher, er bewegte sich langsam und stetig, aber er sah aus wie... eben wie ein Baum. Ein großer, mächtiger Baum, sicherlich, aber letzten Endes doch nur ein Baum.

Asuka schüttelte den Kopf. "Bin ich jetzt ein Holzfäller?" meinte sie zu sich selbst und aktivierte das ProgMesser im Schulterhalfter des EVAs. Mit einem schnellen Griff hatte es der Evangelion herausgezogen und ausgefahren. Etwas enttäuscht blickte das Mädchen auf die Länge der Waffe - ihr eigenes in EVA-02 war immer länger gewesen. Nun gut, dann mußte es eben so gehen...
 

In diesem Moment schossen aus dem Boden mit ungeheurer Geschwindigkeit große, mannsdicke Wurzeln und wickelten sich um die Beine des Evangelions.

Der Gigant kippte vornüber und schlug mit einem gewaltigen Krachen auf dem Boden auf. Asuka schrie erschrocken, ließ den Riesen herumfahren und hieb mit dem ProgMesser nach den Wurzelranken, die ihn zu Fall gebracht hatte. Das vibrierende Metall schnitt fast widerstandslos durch das Holz und befreite den EVA aus der Umklammerung.
 

Das Mädchen wollte ihre Kampfmaschine eben wieder auf die Beine bringen, als sie sah, wie vor ihr aus dem Boden unzählige weitere Wurzeln drangen und auf sie zuschossen. Wild hackte sie mit dem ProgMesser auf die Gewächse ein, doch von immer mehr Seiten kamen neue auf sie zu. Schon war einer dabei, sich um den Arm des EVAs zu wickeln, und sie schnitt sich gerade noch frei, aber auf lange Sicht mußte sie unterliegen.

Also sprang sie.

Mit einem gewaltigen Satz erhob sich EVA-01 vom Boden und flog förmlich auf den Engel im Baumgestalt zu. Der Gigant landete mit dem Krachen berstenden Holzes in der Baumkrone des Wesens, und Asuka begann sofort, die Äste mit dem ProgMesser zurechtzustutzen.
 

Mit einem triumphierenden Schrei hieb sie immer wieder auf das zuckende Holz ein und freute sich grimmig, als das Harz spritzte. Zwar schien der Engel davon nicht übermäßig beeindruckt zu sein, aber das störte das Mädchen im Moment nicht sonderlich. Dieses Ding würde schon noch merken, was es hieß, sich mit ihr anzulegen und ihr ein Bein stellen zu wollen. Um ein Haar hätte sie sich dabei die Nase in der Kapsel angeschlagen - die immer noch geschiente Nase! Das würde sie ihm heimzahlen!

Sie war so im Kampfrausch, daß sie nicht bemerkte, wie sich die Wurzeln des Engels streckten und langsam unter die Panzerung des Evangelions drangen.
 

Als Asuka den plötzlichen Schmerz in ihrer Bauchgegend spürte, war es schon fast zu spät: Der Engel hatte es geschafft, eine der massiven Platten am Unterleib von EVA-01 beiseitezuschieben und zwei seiner Wurzeln in den Giganten zu rammen. Jetzt war er dabei, ihm langsam den Bauch aufzureißen.

Das Mädchen versuchte, sich loszureißen und mit ihrem ProgMesser an die Wurzeln zu kommen, aber dabei verfing sie sich mit ihrem Arm im Astwerk des Baumes. Nur eine ihrer Hände bekam sie an die Wurzeln; die rechte mit der Waffe blieb hilflos oben verfangen. Sie versuchte, das massive Holz zu zerquetschen oder sich selbst herauszuzerre, aber ohne Erfolg: Die Wurzel bohrte sich immer tiefer in den Leib des EVAs, und eine zweite Wurzel drückte von hinten gegen sie und hielt sie so fest.
 

Da merkte Asuka, daß sie nur noch eine Chance hatte.

Und anstelle sich von dem Engel wegzudrücken, zog sie sich mit einem festen Ruck näher heran.

Das Holz der Wurzel durchbohrte den Körper des Evangelions am Bauch vollständig und kam auf der Rückseite wieder heraus; Blut schoß aus der Wunde hervor. Zugleich rutschte der Gigant tiefer herunter, und sein Oberkörper kam aus der Krone frei.

Mit letzter Kraftanstrengung biß das Mädchen die Zähne zusammen, ignorierte den entsetzlichen Schmerz in ihrem Bauch und ließ ihr ProgMesser in weitem Schwung auf den Baum herabsausen.
 

Das Holz wurde von den Überresten der Krone bis nach unten zu den Wurzeln gespalten.

Und Maktiel starb.
 

---
 

An Bord der ,Vagabund' keuchte Rei überrascht auf.

"Was ist los?" meinte Shennok besorgt.

"Etwas... ist passiert..." war die Antwort.
 

Kapitel 14
 

"Das", meinte Shennok, "war das Dümmste, was sie hätten tun können."

Misato wand sich und zerrte an den Energiefesseln, die ihre Hände hinter ihrem Rücken zusammenhielten, aber ohne Erfolg.
 

"Wenigstens war ich nicht so herzlos", fauchte sie zurück, "einen kranken, verängstigten Jungen in den Kampf mit einem Engel zu schicken!"

Der Kommandant schnaubte abfällig. "Nachdem der ,kranke Junge' bereits eindrucksvoll demonstriert hat, daß er durchaus in der Lage ist, mit Engeln fertigzuwerden?" Er verschränkte die Arme vor der Brust. "Was für ein Offizier wäre ich, wenn ich nicht erkennen würde, wo unsere besten Chancen im Kampf liegen?

"Was für ein Mensch sind sie", schnappte Misato zurück, "um derartige Befehle zu geben?"
 

Shennoks Augen wurden schmal. "Ich bin kein Mensch", sagte er kalt, "ich bin ein Rhoani. Und ich habe eine Verantwortung gegenüber meinem eigenen Volk, genau wie ich eine Verantwortung gegenüber ihrem habe. Ich muß alle vor Schaden bewahren; mit den sichersten Mitteln, die mir zur Verfügung stehen. Aber sie machen einem das sehr schwer. Wie soll ich ihnen denn jetzt noch vertrauen können?"

"Vertrauen?!" Misato fiel vor Empörung die Kinnlade herunter. "Sie wollen Shinji in einen EVA packen und reden von Vertrauen? Wie, bitte, soll noch irgend ein Mensch IHNEN und ihrem Volk vertrauen?"
 

"Etwas mehr Dankbarkeit wäre wohl angebracht", gab der Kommandant zurück. "Wir sind gerade dabei, für sie ihren ganzen Planeten wieder aufzubauen und ihrem Volk das Überleben zu sichern. Und das werden wir mir unseren Mitteln tun."

Die Frau funkelte ihn aus zornigen Augen an. "Und was für Mittel werden sie noch einsetzen?" zischte sie. "Fangen sie demnächst auch noch an, unsere Kinder zu klonen und gegen die Engel zu schicken?"

Shennok fuhr fast unmerklich zusammen, faßte sich aber sogleich wieder. "Ich sehe", meinte er, "diese Unterhaltung führt uns nicht weiter. Bis auf weiteres bleiben sie hier unter Arrest. Das Mädchen, das sie angestiftet haben, wird sich weiter frei bewegen können, aber ihr wird untersagt, sich mit ihnen zu treffen."
 

"Und was haben sie mit Shinji vor?" wollte Misato wissen.

Der Kommandant schwieg einen Moment. "Ich wünschte", sagte er, "es gäbe eine andere Möglichkeit, aber wir mußten ihn auf die ,Vagabund' bringen, um herauszufinden, warum er immer wieder Anfälle hat. Wir werden ihn genauestens untersuchen. Ich hoffe darauf, daß wir bald eine Heilung für ihn finden."

"Damit er endlich wieder für sie kämpfen kann, oder?" Die Stimme der Frau war voller Haß.
 

Shennok wandte sich wortlos um, ging hinaus und ließ sie in der Arrestbaracke zurück.
 

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Mit leisem Summen glitt der Verschluß des Zuchtbehälters auf, und auf einer metallenen Liege fuhr ein weiblicher Körper hinaus. Er war nicht besonders groß, eher zierlich, und mehrere Schläuche und Kabel waren an ihn angeschlossen und hielten seine Lebensfunktionen aufrecht. Der Brustkorb des Körpers hob und senkte sich, die Anzeige für den Herzschlag pulsierte langsam und regelmäßig, aber der Gehirnwellenmonitor war schwarz. Kein Anzeichen für irgendeine Aktivität.
 

Med-alpha Tyrrin ließ ihren Blick sorgenvoll über das leblose Wesen auf dem Tisch gleiten. An sich hatte sie alles richtig gemacht. Aus den Biodaten, die das exobiologische Team aus dem seltsamen Meer extrahiert hatte, waren alle Informationen über menschliche Strukturen gewonnen worden. Mit diesen Informationen hatte sie einen Körper nachgebaut, ganz nach den Spezifikationen, die ihr der Kommandant gegeben hatte. Trotz allem war ihr, als ob etwas mit dem Ergebnis nicht stimmte.

Als ob hellblaues Haar nicht zur menschlichen Spezies gehörte.
 

Mit einem Kopfschütteln wischte die Ärztin ihre Zweifel weg. Wahrscheinlich lag das nur daran, beruhigte sie sich selbst, daß sie kein Etherium bei der Proteinkatalyse verwendet hatte. Ihre einzige Erfahrung beim Züchten von Lebewesen kam von Harmis, und da war der Entwicklungsvorgang durch das Seelenelement beeinflußt worden. Außerdem hatte sie damals ein Kind von dreihundertfünfzig Tagen konstruiert und keins von fünfzehn Jahren.

Irrelevant. Ihre Arbeit war jetzt jedenfalls vollbracht.
 

Kurzentschlossen hob sie ihr PersoKom und stellte eine Verbindung her.

"Brücke?"

"Hier Med-alpha Tyrrin", meldete sich sich. "Richten sie dem Kommandanten aus, sein Projekt wäre abgeschlossen."
 

---
 

Erschrocken schlug Shinji die Augen auf.
 

Einen kurzen Moment lang hörte und sah er nur Chaos, aber dann klärten sich seine Sinne: Wärme umfing ihn, und im Hintergrund war ständig ein leises, dumpfes Röhren zu hören, als ob in weiter Entfernung schwere Maschinen arbeiteten. Er lag anscheinend auf einem einfachen Bett; grüne Laken bedeckten seinen Körper, und etwas, das kühl pulsierte, war an seinem Arm befestigt worden.

Seine Augen richteten sich nach vorne.

"Eine fremde Zimmerdecke", dachte er, während er das dunkle Metall betrachtete.
 

Langsam setzte der Junge sich auf und sah sich um. Er befand sich in einem kleinen Raum, vielleicht drei mal zwei Meter groß, dessen Wände ebenso wie die Decke aus Metall waren. Eine pastellblaue Tür war in die Wand zu seiner Linken eingesetzt, aber außer ihr und den grünen Laken gab es keine Farben im Zimmer, ebensowenig wie Mobiliar außer dem Bett.

Er zog den linken Arm unter der Decke hervor und begutachtete das Gerät, was an seinem Handgelenk pulsierte. Es war ein weißer Kasten, der es völlig umschloß und auf der Oberseite ein kleines, grünes Fenster hatte, in dem seltsame Zeichen hin- und herhuschten. Shinji verstand nicht, was es bedeutete, aber er spürte, daß das Pulsieren im selben Rhythmus wie sein Herzschlag erfolgte. Wahrscheinlich hochentwickelte Medizintechnologie.
 

"SEELE, ganz sicher", kam es ihm in den Sinn.

Mit einem Seufzen sank er wieder zurück in die Laken. Jetzt hatte ihn also dieses komische SEELE-Komitee gefangengenommen. Hatten sie NERV also überrennen können? Was sollte es, für ihn spielte es keine Rolle.
 

Irgendwann würde diese Tür aufgehen, und jemand würde ihn wieder in EVA-01 setzen.
 

---
 

Mit einem Druck auf den ,Analyse'-Knopf des Bioscanners schloß Med Corian seine Vorbereitungen für die Testreihe ab. Jetzt, wo der Junge auf dem Schiff war, hatte man endlich einmal alle Daten sammeln können, die für eine wissenschaftliche Beurteilung dieser ,Menschen' notwendig waren. Das würde nicht nur wertvolle Erkenntnisse über ihre Leistungsfähigkeit liefern, vor allem würde es ihm sagen, mit welchen Substanzen man einen menschlichen Körper medizinisch behandeln konnte.
 

Allerdings brauchte ein derart umfassender Bioscan seine Zeit. Vier bis sechs Stunden nahm es normalerweise in Anspruch, um alle biochemischen Vorgänge in den Vitalfunktionen zu erfassen und mit bereits gesammelten Daten zu vergleichen. Die Sensortechnik an Bord der ,Vagabund' war äußerst hochentwickelt, aber bei einem vollkommen fremden Organismus, der sich irgendwo auf einem Planeten entwickelt hatte, wurde sie schon bis zur Grenze ausgelastet.
 

Der Arzt wollte soeben das Labor verlassen und endlich einen Happen essen gehen, als ein Signalton vom Bioscanner ertönte.

Überrascht drehte sich Corian um und ging noch einmal zurück. Eine Fehlfunktion? Hatte er eine Probe unsauber vorbereitet? Oder hatte der Analysealgorithmus unlösbare Probleme bei der Verarbeitung der Daten entdeckt?

Das Gegenteil war der Fall.

Die Analyse war bereits beendet.
 

Ungläubig starrte der junge Rhoani auf die Anzeigen und las die Daten, die dort ausgegeben worden waren. Er schüttelte den Kopf, rief die zweite Seite der Analyse auf, und als er beim Endresultat angekommen war, war seine Verwirrung vollständig: Das MUSSTE einfach ein Fehler sein!

Er überprüfte noch einmal die Justierung des Bioscanners, sah nach, ob er alle Probenbehälter auch richtig verschlossen hatte. Als er keine Fehler entdeckte, startete er den Scan erneut.

Mit dem selben Ergebnis.
 

Hastig hob er sein PersoKom und wollte eine Verbindung zur Med-alpha herstellen, doch ein blaues Licht als Reaktion zeigte ihm an, daß sie beschäftigt war und ihr PersoKom daher für Anfragen von Untergebenen gesperrt war. Er hätte eine Nachricht hinterlassen können, aber dieses Ergebnis mußte sie auf dem schnellsten Weg erreichen. Es gab keine Sekunde mehr zu verlieren.
 

Med Corian hetzte aus dem Labor und in Richtung des IntraTrans.
 

Im Labor zurück blieb der Bioscanner, auf dessen Monitor neben vielen medizinischen Daten auch einige Worte im Klartext standen:

"Analyse beendet", war zu lesen. "Ergebnis: Testsubjekt ist ein männlicher jugendlicher Rhoani."
 

---
 

Langsam, fast ehrfürchtig, trat Shennok auf den Körper zu, der auf der metallenen Platte lag. Ein Schaudern glitt über seinen Rücken; im Geist hatte er Reis frühere Gestalt schon einmal gesehen, als sie seine Seele berührt hatte. Der Anblick des realen Körpers löste in ihm ein unangenehmes Deja-Vu aus - die Übereinstimmung war wirklich perfekt.

Neben ihm trat Rei in Harmis' Körper langsam näher und ließ ihren Blick unbewegt über die seelenlose Hülle gleiten. Wenn etwas in ihr vorging, dann war es unmöglich festzustellen. Ruhig hob sie den Arm und streckte ihre Hand nach dem weiblichen Wesen aus.

"Einen Moment noch", unterbrach sie Med-alpha Tyrrin.
 

"Was ist denn?" wollte der Kommandant wissen.

Die Ärztin kniff die Lippen zusammen. "Ich denke", meinte sie, "wir sollten noch weitere Tests unternehmen, ehe wir dieses... Projekt zu Ende führen. Es ist abseits jeder unserer Erfahrungen, was dabei passieren könnte."

"Unfug", fuhr ihr Shennok über den Mund, "bisher ist doch alles völlig nach Plan verlaufen! Sehen sie sich doch nur den Körper an: ohne jede äußere Beeinflussung ist er exakt zu der Form gewachsen, die Rei vorhergesagt hatte! Sie haben das Projekt doch ständig eigenhändig überwacht. Sagen sie selbst: ist dieses gezüchtete Wesen dazu in der Lage, uns gefährlich zu werden?"
 

Tyrrin schüttelte unsicher den Kopf. "Aber ihr Geist..." warf sie ein.

"Kann uns auch nichts antun", wischte der Kommandant ihre Zweifel beiseite, "ganz davon abgesehen, daß Rei uns überhaupt nichts antun will! Sie lebt jetzt schon seit Tagen im Körper meines Sohnes und hat nie auch nur ein Anzeichen dafür gegeben, daß sie uns feindselig gesonnen ist. Sie will nur wieder einen eigenen Körper, und dazu können wir ihr verhelfen."

"Warum sollte sie das wollen" warf die Ärztin ein, "wenn sie den ihres Sohnes haben kann?"
 

Shennok blinzelte einen Moment lang verwirrt, dann faßte er sich wieder. "Reden sie keinen Unsinn", fuhr er Tyrrin an, "das Projekt steht kurz vor der Vollendung. Und solange sie außer vagen Befürchtungen keine Einwände wissenschaftlicher Natur haben, würde ich sagen, sie stehen ihm nicht im Wege. Rei, du kannst jetzt anfangen."

Das Mädchen im Körper des Jungen hob wieder die Hand und bewegte sie langsam, fast zärtlich, auf das Gesicht der Hülle zu, die wie eine ihrer früheren Daseinsformen aussah. Sanft berührte sie sie an der Wange, strich vorsichtig darüber und beugte sich schließlich ganz über den Körper, um ihn auch noch mit den anderen Hand zu berühren.
 

Das Mädchen auf der Metallplatte zuckte plötzlich auf, und der Gehirnwellenmonitor gab ein Warnsignal von sich, als er plötzlich wieder Impulse empfing. Die Anzeige für den Herzschlag beschleunigte sich, und der bis eben noch fast leblose Körper saugte mit einem tiefen Atemzug Luft ein.

Harmis brach bewußtlos über Rei zusammen, und sofort war Shennok bei ihn, nahm ihn beschützend in die Arme und zog ihn eng an sich. Tyrrin trat näher an die metallene Liege heran und wollte mit einem Handscanner zusätzliche Daten nehmen.
 

In diesem Moment schlug das Mädchen ihre roten Augen auf und sah sich mit zwei schnellen Blicken nach links und nach rechts um. Ihr Blick blieb auf Harmis hängen, der in den Armen seines Vaters lag und völlig reglos schien. Dann sah sie sich nach der anderen Seite um, wo die Med-alpha kurz innegehalten hatte, aber sich ihr jetzt wieder näherte.
 

Rei schloß die Augen wieder, wurde durchsichtig und verschwand.

Tyrrin bekam den Mund nicht mehr zu.
 

In diesem Moment öffnete sie die Tür von Medlabor II und Corian stand darin.
 

Kapitel 15
 

"Unmöglich!"

Tyrrin schüttelte den Kopf derart heftig, daß sich eine silberne Haarsträhne aus ihrer streng zurückgekämmten Frisur löste. "Ich weiß nicht, woher sie ihre Daten haben, Corian", meinte sie erregt, "aber das KANN einfach nicht stimmen! Menschen und Rhoani sind nicht identisch! Ich habe erst vor kurzem einen menschlichen Körper herangezüchtet..."

"...zu Forschungszwecken!" warf Shennok eilig ein und bedachte Tyrrin mit einem warnenden Blick.

Die Med-alpha nickte eilig. "...zu Forschungszwecken, natürlich", fuhr sie fort. "Und jedenfalls, ich hatte dabei eine gute Gelegenheit, mir die Genstruktur anzusehen. Die Übereinstimmung zwischen Mensch und Rhoani ist recht groß, aber beide sind unzweifelhaft unterschiedliche Spezies."
 

"Dann sehen sie doch selbst!" gab Med Corian zurück und rief über das interne Datennetz der ,Vagabund' die Scanergebnisse auf.

Während Tyrrin die Daten begutachtete, beugte sich der junge Arzt neben ihr über den Anzeigeschirm. "Ich habe den gesamten Versuchsaufbau noch einmal kontrolliert", sagte er, "nachdem ich das erste mal diese Ergebnisse hatte. Aber ich habe keine Fehler entdecken können, und der Bioscanner ist auch richtig justiert."

"Bei allen Galaxien", flüsterte die Med-alpha und sah sich langsam zu Shennok um, der mit einem verständnislosen Ausdruck auf dem Gesicht dastand. "Er hat recht. Kommandant, er hat recht!"
 

Shennok hob hilfesuchend die Arme. "Und was bedeutet das jetzt?"

"Das bedeutet", antwortete Tyrrin, "daß Menschen und Rhoani ein Volk sind. Ich habe keine Ahnung, WARUM das so ist, aber ich kann es nicht mehr bezweifeln."

Der Kommandant verzog nachdenklich das Gesicht, und Unverständnis spiegelte sich darin. "Aber was ist mit ihren abgerundeten Ohren?" wollte er wissen. "Und ihre seltsamen Haarfarben... dieses ,blond' zum Beispiel? Kein Rhoani hatte jemals ,blondes' Haar."

"Eine Variation innerhalb der Spezies", erklärte die Ärztin. "Eine Variation, die auf Rhoan nie entstanden ist, sicherlich, aber solche Mutationen sind im Rahmen unseres Volkes ohne weiteres denkbar. Vielleicht waren sie Teil der besonderen Überlebensstrategie auf der Erde - sie wissen ja, Fortentwicklung durch natürliche Auslese."

"Hm..."
 

Nachdenklich blickte Tyrrin zu Boden. "Aber leider", fügte sie schließlich hinzu, "erklärt das nicht die größte Frage, die ich mir jetzt stelle."

"Und die wäre?" erkundigte sich der Kommandant.

"Wenn Menschen und Rhoani ein Volk sind", meinte die Ärztin besorgt, "was für ein Wesen habe ich dann herangezüchtet?"
 

In diesem Moment schlug Harmis die Augen auf.
 

---
 

Shinji erwachte von einem leise zischenden Geräusch, als sich die Tür seines Zimmers öffnete. Müde öffnete er die Augen und wandte den Kopf zur Seite, doch niemand betrat den Raum. Verwirrt wartete er einen Moment, doch die Tür schloß sich wieder, und nichts weiter geschah.

Der Junge sah noch einen Moment länger hin, doch als sich nichts regte, ließ er sich wieder in die Laken zurückfallen. Hoffentlich kam bald jemand, um nach ihm zu sehen.

Da hörte er es plötzlich in seinem Bett rascheln.
 

Überrascht blickte Shinji auf, und da sah er, wie sich die Decke, unter der er lag, plötzlich wie von selbst hob. Etwas schien sich unter sie zu schieben... nein, unter ihr zu entstehen, und vor seinen Augen zog sich eine Art Nebel um das Bett zusammen, verdichtete sich immer weiter und verschwand schließlich unter der Decke, die sich inzwischen völlig von seinem Körper abgehoben hatte.

Und dann schlüpfte unter der Decke ein Kopf hervor, den der Junge nur zu gut kannte.
 

"A...a...a..."

"Hallo, Ikari-kun."

"Ayanami?!"
 

Das plötzliche Erscheinen des Mädchens brachte Shinji derart aus der Fassung, daß er kein weiteres Wort herausbrachte. Statt dessen blickte er einfach nur sprachlos in die roten Augen des Mädchens und verstand nicht im Geringsten, was hier vorging. Es war der Schock des plötzlichen Wiedersehens, das ihm die Sprache raubte, vielleicht auch die Art und Weise, wie das Mädchen auf einmal unter seiner Bettdecke aufgetaucht war.

Es hatte möglicherweise auch etwas damit zu tun, daß Rei vollkommen nackt war.
 

Die roten Augen des Mädchens blickten unverwandt in die dunklen Shinjis. "Ikari, wir müssen reden", sagte sie leise und ohne ein Anzeichen einer Gefühlsregung.

"Wa... wo... was wi..." stotterte der Junge.

"Du mußt dich daran erinnern", drängte sie ihn, "was deine Aufgabe ist, Ikari. Du mußt deinen Platz einnehmen, oder das Schicksal der Menschheit wird sich nicht erfüllen!"

Shinji schluckte. "Das... das Schicksal der Menschheit?" wollte er wissen. "Aber... aber ich dachte, alle Engel wären tot! Kaworu war doch der letzte..." Die Erinnerung an den Engel, der ihn einen Freund genannt hatte, stieg wieder in ihm auf und raubte ihm die Worte.
 

"Das war einmal deine Aufgabe", erklärte Rei. "Du hast die Engel bekämpft, die sich mit Adam vereinen wollten. Aber nun steht dir eine neue bevor. Erinnerst du dich nicht mehr, was mit der Welt geschehen ist?"

Der Junge schüttelte den Kopf. "Ich... ich weiß nicht", antwortete er. "Das letzte, was ich noch weiß, ist daß wir... daß NERV von Soldaten angegriffen wurden."

"Und danach?" fragte das Mädchen.

"Danach... danach hat mich Misato mit sich gezogen und zu EVA-01 gebracht."

"Und danach?"

"Danach..." Langsam kehrten die Bilder in seinen Kopf zurück. "Danach bin ich eingestiegen und nach oben gefahren."

"Und dann?"

"Habe ich oben... mein Gott..."
 

Shinji stockte, als in seiner Erinnerung das Bild EVA-02s auftauchte, der zerfetzt und zerrissen am Boden lag.

"Und dann?" bohrte Rei weiter.

"Dann..."
 

In diesem Moment öffnete sich die Zimmertür erneut mit einem Zischen, und augenblicklich wurde das Mädchen durchscheinend und verschwand wie ein Atemhauch im Wind. Die Bettdecke fiel auf Shinjis Körper zurück.

Ins Zimmer trat ein Mann mittleren Alters, der lange, zur Seite spitz zulaufende Ohren und sorgfältig gescheiteltes, tiefviolettes Haar mit weißen Strähnen hatte.

"Hallo, Shinji", begrüßte er ihn.

Der Junge bekam den Mund nicht mehr zu.
 

---
 

"Sie hat WAS mit dir gemacht?" keuchte Shennok.

Harmis war den Tränen nahe, während er sich eng an seinen Vater kuschelte. "Sie.. sie hat mich in meinem eigenen Körper eingesperrt", schluchzte er. "Ich habe immer wieder versucht, etwas zu tun, Vater, aber ich konnte nicht. Nur einmal, da hat sie mich kurz mit dir reden lassen..."

"Diese Bestie..."

Der Kommandant hielt seinen Sohn fest an sich gedrückt. "Es ist vorbei", meinte er beruhigend, "alles ist jetzt vorbei. Diese Rei ist jetzt fort und kann dir nichts mehr tun."

Harmis blickte verzweifelt auf. "Aber Vater", meinte er, "es ist eben noch nicht vorbei!"
 

Shennok löste seine Arme und blickte verständnislos auf seinen Sohn hinab. "Wie meinst du das?" wollte er wissen.

"Rei hat jetzt einen Körper", erklärte er, "den sie vollkommen beherrschen kann. Und das heißt, daß sie jetzt wieder alle ihre Fähigkeiten."

"Fähigkeiten?"

Der Junge nickte. "Sie hat eine unglaublich starke Seele", sagte er. "Alleine durch ihren Willen hat sie mich aus meinem eigenen Körper ausgesperrt, und sie kann das Licht ihrer Seele benutzen, um sich selbst zu schützen. Vielleicht kann sie sogar ihren Körper in andere Gestalten bringen; zum Beispiel ihn verflüssigen wie die Menschen im Meer..."
 

"...oder ihn gasförmig machen!" erkannte Med-alpha Tyrrin. "Das ist also vorhin geschehen - sie ist gar nicht verschwunden! Sie ist einfach nur gasförmig geworden!"

Der Kommandant blickte von der Ärztin zu seinem Sohn zurück. "Aber warum das alles?" wollte er wissen. "Warum tut sie solche Dinge?"

"Sie ist die Wächterin der Seelen aller Menschen", erklärte Harmis. "Sie hat mir alles erzählt: ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, daß die Menschheit in ewigem Frieden weiterexistieren kann. Als die Menschen noch ihre Körper hatten, haben sie sich selbst in unzähligen Kriegen immer wieder selbst dezimiert. Das große Meer sollte ihnen eine Chance geben, durch den Kontakt miteinander ihre Konflikte zu überwinden. Aber statt dessen haben die Menschen es einfach nur ausgenutzt, daß sie in ihrem neuen Daseinszustand ohne Bedürfnisse, ohne Verlangen, ohne Probleme leben konnten. Sie haben sich nicht verändert, damit sie eines Tages wieder Körper haben konnten. Sie haben einfach auf ihre Körper verzichtet."
 

"Und wir haben diese Körper versehentlich zurückgeholt", verstand Shennok. "Und nun besteht die Gefahr, daß die Menschen, unverändert wie sie sind, wieder in ihr kriegerisches Gehabe zurückfallen. Aber was will Rei dagegen tun?"

Der Junge blickte ihn ernst an. "Sie hat die Engel gerufen", sagte er, "um die Seelen der Menschheit ins Jenseits zu holen."

"WAS?"

Harmis nickte. "Das mit den Engeln, das war sie", bestätigte er. "Im Jenseits gibt es keinen Krieg und keine Konflikte mehr. Die Menschheit hätte ihren ewigen Frieden."

"Im Tod", fügte der Kommandant hinzu. "Und ich habe ihr vertraut und dachte, sie wollte ebenfalls den Engeln entgegentreten! Die Sterne mögen wissen, was passiert wäre, wenn wir den Jungen wieder in diesen Riesen gesetzt hätten..."
 

"Und das ist noch nicht mal das größte Problem, das wir haben", ließ sich nun wieder Med-alpha Tyrrin vernehmen. Sie war sehr blaß geworden.

"Wie meinen sie das?" wollte Shennok wissen.

Die Ärztin blickte zu Boden. "Die Engel sind gekommen", sagte sie, "um die Seelen der Menschen ins Jenseits zu führen, richtig?"

"Richtig. Und weiter?"

"Nach allem, was wir wissen", sagte sie, "sind wir Rhoani auch Menschen..."
 

---
 

"Wa... wer sind sie?!" wollte Shinji wissen.

Der Fremde mit den seltsamen Ohren lächelte und trat näher. "Mein Name ist Raimor", sagte er, "und Misato schickt mich."

"Misato-san?" Der Junge fuhr hoch. "Ist sie hier?"

"Leider nein", sagte Raimor. "Sie kann im Moment nicht von dort weg, wo sie ist, aber es geht ihr gut. Und auch Asuka ist nichts passiert, soll ich dir ausrichten."
 

Shinji nickte, wenn auch unsicher. In seinem Kopf kreisten zwei Bilder, die sich zu widersprechen schienen: das von dem völlig zerstörten EVA-02 mit der geborstenen, zerquetschten Zugangskapsel, und das von Asuka, wie sie am Strand lag, den Arm und den Kopf in Verbänden. Er glaubte, wie aus weiter Ferne ihre Stimme hören zu können... aber das mußte ein Irrtum sein.

Schließlich gelang es ihm, sich wieder etwas zu fassen. "Und sie?" wollte er schließlich wissen. "Warum sehen sie so... anders aus?"
 

Der Rhoani mußte lachen, als der Junge unwillkürlich die selben Worte benutzte, die auch Misato verwendet hatte, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war. "Das ist eine ziemlich lange Geschichte", sagte er, "und so viel Zeit habe ich im Moment nicht. Stell dir einfach vor, ich wäre ein guter Bekannter Misatos, der zufällig von einem anderen Planeten kommt."

"Ach so?" gab Shinji zurück, wobei er sich nicht sicher war, ob der seltsame Fremde das jetzt im Ernst oder im Scherz gemeint hatte. So wie der Junge Misato kannte, war beides gut möglich. "Nun gut", meinte er schließlich, "und was wollen sie hier?"

Raimor trat näher und nahm auf dem Bett Platz. "Weißt du", sagte er, "es ist ziemlich viel Zeit vergangen, seit du das letzte Mal deine Freunde gesehen hast. Es hat sich seitdem sehr viel auf der Erde verändert. Es kann sein, daß du dich nicht mehr zurechtfindest, wenn du wieder zurückkommst. Und darum möchte ich dir erklären, was alles anders ist. Natürlich nur, soweit ich es selbst weiß."
 

"Wann kann ich wieder zurück?" wollte Shinji wissen.

Der Rhoani blickte ihn etwas traurig an. "Das kann ich dir leider nicht sagen", antwortete er. "Es hängt größtenteils davon ab, was andere Leute für richtig halten. Wenn es nach mir ginge, könntest du gleich mitkommen und deine Freunde wiedersehen. Aber noch geht das nicht. Im Moment ist es auch dort nicht unbedingt sicher."

"Warum das?"

"Nun, wir werden im Moment immer wieder von sogenannten ,Engeln' angegriffen..."
 

Beim Wort ,Engel' zog sich ein Knoten in Shinjis Brust zusammen, und er keuchte entsetzt auf, während seine Augen starr wurden und nach vorne blickten.

"Shinji? Shinji?! Was ist denn mit dir?"
 

Der Junge wandte sich zu Raimor um.

"Ashriel kommt", sagte er, "und ich kann ihn spüren!"
 

Kapitel 16
 

Als sich einige Stunden später die Bewohner der kleinen Siedlung auf der Erdoberfläche versammelten, war viel geschehen. Auf der ,Vagabund' hatte sich Raimor beeilt, Shennok das Ergebnis seiner Unterhaltung mit Shinji mitzuteilen, und zusammen mit dem, was der Kommandant von seinem Sohn erfahren hatte, war dies genug gewesen, um sein Bild von der Lage zu vollenden und eine schnelle Entscheidung zu fällen.

Wenn es etwas gab, das er gut konnte, dann war es das Fällen von Entscheidungen.
 

Jetzt stand er im Zentrum des Basislagers, an seiner Seite Shinji und Harmis, und blickte über die Menschen, die sich in einer Gruppe vor ihm zusammengefunden hatten. Misato, deren Freilassung er angeordnet hatte, stand ebenfalls dabei, aber recht weit in den hinteren Reihen. Er konnte es ihr nicht einmal übelnehmen; seit er sie kannte, hatte er sie bereits zwei Mal einsperren lassen. Neben ihm streckte sich Shinji und schien jemanden zu suchen. Nun, dafür würde noch Zeit sein.
 

"Bewohner der Erde", begann Shennok in Ermangelung einer besseren Anrede, "in den vergangenen Tagen sind hier viele seltsame Dinge geschehen. Ihr wißt sicherlich bereits, daß seit unserer Ankunft und eurer Rückkehr schon drei Engel erschienen sind. Was ihr aber noch nicht wißt: Die Engel wurden von einem Geist gerufen, der hier auf der Erde gewacht hat. Der Geist des Mädchens Ayanami Rei!"

Unter den Leuten, die allesamt Mitarbeiter von NERV gewesen waren, entstand überraschtes Getuschel.

"Was dafür gesorgt hat", fuhr der Kommandant fort, "daß sie nicht mehr gegen die Engel kämpft, wissen wir nicht. Aber wir wissen inzwischen sicher, welche Ziele die Engel diesmal verfolgen: Sie wollen das große Meer erreichen, in welchem die Seelen der Menschheit auf ihre Rückkehr warten. Sie wollen die Seelen aller Menschen ins Jenseits schicken!"
 

Die Unruhe in der Menge wuchs beängstigend an, und Shennok fand, es sei an der Zeit, jetzt die Stimmung für sich zu nutzen. "Aber wir sind nicht bereit", rief er, "das zuzulassen. Denn wenn die Engel Erfolg haben, bedeutet das auch das Ende von uns, die nicht von der Erde stammen."

Er wartete einen Moment ab, bis die Verwirrung über diesen Satz für Ruhe gesorgt hatte, dann fuhr er fort.

"Menschen und Rhoani sehen verschieden aus, aber wir sind von unserer Abstammung her ein Volk!"
 

Über die nun entstehende Unruhe mußte der Kommandant förmlich schreien. "Ich weiß", rief er, "das klingt kaum glaubhaft, aber eure Wissenschaft ist weit genug entwickelt, um zu dem selben Ergebnis zu kommen, wenn ihr es überprüfen wollt. Wenn ihr fragt, warum es so ist, habe ich keine Antwort; es ist für mich selbst ein Rätsel. Aber die Tatsache, daß Menschen und Rhoani gleich sind, kann ich nicht länger ignorieren. Und das heißt, es gibt viele Fehler, die ich gutzumachen habe.

"Zunächst einmal möchte ich bekanntgeben, daß jeder hier, der das möchte, bei dem Wiederaufbau der Erde helfen kann. Wir werden euch an unseren Geräten ausbilden und die weitere Planung in Zusammenarbeit mit euch durchführen. Niemand mehr soll sich benachteiligt fühlen."

Nun kam der schwierige Teil. "Zum anderen", fügte Shennok hinzu, "wollen wir zusammen mit euch weiter gegen die Engel kämpfen. Mein Sohn hier, Harmis, hat Informationen über diejenigen, welche uns noch erwarten. Und Shinji hier, der für euch lange Zeit schon gegen sie gekämpft hat, kann offensichtlich spüren, wenn ich ein Engel nähert.

"Wie es aussieht, ist gerade wieder einer auf dem Weg."
 

Zur großen Überraschung des Kommandanten brach auf diese Worte hin keine Panik aus, und auch das Gemurmel unter den Menschen hielt sich in Grenzen. Anscheinend hatte er sie gleich in mehrerer Hinsicht unterschätzt. Nun gut, das erleichterte vieles.

"Unser Problem ist nun", fuhr er fort, "daß wir bisher noch nicht in der Lage waren, den Engel aufzuspüren. Shinji ist sich zwar sicher, daß einer kommt, aber unsere Sensoren haben nichts Außergewöhnliches erfaßt. Darum brauchen wir eure Hilfe. Wenn jemand unter euch ist, der Erfahrung damit hat, wie man Engel erkennen und aufspüren kann..."
 

In die Reihen der Menschen kam plötzlich Bewegung, und dann schoben sich zwei Frauen zu ihm vor; eine noch recht junge Brünette von ungefähr zwanzig Jahren und eine vielleicht zehn Jahre ältere Frau mit etwas dunklerem Haar. Beide hielten sich an den Händen, und die ältere Frau trat einen Schritt näher. "Ich habe über ein Jahr lang fünfzehn verschiedene Engel studiert", sagte sie und blickte zu ihrer Begleiterin, "und Maya hier hat fast so viel Erfahrung wie ich. Wenn sie uns erklären, wie ihre Sensoren arbeiten, können wir sie auf das Muster der Engel einstellen."

Shennok lächelte. "Dann willkommen bei der Sensortechnik", begrüßte er sie. "Mein Sohn ist der Sens-alpha - der Leiter der Abteilung - er wird ihnen alles erklären können."
 

"Dann freue ich mich schon auf die Zusammenarbeit", gab sie zurück und wandte sich dann Harmis zu. "Sens-alpha, mein Name ist Akagi Ritsuko. Zu ihren Diensten."

Der Junge wuchs innerlich vor Stolz um ein paar Zentimeter. "Schön, sie kennenzulernen", grinste er. "Aber sie dürfen mich gerne Harmis nennen."
 

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"Na, dreht sich ausnahmsweise mal nicht alles um dich?", meinte Asuka schnippisch.

Shinji drehte sich überrascht um. "Ach, da bist du ja!" gab er zurück. "Ich hab dich vorhin gar nicht unter den anderen gesehen."

"Ich war auf dem Dach da drüben", erklärte das Mädchen. "Hatte keine Lust, mich zwischen den ganzen Erwachsenen zu drängeln, um was sehen zu können." Sie grinste. "He, hat man dir schon gesagt, daß ich jetzt deinen Job habe?"
 

Der Junge blinzelte überrascht. "Wieso denn das?"

"Tja", kicherte Asuka, "wie es aussieht, gehorcht EVA-01 inzwischen auch meinen Befehlen. Das heißt, jetzt kann ich gegen die Engel kämpfen. Du darfst ja nicht mehr in deinen Evangelion steigen."

"Moment mal", widersprach Shinji. "Das liegt aber nur daran, daß Rei gesagt hat, ich sollte wieder kämpfen! Und weil Rei jetzt auf der Seite der Engel steht, dürfen wir ihr nicht mehr glauben. Und darum soll ich nicht mehr in EVA-01!"

Das Mädchen hob mit einem süffisanten Lächeln die Arme. "Wenn du das glaubst", meinte sie, "dann kann ich dir auch nicht helfen. In Wirklichkeit haben sie herausgefunden, daß ich die viel bessere Wahl für EVA-01 bin. Hat dir das noch keiner gesagt?"

Der Junge schüttelte fassungslos den Kopf.

"Und wenn du glaubst", kicherte Asuka, "daß ich eben die Wahrheit gesagt habe, dann bist du ein noch viel größerer Blödmann als früher."
 

Shinji stöhnte auf, während sich das Mädchen vor Lachen kringelte. "Reingefallen", prustete sie. "Ach, es ist toll, wieder mit dir zusammen zu sein. Ich hab gar nicht gemerkt, wie sehr mir das in der ganzen Zeit gefehlt hat."

"In der ganzen Zeit?" fragte der Junge verwundert.

"Na ja", meinte Asuka, "während du mit EVA-01 auf dem Mond gewartet hast und ich zusammen mit den anderen im LCL-Meer war."

"Ich war mit EVA-01 auf dem Mond?!"

"Sicher, erinnerst du dich nicht mehr daran?"

Shinji überlegte. Da war etwas gewesen, richtig. Er war an die Erdoberfläche gekommen und hatte EVA-02 gefunden. Und hoch oben waren EVA-05 bis EVA-09 gekreist, und er hatte sich zu ihnen erhoben, um...
 

In diesem Moment kamen die Bilder zurück. Er, alleine in der Zugangskapsel von EVA-01. Vor ihm der riesige Leib von Ayanami. Das Gesicht Kaworus. Die Worte vom Ende des Leids und dem Anfang der Liebe. Third Impact.

Die Stimme seiner Mutter. Die Erkenntnis, daß Leid Teil der menschlichen Existenz war. Zwei Möglichkeiten. Eine Wahl.

Er und Asuka gemeinsam am Strand. Schmerz und Vergebung. Ein Versprechen.

Die Menschheit, tief unter ihm. Er in EVA-01 über ihnen. Der Plan zur Vollendung der Menschheit. Der Weg als das Ziel.

Er auf dem Mond. Die Erde tief unter ihm. Warten. Wieder die Stimme seiner Mutter:

"Es wird Zeit brauchen."

Zeit. Endlose Zeit. Leben im Dämmerzustand. Im Geist die Sterne. Gewißheit:

"Wenn ich zurückkehre, wird die Welt perfekt sein."

Der Aufschrei einer Seele.
 

"Shinji? Shinji?! Shinji!!!"

Der Junge blickte auf und sah in das Gesicht Asukas, in dem sich die Besorgnis spiegelte.

"Shinji, geht es dir gut?"

"Asuka... ich weiß jetzt, was geschehen ist... und was geschehen wird..."
 

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"Muster Blau! Wir haben ihn!"

Ritsuko wies triumphierend auf den Monitor, der die Umgebung der ,Vagabund' anzeigte. Ein blinkender Punkt wies auf die Position hin.

"Aber da ist doch gar nichts!" widersprach ihr Harmis. "Nach allem, was ich weiß, ist Ashriel der Sammler der Seelen, und irgendwo muß er sie doch sammeln!"

Die Wissenschaftlerin überlegte einen Moment, dann begann sie eilig, die Sensoren neu zu konfigurieren. "Es muß nicht sein", sagte sie, "daß der Engel einen Körper hat wie wir das kennen. Er könnte auch aus reiner Energie bestehen."

"Dann würden unsere Sensoren das anzeigen", warf der Junge ein.

"Nicht, wenn es... ah, ja!"
 

Das Bild auf dem Monitor veränderte sich zu einem seltsamen Regenbogenspektrum, und im Zentrum konnte man nun deutlich einen leuchtenden, riesenhaften Vogel mit seltsam zerrupftem Gefieder sehen, der langsam näherglitt.

Harmis' Augen wurden groß. "Was für ein Anzeigemuster ist denn das?" wollte er wissen.

"Die Visualisierung eines AT-Fields", erklärte die Frau. "Der Engel besteht nur aus einem einzigen, großen AT-Field."

"Was ist ein AT-Field?"

Ritsuko wandte sich dem Jungen zu. "Das ist schwer zu erklären", meinte sie. "Es ist ein Energiefeld, welches normalerweise dafür sorgt, daß die innere Struktur eines Lebewesens festen Zusammenhalt hat. Engel können es erzeugen, um sich damit zu schützen, und dieser hier ist ansch..."

"Moment", unterbrach Harmis ihre Rede. "Dieses AT-Field - kann es dazu führen, daß menschliche Körper verflüssigt werden? So wie in dem großen Meer?"
 

Die Frau nickte. "Mit Hilfe eines Anti-AT-Fields", erklärte sie, "ist dieses Meer überhaupt erst entstanden."

"Dann haben wir doch schon Erfahrungen damit gemacht", freute sich der Junge. "Wir haben mit Hilfe der weißen Giganten unten auf der Erde schon einmal ein solches Feld erzeugt."

Ritsuko war verblüfft. "Was denn", fragte sie, "es geht ohne eine Seele? Nach unseren Erkenntnissen muß ein AT-Field immer von einer Seele erzeugt werden!"

"Vielleicht kann es eine Seele ohne Nebenwirkungen", schlug Harmis vor.

"Nebenwirkungen?"

"Wenn man ein AT-Field erzeugt, entsteht dabei automatisch auch ein Anti-AT-Field identischer Stärke."
 

Die Wissenschaftlerin schüttelte den Kopf. "Das entspricht nicht unseren Erkenntnissen", sagte sie. "Engel und Evangelions können beide ganz normale AT-Fields aufbauen, ohne daß sich dabei Anti-AT-Fields bilden."

"Wenn wir das mal außen vor lassen", meinte der Junge, "wie gehen wir dann jetzt bei Ashriel vor?"

Ritsuko überlegte. "Beschuß mit normalen Waffen wird nicht effektiv sein", meinte sie. "Selbst, wenn wir das AT-Field durchschlagen, vernichten wir damit nicht die Substanz des Engels. Wir müßten ein Anti-AT-Field erzeugen und ihn damit direkt auslöschen."
 

Harmis grinste. "Und wie das geht", meinte er, "wissen wir ja."
 

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Ungesehen huschte ein fahl orangefarbener Nebelstreif aus der offenen Landekapsel, die nahe der kleinen Ansiedlung stand. Obwohl kaum Wind ging, bewegte er sich recht zielstrebig in eine Richtung.
 

Am Fuße eines riesigen, kreuzförmigen Monolithen schien er innezuhalten, dann verdichtete er sich und nahm wieder die Gestalt von Ayanami Rei an. Fast unbewegt stand sie vor dem gewaltigen Wesen, das an dem Monolithen hing, und nur eine einzelne Träne, die aus ihrem Augenwinkel rollte, verriet ihre Trauer in diesem Moment. Sie hatte sich so sehr gewünscht, daß alles auch ohne sie den richtigen Weg fand. Aber anscheinend war ihr keine Ruhe vergönnt.

Langsam schwebte sie nach oben, bis sie auf der Höhe des Gesichts des riesigen Wesens war. Sie näherte sich ihm langsam und strich ihm sanft über die Wange. Noch kurz blickte sie ihn schmerzerfüllt an, dann wandte sie sich ab und schwebte auf den nächsten der Riesen zu, der in einigen hundert Metern Entfernung auf sie wartete.

Hinter ihr begann der Gigant zu erzittern, verlor die Gestalt und rauschte in einer riesigen Welle von LCL zu Boden.
 

Kapitel 17
 

"Aber... wie kann das sein?"

Fassungslos blickte Shennok auf die kreuzförmigen Monolithen, die nunmehr leer waren. Der Boden um sie herum war noch naß und klebrig und ließ keinen Zweifel daran, was mit den Giganten, den ,Evangelions' geschehen sein mußte.

"Soviel zu der Idee mit dem Anti-AT-Field", meinte Raimor niedergeschlagen, der neben den Kommandanten getreten war. "Ich frage mich, was das bloß bewirkt haben könnte."

"Rei, wer sonst?" gab Shennok zurück. "Wenn sie die Engel gerufen hat, dann wird sie auch ihre Schwächen kennen. Und sie weiß, daß wir in der Lage gewesen wären, mit den Giganten ein Anti-AT-Field zu erzeugen."

Der Exo-alpha schüttelte den Kopf. "Wenn Rei tatsächlich zu so etwas in der Lage wäre", fragte er, "warum verflüssigt sie dann nicht einfach auch uns?"
 

Der Kommandant dachte noch über eine Erwiderung nach, als sich aus der Richtung des Lagers zwei Gestalten rasch näherten. Es waren Asuka und Shinji.
 

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Shennok glaubte, nicht recht gehört zu haben.

"Rei ist WAS?"

"Die Hüterin des Schicksals", wiederholte Shinji. "Es ist ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, daß sich das Schicksal der Menschheit erfüllt."

"Und was IST das Schicksal der Menschheit?"

Der Junge blickte unsicher zu Boden. "Das ist ziemlich kompliziert", meinte er.

Der Kommandant lächelte ihn an. "Versuch's trotzdem", ermunterte er ihn, "ich hab schon ganz andere Sachen verstanden."
 

"Als der Third Impact geschah", begann Shinji, "wurden alle Seelen der Menschen miteinander verbunden. Sie sollten perfekt werden, fehlerlos - ihre Narben und Wunden sollten geheilt werden, indem sie sich gegenseitig ergänzten. Und ich hatte die Wahl, wie die Welt hinterher aussehen sollte - ob sie auf ewig ein großes Meer vereinigter Seelen bleiben sollte, oder ob die Menschen zurückkehren sollten."

Shennok glaubte, zu verstehen. "Und du hast dich für ein Meer vereinigter Seelen entschieden, richtig?"

"Nein", erklärte Shinji. "Ich wollte diese Wahl nicht treffen. Ich wollte nicht über das Schicksal aller Menschen entscheiden. Ich meine, ich bin doch noch ein Junge! Woher sollte ich wissen, welche Wahl richtig ist?"

"Und was hast du dann gemacht?"
 

Der Junge seufzte. "Ich habe entschieden", sagte er, "daß jeder Mensch selbst die freie Wahl hat, wann er zurückkehren will. Ich dachte, wenn alle Seelen Heilung gefunden haben, würden sie sich von selbst dazu entscheiden, in ihre Körper zurückzukehren. Aber da hab ich mich wohl geirrt."

"Und wie", warf nun Raimor ein. "Ich habe ja selbst miterlebt, wie es sich anfühlt, Teil der Vereinigung zu sein. Das ist ungeheuer... es gibt einfach keinen Ausdruck dafür. Man fühlt sich so... vollkommen!"

"Jedenfalls wußte ich", fuhr Shinji fort, "daß ich meine Heilung gefunden hatte, also gab es für mich keinen Grund mehr, noch länger in der Vereinigung der Seelen zu bleiben. Ich nahm Asuka mit mir..."
 

"...aber das war ein bißchen zu früh für mich", vollendete das Mädchen an seiner Seite den Satz. "Ich hatte ein ganz schön kaputtes Leben gehabt, und ich stand noch ganz schön unter Schock. Also hab ich Shinji drum gebeten, mich noch mal zurückzuschicken. Na ja, und er hat halt in der Zwischenzeit draußen gewartet, während ich Misato und die anderen gesucht habe und mit ihnen darüber geredet habe, wie damals meine Mutter..."

"He, das ist meine Geschichte!" unterbrach sie Shinji und stieß ihr den Ellenbogen in die Seite. Asuka schubste zurück, und die beiden kabbelten sich einen Moment lang, bis Shennok sich lautstark räusperte. Die beiden Kinder blickten überrascht zu ihm, und schließlich meinte Asuka "Pöh!" und drehte sich demonstrativ mit dem Rücken zu ihm.
 

"Jedenfalls", setzte Shinji seine Geschichte fort, "kam danach Reis Seele zu mir. Sie sagte mir, daß es jetzt das Schicksal der Menschheit sei, erst wiederzukehren, wenn sie Perfektion erreicht hatte. Das hatte ich so gewählt. Sie sollte darüber wachen, daß dieses Schicksal sich erfüllt, aber jemand anderes mußte noch aufpassen, daß kein fremdes Schicksal sich mit dem der Menschheit vermischte."

"Und das warst du", erkannte Shennok jetzt.

Der Junge nickte. "Ich und EVA-01", bestätigte er. "Wir flogen zum Mond, um dort zu warten..."

"Moment", warf Raimor ein, "die Erde hat doch gar keinen Mond!"
 

"Sie hatte damals schon einen", sagte Shinji, "aber er ist im Laufe der Zeit aus der Umlaufbahn geraten und weggedriftet. Darum sind wir auch nicht sofort wieder aufgetaucht, als ihr auf der Erde angekommen seid."

Shennok überlegte einen Moment. "Ich verstehe aber immer noch nicht", sagte er, "worauf das ganze hinauslaufen soll."

"Meine Aufgabe", wiederholte Shinji, "sollte es sein, Gefahren von außerhalb abzuwehren, die die Vereinigung der Menschen bedrohen. Meteore oder Kometen zum Beispiel, die die Erde aus ihrer Bahn hätten werfen können. Oder eben auch fremde Besucher."

"Also wir!" entfuhr es Raimor.

Der Junge lächelte. "Ein Glück", meinte er, "daß ihr Menschen seid, sonst müßte ich auch gegen euch kämpfen."
 

"Aber was ist jetzt mit Rei?" wollte der Kommandant wissen. "Warum hat sie noch nichts direkt gegen uns unternommen?"

"Sie glaubt wahrscheinlich, sie darf es nicht", meinte Shinji. "Sie ist nur für das Schicksal der Menschheit verantwortlich und muß sich aus dem Schicksal von Fremden heraushalten. Fremde sind meine Aufgabe."

Shennok überlegte einen Moment. "Und die Engel?" wollte er wissen. "Warum hat sie die Engel gerufen?"

"Das ist ein ganz anderes Problem", meinte der Junge. "Das Schicksal der Menschheit war es, erst in Perfektion zurückzukehren. Aber die Menschheit ist bereits bei der Rückkehr, und sie ist weit davon entfernt, perfekt zu sein. Also ist dieser Weg nicht mehr möglich, und die einzige andere Weise, in der Rei ihre Aufgabe erfüllen kann, ist dafür zu sorgen, daß die Menschheit NICHT wieder zurückkehrt."
 

Der Kommandant schluckte. "Bei allen Galaxien..."

"Einen Moment!" warf Raimor ein. "Wenn wir Rhoani Menschen sind, und wir waren niemals Teil der Verbindung, dann war doch schon von Anfang an der ganze Plan nicht zu erfüllen! Reis Aufgabe basierte dann auf der falschen Annahme, daß die gesamte Menschheit perfektioniert wurde. Vielleicht konnte es ja gar nicht ohne uns funktionieren."

Shennok schnaubte belustigt. "Sie haben sich anscheinend niemals mit der Entstehungsgeschichte Rhoans beschäftigt", warf er ein. "Die erste Entwicklung zu Primaten auf unserem Planeten geschah vor 65 Millionen Jahren. Da war hier auf der Erde schon längst der Third Impact geschehen und die Menschheit im Meer vereinigt; lange, ehe es so was wie Rhoani überhaupt gab."
 

"Und ganz davon abgesehen", warf Shinji ein, "darf Rei niemals erfahren, daß Rhoani und Menschen eins sind."

Raimor blickte ihn verständnislos an. "Wieso das denn?"

"Wenn ihr Menschen seid", meinte Shinji, "dann darf sie sich direkt in euer Schicksal einmischen. Im Moment tut sie nur deshalb nichts mit euch oder den anderen Menschen, weil sie damit eurer Schicksal beeinflussen würde. Aber wenn sie erfährt, daß sich nur Menschen auf der Erde aufhalten, hält sie nichts mehr davon ab, hier alles wieder in LCL zu verwandeln. Die Evangelions hatten nie ein Schicksal, darum waren sie ihr auch egal."

Shennok atmete tief durch. "Womit wir wieder bei unserem Hauptproblem wären", sagte er.

"Und das wäre?"

"Was", fragte er, "tun wir ohne die Evangelions gegen den Engel Ashriel, der in ein paar Stunden hier ankommen wird?"
 

Shinji seufzte. "Mir wird nichts anderes übrigbleiben", sagte er, "als mit EVA-01 gegen ihn zu kämpfen."

"Denkst du", meinte der Kommandant besorgt, "das schaffst du?"

"Die Evangelions wurden zum Kampf gegen die Engel konstruiert", meinte der Junge, "und ich hab schon gegen viele gekämpft. Und außerdem muß ich die Menschheit vor Fremden verteidigen."

"Aber nicht alleine!"

Drei Augenpaare richteten sich überrascht auf das rotblonde Mädchen, das herumgefahren war.

"Was?!"
 

"Du hast mir damals gegen Gaghiel auch geholfen", sagte Asuka. "Ich hab mich nie dafür bei dir revanchieren können. Ich denke, jetzt ist es mal an der Zeit."

Shinji blinzelte unsicher. "Aber EVA-01..." wollte er einwerfen.

"Ich hab ihn schon mal gesteuert", argumentierte das Mädchen, "und er scheint mich zu mögen. Und dich mag er auch. Was sollte er dann gegen uns beide haben?"

Der Junge überlegte einen Moment. "Nun... ich weiß nicht..."
 

"Also ist es beschlossene Sache!" grinste Asuka. "Los geht's, der Engel wartet nicht auf uns!"
 

---
 

Als die beiden Children wenig später in der Zugangskapsel saßen, Asuka hinter Shinji, war das Mädchen nicht mehr ganz so euphorisch.

"Sag mal, Shinji..." begann sie.

"Hm?"

"Kann es sein... Hast du schon mal..."

Der Junge sah sich zu ihr um. "Was denn?"

"Ach, wahrscheinlich nichts", meinte Asuka. "Ich hab mich wahrscheinlich geirrt."

"Hm."
 

Die Kapsel glitt in EVA-01, und die beiden Children begannen, sich auf die Synchronisation zu konzentrieren. Zu zweit war das immer knifflig gewesen, erinnerte sich Shinji und bereitete sich schon auf Schwierigkeiten vor, doch zu seiner Überraschung verband sich sein Bewußtsein völlig ohne jede Anstrengung mit dem des Evangelions; und kurze Zeit später spürte er, wie sich auch Asukas Seele anschloß.

"Da!" rief das Mädchen plötzlich hinter ihm.

Der Junge fuhr erschrocken zusammen. "Was da?"

"Hast du das eben nicht gesehen?"

"Was denn?"

"Bist du blöd? Das Gesicht eben!" ereiferte sich Asuka. "Das Gesicht von Rei!"
 

Shinji mußte lachen. "Ach, das!" meinte er. "Das ist nicht Rei!"

"Nicht?!"

"Das ist meine Mutter", sagte er. "Ihre Seele ist bei einem Unfall mit EVA-01 verschmolzen. Ihre Nähe hat mir sehr in der Einsamkeit geholfen."

"Ach so?" wunderte sich Asuka. "Deine Mutter also auch..."

Dann waren die internen Systeme des Evangelions hochgefahren.

Außerhalb aktivierte Shennok über die Fernbedienung die zwanzig Antigrav-Generatoren, die an den Armen und Beinen des Giganten befestigt worden waren.

Und EVA-01 sprang.
 

Der gewaltige Satz war millimetergenau berechnet worden, um den Evangelion exakt mit Ashriel zusammenzubringen. Der Engel war noch ein gutes Stück von der Erde entfernt; selbst der kleinste Fehler hätte EVA-01 an ihm vorbeigleiten lassen. Aber in den Berechnungen der Rhoani gab es keine Fehler - Lasatra hatte sich persönlich darum gekümmert, daß alle Details wie die Erdrotation oder die Windgeschwindigkeit mit einbezogen wurden.

Siebenundzwanzig Minuten später wurde der Flug von EVA-01 jäh gestoppt, als er gegen den Engel prallte.
 

Sofort wurden die Umrisse Ashriels als rötlicher Schimmer sichtbar, während sein AT-Field sich verstärkte. Shinji und Asuka krallten sich verzweifelt im Gefieder des körperlosen Vogels fest und versuchten, genügend Halt zu finden, um etwas gegen ihn unternehmen zu können.

"Kannst du einen Kern oder so was erkennen?" schrie Shinji.

Asuka schüttelte den Kopf. "Nein", brüllte sie zurück. "Das Mistvieh scheint nur aus einer Hülle zu bestehen. Und die ist nur ein AT-Field."

"Dann müssen wir es neutralisieren", rief der Junge hastig. "Wir richten unsere Wellenform auf den Engel aus. Auf drei: eins, zwei, DREI!"
 

An den Händen von EVA-01 bildeten sich rotleuchtende Sechsecke, die sich langsam in den Körper Ashriels schoben. Doch gerade, als sie die Struktur zu durchdringen begannen, flackerte der Engel auf und begann, nunmehr in einer grünlichen Farbe zu schimmern. Der Evangelion verlor den Halt und wäre um ein Haar abgerutscht. Nur ein blitzartiges Nachgreifen verhinderte Schlimmeres.

"Er kann seine Wellenform verändern!" schrie Asuka entsetzt.

"Das kann EVA-01 auch!" brüllte Shinji zurück. "Übernimm du die manuellen Kontrollen, Asuka, und halt dich bloß gut fest! Ich kümmere mich um das AT-Field."

"Geht klar!"
 

Wieder entstanden die farbigen Sechsecke an den Händen des Evangelions, diesmal in grün, und wieder begann Ashriel zu flackern. Doch dieses Mal flackerte das AT-Field von EVA-01 ebenfalls und paßte sich der Farbe an, die der Engel annahm. Immer tiefer schoben sich die Sechsecke aus Energie in seinen Körper hinein, während die Hände des EVAs sich immer fester im Gefieder des riesigen Vogels verkrallten. Und schließlich waren sie vollends eingedrungen; und mit aller Kraft riß EVA-01 Ashriel in der Mitte auseinander. Der Engel verging in einem letzten Aufflackern.
 

Asuka sank erschöpft in sich zusammen und schloß die Augen. Ihre Arme schmerzten vor Anstrengung - selbst Gaghiels Maul war nicht so schwer aufzubekommen gewesen. Aber die Gefahr war beseitigt, und dieses Mal waren weder sie, noch der Evangelion, noch Shinji verletzt worden.

"Gutes Teamwork, Shinji", meinte sie.

Keine Antwort kam.

"Shinji?" fragte sie und öffnete die Augen.
 

Vor ihr in der Kapsel trieb ein Overall.

Von Shinjis Körper war nichts zu sehen.
 

Kapitel 18
 

"Was soll das heißen, er ist noch da drin?"

Ritsuko senkte den Kopf. "So ein Ereignis hatten wir schon mal", erklärte sie. "Wenn der Pilot eines Evangelions vollständig mit ihm synchronisiert - auf 400% - dann kann sich sein Körper im LCL auflösen. Seine Seele ist dann mit dem EVA verbunden. Ich glaube, Shinji hat die lange Wartezeit völlig in diesem Zustand verbracht."

"Und wie ist es rückgängig zu machen?" fragte Shennok weiter. "Ich meine, sie müssen doch damals etwas unternommen haben."

"Wir hatten theoretisch eine Methode entwickelt", meinte die Wissenschaftlerin, "aber die hat sich nicht als effektiv herausgestellt."

Der Kommandant blickte überrascht. "Wie ist sein Körper dann wieder erschienen?"

"Wir wissen es nicht", war die Antwort. "Vielleicht von selbst."
 

"Das ist doof", mischte sich Asuka ein. "Reicht es denn nicht, wenn in dem blöden EVA schon die Seele von Shinjis Mutter steckt?"

Ritsuko fuhr herum. "Was? Aber woher..."

"Shinji hat's mir gesagt", meinte das Mädchen. "Und außerdem hab ich sie beim Synchronisieren gesehen."

"Du hast sie gesehen?!"

"Ja, hab ich. Ist das was besonderes?"
 

Die Wissenschaftlerin sah zu EVA-01 hoch, der regungslos dastand.

"Wenn das stimmt", meinte sie, "dann hätten wir endlich eine Erklärung."
 

---
 

*Hallo, Shinji.*

*...Mama?*
 

Sehr langsam öffnete der Junge die Augen. Um ihn herum war Leere, aber er konnte die Anwesenheit einer anderen Seele spüren. Einer vertrauten Seele.

*Ja, ich bin es*, dachte die Seele. *Möchtest du dich mit mir vereinen?*

Shinji schüttelte den Kopf. *Nein, Mama*, dachte er zurück, *dazu ist keine Zeit. Andere brauchen mich.*

*Dann berühre mich bitte wenigstens*, war die Antwort. *Ich glaube, es gibt noch vieles, was du nicht verstehst.*

*In Ordnung.*
 

Langsam streckte Shinji seine Seele aus und fühlte vorsichtig in die Leere hinein. Wie das flüchtige Flattern eines Mottenflügels streifte ihn die fremde, vertraute Präsenz, und er griff nach ihr. Sofort erschien vor seinem geistigen Auge das Bild Ikari Yuis, die zärtlich seine Hand umfaßt hielt.

"Schön, daß du wieder da bist", sagte sie.

Der Junge lächelte. "Ich wünschte, es wäre aus einem anderen Grund", gab er zur Antwort. "Ich mußte mit EVA-01 wieder kämpfen."
 

"Ich weiß", gab Yui zurück. "Ich sehe zwar nicht, was in der körperlichen Welt vor sich geht, aber ich kann spüren, wenn EVA kämpft. Auch dann, wenn nicht du der Pilot bist."

Shinji nickte. "Du redest von Asuka, nicht wahr?" fragte er. "Sie hat mir schon erzählt, daß sie dich hier gesehen hat."

"Sie ist ein wirklich nettes Mädchen", meinte seine Mutter, "sehr willensstark und selbstbewußt. Und ihr beide arbeitet gut zusammen. Ihr seid ein hübsches Paar."

Der Junge errötete leicht. "Aber Mama", meinte er, "so ist es nicht..."

"Aber natürlich ist es so", gab Yui sanft zurück. "Ich weiß doch, wie du für sie empfindest. Vielleicht ist sie wirklich die Richtige für dich."

"Ach, Mama..."

"Doch, ehrlich." Sie lächelte ihn an, doch dann wurde ihr Gesichtsausdruck ernst. "Aber warum bringst du sie in eine solche Gefahr?"
 

Shinji riß überrascht die Augen auf. "Aber das war ich nicht", verteidigte er sich, "sie selbst wollte unbedingt den EVA steuern!"

"Das meinte ich nicht", gab seine Mutter zurück. "Warum kämpfst du gegen die Engel, die gekommen sind, um deinen Traum Wirklichkeit werden zu lassen?"

"Was?!"

Yui nickte. "Du weißt, daß es wahr ist", sagte sie. "Du hast bestimmt, daß die Menschheit erst dann wieder ihre Körper bekommen soll, wenn sie selbst dazu bereit ist. Und wir beide wissen, daß sie niemals dazu bereit sein wird. Die ewige Glückseligkeit der Vereinigung war der richtige Zustand. Er war das Paradies."
 

"Aber ein Paradies, in dem sich nichts jemals verändert!" warf Shinji ein.

"Warum etwas verändern, wenn man Perfektion gefunden hat?"

Der Junge schüttelte heftig den Kopf. "Mama, wenn ich die Engel nicht aufhalte, dann werden sie alle Seelen über die Schwelle des Jenseits führen!"

"Und was wäre daran falsch?" fragte seine Mutter.

"Sie wären tot!"

Yui senkte den Kopf. "Aber im Jenseits sind sie wieder alle vereint", sagte sie. "Es wäre die Rückkehr zur Perfektion - und mehr als das! Auch die Seelen, die vor dem Third Impact verloren gingen, wären da."
 

Shinjis Augen weiteten sich. "Du meinst..."

"Dein Vater wartet auch dort."
 

Der Junge schluckte und überlegte einen Moment. Schließlich schüttelte er heftig den Kopf. "Nein, Mama!" widersprach er. "Ich kann die Menschheit nicht einfach sterben lassen! Sie ist zurückgekehrt, ob aus freiem Willen oder nicht, und ich finde, sie sollte eine Chance bekommen, die Erde neu zu errichten."

"Die Menschen haben sich nicht verändert", gab seine Mutter zurück, "und sie werden die gleichen Fehler immer wieder machen. Dafür habe ich nicht lange Jahre gearbeitet. Und das war auch nicht die Wahl, die du für die Welt getroffen hast. Du wolltest eine perfekte Welt, oder gar keine Welt. Die Perfektion ist nicht mehr möglich, also stell dich nicht der einzigen Alternative in den Weg!"
 

"Das ist nicht die einzige Alternative!" schrie Shinji zornig. "Es gibt noch eine; eine, die den Menschen eine Zukunft schenkt! Eine, die ihnen eine zweite Chance gibt; und verdammt noch mal, sie haben eine zweite Chance verdient!"

Yuis Blick wurde streng. "Das ist nicht das Schicksal, welches du ausgewählt hast!"

"Weil ich von diesem Schicksal nichts wußte!" schrie er zurück. "Es hieß immer nur: alles oder nichts, Tod oder Leben, Chaos oder Perfektion! Du und Vater, ihr habt mir beide immer nur die Welt in Schwarz und Weiß gezeigt. Aber das war eine Lüge, und jetzt habe ich sie durchschaut!"

"Shinji!!!"

"Ich lasse mich von euch nicht länger benutzen! Vielleicht ist das da draußen nicht die Welt, die ihr gewollt habt. Aber sie ist besser!"
 

Wütend riß er sich aus dem Griff seiner Mutter los, und im selben Moment verschwand die Leere um ihn.
 

"Shinji!!!" hörte er Asuka überrascht rufen, ehe er das Bewußtsein verlor.
 

---
 

"Wie geht es ihm?"

Asuka sah besorgt zu Tyrrin hinüber, aber die lächelte nur. "Shinji fehlt nichts", sagte sie. "Er ist einfach nur erschöpft. Wahrscheinlich hat ihn die große Anstrengung in diesem ,Evangelion' zu sehr mitgenommen." Ihr Lächeln wurde noch etwas breiter. "Und es kann ja auch nicht wirklich gesund sein, alle paar Tage zu Flüssigkeit zu zerfallen."

"Können sie ihm nicht irgendwas geben?" wollte das Mädchen wissen.

"Ich könnte schon", gab die Ärztin zurück, "aber nichts, was ich habe, ist so gut wie acht bis zehn Stunden Schlaf. Ein bißchen Geduld mußt du schon noch haben."
 

Das Mädchen ließ die Mundwinkel hängen. "Ach, das ist langweilig", maulte sie. "Gibt's denn hier nicht mal irgendwas, wo man sich die Zeit ver..."

In diesem Moment öffnete sich die Tür der Krankenbaracke und Harmis trat hinein. "Med-alpha, sind sie schon mit der Untersuchung fertig?" wollte er wissen.

"Gerade eben."

"Und wie geht es Shinji?"

Tyrrin mußte schmunzeln. "Wie ich Asuka eben schon sagte, ganz gut", erklärte sie. "Er muß sich aber noch ausruhen."

"Oh", meinte der Junge enttäuscht. "Schade. Ich hätte ein paar Fragen wegen den Engeln gehabt, gegen die er früher gekämpft hat. Na ja, dann komm ich eben später..."

"Sag mal", mischte sich Asuka ein, "willst du nicht lieber mit jemandem reden, der sich WIRKLICH mit dem Kampf gegen Engel auskennt?"
 

---
 

"...aber der nervigste war mit Sicherheit dieser bescheuerte Israfael, wenn du mich fragst. Mann, sahen wir blöde gegen ihn aus..."

"Ist ja schon gut", unterbrach sie Harmis entnervt, "ich glaube, ich weiß jetzt wirklich genug über eure Engel."

Asuka verzog das Gesicht. "Bist du sicher?" fragte sie. "Aber ich hab doch noch nicht mal davon erzählt, in was für einen bescheuerten Anzug sie mich gesteckt haben, als wir Sandalphon einfangen wollten. Ich hätte denen ja am liebsten..."

"Interessiert es dich gar nicht", warf der Junge rasch ein, "welche Engel uns hier noch erwarten?"

"Oh?" Interessiert blinzelte das Mädchen. "Ihr wißt, was noch kommt? Und woher?"
 

Harmis blickte zu Boden. "Rei hatte doch meinen Körper übernommen", erzählte er mit einem gewissen Unbehagen in der Stimme. "Und dabei haben unsere Seelen viel miteinander geteilt. Auch, welche Engel noch kommen würden."

"Erzähl schon!"

"Der nächste ist Hamied", sagte der Junge, "der Engel der Wunder. Er soll die Verkörperung von reiner Schönheit sein."

Das Mädchen verzog das Gesicht. "Klingt nicht sehr gefährlich", sagte sie, "obwohl; wenn ich daran denke, daß Israfael der Engel der Musik war..."
 

Harmis fuhr schnell fort, ehe Asuka wieder ins Erzählen kommen konnte. "Der sechste ist dann Tzadkiel", erklärte er, "der Engel der Gerechtigkeit, der die Seelen nach Gut und Böse aufwiegt. Nummer Sieben heißt Samandiriel, der Engel der Phantasie..."

"Auch der schmutzigen Phantasie?" kicherte Asuka. "Entschuldige", meinte sie, als sie das genervte Gesicht des Rhoani sah, "erzähl bitte weiter."

"Der achte Engel heißt Jehuel, der Prinz des Feuers", erklärte der Junge weiter, "der neunte ist Cadmiel, der Weber des Schicksals..."

Das Mädchen sah irritiert auf. "Ich dachte, Rei wäre für das Schicksal verantwortlich", meinte sie. "Warum auch noch ein Engel?"

"Ich hab sie nicht geschickt", verteidigte sich Harmis wütend, "ich weiß bloß, wie sie heißen und was sie tun. Kann ich jetzt weitermachen?"

Asuka verschränkte gekränkt die Arme vor der Brust. "Bitte... wenn ich dich aufhalte..."
 

"Der Elfte ist jedenfalls Ieiaiel, der Engel der Zukunft", fuhr der Junge fort, "und der letzte wird schließlich Derdekea sein, die vom Himmel hinabsteigt, um die Menschheit zu retten. So, das ist alles, was ich weiß."

"Nicht mehr?!" Das Mädchen war entrüstet. "Und wo sind ihre Schwachstellen? Wie besiegt man sie?"

Harmis zuckte mit den Schultern. "Davon weiß ich nichts."

"Mann, wie öde", beschwerte sich Asuka. "Und ich dachte, du weißt irgendwas, das uns weiterhilft."

"Was soll das wieder heißen?"

"Das, was du weißt, ist nichts wert!"
 

Empört sprang jetzt der Junge auf. "Jetzt langt's aber!" schimpfte er. "Ich laß mir doch von einer dahergelaufenen, unterentwickelten Schnepfe nicht erzählen, daß mein Wissen nichts taugt!"

"WEN nennst du hier unterentwickelt?" donnerte nun Asuka, erhob sich ebenfalls und ballte wütend die Fäuste.

"DICH nenne ich unterentwickelt!" gab Harmis zurück. "Du weißt bestimmt noch nicht mal, wie ein Fusionskontrollzylinder funktioniert, hab ich recht?"

Das Mädchen geriet allmählich in Fahrt. "Brauch ich auch gar nicht", keifte sie. "Für so was interessieren sich sowieso nur Langweiler und Eierköpfe!"

"Blödbiene!"

"Hirnfritze!!"

"Kleinkind!!!"

KLATSCH!
 

Die Ohrfeige war so heftig, daß Harmis benommen zurückstolperte. Als er sich wieder gefangen hatte, sah er, daß in Asukas Augen Tränen standen.

"ICH BIN KEIN KLEINKIND MEHR!" brüllte sie und stürmte aus dem Zimmer.
 

Kapitel 19
 

"Hallo, Shinji."

Langsam, sehr langsam, erwachte der Junge wieder. Nur allmählich sah er schemenhaft um sich herum die Umrisse des Krankenzimmers. Er lag auf dem Bett, und neben ihm saß eine vertraute Person...

"...Mama?"

Shinji blinzelte noch einmal, und dann erkannte er, daß es Misato war, die sich neben ihn gesetzt hatte.
 

"Schön, daß du wieder unter den Lebenden weilst", schmunzelte die Frau. "Du hast uns ja alle einen ganz schönen Schrecken eingejagt, als du plötzlich wieder mal in EVA-01 verschwunden bist. Passiert dir das jetzt immer, wenn du synchronisierst?"

Der Junge schien beunruhigt zu sein. "Nein... nun... ich weiß nicht", antwortete er. "Ich glaube, wenn ich mich sehr anstrengen muß, wandert meine Seele direkt in EVA und mein Körper verliert die Form."

"Ein Glück", meinte Misato, "daß du nicht alleine warst. Asuka hat euch beide sicher zurück auf die Erde gebracht.

"Asuka..." Shinji fiel etwas ein. "Misato-san, ist sie gerade in der Nähe?"
 

Die Frau lächelte breit. "Wie es der Zufall will, wartet sie draußen", sagte sie. "Sie wäre am liebsten gleich mitgekommen, als es hieß, du würdest aufwachen, aber ich dachte, falls dir was zugestoßen wäre..." Sie schwieg.

"Kannst du sie reinholen?" bat Shinji. "Ich muß mit ihr über den Einsatz reden."

"Sicher doch", meinte Misato und stand auf.

"Alleine."

Die Frau hielt inne und blickte überrascht auf den Jungen hinab. Dann grinste sie. "Und du willst wirklich nur über den Einsatz reden?"

"Ja", gab Shinji zurück, dann begriff er plötzlich, worauf sie hinauswollte. "Ehrlich!!!"
 

"Das würde ich mir aber noch mal überlegen", meinte Misato, zwinkerte ihm zu und ging aus dem Zimmer. Kurz darauf sprang Asuka hinein. "Heyyyy, Shinji!" rief sie, hüpfte zum Bett und ließ sich neben Shinji plumpsen. "Toll, daß du wieder wach bist!"

Der Junge lächelte. "Hallo, Asuka."

"Und, wie war's?" wollte das Mädchen wissen.

"Nicht so schön", gab Shinji zurück.

Das Lachen auf Asukas Gesicht wurde von Verwirrung ersetzt. "Wie meinst du das?"

"Ich glaube, ich sollte EVA-01 nicht mehr steuern."
 

Asukas Verwirrung wuchs, dann verwandelte sie sich in Besorgnis. "Was ist denn passiert?" wollte sie wissen und rückte etwas näher an ihn heran.

"Ich hab mit meiner Mutter gesprochen!", sagte der Junge. "Sie ist der Meinung, ich sollte mich nicht gegen die Engel wehren und die Menschheit sterben lassen."

"WAS?!"

Shinji nickte. "Sie meint, das wäre das Schicksal der Welt, und ich dürfte mich nicht widersetzen."

"Das ist doch Blödsinn!" ereiferte sich Asuka. "So nach und nach kommen alle Menschen wieder ins Leben zurück, und jetzt sollen sie gleich wieder sterben? Nee, du! Nicht mit mir!"
 

Der Junge nickte. "Genau das denke ich auch", sagte er. "Wir dürfen nicht zulassen, daß die Engel ihre Aufgabe erfüllen. Aber ich werde dabei wohl keine große Hilfe mehr sein."

"Was?" Das Mädchen blinzelte verwirrt. "Wieso denn das jetzt?"

"Wenn ich mit EVA-01 synchronisiere", erklärte Shinji, "dann kann es passieren, daß meine Seele ihren Körper verläßt und in den Evangelion schlüpft. Aber im Evangelion ist auch meine Mutter - und ich weiß nicht, ob sie nicht vielleicht in der Lage ist, mich dort einzusperren, wenn sie will."

"Mein Gott..." entfuhr es Asuka. "Du meinst, das würde sie tun?"

Der Junge seufzte. "Vielleicht", sagte er. "Ich kann es nicht sicher sagen, aber sie klang so, als wäre sie bereit, mich zu zwingen, wenn ich nicht freiwillig mitmache. Und das heißt, wenn der nächste Engel kommt, mußt vielleicht du alleine gegen ihn kämpfen."
 

Das Mädchen lächelte grimmig. "Na, denen werd ich was erzählen!" meinte sie. "Keine Sorge, Shinji, du kannst dich auf mich verlassen. Ich hab schon einen von den neuen Engeln umgehauen, und das schaff ich auch nochmal." Sie kicherte. "Soviel zum Thema ,Kleinkind', du Affenarsch..." meinte sie etwas leiser.

"Hm?"

"Ach, nichts", meinte Asuka und grinste Shinji an.
 

---
 

Fast zwei Wochen vergingen, ohne daß ein weiterer Engel aufgetaucht wäre. Dafür nahm die Anzahl der Kapseltransporte von der ,Vagabund' zur Erdoberfläche zu. Neben den Wohnanlagen, den Energiegeneratoren und den Syntheseanlagen war inzwischen ein Konstruktionscenter entstanden - eine vollautomatische Fabrik für Arbeitsroboter, die die Techniker bei den schwereren Aufgaben entlasteten. An der Stelle, wo vor vielen Tagen der Wald gerodet worden war, hatte die Konstruktion einer Bergbauanlage begonnen, um nach Rohstoffen zu schürfen.
 

In der ganzen Zeit hatte Harmis die Erde nicht mehr betreten und sich statt dessen nur auf seine Arbeit als Sens-alpha gestürzt. Nicht, daß seine Abteilung nicht ohne ihn hätte arbeiten können, aber er hatte nicht das geringste Interesse, Asuka noch irgendwann einmal wieder über den Weg zu laufen. Oder zumindest in den nächsten Wochen. Aber er war schlau genug, das für sich zu behalten.
 

Immerhin hatte er mit Ritsuko jemanden gefunden, die in Sachen Auffassungsgabe mit ihm mithalten konnte - zumindest beinahe, sagte er sich - und der ein ungelöstes Problem ebenso wenig Ruhe ließ wie ihm. Sie hatte weniger als eine Woche gebraucht, um die Funktionsweise und Bedienung der Sensoren zu verstehen und sich einzuarbeiten, und viele der Daten über die Erde, zum Beispiel über die Erz- und Mineralienvorkommen, waren unter ihrer Aufsicht gesammelt worden.

Aber immer wieder kamen der Junge und die Wissenschaftlerin zu einem anderen Problem zurück.
 

"Ich verstehe immer noch nicht", meinte Harmis, "wieso wir ständig eine leichte Erhöhung von Muster Blau im Hintergrund lesen. Egal, wohin wir scannen. Die Engel können doch nicht überall sein!"

Ritsuko nickte. "Als gäbe es eine Verunreinigung im Meßsystem, die von einem Engel stammt", meinte sie. "Aber die Fehlerquelle haben wir ja schon sicher ausgeschlossen. Bleibt nur noch das Schiff selbst übrig."

"Die internen Sensoren taugen aber nicht für die Suche", warf er ein. "Im Gegensatz zum Hauptsystem können sie keine Energiemuster auffangen. Und die Sensorphalanx auf die ,Vagabund' auszurichten wird eine sensorische Rückkoppelung erzeugen, die uns die Messung verdirbt. Außerdem, wie sollte denn ein Engel auf das Schiff kommen?"

"Vielleicht Rei?" schlug Ritsuko vor.

"Rei?!"
 

"Wir haben nicht die geringste Ahnung", meinte die Wissenschaftlerin, "was Rei genau ist. Tyrrin hat mir ihre Daten gegeben, und wenn ich mich an meine eigenen Forschungen erinnere, sind sie identisch zum Körper, den Rei schon früher hatte."

Der Junge überlegte einen Moment. "Also einen geklonten Körper..." meinte er dann.

Ritsuko nickte. "Richtig", bestätigte sie, "ein geklonter Mensch/Engel-Hybrid. Gut möglich, daß sie inzwischen sehr viel mehr Engel als Mensch ist und daher Muster Blau ausstrahlt."

"Ich glaube aber eigentlich nicht", warf Harmis ein, "daß sie es zurück auf das Schiff geschafft hat. Seit dem Zwischenfall mit den Serien-EVAs sind die Dekontaminierungsmaßnahmen der Kapseln stark verschärft worden. Und ich wüßte nicht, wie sie sich aus eigener Kraft in den Erdorbit begeben könnte."
 

Die Wissenschaftlerin seufzte. "Dann wird uns fast nichts anderes übrigbleiben", sagte sie, "als das Schiff von Hand zu durchsuchen."

"Von Hand?" Der Junge war verwirrt.

"Wir fertigen tragbare Energiemusterscanner an", erklärte Ritsuko, "und suchen die ,Vagabund' systematisch nach Muster Blau ab. Nur so können wir sicher sein, daß auf dem Schiff nichts ist."
 

Harmis grinste. "Na, endlich bekommen die Schiffstechniker mal wieder was zu tun..."

In diesem Moment meldete sich ein Warnsystem.
 

---
 

"He, darf ich denn gar nichts eingeben?"

"Ach, auf der Liste ist noch viel Platz", grinste Asuka, während in dem Synthetisierer detailliert die Zubereitung von Hamburgersoße eingab.

Shinji drängelte sie zur Seite. "Du hängst jetzt schon eine Stunde lang an deinem Lieblingsessen rum", schimpfte er. "Langsam will ich auch mal! Ich hab keine Lust, mich nur von deinem europäischen Fast Food zu ernähren."

"Immer noch besser als jeden Tag die gleiche Nudelsuppe!" konterte Asuka.

"Die stammt von Misato!" verteidigte sich der Junge. "Ich kann doch nichts dafür, daß sie so auf ihre Tütengerichte steht..."

Mit einem Ellbogenstoß verschaffte sich das Mädchen Platz. Shinji stolperte zur Seite und fiel hin.
 

"Also... es müßte größtenteils Ketchup gewesen sein..." murmelte sie zu sich selbst, als sie bemerkte, daß Shinji immer noch am Boden lag. Seine Augen waren weit aufgerissen. Verwirrt sah sie auf hin hinab, dann siegte ihre Besorgnis.

"Shinji?"

Der Junge blinzelte, dann sah er Asuka direkt an.

"Der nächste Engel kommt", meinte er düster, "und sein Name ist Hamied."

"Der Engel der Wunder", erinnerte sich das Mädchen an Harmis' Worte. "Er soll so was wie die ,Verkörperung der Schönheit' sein. Sagt dir das was?"

Shinji schüttelte den Kopf. "Ich weiß nur ihre Namen", sagte er. "Aber wir müssen uns beeilen."

Asuka nickte nur.
 

---
 

"Bericht?"

"Wir haben ihn eben mit den Energiemustersensoren erfaßt", ertönte die Stimme von Brückenoffizier Chauris aus dem PersoKom des Kommandanten. "Er befindet sich im Moment auf Höhe des vierten Planeten und nähert sich mit großer Geschwindigkeit; direkter Kurs auf die ,Vagabund'. Voraussichtlicher Kontakt in dreißig Minuten."

Shennok überlegte einen Moment. "Was sagen die Sensordaten?" wollte er wissen.

"Der Engel hat körperliche Gestalt", war die Antwort, "Masse ungefähr 78 Tonnen. Er ist von einem schwachen Energiefeld umgeben. Noch kein Sichtkontakt, aber in etwas mehr als einer Minute ist er dafür in Reichweite."

"Erfassen sie ihn baldmöglichst optisch", befahl der Kommandant, "und richten sie den Partikelbeschleuniger auf ihn aus. Sobald er innerhalb der effektiven Reichweite ist, feuern sie. Und halten sie mich auf dem Laufenden!"

"Verstanden. Brücke Ende."
 

Shennok deaktivierte sein PersoKom und wollte sich eben nach draußen begeben, um den Alarmzustand auszurufen, als Asuka und Shinji sehr eilig in sein Bürogebäude rannten.

"Kommandant", keuchte der Junge, "es ist wieder ein Engel unterwegs..."

"Ich weiß schon", antwortete Shennok, "die ,Vagabund' hat ihn eben geortet. Halt dich schon mal bereit; wir werden zwar einen normalen Angriff versuchen, es kann aber sein, daß wir den Evangelion brauchen."

Asuka schüttelte heftig den Kopf. "Er wird nicht gehen", widersprach sie, "ich gehe!"

"Ach so?" fragte der Kommandant. "Gibt es dafür auch einen Grund?"

"Keine Zeit für Erklärungen, sie müssen einfach..."
 

In diesem Moment surrte das PersoKom wieder, und Shennok unterbrach mit einer Handbewegung den Redeschwall des Mädchens. "Ja?" meldete er sich.

"Der Engel ist in Reichweite der optischen Sensoren", meldete sich der Brückenoffizier. "Sichterfassung erfolgt... jetzt."

"In Ordnung", bestätigte der Kommandant. "Wie sieht er aus?"

Keine Antwort kam.

"Chauris, bitte beschreiben sie das Objekt!" wiederholte Shennok seinen Befehl.

Immer noch Schweigen.

Irritiert sah der Kommandant auf sein PersoKom. Die Diode, die die Verbindung anzeigte, leuchtete; es lag also keine Unterbrechung des Kontaktes oder ein technisches Versagen auf dem Schiff vor.

"Chauris?"
 

---
 

"Chauris, hören sie nicht?!"

Brückenoffizier Chauris hörte, aber er war nicht in der Lage, auch nur einen Finger zu rühren. Tränen der Freude liefen über sein Gesicht, während seine Augen auf den Sichtschirm gerichtet waren, wo soeben der Engel erschienen war.

Noch nie hatte er in seinem ganzen Leben etwas so Schönes gesehen.

Die leuchtendweiße Gestalt Hamieds, aus der nur seine unglaublich schönen Augen hervorschienen, hielten die Herzen aller Leute auf der Brücke in ihrem Bann. Weder Exo-alpha Raimor noch Astro-alpha Lasatra konnten sich gegen den Anblick wehren, den der Engel bot. Die Stimme des Kommandanten, die über die Brücke hallte, drang zwar an ihre Ohren, aber nicht in ihre Seelen.
 

Alle drei wußten genau, daß sie niemals wieder etwas schöneres sehen würden und jetzt in diesem Augenblick zufrieden sterben konnten.

Und Chauris handelte nach seinen Gefühlen, richtete das Partikelgeschütz der ,Vagabund' neu aus und feuerte.
 

Die Ladung zerriß die Sauerstofftanks des Raumschiffs mit einer solchen Wucht, daß es aus dem Orbit in Richtung Erdoberfläche geschleudert wurde.
 

Kapitel 20
 

"Brücke, melden sie sich!!!"

Mit ernster Miene wartete Shennok noch einige Sekunden auf eine Antwort, dann erlosch die Signalanzeige für die bestehende Verbindung. Abgebrochen. Was immer da oben gerade geschah: die Leute auf der ,Vagabund' waren anscheinend nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen.

"Sieht so aus, als bräuchten wir tatsächlich den Evangelion", meinte er zu Asuka und Shinji. "Beeilt euch; es dauert nicht mehr lange, bis der Engel das Schiff erreicht."

Das Mädchen nickte. "Bin schon unterwegs", gab es zurück. "Los, Shinji, du kannst mir beim Einsteigen helfen!"
 

Die beiden Kinder rannten zum EVA los, und Shennok sprintete in Richtung Zentrum der Siedlung, um Alarm zu geben.

Was war bloß oben auf dem Schiff los?
 

---
 

"Bei allen Galaxien... was habe ich getan..."

"Ja, genau", schrie Lasatra über den schrillen Alarmton hinweg, "was haben sie nur getan! Sauerstofftanks 2 bis 39 sind zerstört; explosive Dekompression auf den Decks sieben und acht! Die Backbordtriebwerke reagieren nicht; wahrscheinlich hat es die Steuerleitungen zerrissen. Und der Computer zeigt eine Wahrscheinlichkeit von siebenundneunzig Prozent für den Verlust der orbitalen Stabilität an!"

Der Brückenoffizier schluckte. "Wie steht es mit den Abteilungen?" wollte er wissen.

"Notfallmeldungen von überall!" berichtete Raimor. "Kein Kontakt zu Hangar 1 und den Botanikcentern; die optischen Sensoren und unsere externe Kommunikation sind außer Betrieb. Die Lebenserhaltung funktioniert noch, aber mit den zerstörten Sauerstofftanks wird sie keine halbe Stunde mehr arbeiten."
 

"Verflucht!" Chauris überlegte fieberhaft. "Was ist mit dem Engel?"

Der Exo-alpha überprüfte seine Daten. "Ist weiterhin auf direktem Kurs auf die ,Vagabund'", berichtete er dann. "Ich schlage aber vor, nicht noch einmal den optischen Kontakt herzustellen!"

"Worauf sie wetten können!" gab der Brückenoffizier zurück. "Lasatra, wie manövrierfähig sind wir noch?"

"Ich kann das Schiff noch wenden", meldete die Astro-alpha, "aber das war es dann auch. Nur mit den Steuerbordantrieben kommen wir nicht mehr aus dem Orbit. Und inzwischen berechnet der Computer die Wahrscheinlichkeit für einen Verlust der orbitalen Stabilität mit 99,9 Prozent. Wir werden abstürzen!"

Raimor fiel fast die Kinnlade herunter. "Das überleben wir nie!" keuchte er. "Die ,Vagabund' ist viel zu groß für den Eintritt in eine Atmosphäre!"
 

"Trotzdem wurde sie dafür entwickelt", antwortete Chauris grimmig. "Es scheint so, als müßten wir unser Schiff seiner letzten Bestimmung zuführen."

Lasatra blickte ihn besorgt an. "Sind sie sicher, daß die Systeme..."

"Aber vorher", unterbrach sie der Brückenoffizier, "müssen wir uns noch um etwas anderes kümmern. Wenden sie das Schiff!"
 

Mit diesen Worten sprang er aus seinem Sessel und lief zum IntraTrans.
 

---
 

"Viel Glück, Asuka!"

Das Mädchen hob grinsend den Daumen, als Shinji hinter ihr die Zugangskapsel schloß. Dann spürte sie das seltsame, mulmige Gefühl im Bauch, als die Antigravsysteme aktiviert wurden.
 

Was sollte denn schon schiefgehen, beruhigte sie sich selbst. Sie hatte EVA-01 erst vor wenigen Wochen noch selbst gesteuert, und da hatte es keine Probleme gewesen, außer der Sache mit der Synchronisation ganz am Anfang. Aber inzwischen wußte sie, worauf es bei diesem System hier ankam, und sie würde beweisen, was sie konnte.

Sie war ja auch kein Kleinkind mehr!

Mit einem unangenehmen Stoß fiel sie in den Sitz zurück, als die Schwerkraft wieder einsetzte und die Zugangskapsel in EVA-01 glitt.
 

Mit einem tiefen Durchatmen schloß das Mädchen die Augen und konzentrierte sich auf den Kontakt. Zu ihrer nicht geringen Überraschung gelang es ihr fast noch leichter als das letzte Mal. Vielleicht, weil Shinji dieses Mal nicht dabei war und nicht zwei Seelen synchronisieren mußten? Sie wußte es nicht, aber im Moment gab es ohnehin wichtigere Dinge. Jetzt galt es erst einmal, dieses Ding in Gang zu bringen....

*Hallo, Asuka*, dachte eine angenehme Stimme zu ihr.
 

Erschrocken fuhr das Mädchen zusammen. *Wer... wer ist da?*

*Hab keine Angst vor mir*, war die Antwort. *Ich will dir nichts tun.*

*Wer bist du?* beharrte sie.

Die Stimme schien zu überlegen. *Wenn du mich kennenlernen möchtest*, meinte sie dann, *mußt du dich mit mir vereinen.*

*Wieso sollte ich das tun?*

*Weil es sehr angenehm ist*, gab die Stimme sanft zurück. *Du erinnerst dich doch noch sicher daran, wie es war, sich zu vereinen... damals mit den anderen...*
 

Asuka stutzte einen Moment lang. *Du hast recht*, meinte sie dann, *aber jetzt ist keine Zeit dazu. Ich muß jetzt diesen EVA steuern.*

*Es geht leichter, wenn du dich mit mir vereinst*, dachte die Stimme.

*Du bist Shinjis Mutter, nicht wahr?* gab das Mädchen zurück. *Shinji hat mir von dir erzählt. Was willst du von mir?*

Die Stimme Ikari Yuis wurde fordernder. *Du mußt dich mit mir vereinen*, drängte sie, *damit ich dir alles erklären kann. Komm her zu mir.* Bei diesen Worten erschien eine Hand vor Asukas innerem Auge. *Komm her!*

*Nein!* dachte Asuka. *Ich weiß, worauf das hinausläuft. Du läßt mich dann nicht mehr gehen, wie Shinji, oder?*

*KOMM HER!*

Die Hand streckte sich dem Mädchen plötzlich entgegen und griff nach ihrem Hals.
 

Mit einem Aufschrei und unter Aufbringung all ihrer Willenskraft riß sich Asuka aus dem Griff los und brach die Verbindung zum EVA ab. Kaum, daß ihr Bewußtsein wieder bei ihr war, hieb sie auf den Knopf, der die Kapsel aus dem Evangelion ausstieß. Sie biß die Zähne zusammen, als der Stoß des Notsystems sie erst in den Sitz preßte und kurz danach der harte Aufschlag der Zugangskapsel auf dem Boden folgte.
 

Als schließlich kurz darauf die Ausstiegsluke geöffnet wurde und Shinji besorgt den Kopf hineinstreckte, blickte ihn Asuka traurig an. "Tut mir leid", meinte sie, "aber ich glaube, deine Mutter mag mich auch nicht so besonders."

Shinji atmete auf, als er sah, daß ihr nichts passiert war. "Es ist schon gut", sagte er. "Es war einen Versuch wert."

Dann spürte er eine Hand auf der Schulter und blickte sich um. Hinter ihm stand Shennok und sah besorgt auf ihn herab.
 

"Was können wir noch gegen den Engel tun?" wollte er wissen.

"Ich weiß es nicht", antwortete Shinji.
 

---
 

"Können sie mich hören?" erklang Chauris' Stimme über das interne Kommunikationssystem auf der Brücke.

"Laut und deutlich", gab Lasatra zurück. "Das Schiff ist ihrem Befehl entsprechend gewendet. Was sollen wir jetzt tun?"

Die Astro-alpha glaubte, einen Seufzer zu hören. "Berechnen sie eine Landebahn", fuhr der Brückenoffizier fort, "die das Schiff in die Nähe des errichteten Basislagers bringt und leiten sie das Protokoll Omega ein. Meine Autorisierung ist 318-C-V-723."

"Die Omega-Systeme wurden seit dem Start der ,Vagabund' nie benutzt!" warf Lasatra ein. "Wer sagt uns, daß sie nach fast vierhundert Jahren noch funktionieren?"

"Für einen Testlauf haben wir wohl kaum Zeit", kam Chauris' Antwort zurück. "Und ich vertraue darauf, daß eine lächerliche Jahreswende rhoanische Ingenieurskunst nicht wirklich beeindrucken kann."

Die Astro-alpha lachte bitter. "Und was machen sie solange?" wollte sie wissen.

"Ich kümmere mich um den Engel", gab der Brückenoffizier zurück und beendete die Verbindung.
 

Chauris schloß die Augen und tippte blind irgendeinen Abbruchcode ein. Dann öffnete er sie wieder, blickte aber nur auf die Tastatur und nicht auf den Bildschirm und bestätigte seine Eingabe.

Er rief danach das Steuerungsprogramm der Sturmkapsel auf und gab einen Kurs ein, der die Kapsel direkt auf den Engel lenkte. Vom Navigationsrechner ließ er sich die exakte Zeit anzeigen, die die Kapsel für den Flug brauchen würde. Es waren sieben Minuten und vierundsiebzig Sekunden.

Dann aktivierte er das Selbstzerstörungsprogramm und gab den Befehl, die Sturmkapsel sieben Minuten nach dem Start zu zerstören. Dafür brauchte er achtzehn Sekunden.

Exakt 56 Sekunden später aktivierte er die Startsequenz manuell.

Die Sturmkapsel schoß aus dem Hangar im Heck der ,Vagabund' auf Hamied zu.

Beim Anblick des Engels stiegen den Brückenoffizier erneut die Tränen in die Augen. Endlich würde sein Wunsch erfüllt werden.
 

---
 

"Was war das?!"

"Hm?" erkundigte sich Lasatra, die immer noch in ihre Berechnungen vertieft war.

Raimor wandte sich zu ihr um. "Eben ist eine Kapsel aus Hangar 2 gestartet!" meinte er.

"Ist doch egal", meinte die Astro-alpha unwillig. "Ha - ich hab's geschafft! Halten sie sich fest - wir leiten in weniger als einer Minute die Landeprozedur ein!"

"Was?!" Der Exo-alpha war entsetzt. "Aber... das Schiff ist doch viel zu groß..."

"Kennen sie nicht das Omega-Protokoll?" wollte Lasatra wissen.

Raimor schüttelte den Kopf. "Die technischen Daten der ,Vagabund' waren für meine Arbeit nie so interessant..."

"Dann werden sie es gleich kennenlernen!"
 

Die Astro-alpha gab die errechneten Daten ein und aktivierte das Omega-Protokoll.

Und die ,Vagabund' brach auseinander.
 

Eigentlich brach sie nicht wirklich auseinander, aber auf einen entfernten Beobachter hätte es durchaus so gewirkt. Doch was tatsächlich geschah, war die Trennung der verschiedenen Schiffssektionen in achtunddreißig einzelne, unabhängige Einheiten. Der Hauptantrieb wurde dabei vollständig abgesprengt, und die Schutzverkleidungen um die Einzeltriebwerke der separaten Sektionen wurden gelöst. Seit dem Bau der ,Vagabund' waren sie noch nie benutzt worden, aber sie waren ohnehin nur für eine Anwendung konstruiert gewesen.

Das Omega-Protokoll bedeutete das Ende der Reise. Die Sektionen des Schiffes würden auf einem Planeten landen, um nie wieder zu starten.
 

Die ,Vagabund' würde seßhaft werden.
 

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In inzwischen weiter Entfernung hatte Brückenoffizier Chauris keine Augen für das Schauspiel, das die in die Atmosphäre eindringenden Sektionen des Raumschiffs boten. Er sah nur den Engel, dem er inzwischen so nah gekommen war. Glücklich preßte er sein Gesicht und seine Handflächen an die Sichtscheibe, die von seinem Atem beschlug.

Hamied... so schön... so unsagbar schön...

Der Antimateriesprengkopf in der Sturmkapsel ging hoch, und die Detonation zerriß das Raumfahrzeug, den Insassen und den Engel gleichermaßen.
 

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"Schöne Bescherung", meinte Shennok Stunden später, als die Sektionen der ehemaligen ,Vagabund' sicher in etwa zehn Kilometern Umkreis um das Basislager gelandet waren und sich permanent im Boden verankert hatten. "Gestern noch der Kommandant eines Raumschiffs, heute Leiter einer Raumkolonie. Zum Bodendienst versetzt. Meine Karriere läuft ja großartig."
 

Harmis drückte seine Hand. "Mach dir nichts draus, Vater", meinte er, "es hätte schlimmer kommen können. Der Engel ist vernichtet, es gab zwar achtzehn Tote, aber sonst nur Leichtverletzte, und das Omega-Protokoll hat auch funktioniert. Irgendwann hätten wir die ,Vagabund' sowieso herunterbringen müssen. Wie hätten wir auch ohne die Großanlagen aus dem Schiff hier weitermachen sollen?"

Der Kommandant wuschelte mit seiner Hand durch das Haar seines Sohnes und lächelte. "Du hast ja recht, Harmis", meinte er. "Aber ich hätte schon gerne selbst das Kommando gegeben. Weißt du, ich hab mich immer auf den Moment gefreut, in dem ich meiner Mannschaft sagen kann: ,Aktiviert das Omega-Protokoll, wir haben eine neue Heimat gefunden.' Das hab ich jetzt verpaßt."

"Mach dir nichts draus", grinste der Junge, "du kannst dafür bestimmt ein paar hundert neue Gebäude einweihen..."
 

In diesem Moment trat Ritsuko zu den beiden. "Harmis, Kommandant", sagte sie, "ich müßte sie beide kurz sprechen."

"Was ist denn?" erkundigte sich Shennok.

"Jetzt, wo die Sektionen der ,Vagabund' voneinander getrennt sind", erzählte sie, "habe ich die Gelegenheit genutzt und eine Untersuchung beendet, die ihr Sohn und ich schon seit einigen Tagen führen. Wir haben eine Art Hintergrundstrahlung von Muster Blau entdeckt, die uns ziemlich verwirrt hat, weil sie einfach überall zu sein schien."

"Und?"

"Als ich eben die Sensoren überprüft habe", fuhr die Wissenschaftlerin fort, "habe ich das Muster wiederentdeckt - aber dieses Mal klar definiert! Anscheinend war es einfach nur viel zu nahe an der Sensorenphalanx - darum die Unschärfe, wie bei einem alten Linsenfernrohr, wenn das Beobachtungsobjekt zu nahe an der Linse ist."

"Ja, und?"

Ritsuko lächelte. "Sie werden es nicht glauben", sagte sie. "Das Muster geht von der medizinischen Station aus."

"Was?!"

"Tyrrin hat es identifizieren können. Es ist das Element, das sie als ,Etherium' bezeichnen."
 

Kapitel 21
 

Einen Moment lang waren Shennok und Harmis absolut sprachlos.

"Da muß ein Fehler vorliegen!" entfuhr es schließlich dem Jungen, der zuerst seine Worte wiederfand. "Das Etherium kann nichts mit den Engeln zu tun haben! Wir haben es von Rhoan mitgebracht - es ist ein seltenes Mineral, das wir nirgendwo sonst gefunden haben. Und auf Rhoan hatten wir nie so etwas wie die Engel hier."

Ritsuko schüttelte den Kopf. "Die Messungen sind aber einwandfrei", sagte sie. "Das Muster Blau wurde einwandfrei bestätigt. Wenn es mir gestattet ist, würde ich gerne weitere Untersuchungen am Etherium anstellen."
 

"In Ordnung", stimmte der Kommandant zu. "Jetzt, wo unsere Verteidigungssituation ungleich schwerer geworden ist, können wir jede Information brauchen, die wir über die Engel bekommen können. Setzen sie sich mit der Abteilung Exobiologie in Verbindung; die werden sich freuen, mal wieder was zu tun zu bekommen."

Die Wissenschaftlerin nickte dankbar und machte sich gleich auf den Weg. Als sie außer Hörweite war, sah Harmis zu seinem Vater auf.

"Hältst du es für klug", meinte der Junge, "ihr das so einfach zu erlauben? Ich meine, das Etherium gehört zu den wenigen Geheimnissen, die wir selbst noch nicht verstehen. Alles mögliche könnte passieren, wenn sie damit herumexperimentiert."

Shennok schwieg einen Moment. "Sie könnte aber auch Erfolg haben", antwortete er dann. "Weißt du, seit über fünfhundert Jahren haben sich jetzt Wissenschaftler aus Rhoan mit dem Etherium beschäftigt - ohne Erfolg. Vielleicht hilft es, wenn jemand mit einer neuen Perspektive an die Sache herangeht."
 

"Du tust das also nicht nur", wollte Harmis wissen, "weil du mich selbst mit Etherium erschaffen hast und sichergehen willst, daß ich kein Engel bin?"

Sein Vater antwortete nicht.
 

---
 

"Nichtsnutziges, blödes Ding!"

Wütend trat Asuka an das Bein von EVA-01. Vorsichtig schritt Shinji von hinten an sie heran und wollte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter legen, doch sie schüttelte ihn ab, fuhr herum und starrte ihn voller Zorn an.

Der Junge schluckte. "Es... es ist nicht deine Schuld..." meinte er.

"Weiß ich auch!" fuhr ihn Asuka an. "Dieses... Scheißgerät zickt einfach nur herum! Ich meine, acht Versuche, und jedes Mal greift mich diese beschissene Seele an! Das nächste Mal gehe ich am besten auf die Verbindung ein und verpaß der Schlampe da drin ein paar, die sich gewaschen haben!"
 

"Immer mit der Ruhe", gab Shinji zurück. "Wenn es nicht klappt, dann klappt es eben nicht. Im Moment brauchen wir sowieso keinen Evangelion."

"Und wenn der nächste Engel kommt?" wollte Asuka wissen.

Der Junge seufzte. "Dann können wir immer noch sehen", meinte er, "was wir tun. Ich meine ja nur; immerhin haben die Rhoani alleine schon zwei von ihnen ausschalten können. Bestimmt fällt ihnen noch mehr ein."

"Aber wir sind dann abgemeldet", gab das Mädchen wütend zurück, "und alles nur wegen diesem störrischen Mülleimer hier!" Sie wandte sich wieder um und trat nochmals gegen den Evangelion. "Scheißkiste!"
 

Shinji legte ihr nochmals die Hand auf die Schulter, und dieses Mal beruhigte sich Asuka tatsächlich. Sie atmete zweimal tief durch, und dann drehte sie sich langsam wieder zu Shinji um. "Weißt du", sagte sie leise, "das alles wäre gar nicht so schlimm, wenn diese arroganten Rhoani uns wenigstens ernstnehmen würden."

"Was?" Der Junge war verwirrt. "Aber... aber das tun sie doch..."

"Tun sie eben nicht! Sie halten sich für was besseres als wir, bloß weil sie schon Raumschiffe haben und zu fremden Planeten fliegen können."

"Wie kommst du darauf?"

Das Mädchen blickte zu Boden. "Ich... ich hab vor ein paar Tagen mit Harmis gesprochen... und dieser Affenarsch hat gesagt, ich wäre ein unterentwickeltes Kleinkind!"

"Was? Aber..."

"Ich glaube", fügte sie leise hinzu, "diese Rhoani nehmen uns alle nicht für voll. Ihre eigenen Kinder leiten bei ihnen schon wissenschaftliche Abteilungen, und Misato haben sie wochenlang einfach ignoriert, als ob sie gar nichts könnte. Ich hab eigentlich gar keine Lust, noch mal irgendwas für sie zu tun. Das einzige, was wir ihnen noch voraus haben, ist EVA-01..."
 

"...und der funktioniert nicht", vollendete Shinji ihren Satz. "Ich verstehe, was du meinst, glaube ich. Aber im Moment bleibt uns nicht viel übrig, als darauf zu vertrauen, daß sie das Richtige tun. Wir sind einfach davon abhängig, daß sie uns helfen."

Asuka blickte wieder auf. "Und genau deshalb", meinte sie leise, fast flüsternd, "hasse ich sie!"
 

---
 

Vierzehn Tage vergingen, und die Besiedlung der Erde ging weiter. Jetzt, da die Sektionen der ,Vagabund' gelandet waren und als feste Einrichtungen zur Verfügung standen, mußte nicht mehr alles benötigte Material aus dem Orbit heruntergebracht werden, was die Arbeiten enorm beschleunigte. Sechs Sektionen waren inzwischen vollständig zerlegt worden, um Baumaterialien zu bekommen, und ansonsten arbeiteten die übrigen Abteilungen mit höchstem Tempo daran, weitere natürliche Ressourcen der Erde zu finden und nutzbar zu machen.

Shennoks größte Sorge lag allerdings in der Verteidigung der neuen Kolonie, und darum war seine erste Priorität gewesen, die Waffensysteme so schnell wie möglich wieder in Betrieb zu setzen. Das war gar nicht so einfach gewesen; die Laserbatterien verloren innerhalb der Atmosphäre zu schnell ihre Effizienz, um ein Ziel im Orbit anzugreifen, und das Partikelgeschütz ionisierte beim Abfeuern die Luft derart, daß eine Sicherheitszone von drei Kilometern um es herum errichtet werden mußte, in der sich niemand aufhalten durfte.
 

Und dann war da noch die Forschung am Etherium, die auch nicht voranzuschreiten schien...
 

---
 

"Ich denke, so langsam kommen wir zu einem Ergebnis..."

Raimor schüttelte den Kopf. "Sie sind einfach zu optimistisch, Akagi-Ritsuko", gab er zurück. "Sie müssen selbst zugeben, daß ihre Vermutungen schlicht und ergreifend Vermutungen sind, vage und ohne jeden Beweis. So etwas können sie nicht als Ergebnis vorlegen."

Die Wissenschaftlerin sah auf. "Ohne jeden Beweis?" meinte sie. "Vielleicht - aber mit eindeutigen Indizien. Sie vergessen, daß ich mich schon früher mit den Engeln beschäftigt habe; und diese Proben hier stammen eindeutig von einem Engel. Sie sind zwar versteinert, aber die Ergebnisse sind unbestreitbar."
 

"Die Varianz ist viel zu groß", gab der Exo-alpha zurück. "Die Engel wären jeweils individuelle Spezies und würden nicht einmal der gleichen Gattung angehören, wenn das hier ein Engelsfossil wäre. Diese Daten haben viel zu wenig Ähnlichkeit mit denen, die wir aus den Überresten von Maktiel gewonnen haben."

Ritsuko überlegte einen Moment. "Wie war das noch gleich mit dem Etherium", fragte sie dann, "wo wurde es noch mal auf Rhoan gefunden?"

"Die einzige bekannte Konzentration wurde am Grund eines Maares gefunden", sagte Raimor. "Eine Menge von etwa vier Tonnen, von der wir das größte Bruchstück - etwa 0,8 Tonnen schwer - mit auf unsere Reise genommen haben."
 

"Wie entstehen Maare?" wollte die Wissenschaftlerin wissen.

Der Exo-alpha überlegte einen Moment. "Durch vulkanische Aktivität", sagte er dann. "Ein Vulkan explodiert, und im Laufe der Jahrtausende füllt sich der Krater mit Wasser auf. Wieso?"

"Auf der Erde sind einige Maare anders entstanden", murmelte Ritsuko, "und dann würde das durchaus Sinn machen."

"WAS würde Sinn machen?" fragte Raimor, der nun doch ganz allmählich die Geduld verlor.

Die Frau blickte zu ihm auf. "Wissen sie", gab sie zurück, "warum ich mir so sicher bin, daß es sich bei diesem Etherium um das Stück eines Engels handelt?"

"Nein, weiß ich nicht! Sagen sie es mir endlich?"
 

Ritsuko lächelte. "Weil ich exakt diesen Engel hier schon einmal untersucht habe..."
 

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"Das ist unfaßbar!"

Raimor nickte. "Ich denke auch, daß sie sich irren muß", stimmte er dem Kommandanten zu. "Die Implikationen einer solchen Theorie wären... absolut haarsträubend!"

"Es würde aber erklären", warf Harmis ein, "wieso Menschen und Rhoani einer Spezies angehören!"

Der Exo-alpha lachte auf. "Also bitte", meinte er, "die Panspermiums-These ist schon lange überholt!"

"Weil es damals keine weiteren Beweise für ihre Richtigkeit gab!" widersprach der Junge. "Außerdem wurde sie zur Zeit der Zaramin-Regierung aufgestellt, und damals wurden wissenschaftliche Thesen, die nicht ins Weltbild paßten, kurzerhand unter den Tisch gekehrt."

"Könnte mir mal jemand erklären", meldete sich Shennok, "wovon jetzt schon wieder die Rede ist?"
 

Harmis nickte eilig. "Entschuldige, Vater", meinte er. "Paß auf: Die Panspermiums-These besagt, daß die Rhoani nicht durch einen Zufall entstanden sind, sondern daß in der Vorgeschichte unseres Planeten eine fremde Spezies landete und ihre genetischen Erbanlagen auf Rhoan hinterließ. Das taten sie auf einer ganzen Menge von Planeten, weil das ihre Art war, den Planeten zu kolonisieren. Rhoan wäre also angeblich nichts anderes als die Kolonie einer fremden Rasse."

"Und was hat das jetzt mit dem Etherium zu tun?" wollte der Kommandant wissen.

"Akagi-Ritsuko behauptet", mischte sich nun wieder Raimor ein, "das Etherium würde in Wirklichkeit von der Erde stammen und wäre bei einer gewaltigen Explosion fortgeschleudert worden, um nach 15 Millionen Jahren Flug auf Rhoan zu landen. Dort hätten sich aus den Bruchstücken, die beim Eintritt in die Atmosphäre abgesplittert seien, Teile menschlichen Erbguts gelöst und so über dem Planeten verteilt. Ergo stammen wir Rhoani von den Menschen ab."

Shennok verzog das Gesicht. "Und wie kann sie sich so sicher sein", meinte er, "daß das Bruchstück ausgerechnet von der Erde stammt, wenn das Erbgut von Menschen und Rhoani identisch ist?"
 

"Sie sagt", berichtete Harmis nun wieder, "der Rest wäre das Stück eines Engels, den sie schon einmal untersucht hätte. Sein Name soll Adam sein..."
 

---
 

Shinji fuhr mit einem Keuchen auf. Im Bett neben ihm wandte sich Misato schläfrig zu ihm um.

"Was ist denn?" murmelte sie.

"Tzadkiel kommt..." sagte der Junge tonlos.

"Um diese Uhrzeit?" gähnte die Frau. "Diese Engel haben auch gar keinen Respekt vor der Nachtruhe. Na ja, ich sag dann mal schnell bei der Verteidigungszentrale Bescheid. Zieh dich schon mal an, nur für den Fall."

Shinji nickte. "Ich denke", meinte er dann leise, "ich werde auch Asuka wecken..."
 

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"Verstanden, Misato. Scan wird durchgeführt!"

Hyuga Makoto, der die Nachtschicht hatte, beendete die Verbindung und stellte den Kontakt zur Sensorstation her. Er gab schnell eine Anforderung auf eine Energiemustererfassung durch und wartete auf das Ergebnis.

Das ließ nicht lange auf sich warten. Schon wenige Sekunden später erschien auf seinem Bildschirm eine Karte der Umgebung der Kolonie, und auf dieser Karte erschien in etwa dreißig Kilometer Entfernung ein blauer Punkt, der sich im Moment in einem kleinen Gebirge befand und sich langsam in Richtung des Meeres bewegte.

Als nächstes aktivierte der Computertechniker die Orbitalbeobachtungsstationen, die die Rhoani errichtet hatten, indem sie kurzerhand ihre nicht mehr benötigten Landekapseln ins All geschossen hatten. Er suchte sich eine Station, die über dem Gebiet schwebte und ließ sich ein Luftbild anzeigen. Mehrere Vergrößerungsstufen später hatte er die langsame Bewegung entdeckt, und er vergrößerte das Bild noch weiter, bis er den Engel genau erkennen konnte.
 

Hyuga ließ ein anerkennendes Pfeifen hören. "In der Tat", murmelte er, "das ist nicht ohne..."
 

Auf dem Bildschirm war die Gestalt eines riesigen Ritters zu sehen, der sich mit einem gewaltigen Zweihänder einen Weg durch die Berge schlug. Dabei zerschnitt sein Schwert das Gestein, als wäre es Butter.
 

Kapitel 22
 

"...verstanden."

Shennok deaktivierte sein PersoKom und ließ langsam den Arm sinken. Also wieder ein Angriff. Jetzt würde sich zeigen, wie viel die Verteidigungsmaßnahmen wert waren, die er in Auftrag gegeben hatte. Mit einem kurzen Durchatmen stellte er eine Verbindung zur Pionierbasis Nummer 8 her, die etwa 20 km nördlich der Kolonie errichtet worden war.

"Außenposten 8?"

"Shennok hier", meldete sich der Kommandant. "Wie weit sind ihre Vorbereitungen?"

Es entstand eine kurze Pause, ehe die Antwort kam. "Die Rückmeldung vom Stoßtrupp sind eben eingetroffen. Die Pioniere sind in Position. Sichtkontakt mit dem Zielobjekt. In Schußreichweite in drei Minuten."
 

"Sehr gut", antwortete Shennok. "Das Feuer ist hiermit freigegeben. Sobald der Engel in Kernschußweite ist, sollen sie ihm nach eigenem Ermessen einheizen."

"Verstanden, Kommandant", bestätigte die Stimme am anderen Ende. Ich gebe weiter: Feuer freigegeben nach eigenem Ermessen."

"Und noch etwas", fügte Shennok hinzu. "Wenn das Ziel zu nahe kommt, sollen sich die Pioniere zur Kolonie zurückziehen. Außenposten 8 wird dann aufgegeben. Nach allen Daten scheint der Engel nur im Nahkampf angreifen zu können, also kann sich jeder in Sicherheit bringen. Ich will hinterher nicht hören, daß ein paar Leute einen unsinnigen Heldentod gestorben sind, verstanden?"

"Verstanden, Kommandant."
 

Die Verbindung wurde beendet, und Shennok seufzte. Er hatte ein sehr ungutes Gefühl bei der ganzen Sache.
 

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"Ganze Einheit bereithalten - auf mein Kommando in 5... 4... 3... 2... 1... JETZT!"

Fünfundzwanzig rhoanische Pioniere aktivierten die Antigrav-Generatoren ihrer SecuriSuits und schwebten aufwärts in die Nacht. In etwa einem Kilometer Entfernung brach Tzadkiel, der Engel der göttlichen Gerechtigkeit, gerade aus dem Gebirge.

Der Stabsunteroffizier, der die Einheit anführte, schluckte. Das Ding war riesig, mindestens fünfzig Meter hoch, und es schien in eine fast stromlinienförmige Rüstung gekleidet zu sein, die eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Insektenpanzer hatte. In den Händen schwang es ein überdimensionales Schwert, das mindestens ebenso lang war wie das Biest groß.
 

"In Ordnung, Leute", sagte er zu seiner Einheit, "nach allem, was wir wissen, ist das Biest da vorne so etwas wie ein Lebewesen. Das heißt, daß es lebenswichtige Körperteile haben muß. Feuert für den Anfang auf den Kopf und auf den Oberkörper. Wenn das keine Wirkung hat, streuen wir das Feuer weiter. Alles verstanden?"

Die Stimmen von vierundzwanzig Pionieren, die "Jawohl!" brüllten, hallten in seinem Kopfhörer wider.

"Also dann: Feuer!"

Aus fünfundzwanzig Mikroraketenwerfern ergoß sich Tod und Vernichtung auf den Engel.
 

Als in der Entfernung die ersten Einschläge zu hören und zu sehen waren, nickte der Anführer des Schwere-Waffen-Teams seinen Leuten nur wortlos zu, und die Pioniere rissen die Tarnverkleidungen von den fünf errichteten Maser-Lafetten und richteten die Mikrowellengeschütze auf den Brustkorb Tzadkiels aus.

"Feuer frei."
 

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"Bericht?"

"Beschuß zeigt keine Wirkung!" ertönte die aufgeregte Stimme des Beobachters über Shennoks PersoKom. "Weder die panzerbrechenden Mikroraketen noch die Mikrowellen-Laser haben einen Effekt. Das verdammte Ding hat anscheinend noch nicht mal einen Kratzer und ignoriert uns einfach!"

Der Kommandant nickte in Gedanken zu sich selbst; so etwas hatte er schon befürchtet. "Verstanden", gab er zurück. "Neue Befehle an beide Einheiten: zurückfallen in Richtung Kolonie, aber den Beschuß aufrechterhalten. Sehen sie zu, daß sie den Engel irgendwie in die Reichweite der Türme bringen können."

Wieder entstand eine kurze Pause, während der Beobachter die Befehle weitergab. "Kommandant", meinte er schließlich, "das Schwere-Waffen-Team schlägt den Einsatz von Turm 5 vor - der Engel ist schon in Reichweite..."
 

"Abgelehnt", sagte Shennok sofort. "Nicht, solange wir nicht alle anderen Möglichkeiten in Betracht gezogen haben. Ende."

Er deaktivierte sein PersoKom wieder und wollte eben den Geschütztürmen 1-4 neue Anweisungen geben, als er merkte, daß er in der provisorischen Kommandozentrale nicht mehr alleine war.

Rei stand hinter ihm.

Sofort hatte er den Nadler vom Tisch gegriffen, fuhr herum und feuerte eine Salve auf das Mädchen ab. Doch wenige Zentimeter vor ihrer Brust prallten die Hochgeschwindigkeitsgeschosse auf ein rötlich schimmerndes Hindernis und verglühten daran.
 

"Es ist sinnlos", meinte Rei leise, fast tonlos. "Eure Waffen werden Tzadkiel nicht mehr aufhalten können; so wenig, wie diese Waffe mich aufhalten kann. Warum mischt ihr euch überhaupt in das Schicksal dieser Welt ein?"

Der Kommandant kniff wütend die Augen zusammen. "Weil diese Welt inzwischen zu unserer Heimat geworden ist", sagte er. "Und weil du und diese Engel uns dazu zwingen, uns zu verteidigen."

"Euch wird nichts geschehen", sagte das Mädchen, "wenn ihr die Engel gewähren laßt. Diese Welt hier kann euch ganz alleine gehören, wenn ihre alten Bewohner gegangen sind. Ihr müßt nicht mit ihnen gehen."

Shennok lächelte grimmig. "Inzwischen anscheinend leider doch."

"Und wieso glaubt ihr das?"

"Weil Menschen und Rhoani..."
 

In diesem Moment flog die Tür der Kommandozentrale auf und Asuka und Shinji stürzten hinein.

"Kommandant, wir... Rei?!"

Das blauhaarige Mädchen verschwand in einem orangefarbenen Schleier.

Shennok atmete auf und ließ den Nadler sinken.
 

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"Statusbericht?" wollte der Beobachter wissen.

"Alle Systeme bereit", war die Antwort von Turm 4. "Ziel erfaßt."

Der Offizier des Spähtrupps lächelte grimmig. "Türme 1 bis 4 bereithalten - auf 5... 4... 3... 2... 1... Feuer!"

Und aus vier gewaltigen Lasertürmen, die ehemals die Schiffsgeschütze der ,Vagabund' gewesen waren, zuckten unglaublich hochenergetisierte, bläuliche Lichtblitze auf Tzadkiel zu. Die Luft flimmerte vor Hitze.
 

Kurz, ehe die Strahlen auf den Brustpanzer des Engels trafen, schienen sie von einem rötlichen Leuchten in Form mehrerer Sechsecke aufgehalten zu werden, aber nur unvollständig: Ein Teil der gewaltigen Energieladung drang hindurch und traf den Oberkörper des riesenhaften Ritter und schmolz einen guten Teil der Panzerung weg. Der Riese hielt in seinem Vormarsch inne, von der Stärke des Angriffs anscheinend überrascht.

"Ziel beschädigt, wiederhole, Ziel beschädigt", rief der Beobachter erfreut in sein PersoKom. "Feuer fortsetzen!"

"Systeme sind noch zu heiß", kam sofort die Antwort zurück. "Die Kühlaggregate müssen erst die Energiekollektoren auf Betriebstemperatur bringen, sonst fliegt uns hier alles um die Ohren!"

Der Offizier nickte in Gedanken und wollte gerade nachfragen, wann die nächste Salve bereit wäre, als sich der Engel hinabbeugte und etwas vom Boden aufzuheben schien.

Es war ein Gesteinsbrocken von der Größe der Faust des riesigen Wesens.
 

"Türme 1 bis 4, beeilen sie sich", warnte der Rhoani, "ich glaube, das Ding hat etwas vor."

Ein verächtliches Schnauben kam aus dem PersoKom. "Das sagt sich so einfach", kam die Reaktion der Feuerleitstelle. "Wir können hier auch nur auf die Technik warten. Außerdem, was heißt ,es hat etwas vor'? Ich dachte, es würde nur Angriffe auf nächste Nähe..."

In diesem Moment hob Tzadkiel den Arm und schleuderte den riesigen Stein.

"Turm 2, Feindfeuer!" brüllte der Beobachter in sein PersoKom, als er sah, in welche Richtung das Wurfgeschoß flog, aber zu spät. In der Entfernung explodierte Turm 2 in einem spektakulären Feuerball, als der Findling zielgenau dort einschlug.

Der Engel bückte sich nach einem weiteren Felsen.
 

"Alle Türme sofort evakuieren!" schrie der Offizier des Spähtrupps in sein PersoKom. "Die Türme sofort evakuieren!"
 

---
 

"Was ist jetzt?!"

Asuka trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, während Shennok langsam den Arm mit dem PersoKom sinken ließ.

"Ich habe eben die Nachricht erhalten", sagte er mit finsterer Miene, "daß der Engel auch von unseren Lasertürmen nicht aufgehalten werden konnte. Ich habe also nicht mehr viele Möglichkeiten. Ich könnte höchstens noch das Partikelgeschütz in Turm 5 feuern lassen... aber wenn ich das befehle, dann wird das ganze Gebiet zwischen dem Turm und dem Engel verwüstet und auf Jahre hin unbewohnbar. Also..."

"Also müssen wir EVA-01 einsetzen", unterbrach ihn das Mädchen und stieß Shinji mit dem Ellenbogen an. "Los, du kannst mir wieder beim Einsteigen helfen!" rief sie, drehte sich um und rannte los.

"Warte!" rief der Junge und folgte ihr eilig.
 

Der Kommandant blickte den beiden hinterher und seufzte. Natürlich machte er sich Sorgen, aber innerlich war er irgendwie doch froh, daß die beiden Kinder so selbstverständlich und so freiwillig in den Kampf gingen.

Er wußte nicht, ob er es über sich gebracht hätte, ihnen das zu befehlen.
 

---
 

"Jetzt warte doch mal einen Moment!"

Asuka machte immer noch keine Anstalten stehenzubleiben, also blieb Shinji gar nichts anderes übrig, als sein Tempo zu beschleunigen und neben sie aufzuholen. "Hast du vor", keuchte er im Rennen, "den Evangelion wieder selbst zu steuern?"

"Worauf du wetten kannst!" gab das Mädchen gleichermaßen schwer atmend zurück. "Dieser Engel wird mich noch kennenlernen!"

Der Junge schüttelte den Kopf. "Das wird so nicht klappen", gab er zurück. "Du wirst wieder mit der Seele meiner Mutter kämpfen müssen!"

"Dann besiege ich sie eben diesmal!"

"Was, wenn ich das für dich tue?"

Asuka blieb abrupt stehen.
 

"Was hast du gesagt?!"

Shinji atmete keuchend durch. "Ich sagte, was, wenn ich das für dich tue?"

Das Mädchen hob zweifelnd eine Augenbraue. "Wie meinst du das?"

"Wir steigen beide gemeinsam in den EVA", schlug der Junge vor. "Ich synchronisiere zuerst und beschäftige die Seele meiner Mutter. Danach synchronisiert du und übernimmst die Kontrolle über den Evangelion. Ich glaube nicht, daß sie uns beide hindern kann."

Asuka überlegte einen Moment. "Warte mal..." sagte sie dann, "das heißt aber, daß deine Seele vielleicht gefangen genommen wird!"

"Wenn das passiert", wollte Shinji wissen, "wirst du nachkommen und mich da rausholen?"

Das Mädchen nickte ernst. "Aber klar doch!" gab sie zurück. "Ich laß dich nicht noch mal alleine!"

"Dann machen wir es so", meinte der Junge und streckte Asuka die Hand entgegen.
 

Das Mädchen schüttelte sie grimmig lächelnd, und dann rannten beide weiter auf EVA-01 zu.
 

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Unaufhaltsam setzte Tzadkiel seinen Vormarsch fort. Nach der Zerstörung der vier Türme, die ihn nur wenige Minuten gekostet hatte, hatte der Engel wieder sein riesiges Schwert geschultert und den Marsch in Richtung der Kolonie wieder aufgenommen. Er ignorierte die auf ihn einprasselnden Mikroraketen, er ignorierte die Salven der Maser in seinem Rücken.

Dann erhob sich in der Finsternis der Schatten von EVA-01.

Und Tzadkiel blieb stehen, nahm sein Schwert in beide Hände und ging in Verteidigungshaltung.
 

Mit einer raschen Bewegung riß der Evangelion sein ProgMesser aus dem Schulterhalfter und rannte auf den Engel los, der anscheinend völlig unbewegt dastand und wartete. Noch vierhundert Meter trennten die beiden Giganten... noch dreihundert ...noch zweihundert... noch einhundert...

Ohne jede Vorankündigung riß Tzadkiel plötzlich seinen Zweihänder hoch und schwang ihn in Richtung der Beine von EVA-01.

Mit einem gewaltigen Salto sprang der Evangelion über den Engel, und das riesige Schwert verfehlte ihn um einige Meter und durchschnitt nur die Luft. Statt dessen sauste das ProgMesser des EVAs auf Tzadkiels Helm hinab und traf ihn frontal.

Mit einem Klirren prallte es ab und hinterließ nicht einmal einen Kratzer.

Asuka begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen.
 

Der Engel fuhr herum und schwang den Zweihänder in einem weiten Bogen in Richtung von EVA-01, doch ein weiterer hastiger Sprung brachte den Evangelion außer Reichweite. Langsam ging er in geduckte Haltung und hielt das Messer vor sich, immer zum Stich bereit, doch nun kam Tzadkiel auf ihn zugestampft. Unter einem schnellen Seitenhieb des Zweihänders duckte sich der Evangelion weg; der danach folgende Stich jedoch traf ihn in der Seite. Die Panzerung splitterte ab, und Blut schoß aus Wunde, wo das Schwert ins Fleisch eingedrungen war.

Asuka biß die Zähne zusammen und rammte das ProgMesser mit voller Wucht auf den Arm des Engels der gerade vor ihr war, aber abermals prallte die Klinge wirkungslos an der Rüstung ab. Hatte dieses Ding denn gar keine Schwachstellen? Höchstens die Gelenke der Panzerung sahen etwas angreifbarer aus, oder die Stelle, wo der Helm auf der Brustplatte saß, aber das waren so schmale Schlitze, daß sie kaum eine Chance sah, dort durchzukommen.

Dann sah sie die andere Möglichkeit, die sie hatte.
 

Mit einer schnellen Drehung brachte sie EVA-01 wieder aus der Angriffsreichweite des Engels. Wie sie erwartet hatte, drehte sich Tzadkiel zu ihr um. Langsam ging sie rückwärts und legte die linke Hand ihres Evangelions vorsichtig an die Rückseite der Klinge des ProgMessers, als wolle sie damit einen Hieb abfangen. Der Engel zögerte kurz, aber dann hob er sein Schwert mit beiden Händen hoch über den Kopf, um es auf seinen Gegner herabfahren zu lassen.

In diesem Moment warf EVA-01 das ProgMesser.
 

Mit einem häßlichen Klirren bohrte sich die Klinge exakt in die Stelle der Brustpanzerung, wo zuvor die Panzerung durch das konzentrierte Feuer der vier Lasertürme geschmolzen war. Das Messer drang bis zum Heft ein, und Tzadkiel stolperte getroffen zurück. Sofort war EVA-01 mit zwei schnellen Schritten bei ihm, griff mit einer Hand nach dem Schwert, stieß ihn mit der anderen zu Boden und entwand ihm den Zweihänder.

Ein gewaltiger Hieb des EVAs trennte den Kopf des Engels von seinem Körper, und ein Schwall eitrig-gelben Blutes ergoß sich über ihn.
 

Asuka atmete tief durch. Sie ließ den Zweihänder sinken, schob ihren Siegesjubel für später auf, konzentrierte sich auf die Synchronisation und ließ ihre Seele ganz und gar in den Evangelion sinken.
 

Kapitel 23
 

"Ich habe jetzt die Bestätigung, Kommandant: Der Engel wurde besiegt, wiederhole, der Engel wurde besiegt."

Shennok atmete erleichtert auf. "Gut", war alles, was er sagen konnte. "Und der Evangelion?"

"Anscheinend nur geringe Schäden", kam die Antwort aus dem PersoKom. "Im Kampf hat er wohl einen Treffer an der Hüfte abbekommen, aber nicht tief."

"Hervorragend." Der Kommandant nickte zufrieden. "Wie sieht es mit dem Piloten aus?"

"Moment." Die Stimme schwieg einen Moment, und als sie sich wieder meldete, klang sie etwas unsicher. "Keine Daten."
 

Shennok sah überrascht auf. "Was soll das heißen", fragte er, "keine Daten?"

"Die Piloten sind bisher noch nicht wieder aufgetaucht", war die Antwort.

"Wieso ,die Piloten'?"

Wieder schwieg die Stimme aus dem PersoKom einen Moment lang, aber dieses Mal wohl aus Überraschung. "Die Kinder sind beide gemeinsam eingestiegen", war die Antwort, "wie schon das letzte Mal. Wußten sie das nicht?"

"Nein, das war mir unbekannt", gab der Kommandant zurück. "Irgendwelche Reaktionen von EVA-01??"

"Negativ", meinte die Stimme. "Der Evangelion steht einfach nur da und rührt sich nicht.

Shennok stöhnte auf. "Was ist denn jetzt schon wieder los?"
 

---
 

*Du bist also zurück, Shinji.*

Kaum, daß der Junge mit EVA-01 synchronisiert hatte, reckten sich ihm auch schon fordernd die Hände seiner Mutter entgegen. Doch anstatt sich zu wehren, ergriff er sie fest und zog sie eng an sich heran. Vor seinem geistigen Auge erschien das überraschte Gesicht Ikari Yuis, dann war sie auch schon bei ihm, und die beiden Seelen verschmolzen miteinander.

Einen Moment lang schwebten Mutter und Sohn einfach nur wortlos nebeneinander und sahen sich an. Dann ergriff Yui das Wort.

"Du hast dich also freiwillig zur Vereinigung entschlossen", stellte sie fest. "Woher der Sinneswandel?"

Shinji schüttelte traurig den Kopf. "Ich habe meine Meinung nicht geändert, Mama", sagte er. "Ich bin zurückgekommen, weil ich gehofft habe, mit dir reden zu können. Und weil ich Angst hatte, du könntest Asuka sonst etwas antun."
 

Yui lächelte. "Ich könnte ihr niemals schaden", meinte sie sanft. "Nicht, wenn dein Herz so sehr an ihr hängt, Shinji. Aber ich konnte auch nicht zulassen, daß sie EVA-01 steuert. Das verstehst du doch, oder?"

"Ich denke schon", antwortete der Junge. "Aber daß ich dich verstehe, heißt nicht, daß ich mit dir einer Meinung bin. Ich denke immer noch, daß es sich lohnt, für die Welt da draußen zu kämpfen."

"Und du würdest deine Meinung nicht einmal für mich ändern?" fragte seine Mutter.

Shinji war einen Moment verwirrt. "Das verstehe ich nicht", gab er zurück. "Was hat das damit zu tun?"

"Überleg einmal", sagte Yui, "was es für mich bedeutet, wenn du deinem Wunsch folgst und der Menschheit die Vereinigung im Jenseits verweigerst. EVA-01 ist unsterblich. Das heißt, ich würde bis in alle Ewigkeit hier bleiben, alleine und einsam."
 

"Ich würde dich doch nicht alleine lassen!" warf Shinji ein.

Seine Mutter lächelte traurig. "Ja, aber wie lange würdest du noch leben?" meinte sie. "Vielleicht noch hundert Jahre, wenn du viel Glück hast; und danach würde deine Seele ins Jenseits wandern. Aber meine würde dann bis in alle Ewigkeit hier bleiben und hätte als einzigen Gefährten die schlummernde Seele von EVA-01."

Die Augen des Jungen wurden groß. "EVA-01 hat eine eigene Seele?"

Yui nickte. "Ein Splitter der Seele Lilliths steckt immer noch in ihrem Klon", erklärte sie, "und zwar der animalische Haß und der Zorn darüber, daß sie aus dem Paradies verbannt wurde. Von Zeit zu Zeit erwacht sie, wenn der Schmerz zu groß wird, und dann beruhige ich sie immer wieder und lindere ihre Qualen. Sie ist noch einsamer als ich, denn sie hat nicht einmal mehr sich selbst."
 

"Darum also der Unfall", begriff Shinji. "Darum ist deine Seele damals beim ersten Synchrontest verschwunden. Die Seele Lilliths war einsam und hat deine als Gesellschaft gesucht."

Yui nickte. "So einsam wie ich jetzt", sagte sie, "denn Lillith hat kaum menschliche Züge oder Eigenschaften. Sie ist keine gute Gesellschaft, wenn man das so ausdrücken kann. Und darum brauche ich auch dich, Shinji. Du mußt bei mir bleiben, bis die Engel gesiegt haben und die Seelen der Menschen ins Jenseits wandern. Nur so kann ich die Zeit überstehen."
 

In diesem Moment spürte Shinji eine sanfte Berührung am Rande seines Bewußtseins, und er lächelte.

"Ich werde aber nicht bei dir bleiben, Mama", sagte er. "Da draußen gibt es Menschen, die mich brauchen. Ich verspreche dir, ich werde immer wieder zu dir kommen, aber ich kann die Zeit hier nicht nur mit dir verbringen."

Seine Mutter blickte ihn überrascht an. "Du kannst nicht gehen", sagte sie, "ich werde dich nicht gehen lassen!"

"Doch, Mama", gab Shinji zurück und griff nach der Seele Asukas, die vorsichtig nach ihm tastete. "Leb wohl!"

"NEEEEIIIN!" schrie Yui und packte ihren Sohn so fest sie nur konnte. "Ich lasse dich nicht mehr gehen! Nie wieder!"
 

Shinji zerrte verzweifelt und versuchte, sich aus der Umklammerung seiner Mutter zu befreien, doch die hielt ihn mit aller Macht fest. Zugleich riß von der anderen Seite seines Bewußtseins Asuka an ihm und versuchte, ihn zu sich zu ziehen. Mit schier übermenschlicher Willensanstrengung gelang es dem Jungen, einen Arm aus dem Griff seiner Mutter zu lösen und ebenfalls zu dem Mädchen auszustrecken, das ihn befreien wollte. Yui hielt ihn nun nur noch um die Hüfte umklammert und stemmte sich mit aller Gewalt entgegen. Nichts auf der Welt hätte ihren Griff lösen können.

Das war auch nicht der Fall.

Statt dessen geschah etwas anderes.

Plötzlich verlor Yui den Boden unter den Füßen.
 

---
 

Mit aller Willenskraft riß Asuka an Shinji. Ihre Hände hielten seine Arme fest umklammert, und sie konnte spüren, daß seine Hände auch ihre Arme umfaßt hielten. Der Griff war fest, aber sie Anstrengung war ungeheuer; fast noch schlimmer als damals, als sie Ashriel hatte auseinanderreißen müssen.

"Jetzt... komm... schon..." ächzte das Mädchen mit zusammengebissenen Zähnen, "du... gehörst... hierher... zu mir..."

Und dann, wie mit einem Ruck, war plötzlich der Widerstand weg, und Asuka flog förmlich rückwärts in ihren Körper zurück, während sie Shinji noch fest umklammert hielt.
 

Kaum daß sie spürte, daß sie ihre Augen wiederhatte, schlug das Mädchen sie sogleich auf. Es hatte geklappt: sie war nicht mehr alleine in der Zugangskapsel. Halb auf ihr lag schweratmend Shinji... unbekleidet, aber offensichtlich am Leben und bei Bewußtsein.

Und halb auf Shinji lag Ikari Yui.
 

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"Das ist also Shinjis Mutter?"

Ritsuko nickte und sah zu, wie die andere Frau vorsichtig aus der Zugangskapsel gezogen wurde. "Das ist sie", antwortete sie Harmis. "Sie ging in EVA-01 verloren, als man das erste Mal versuchte, ihn von einem Piloten steuern zu lassen. Damals fanden wir heraus, daß die Evangelions keine richtigen eigenen Seelen hatten und darum andere Seelen die den Kontakt zu ihnen suchten, in sich aufnahmen."

"Bei allen Galaxien..." Der Junge war geschockt. "Und man hat die Forschungen trotzdem noch weitergeführt?!"

"Was für eine andere Wahl hatten wir?" fragte die Wissenschaftlerin zurück. "Wir brauchten die EVAs, um uns gegen die Engel verteidigen zu können."

Harmis blickte sie vorwurfsvoll an. "Aber um einen solchen Preis?" meinte er. "Habt ihr damit nicht alle Ideale aufgegeben, die ihr hattet? Ich meine, freier Wille, Selbstbestimmung und das alles."

"Wir werden bald wieder vor der gleichen Situation stehen", gab Ritsuko leise zurück.
 

Die Augen des Jungen weiteten sich. "Wieso..."

"Yuis Seele hat EVA-01 verlassen", sagte sie. "Wenn wir den Evangelion wieder zum Kampf gegen die Engel brauchen, wird sie jemand ersetzen müssen..."
 

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Yui blickte starr vor sich hin, hatte die Beine an die Brust gezogen und die Arme darum gelegt.

"So ist sie, seit sie in EVA-01 erschienen ist", flüsterte Asuka. "Kein Wort, keine Reaktion, gar nichts. Als wäre ihre Seele immer noch drin und nur ihr Körper aufgetaucht."

Shennok nickte wortlos, dann drückte er auf den Schalter neben dem Beobachtungsfenster der psychiatrischen Station der medizinischen Abteilung. Das Fenster verdunkelte sich automatisch wieder.

"Können sie irgend etwas für sie tun?" wollte Shinji wissen.

Der Kommandant seufzte. "Ich bin leider kein Arzt", antwortete er. "Wir hatten allerdings während unserer langen Zeit schon einige Fälle, in denen Leute seelische Schäden erlitten haben. Alleine in der Zeit, in der ich Kommandant bin, gab es vier... nein, fünf Situationen, in denen Mitglieder meiner Besatzung an Bordkoller litten. Wir hatten einen Selbstmord, und auch ein Fall von Katatonie ist mir bekannt, bei dem..."
 

"Katatawas?!" meldete sich Asuka.

Shennok mußte grinsen. "Katatonie", erklärte er, "der Zustand, in dem sich auch Shinjis Mutter gerade befindet. Man ist bei Bewußtsein, aber man reagiert auf gar nichts und verkriecht sich vollkommen in sich selbst."

"Aber jemand kann ihr doch helfen", versuchte es Shinji noch einmal, "oder?"

"Tyrrin ist zwar Spezialistin für Biogenetik", meinte der Kommandant, "aber in der medizinischen Abteilung gibt es auch einige tüchtige Psychologen. Ich bin sicher, jemand wird herausfinden, was ihr fehlt und wie man ihr helfen kann."

Der Junge nickte traurig. "Ich hoffe", sagte er, "sie bleibt nicht so einsam..."
 

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Als der Morgen anbrach, stand EVA-01 immer noch über dem Leichnam Tzadkiels.

Inzwischen waren zahlreiche Leute aus verschiedenen Abteilungen dabei, den toten Körper des Engels zu vermessen, zu untersuchen und, soweit das möglich war, zu zerlegen. Vor allem die Exobiologen hatten ihre helle Freude an dem fremden Lebewesen.

"Sieh dir das nur an", lachte Raimor erfreut und deutete auf die unzähligen Arbeiten, die überall stattfanden. "Ein vollständiges Forschungsobjekt, endlich einmal! Fast unbeschädigt; nur eine Brustwunde, und der Kopf ist glatt abgetrennt. Wir werden alles über diesen Engel herausfinden können!"

Misato sah ihn ernst an. "Etwas fehlt", meinte sie.

"Bitte?" Der Exo-alpha sah sie verständnislos an. "Aber... es ist doch alles vollständig..."

"Die Menschen, Raimor", unterbrach sie den Wissenschaftler. "Die Menschen fehlen! Wieder sitzen hier nur Rhoani herum! Ihr habt Ritsuko ganz eilig hierher geschafft, als es hieß, der Evangelion würde sich nicht bewegen, aber ebenso schnell habt ihr sie wieder weggeschafft, als es an die Untersuchung des Engels ging!"
 

Raimor lächelte etwas hilflos. "Misato, dafür mußt du schon Verständnis haben", meinte er. "Wir sind hier alle ein lange eingespieltes Team; jeder kennt den anderen und weiß, was er zu tun hat. Bei so diffizilen wissenschaftlichen Arbeiten stehen uns eben alle Leute im Weg, die noch nicht integriert sind..."

"Wie sollen sie sich denn jemals integrieren", warf die Frau ein, "wenn ihr sie aus allem ausschließt? Bis heute leben Menschen und Rhoani immer noch voneinander getrennt; ihr in euren riesigen Landesektionen und wir in diesen... Notunterkünften, die ihr uns gnädigerweise gebaut habt! Wie stellt ihr euch eigentlich in Zukunft das Zusammenleben mit uns vor? Ihr als leitende Kaste, die aus purer Freundlichkeit ihre großartigen Errungenschaften mit uns minderbemittelten Menschen teilt, und wir als Hilfsarbeiter, die dankbar über ihre Errettung sein sollen?"
 

"Du tust uns Unrecht!" widersprach der Exobiologe. "Wir haben nicht vor, die Menschheit als Untertanen anzusehen. Im Moment gibt es nun mal wichtige und sehr komplexe Arbeiten, wo Menschen nicht viel helfen können. Wir tun wirklich alles, um euch auf unseren Lebensstandard zu bringen..."

"Wer sagt", unterbrach ihn Misato, "daß wir euren Lebensstandard wollen?"

Raimor schüttelte den Kopf. "Es ist nicht so, wie du das darstellst", warf er ein. "Wir wollen doch nur das Beste für die Menschheit..."

"Und woher nehmt ihr das Recht, zu wissen, was das Beste für uns ist?"

"Wir sind nun einmal viel fortgeschrittener als ihr..."
 

"Also weil ihr glaubt, uns überlegen zu sein", meinte Misato bitter. "Wie ich es mir dachte."

Und mit einem trotzigen Blick wandte sie sich ab und ging.
 

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Ikari Yui blickte stumm vor sich hin und lächelte.

Rei streichelte ihr sanft den Kopf.
 

Kapitel 24
 

Die kommenden sieben Tage waren mit Sicherheit die anstrengendsten seit der Ankunft der Rhoani auf der Erden.

Zunächst einmal hatte Shennok befohlen, die Verteidigungsanlagen der Kolonie so rasch wie möglich wieder aufzubauen. Das war allerdings nicht in vollem Umfang möglich: die Angriffe Tzadkiels hatten zwar die Lasertürme jeweils nicht vollständig zerstört, aber gerade die empfindlichere Technologie hatte stark gelitten. Die Prismenkristalle der Geschütze waren größtenteils zerschmettert, und es ließ sich aus den Überresten gerade mal einer der Schiffslaser neu zusammensetzen.
 

Also mußten neue Kristalle gezüchtet werden, was mehrere Wochen in Anspruch nahm; und in der Zwischenzeit mußten Alternativen für die Verteidigung gefunden werden. Eine kurz aufgenommene Idee, die Antimateriesprengköpfe an Bord der Sturmkapseln zur Herstellung von Minen wurde rasch wieder verworfen, da eine Materie/Antimaterieexplosion von genügend hoher Sprengkraft die Umgebung weiträumig verstrahlt hätte.

Letztendlich entschloß man sich dazu, auf konventionellere Mittel zurückzugreifen und baute die nicht mehr benötigten Landetriebwerke der Schiffssektionen, die ja nur für das Omega-Protokoll benötigt worden waren, zu Raketenlafetten um. Die eigentlichen Raketen waren leicht zu konstruieren; eine simple Änderung der Größenangaben im Autokonstruktor, der bisher die Mikroraketen für die Waffen der Pioniere hergestellt hatte, war dazu ausreichend. Während dem Aufbau der neuen Lafetten mußten zwar die Arbeiten an den Fördermaschinen drei Tage lang ruhen, aber das war es Shennok wert: Wenn die Verteidigung nicht funktionierte, war alles andere ohnehin belanglos.
 

Die Arbeit der Abteilung Exobiologie war von diesen Einschränkungen nicht betroffen, zum guten Glück, wie Raimor fand. Nachdem sich Misato von ihm zurückgezogen hatte und sich von ihm fernhielt (was er immer noch nicht verstehen konnte; immerhin teilte sie seit ihrer Vereinigung sein Wissen und wäre eine große Hilfe bei der Untersuchung des Engels gewesen), hatte er sich dazu entschieden, wenigstens ihrer Einschätzung zu vertrauen und Akagi-Ritsuko mit in die Forschungsarbeiten einzubeziehen. Allerdings hatte er keine große Hoffnung gehabt, daß sie viel würde bewirken können.

Was hatte er sich da getäuscht.
 

Nicht nur, daß die Wissenschaftlerin auf Anhieb sagen konnte, wie man die Panzerplatten vom Körper des Engels löste, ohne den restlichen Körper zu beschädigen; sie hatte auch noch den entscheidenden Tip auf die Existenz eines besonderen inneren Organs gegeben, das die Energiequelle Tzadkiels darstellte. Dieses ,S2-Organ', wie sie es nannte, sollte angeblich ein ungeheuer effizienter Materie/Energie-Konverter sein - und die ersten Untersuchungen bestätigten diese Theorie auch sogleich.

Der Exo-alpha war ernsthaft beeindruckt. Vielleicht war die Einschätzung, die er von den Fähigkeiten der Menschen hatte, wirklich nicht ganz korrekt.
 

Nicht ganz so erfolgreich war die Arbeit der medizinischen Abteilung verlaufen, was Ikari-Yui anging.

Mit äußerster Behutsamkeit hatte man in den vergangenen Tagen immer wieder versucht, mit verschiedensten Stimulationen das Bewußtsein der Frau zu erwecken und in ihr eine Reaktion hervorzurufen. Aber bisher war nichts erfolgreich gewesen. Ihre vegetativen Reflexe schienen zwar völlig normal zu sein, doch eine bewußte Handlung unternahm sie nicht. Man mußte sie flüssig mit einer Nutrilösung ernähren.

Noch irritierender für die Psychologen war, daß sie niemals zu schlafen schien, wenn man dem Scanergebnis ihrer Gehirnströme trauen durfte. Die Daten zeigten ständig hohe geistige Aktivität, aber in keiner körperlichen Reaktion war das auch nur zu ahnen. Ihre Muskeln waren immer locker, niemals angespannt oder verkrampft, und wenn man ihre Gliedmaßen bewegte, ließ sie das widerstandslos mit sich geschehen, nur um sie hinterher wieder in Embryonalhaltung zu bringen - die Beine an die Brust gezogen, die Arme um die Beine geschlungen.
 

Man hatte sogar schon versucht, sie mit Shinji zusammenzubringen und so eine Reaktion zu erzeugen. Aber sie hatte auch auf ihn keine Anzeichen eines Erkennens gezeigt, und nach drei Stunden war der Junge wieder gegangen. "Sie ist noch nicht bereit, zurückzukehren", hatte er da gesagt. "Wenn sie diese Welt als ihre akzeptiert hat, wird sie von selbst kommen. Aber nicht früher."

Aber woher er das wußte, hatte Shinji selbst nicht sagen können.
 

---
 

Es war der Abend, nachdem die Raketenlafetten endlich fertig installiert und mit dem Verteidigungszentrum verbunden worden waren, und Shennok war todmüde. Den ganzen Tag lang hatte er Techniker durch die Gegend gescheucht, Wissenschaftler auf später vertröstet und Informationen von einem Eck der Kolonie zum anderen weitergegeben. Er hatte einem defekten Arbeitsroboter persönlich einen neuen Aktivator eingebaut und sich dabei den Daumen aufgeschnitten, und er hatte ein bestimmt fünfzig Kilo schweres Ionenimpulsrelais einen halben Kilometer weit geschleppt.

Er wollte nur noch schlafen.
 

---
 

In ihrem Bett lag Misato im Gegensatz zum Kommandanten noch lange wach. Sie hatte unter dem Vorwand, sich nicht gut zu fühlen, Shinji darum gebeten, außerhalb zu übernachten. Tatsächlich war das nur eine halbe Lüge gewesen. Misato fühlte sich wirklich nicht gut.

Aber das lag eigentlich nur daran, daß sie sich nicht sicher war, ob sie das richtige tat.

Hatte sie in den letzten Tagen die richtigen Entscheidungen getroffen? Immerhin hing eine Menge davon ab. Sicher, die Lage war bei weitem nicht so schlimm, wie sie hätte sein können. Aber sie war weit von dem entfernt, wie Misato sie sich erwünscht hatte.

Sie hatte den Kopf voller fragwürdiger Pläne und Ideen, als der Schlaf sie endlich übermannte.
 

---
 

"Shinji, schläfst du schon?"

"Mmmh?"

Asuka drehte sich in ihrem Bett um und blickte hinüber zu dem Jungen, den sie im Halbdunkel des Zimmers nur erahnen konnte. "Ob du schon schläfst", wiederholte sie.

"Noch nicht", murmelte Shinji zurück und kuschelte sich tiefer in die Laken.
 

Das Mädchen blinzelte. "Weißt du..." begann sie, brach dann aber ab.

"Weiß ich was?" fragte der Junge leise zurück.

"Ich habe mich nur gefragt..."

Shinji drehte sich nun auch um, so daß er Asuka in ihrem Bett sehen konnte. "Was ist denn?" meinte er leise.

"Sag mal", meinte Asuka, "meinst du, wir können auch ohne EVA-01 gegen die Engel kämpfen?"

Der Junge blinzelte. "Ich weiß nicht", sagte er dann. "Wie kommst du jetzt darauf?"

"Ich hab mir in den letzten Tagen mal angeschaut", erklärte sie, "was die Rhoani so als Verteidigung aufbauen. Das sieht alles ziemlich groß aus. Aber ich will nicht, daß es nur von denen abhängt, ob wir die nächsten Engel besiegen oder nicht. Ich will auch was dazu beitragen."
 

Shinji seufzte. "Ich versteh dich, glaube ich", gab er zurück. "Du fühlst dich bestimmt so wie ich früher - wenn du keinen Evangelion steuern kannst, bist du unsicher, wozu du überhaupt gut bist."

"Das ist es wohl", meinte das Mädchen leise. "Alle machen irgendwas... und ich steh nur daneben und kann zuschauen. Du weißt wenigstens noch, wann die Engel kommen... aber ich... ich bin nutzlos..."

"Du bist nicht nutzlos", widersprach der Junge. "Du hast schon drei von den Engel selbst besiegt..."
 

Asuka setzte sich im Bett auf. "Aber eben nur mit EVA-01", warf sie ein, "das ist es ja! Jetzt, wo der EVA stillsteht hab ich nichts mehr zu tun. Ich will aber was tun!"

Auch Shinji setzte sich jetzt auf. "Schau mal", meinte er leise, "es ist ja nicht so, daß dich niemand was machen ließe. Aber im Moment weiß eben keiner, was man überhaupt tun kann."

"Du hast was zu tun!" beschwerte sich das Mädchen.

Der Junge lächelte. "Dann kann ich dir was versprechen", sagte er. "Wenn mir in Zukunft jemand was zu tun gibt, dann tun wir es immer gemeinsam. Und wenn du was zu tun bekommst, dann machen wir es genauso. Was hältst du davon?"

"Wir machen in Zukunft alles zusammen?" fragte Asuka zweifelnd.

"Ja, wie in EVA-01. Gemeinsam gelingt uns doch alles. Also, abgemacht?" Shinji streckte dem Mädchen die Hand entgegen.

Asuka blickte die Hand zögernd an, dann aber lächelte sie und legte ihre eigene hinein. "Abgemacht", meinte sie.

Die beiden hielten sich gegenseitig einen Moment länger an den Händen, als es nötig gewesen wäre und lösten sie dann nur sehr langsam wieder.
 

"Gute Nacht, Asuka."

"Gute Nacht, Shinji."

So ruhig wie an diesem Abend war keiner der beiden seit langer Zeit eingeschlafen.
 

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Shennok erwachte am Morgen erfrischt und ausgeruht. Es war ein langer Tag gestern gewesen, und der heutige versprach nicht weniger anstrengend zu werden.

Der Kommandant erhob sich aus dem weichen Bett seiner Kabine und blickte lächelnd auf Lasatra, die immer noch schlief. Die Mannschaft tuschelte sicher schon hinter seinem Rücken hinter ihm, weil er eine Beziehung zur Leiterin einer wissenschaftlichen Abteilung unterhielt, aber das war ihm egal. Lasatra war etwas Besonderes für ihn, und da konnte ein wenig Klatsch nicht schaden.
 

Nach einem kurzen Blick auf den heutigen Dienstplan entschied sich Shennok dazu, der Abteilung Sensortechnik heute ein paar Energieeinheiten mehr zuzuteilen, dann schlüpfte er unter die Vibrodusche.
 

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"Guten Morgen, Schatz."

Ein sanfter Kuß auf die Wange weckte Misato auf, und schläfrig drehte sie sich um. Durch ihre nur halb geöffneten Augen sah sie vor sich eine schemenhafte Gestalt stehen, die anscheinend sehr viel wacher als sie war.

"Mmmmh..." murmelte sie, drehte sie wieder zurück und zog sich die Decke über den Kopf.

Lange hielt die Dunkelheit nicht an. Sanfte Hände zogen die Decke zur Seite, legten sich ihr auf die Schultern und begannen, sie zärtlich zu massieren. Sie stöhnte genußvoll unter der Berührung auf.

"Schon wieder so verspannt?" erkundigte sich die mitfühlende Stimme. "Herrje... das nimmt noch einmal ein böses Ende mit deinem Rücken. Aber wenn du jedes Mal so toben mußt, brauchst du dich wohl nicht zu wundern. Wenn du mir mal erlauben würdest, dich so richtig zu verwöhnen..." Die massierenden Hände lösten sich ein wenig und kitzelten sie zwischen den Schultern.

Kichernd rutschte Misato weg, drehte sich um und setzte sich auf. Dann beugte sie sich vor und gab Kaji einen langen, zärtlichen Kuß auf den Mund.
 

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"Liebes, das Frühstück ist fertig!"

Asuka gähnte und rieb sich die Augen. Durch die altmodischen Fensterläden ihres Zimmers drang aus einem Spalt helles Tageslicht, und ein Blick auf ihren Wecker überzeugte das Mädchen davon, daß es tatsächlich schon zehn Uhr früh durch war. Ein Glück, daß heute Sonntag war.

Mit einiger Anstrengung streckte sich Asuka, gähnte noch einmal, schlug ihre rosafarbene Bettdecke zur Seite und gab ihrem Teddy einen Kuß. Dann schwang sie die Beine aus dem Bett, schlüpfte in ihre Fellpantoffeln und ging aus dem Kinderzimmer.

"Ich komme, Mama!"
 

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Shinji schrak entsetzt aus dem Schlaf auf und fuhr hoch. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, und seine Gedanken rasten. Engel... Verwüstung... die Menschheit im Jenseits... Evangelion... Samandiriel... Rhoan... Jahrmillionen...

Heftig atmend tastete er neben sich und drückte den Schalter. Das Zimmer wurde sofort von der Stehlampe hell erleuchtet. Licht fiel auf seinen Schreibtisch, seinen Schrank, seinen Stuhl, sein Bett und ihn.

Alles war wie immer.

Der Junge saß ganz still und lauschte. Im Nebenraum konnte er durch die dünne Wand leise das regelmäßige Schnarchen seines Vaters hören. Es mußte ein Alptraum gewesen sein.

Aber wovon hatte er geträumt?

Shinji wußte es nicht mehr.

Und das ungute Gefühl in seiner Magengegend verging auch nicht, als er das Licht wieder ausschaltete und sich umdrehte.
 

Kapitel 25
 

"Deine Theorie von einem zivilisierten Planeten hat sich ja schneller als falsch erwiesen, als du sie aufgestellt hat", spottete Shennok, während er die letzten Utensilien für die bevorstehende Mission in seinem ExploraSuit verstaute. "Jetzt verstehst du vielleicht, wieso ich immer wieder sage, du sollst nicht so vorlaut sein."

"Ist ja schon gut, Vater", murmelte Harmis und schlüpfte in die festen Stiefel, die zur Überlebensausrüstung gehörten. In seinen Ohren klang immer noch das Gelächter seiner Kameraden, vor allem von Yllira, die er eigentlich für seine beste Freundin gehalten hatte. Er hatte die Daten vom dritten Planeten gesehen und war sich sogleich sicher gewesen - sicher wie noch nie in seinem Leben - daß es hier fortgeschrittenes Leben geben mußte. Die äußeren Umstände waren einfach viel zu günstig... und dann gab es nicht einmal eine Spur von höheren Lebensformen...
 

"Es muß ja nicht unbedingt auf der Oberfläche sein", verteidigte sich der Junge. "Daß die Sensoren der ,Vagabund' nichts entdecken können, was auf Zivilisation hinweist - keine Städte, künstliche Landschaftsveränderungen oder etwas ähnliches - muß noch nichts heißen. Vielleicht leben die Bewohner dort alle unter der Erde. Na ja, wir werden ja sehen, was wir an Informationen noch unten finden."

Sein Vater lächelte und schloß die letzte Tasche seines Schutzanzuges. "Ich weiß", beruhigte er ihn, "du wirst dein Bestes tun. Deine Kenntnisse auf dem Bereich der Sensortechnik sind unbestritten - ich hätte dir keine leitende Funktion in der Abteilung gegeben, wenn ich mir da nicht sicher wäre. Und ich würde dich schon gar nicht zu den Untersuchungen mitnehmen, wenn ich glaubte, daß jemand anderes besser geeignet wäre. Ich denke einfach nur, du bist mitunter noch etwas voreilig mit deinen Schlüssen. Aber das lernst du sicher noch."
 

Harmis murmelte etwas unverständliches und klinkte den zweiten Stiefel in die Beinhalterung des Explora-Suits ein.
 

---
 

"Und? Wie sieht es mit deiner Arbeit aus?"

"Mmmh..." murmelte Kaji Ryoji, während er von seinem Bohnenbrot abbiß. "Nicht so besonders. Sie werden mich auch weiter nur für die Nachtschicht einteilen, und von SEELE hab ich noch keine Antwort bekommen. Kannst du nicht deine Beziehungen bei NERV ein bißchen spielen lassen?"

Misato lächelte. "Wenn das so einfach wäre", meinte sie. "Ikari-san ist nur schwer zu beeinflussen, was die Auswahl von neuem Personal angeht. Und deine Referenzen sind ja auch eher... zwielichtig..."

"He, das nehme ich persönlich!" beschwerte sich der Mann grinsend. "Sollten sechs Jahre Berufserfahrung bei einer Regierungsbehörde nicht ausreichend sein, um bei einer UN-Abteilung nicht mehr als Gefahr eingestuft zu werden?"
 

Misato grinste. "Nicht", gab sie zurück, "wenn die Regierungsbehörde wie in deinem Fall der Auslandsgeheimdienst war. Wer sagt, daß du nicht vom Feind umgedreht wurdest und nun als Doppelagent arbeitest? NERV hat eine Menge an Geheimnissen zu bewahren!"

"Ich kann schweigen", konterte Kaji. "Ich hab auch noch niemandem verraten, wo du vergangenes Jahr in Urlaub warst..."

"He, das ist Erpressung!" empörte sich die junge Frau, aber ebenfalls grinsend. "Untersteh dich, irgend jemandem von dem Besuch zu erzählen, ja?"

Ryoji zog die Schultern hoch. "Wenn mich die Verzweiflung über meine lausige berufliche Karriere nicht übermannt", sagte er, "werde ich schweigen. Aber die Melancholie wächst in mir Tag für Tag, und bald wird meine Kraft nicht mehr ausreichen, um die Geheimnisse in mir zurückzuhalten..."
 

Lachend warf ihm Misato ein Brötchen an den Kopf.
 

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"Reichst du mir bitte den Saft, Liebes?"

"Ja, Mama!"

Asuka griff nach der Karaffe mit dem Orangensaft und gab sie ihrer Mutter über den Tisch. Die Frau nahm die Kanne an sich und schenke sowohl sich als auch ihrer Tochter nochmals etwas ein.

"Danke, Mama, es reicht mir", meinte das Mädchen.

Ihre Mutter lächelte nur und füllte Asukas Glas trotzdem ganz auf.

"Mama!"

"Weißt du, ich glaube, du trinkst zu wenig", gab die Frau zurück. "In deinem Alter brauchen Kinder viele Vitamine, wenn sie gesund bleiben wollen. Du willst doch gesund bleiben, oder?"
 

Asuka war irritiert. "Natürlich, Mama", gab sie zurück. "Aber ich bin inzwischen doch wohl alt genug, um zu wissen, wann ich keinen Durst mehr habe!"

"Ach, Liebes", sagte ihre Mutter, "ich meine es doch nur gut mit dir. Darf ich mir denn um mein kleines Mädchen keine Gedanken mehr machen?"

"Aber ich bin kein kleines Mädchen mehr", warf Asuka ein. "Ich bin schon fünfzehn!"

Ihre Mutter blickte sie mit großen Augen an. "Willst du denn nicht mehr mein kleines Mädchen sein?" fragte sie. "Meine liebste Tochter?"

"Doch... schon... aber..."

Die Frau lächelte. "Siehst du", sagte sie, "dann ist ja alles gut. Komm, trink aus."
 

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Shinji saß am Frühstückstisch, kaute ohne Appetit an seinem Frühstück herum und hatte das bohrende Gefühl im Bauch, das etwas fehlte.

"Mama?"

"Mmh?" Ikari Yui drehte sich in Gedanken zu ihrem Sohn um.

"Mama..." Der Junge überlegte einen Moment, wie er das seltsame Gefühl in Worte fassen konnte. "Kann es sein, daß sich seit gestern hier irgend etwas verändert hat?"

Die Augen seiner Mutter blickten ihn verständnislos an. "Etwas verändert?" meinte sie und sah sich in der Küche um. "Also... mir fällt nichts auf. Gendo, hast du was bemerkt?"

"Hm?" kam es unwillig hinter der Zeitung hervor.

"Ist dir vielleicht aufgefallen", wiederholte Yui, "daß hier etwas anders als gestern wäre?"

"Nein, Schatz", murmelte es hinter der Zeitung hervor.
 

Die Frau wandte sich wieder ihrem Sohn hin. "Was soll denn anders sein?" fragte sie.

"Es kommt mir vor", meinte Shinji, "als würde hier etwas fehlen... nein, jemand..."

"Das verstehe ich nicht", gab Yui zurück. "Dein Vater und ich, wir sind doch beide hier."

Der Junge schüttelte den Kopf. "Nicht ihr beide", meinte er, "da ist jemand, der da sein müßte. Jemand, der immer da ist... jemand..." In seinem Kopf glaubte er, ein Paar kristallklarer, wunderschöner Augen zu erkennen.

"Vielleicht hast du letzte Nacht von jemandem geträumt", schlug seine Mutter vor, "und der Traum geht dir jetzt nicht mehr aus dem Kopf."

"Das ist möglich", murmelte Shinji, "ein Traum..."
 

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Wie in einer riesigen Prozession hatten sich Menschen und Rhoani gleichermaßen in einer langen Reihe aufgestellt. Ihre Augen waren offen, doch leer, und in ihrem Geist schwebte Samandiriel und wartete geduldig.

Rei saß nebenan auf einem Stein und sah regungslos zu. Dann plötzlich stand sie auf und ging auf die lange Reihe zu. Vorsichtig berührte sie Ibuki Maya an der Stirn und verband ihre Seele mit der Präsenz, die in der jungen Frau wirkte.

"Warum sie alle?" fragte sie leise?

*Weil es so richtig ist*, erklang in ihrem Geist die helle, freundliche Stimme des Engels.

Sie schüttelte den Kopf. "Nur das Schicksal der Menschen ist vorgezeichnet", sagte sie. "Die Fremden haben nichts damit zu tun."

*Kein fremdes Schicksal soll berührt werden*, antwortete Samandiriel, *und kein fremdes Schicksal soll berühren.*
 

In Reis Augen flackerte Verständnis auf. "Also schlafen die Seelen der Fremden nur, damit sie nicht eingreifen?" wollte sie wissen.

Aber da setzte sich die Reihe auch schon in Bewegung, und Menschen und Rhoani schritten langsam, einer nach dem anderen, in das Meer aus LCL.
 

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Schweigend saß Asuka in ihrem Kinderzimmer. Von draußen schien hell und warm die Frühlingssonne hinein, aber ein undefinierbarer Schatten lag auf ihren Gemüt.

Die Augen des Mädchens glitten über ihre vielen Stofftiere, über ihre mit Herzchen beklebte Sammelordner, über die pastellbunten Möbel, über ihre vielen schönen Kleider. Das alles war ihr lieb und vertraut, und doch... irgendwie war das nicht sie.

War das vielleicht das Gefühl, das man hatte, wenn man langsam erwachsen wurde?
 

Asuka versuchte sich daran zu erinnern, wie ihr letzter Tag, ihre letzte Woche, ihr letztes Jahr verlaufen war. Sie hatte sehr lebhafte, fröhliche Erinnerungen: die Geburtstagsfeier bei ihrer Freundin gestern... die Schularbeit letzte Woche... die Reitstunden im vergangenen Jahr... alles war noch in ihr.

Aber sie fühlte nichts dabei. Gar nichts.

Als sei sie völlig leer und eine bloße Hülle für die Erinnerungen in ihr. Als seien die Erinnerungen gar nicht ihre...

Ein plötzlicher Kitzel lief über ihr Gesicht, und als das Mädchen überrascht mit den Fingern darüberstrich, spürte sie Feuchtigkeit. Es waren Tränen, die ihr plötzlich aus den Augen schossen. Tränen voller Traurigkeit.

Warum war sie traurig, wenn sie sich nur an fröhliche Dinge erinnerte?

Was hatte sie nur vergessen?
 

Ganz langsam, aus dem hinteren Winkel ihres Bewußtseins, schlich sich allmählich ein Gefühl in ihren Geist. Das Gefühl, eine fremde Hand zu berühren.
 

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Shinji zerknüllte das siebzehnte Blatt und warf es enerviert in den Papierkorb.

Mißmutig legte er ein neues Blatt Skizzenpapier vor sich und spitzte den Bleistift noch einmal an. Warum gelang es ihm nur nicht, die Augen zu zeichnen, die in seinem Kopf herumspukten? Und wieso nur hatte er das Gefühl, diese Augen schon einmal direkt vor sich gesehen zu haben?

Mit einem Seufzen schloß er seine eigenen Augen und versuchte, sich das seltsame Bild wieder vorzustellen. Kristallklares Blau... darunter zarte Wangenknochen... darüber rotblondes Haar...
 

Ganz allmählich nahm ein fremdes Gesicht vor ihm Gestalt an. Es war... seltsam traurig... fast hager und ausgezehrt. Es war das Gesicht eines Mädchens. Die Augen waren die richtigen, aber sie schienen ihm... leer zu sein. Ganz langsam weiteten sie sich.

Dann sah er die Hände, die sich um den Hals des Mädchens klammerten und ihn zudrückten.

Seine Hände.
 

Der Traum kehrte zurück und wurde zur Wirklichkeit.

Shinji schrie auf.
 

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Der entfernte Schrei eines Jungen ließ Misato aufschrecken.

"Hast du das gehört, Kaji?"

"Nein, was denn?"

Die Frau stand auf, ging ans Fenster und sah hinaus. Draußen schien alles seinen normalen Lauf zu nehmen; es war ein ganz gewöhnlicher Sonntagvormittag.

"Da hat eben ein Kind geschrieen", meinte Misato, während sie sich umdrehte. "Ich bin mir ganz sicher."

"Meinst du?" fragte Kaji. "Also, ich habe nichts gehört. Sollen wir mal nachsehen gehen?"

Die Frau überlegte einen Moment. "Ich weiß nicht", sagte sie dann. "Es war ja nur kurz, und jetzt hört man auch nichts mehr."

Der Mann lächelte. "Bestimmt spielen sie da draußen nur irgendwas", meinte er. "Vielleicht spielen sie ja wieder Krieg. Kinder tun schon ulkige Dinge."

"Ja", lächelte Misato zurück, "ulkige Dinge."
 

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Shinji stand bis zur Hüfte im LCL-Meer, als er erwachte. Vor ihm waren bereits zehn oder zwanzig Leute, Rhoani wie Menschen, die auf dem Rücken in der Flüssigkeit trieben. Über ihren Köpfen schwebte ein Leuchten, das wie eine kleine Flamme aussah.

In diesem Moment stieß den Jungen von hinten ein hochgewachsener Rhoani an, der ihn nicht zu sehen schien.
 

Entsetzt watete Shinji einige Schritte beiseite, und dann bemerkte er erst das ganze Ausmaß der Situation: Alle Bewohner der Kolonie, Menschen wie Rhoani, waren angetreten und soeben dabei, einer nach dem anderen ins LCL-Meer zu steigen. Und jeder trug dabei einen kleinen Teil des Engels Samandiriel in seinem Geist.

Kurzentschlossen riß sich der Junge zusammen, schluckte seine aufkommende Panik herunter und rüttelte an der nächsten Person, die er erreichen konnte. Vielleicht, daß der Engel aufgehalten werden konnte, wenn man die Leute aufweckte...

Er hatte kaum damit angefangen, als ihn plötzlich etwas wie eine riesige Hand ergriff und ihn mit einem Ruck an Land zerrte.
 

Unsanft schlug der Junge am Ufer auf, und als er sich verblüfft umsah, stand Rei über ihm.

"Du wirst Samandiriel nicht aufhalten", sagte sie sanft.

Shinji schüttelte den Kopf. "Ich muß", sagte er. "Das hier ist die Welt, die ich wähle, und ich werde dafür kämpfen, daß sie überlebt!"

"Deine Wahl ist schon vorbei", gab Rei zurück. "Du hast gewählt, daß die Menschheit erst zurückkehren soll, wenn sie perfekt geworden ist, und das hat sie nicht geschafft."

"Aber sie hat etwas besseres als den Tod verdient!" donnerte Shinji zurück und wollte sich wütend wieder der langen Prozession zuwenden, als er merkte, daß er sich nicht vom Fleck rühren konnte.

"Es tut mir leid", meinte Rei traurig, "aber ich kann dich nicht gehen lassen."

Der Junge holte tief Luft, doch ehe der Schrei seiner Kehle entfahren konnte, legte sich die Hand des Mädchens zärtlich auf seinen Mund. Augenblicklich erstarrte der Junge völlig bewegungslos... und auch sein Atem hielt still!

"Ich kann auch nicht zulassen", sagte Rei, "daß du die anderen aufweckst."
 

In diesem Moment trat knapp unterhalb ihres Schlüsselbeines mit einem häßlichen Knirschen die Spitze eines sehr langen Schraubenziehers hervor.

"Laß das hier mal zu", meinte Asuka hinter ihr eisig.

Rei sah fassungslos auf das kalte Metall herab, das ihr das rotblonde Mädchen in den Rücken gestoßen hatte und das nun blutig aus ihrem Oberkörper herausragte.

Und ihr Schmerzensschrei gellte über den stillen Planeten und riß alle aus dem Schlaf.
 

Kapitel 26
 

Während ihr unmenschlicher, schriller Schrei langsam verhallte, blickte Rei wieder zu Shinji auf. Dann, immer noch mit dem Ausdruck des Entsetzens auf ihrem Gesicht, verblaßte ihre Gestalt und zerstob in einer orangefarbenen Wolke. Der Schraubenzieher fiel klappernd zu Boden.

Überall um Shinji und Asuka herum kamen Menschen und Rhoani langsam zu sich; und im selben Maße, wie ihr Bewußtsein zurückkehrte, verblaßten die flackernden Flammen über ihren Köpfen.

"Asuka..." Der Junge rang immer noch nach Luft. "Wie... wie konntest du dich befreien?"

Das Mädchen lächelte. "Ich habe dich schreien gehört", sagte sie, "und wußte, daß du mich brauchst..."
 

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So ernst war Shennok selten ein Anliegen gewesen.

"Ich weiß", sagte er in sein PersoKom, und die eilig errichteten Verstärkeranlagen ließen seine Stimme durch die ganze Kolonie hallen, "wie besorgt hier jeder ist. Wir alle haben in den letzten Stunden verstörende Dinge erleben müssen, und ich glaube, daß das bei weitem noch nicht das letzte Mal war, daß wir solche Erlebnisse haben werden.

"Zunächst einmal die wichtigste Frage: Ist der Engel besiegt, der in unsere Träume eindrang und dafür sorgte, daß wir sie für Realität hielten? Mit großer Wahrscheinlichkeit ja. Unsere Scans haben keine weiteren Anzeichen auf Muster Blau gegeben, und wie es aussieht, hat der Engel nur in unseren Träumen existiert. Unser Erwachen war das Ende der Träume und damit auch das Ende des Engels."
 

Der Kommandant schwieg einen Moment lang, ehe er fortfuhr. "Unsere bisherigen Verteidigungsmaßnahmen", fuhr er dann fort, "waren immer nur auf einen Angriff von außen ausgelegt. Wir haben nie damit gerechnet, daß einer der Engel einmal direkt in unserer Mitte auftauchen könnte - aber offensichtlich verfügen diese Wesen über solche Fähigkeiten. Das bedeutet, wir müssen in Zukunft erhöhte Wachsamkeit walten lassen. Darum werden ab sofort technische Überwachungsanlagen installiert, die die Bewegungen jeder einzelnen Person aufzeichnen und verdächtiges Verhalten registrieren. Wir sind zwar dieses Mal noch davongekommen, aber das nächste Mal werden wir wohl kein solches Glück mehr haben..."
 

"Glück?" unterbrach ihn plötzlich eine andere Stimme - zu seiner Überraschung ebenfalls durch die Verstärker geleitet. "Sie nennen das ,Glück'? Ich nenne es beim Namen: Shinji und Asuka!"

Auf die Plattform zu Shennok trat Misato, und auch an ihrem Arm war ein PersoKom. Mochten die Sterne wissen, wo sie es herhatte und wer sie mit den Verstärkern verbunden hatte - jedenfalls funkelten ihre Augen grimmig, und der Kommandant trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

"Sie werden doch wohl nicht bestreiten wollen", fuhr die Frau fort, "daß sie alle hier nur noch am Leben sind, weil zwei Kinder rechtzeitig die Kraft gefunden haben, sich gegen Samandiriel aufzulehnen und sie alle aus dem Schlaf zu reißen. Die beiden haben sie gerettet - bereits zum fünften Mal, wenn ich mich nicht irre. Wie können sie da von Glück reden?"
 

Shennok faßte sich wieder. "Ich rede von Glück", sagte er, "weil wir bisher keine Möglichkeit gefunden haben, die Angriffsmethoden der Engel sicher vorherzusagen und noch nicht in der Lage waren, effektive Verteidigungsmaßnahmen gegen sie zu entwickeln. Alle Siege, die wir bisher errungen haben, beruhten auf der Taktik, alles entgegenzuwerfen, was wir hatten - da gehörte zugegebenermaßen keine große Strategie dazu."

"Und zu ,allem', was sie den Engeln entgegenwerfen, gehören auch unsere Kinder!" fuhr ihn Misato an.

Der Kommandant war sprachlos. "Das ist ja ungeheuerlich..." entfuhr es ihm.

"Sie haben sich bisher immer und zu jeder Zeit darauf verlassen", donnerte die Frau weiter, "daß sich entweder Shinji oder Asuka oder beide in EVA-01 setzen und einem Feind entgegentreten, den sie nicht besiegen können! Aus eigener Kraft haben sie bisher nur zwei Engel aufhalten könnten - in allen anderen Situationen haben sie sich auf uns verlassen. Schlimmer noch - einmal wollten sie sogar Shinji dazu bringen, den Evangelion zu steuern, als er nicht bei Sinnen war! Wie lange wollen sie uns noch mißbrauchen und dann verleugnen, daß sie ohne uns schon lange verloren wären?"
 

"Sie verdrehen die Tatsachen!" ereiferte sich nun Shennok. "Daß sie überhaupt hier stehen und so reden können, verdanken sie unserem Eingreifen! Das Dach, das sie über dem Kopf haben, das Essen, das sie zu sich nehmen, die Kleidung, die sie tragen - all das stammt von uns! Wir arbeiten hart, Tag und Nacht, um ihre Existenz zu sichern. Sie haben kein Recht, uns vorzuwerfen, wir würden sie mißbrauchen!"

Misato schüttelte eisig den Kopf. "Inzwischen sind sechstausend Menschen aus dem Meer zurückgekehrt", sagte sie, "und noch einmal das millionenfache dieser Menge wird mit der Zeit erscheinen. Aber obwohl wir inzwischen in der Überzahl sind, bestimmen immer noch sie, woran wir arbeiten sollen, wer wobei mithelfen darf; und wenn ich ihre letzten Ausführungen richtig verstanden habe, werden sie demnächst auch noch überwachen, wer von uns wohin geht. Sie kontrollieren unser Leben, und darauf haben sie kein Anrecht! Die Leistung der Menschen hier ist mindestens ebenso groß wie die, die sie Rhoani hier bringen, und wir verlangen, daß sie anerkannt wird!"
 

In der Menge der Rhoani erhob sich unwilliges Gemurmel - Misatos Worte trafen nicht gerade auf Begeisterung. Shennok überlegte kurz. Er mußte diese Situation irgendwie in den Griff bekommen und beruhigend auf die Leute einwirken, wenn er sie nicht eskalieren lassen wollte.

"Ich verstehe ihren Standpunkt", gab er zurück, "aber ich bin mir nicht ganz sicher, wie sie sich das vorgestellt haben. Wie sieht ihrer Meinung nach diese ,Anerkennung' aus, von der sie reden?"

Die Frau blickte ihn fest an. "Wir verlangen", sagte sie, "daß sie das Amt des Kommandanten niederlegen und alle Bewohner der Erde - Menschen und Rhoani - über einen neuen Kommandanten abstimmen."

Shennoks Kinnlade klappte herunter.
 

"Wir sind der Ansicht", fuhr Misato fort, "daß sie in der Vergangenheit unfähig waren, ihren Pflichten nachzukommen. Sie haben es weder geschafft, ihrer Verantwortung für uns Menschen gerecht zu werden, noch haben sie die Verteidigung vor den Engeln gesichert, noch haben sie sich als vertrauenswürdig erwiesen - ihre Einschätzung der Lage war mehr als einmal von persönlicher Sorge und Voreingenommenheit in Bezug auf ihren Sohn getrübt. Darum verlangen wir..."

"Einen Moment", unterbrach sie der Kommandant, der endlich seine Sprache wiedergefunden hatte. "Wer ist ,wir'?"

"Wir", war die Antwort, "sind die sechstausend bisher zurückgekehrten Bewohner der Erde, die in geheimer, freier und unabhängiger Wahl mich zu ihrer Sprecherin ernannt haben."
 

Die Unruhe in der Menge wurde immer größer. Inzwischen waren einige Stimmen lautgeworden, die forderten, Misato solle gefälligst von dort oben verschwinden und dem Kommandanten in Ruhe lassen. Einige der Pioniere waren sogar schon dabei, sich hin zur Plattform zu drängeln. Wahrscheinlich wollten sie die Frau kurzerhand mit Gewalt wegschaffen...

"Ich stimme ihrem Vorschlag zu", antwortete Shennok mit fester Stimme.

Augenblicklich herrschte Stille.

"Sie mögen mit ihrer Argumentation bezüglich der Beziehung zwischen Menschen und Rhoani falsch liegen", sagte der Kommandant, "aber in einer Hinsicht haben sie recht: Ich habe Fehler begangen, schwere Fehler sogar. Aber das liegt daran, daß ich versucht habe, diese Kolonie wie ein Raumschiff zu lenken. Das war der Lage unangemessen. Darum bin ich bereit, mein Amt niederzulegen."
 

Die Unruhe unter den Rhoani wuchs rasch wieder, und Shennok beeilte sich, weiterzusprechen. "Aber", sagte er, "ich glaube auch, daß es im Moment niemanden hier gibt, der für diese Position auch nur annährend meine Qualifikationen hat. Und aus diesem Grund werde auch ich mich zur Wahl stellen, wenn über den neuen Leiter der Kolonie abgestimmt wird! Ich nehme an, das widerspricht nicht ihren Forderungen?"

"Keineswegs", gab Misato mit einem Lächeln zurück. "Ich schlage vor, sie organisieren noch die technischen Möglichkeiten der Wahl - so hochentwickelt, wie sie sind, können sie sicherlich ein geheimes, nicht zu manipulierendes Verfahren zur Verfügung stellen. Inzwischen informiere ich die Menschen über ihre Entscheidungen."

Der Kommandant nickte. "Ich nehme an", sagte er, "sie werden sich ebenfalls um den Posten bewerben?"

Die Frau schüttelte den Kopf. "Es gibt bessere Personen für dieses Amt", sagte sie, "und im Gegensatz zu ihnen bin ich bereit, das zuzugeben."

"Diese Personen würde ich sehr gerne kennenlernen", schmunzelte Shennok.
 

---
 

"Verloren?! Aber..."

Lasatra nickte ernst. "Die Ergebnisse sind bereits überprüft worden", sagte sie. "Sie wurden nicht manipuliert und sind einwandfrei sicher. Sie erhielten 4261 Stimmen, ihr Gegner 5837."

"Aber... wie kann das sein?" Shennok schüttelte fassungslos den Kopf. "Dieser... dieser Mensch ist doch erst vor zwei Tagen aus dem Meer aufgetaucht. Er hatte doch bei weitem nicht genug Zeit, alle anderen Menschen kennenzulernen, geschweige denn ihr Vertrauen zu gewinnen! Wie konnten ihn nur so viele wählen? Diese Misato muß schon in den letzten Tagen hinter meinem Rücken die Menschen gegen mich organisiert haben..."

"Vielleicht auch nicht", meinte die Astrophysikerin. "Sie vergessen, daß die Menschen Jahrmillionen die Möglichkeit hatten, ihre Seelen miteinander auszutauschen. Sie kennen einander allesamt gut. Und noch dazu sind zum weitaus größten Teil bisher ehemalige Mitarbeiter dieser Anti-Engel-Organisation aufgetaucht..."
 

Der ehemalige Kommandant nickte in Gedanken. "Und die halten natürlich weiterhin zu ihren früheren Anführern", sagte er. "Es ist eigentlich nur logisch. Nur..."

"Was nur?"

Shennok sah auf. "Hatte diese Misato vielleicht recht?" fragte sie. "Bin ich für diese Position wirklich ungeeignet? Warum hat sich nur eine Handvoll der Menschen dazu entschieden, mich zu unterstützen? Bin ich so schlecht?!"

Lasatra wollte antworten, als es draußen klopfte.

"Ja?" rief der Kommandant mißgelaunt.
 

Die Tür öffnete sich, und herein trat ein hochgewachsener, älterer Mann.

"Sind sie etwa..."

Der Mann nickte. "Der neugewählte Kommandant der Kolonie", sagte er und verbeugte sich leicht vor Shennok. "Fuyutsuki Kôzô."
 

---
 

"Was der Alte wohl mit ihm zu bereden hat?"

Shinji hob die Schultern. "Ich weiß nicht", sagte er. "Vielleicht will er wissen, wie er dafür sorgen kann, daß die Rhoani auf ihn hören."

"Bist du blöd?" fragte Asuka. "Hast du es jemals erlebt, daß Fuyutsuki Probleme dabei gehabt hätte, sich durchzusetzen?"

"Hm..." Der Junge sank in sich zusammen. "Meinen Vater hat er nie von etwas überzeugen können, glaube ich..."

Das Mädchen kicherte. "Dein Vater hätte nicht mal auf ihn gehört", meinte sie, "wenn Fuyutsuki ihm gesagt hätte, daß der Himmel blau und es nachts dunkel ist. Ich glaube, er hat auf überhaupt niemanden gehört."

"Nur auf Mama..." murmelte Shinji.

"Hm?"

"Ach... nichts."
 

Die beiden Kinder saßen eine Zeit lang schweigend nebeneinander auf dem Felsen am Rande des LCL-Meeres und ließen die Beine baumeln.

"Denkst du", fragte nach einiger Zeit wieder Asuka, "das es gutgeht?"

"Was gutgeht?"

"Daß die Rhoani jetzt auf einen Menschen hören", meinte das Mädchen.

Shinji nickte, ohne zu zögern. "Ganz sicher", sagte er. "Sie werden sich bestimmt an die Regeln halten, denen ihr eigener Kommandant zugestimmt hat. Sie haben immer so viel von ihrer höheren Zivilisation geredet - sie würden sich ja selbst als Lügner bloßstellen, wenn sie jetzt die Wahl nicht akzeptieren."

"Misato war sich da nicht so sicher", meinte Asuka leise.

"Misato hat mit dir darüber geredet?"
 

Das Mädchen nickte. "Weißt du", sagte sie, "sie hat in den letzten paar Wochen viel mit den anderen Leuten geredet... wegen Shennok und dem, was er so gemacht hat. Sie hat gefragt, ob die anderen bereit sind, hinter ihr zu stehen, wenn sie verlangt, daß er seinen Posten zugunsten einer anderen Person räumt. Das einzige, was gefehlt hat, war noch Fuyutsuki."

"Und was hätte sie gemacht", fragte der Junge, "wenn sich Shennok geweigert hätte?"

"Dann war sie bereit", sagte Asuka leise, "die Menschen gegen die Rhoani in einen Aufstand zu führen. Und darum hat auch niemand mit dir darüber gesprochen. Misato hatte Angst, du würdest es nicht verstehen."

"Was nicht verstehen?"

Das Mädchen zögerte unsicher. "Wenn... wenn sie alles eingesetzt hätte", sagte sie vorsichtig, "was uns Menschen zur Verfügung steht."
 

Plötzlich verstand Shinji.

"Misato wollte EVA-01 einsetzen", sagte er tonlos, "und dazu hätte sie meine Mutter gebraucht..."

Asuka nickte, und eine einzelne Träne rollte über ihre Wange.
 

Kapitel 27
 

"Was soll das heißen, er hat abgelehnt?"

Fuyutsuki Kôzô senkte ein wenig den Blick. "Das bedeutet", sagte er, "Shennok wird sich in Zukunft völlig aus der Leitung der Kolonie heraushalten. Er überläßt uns... nein, mir die Führung."

"Wie ich es mit dachte", meinte Misato abfällig. "Es ging diesem Tyrannen doch nie darum, hier etwas vernünftiges auf die Beine zu stellen, es ging ihm immer nur um Macht."
 

"Den Eindruck hatte ich eigentlich nicht", warf Fuyutsuki ein.

Die Frau lächelte sarkastisch. "Ach, tatsächlich? Und wieso, glauben sie, hat er dann ihr Angebot abgelehnt, ihnen als Berater zur Seite zu stehen? Wenn es ihn wirklich kümmern würde, was hier aus den Menschen wird, hätte er angenommen."

"Das ist es nicht", gab der ältere Mann zurück. "Shennok meinte, wenn es um Sachfragen ginge, wäre er bei weitem nicht der beste Berater und ich sollte mich besser direkt an die Abteilungsalphas wenden. Er wäre... wie hat er es ausgedrückt... kein Mann des Wissens."

"Eine Ausrede", befand Misato. "Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Wichtig ist, daß er keinen Einfluß mehr hier hat. Er hat sich lange genug als schädlich erwiesen..."
 

Fuyutsuki schüttelte ernst den Kopf. "Jetzt übertreiben sie, Katsuragi-san", widersprach er. "Shennok stand in den vergangenen Wochen unter entsetzlichem Druck, nach allem, was ich gehört habe; und er ist meiner Ansicht nach bewundernswert damit umgegangen. Ich habe mich für diese Wahl nur zur Verfügung gestellt, weil sie meinten, die anderen Menschen hier würden ihn niemals akzeptieren."

"Würden sie auch nicht mehr", verteidigte sich Misato. "Dieser Rhoani hat leichten Herzens unsere Kinder in den Kampf gegen die Engel gestellt, uns einen übermächtigen Klon als Gegner geschaffen und sich darauf verlassen, daß wir Menschen wieder zurechtrücken würden, was er und seine Leute aus dem Lot bringen. Und die ganze Zeit über hat er uns niemals die Anerkennung gegeben, die wir dafür verdienen, sondern und als unterentwickelte Spezies betrachtet."

Fuyutsuki sah der Frau fest ins Gesicht. "Und sie glauben ernsthaft", fragte er, "daß ich so viel hätte anders machen können?"
 

"Besser sie als Anführer", war ihre Antwort, "als ein neuer Ikari Gendo."
 

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Sieben weitere Tage vergingen, und auf den ersten Blick schien es, als hätte sich in der langsam wachsenden Kolonie nichts geändert.

Zumindest auf den ersten Blick.

Tatsächlich war einiges deutlich anders, und das hatte niemand so sehr bemerkt wie die Alphas der wissenschaftlichen Abteilungen der Rhoani. Nur einen Tag, nachdem Fuyutsuki-Kôzô zum neuen Kommandanten bestimmt worden war (die Rhoani taten sich mit dem Wort "gewählt" sehr schwer), hatte er alle zusammengerufen und sie freundlich, aber bestimmt darum gebeten, Vorschläge für die zukünftige Zusammenarbeit zu bringen. Das war in der fast vierhundertjährigen Geschichte der ,Vagabund' noch niemals vorgekommen; es hatte schon immer beim Kommandanten gelegen, die Modalitäten der Zusammenarbeit selbst festzulegen.
 

Harmis hatte den älteren Mann sogleich auf seine Fehleinschätzung hingewiesen, aber zu seiner nicht geringen Überraschung hatte der darauf bestanden, daß ihm dies durchaus bekannt sei, aber er vorhabe, es in Zukunft anders zu handhaben. Immerhin sei er ja gerade deswegen gewählt worden, weil der vorherige Kommandant zu restriktiv mit seinen Befugnissen umgegangen sei; und er habe nicht vor, dies weiter fortzuführen.

Nach einer längeren Beratung einigte man sich schließlich darauf, daß der Kolonie in Zukunft ein Rat vorstehen sollte - gebildet aus jeweils dem rhoanischen Leiter einer wissenschaftlichen Sektion und einem Menschen, der in diesem Fachgebiet ebenfalls nicht ganz unerfahren war. Fuyutsuki-Kôzô als Kommandant der Kolonie wurde zum Ratsvorsitzenden, der letztendlich die Entscheidungen bestätigte oder ablehnte.

Das ganze System war völlig fremdartig und nach Ansicht der Rhoani übermäßig bürokratisch angelegt. Kaum einer von ihnen hatte geglaubt, daß das gutgehen konnte.
 

Überraschenderweise liefen die ersten Tage völlig reibungslos ab, weswegen man auch hätte glauben können, daß sich gar nichts geändert hatte. Der Rat kam in den meisten Fällen unproblematisch zu raschen Entscheidungen, die menschlichen Mitglieder folgten im großen und ganzen den Einschätzungen der Rhoani; und die Zeit, die der Rat für seine Entschlüsse brauchte, wurde dadurch wieder eingespart, daß sich die wissenschaftlichen Abteilungen nicht mehr miteinander koordinieren mußten, da ihre Alphas ohnehin schon miteinander gesprochen hatten.

Misatos Laune hatte sich inzwischen erheblich gebessert. Auf Fuyutsukis Vorschlag und mit der Zustimmung Raimors hatte sie den Ratsplatz des menschlichen Vertreters für Exobiologie erhalten, und nun, da sie als Gleiche unter Gleichen mit den Rhoani reden konnte, schien es sie gar nicht mehr zu stören, daß es immer noch nur wenige Menschen waren, die in der Kolonie wichtige Arbeiten verrichteten. Entscheidend war doch, so hatte sie zumindest gesagt, daß nun die Menschen an den obersten Entscheidungen beteiligt waren.
 

Fast jeder schien rasch mit der neuen Situation zurechtzukommen.

Nur Shennok sah man in diesen Tagen selten.
 

---
 

Shinji erwachte ganz allmählich, als sich eine Hand federleicht auf seine Wange legte.

"Schrei bitte nicht, Ikari", wisperte Rei ihm zu.

Sofort war der Junge hellwach. "Misato...!" entfuhr es ihm.

"Leise", bat das Mädchen. "Ich will nur reden!"

"Reden?" keuchte Shinji und blickte hinüber zum leeren Bett. "Wo ist Misato-san? Was hast du..."

"Sie ist noch bei eurem Rat", flüsterte Rei. "Ich habe ihr nichts getan. Bitte, glaub mir. Ich will keine weiteren Schmerzen. Weder für mich, noch für andere."
 

Jetzt erst bemerkte der Junge, daß unterhalb ihrer Schulter immer noch die Wunde klaffte, die der Schraubenzieher hinterlassen hatte. Ein dünner Blutstrom sickerte stetig heraus.

Das Mädchen mußte seinen verwirrten Blick bemerkt haben, denn sich nickte kurz. "Du siehst richtig", sagte sie, "die Wunde ist noch nicht verheilt. Sie heilt nur, während ich diesen Körper aufrechthalte. Wenn ich ihn in einen anderen Zustand bringe, bleibt sie."

"Ich verstehe", murmelte Shinji und schluckte. "Was... was willst du von mir?" meinte er dann leiser.

"Ich kann nicht begreifen", sagte Rei, "warum du dich gegen das Schicksal der Menschheit stellst. Willst du nicht, daß sie wieder vereint wird?"

Der Junge schüttelte den Kopf. "Nicht so, Ayanami", antwortete er. "Nicht, wenn sie dafür sterben müssen. Ich will nicht, daß noch einmal Leute sterben, nur um irgendeinen Plan durchzuführen, der zu nichts führt. Ich will, daß alle wieder leben."
 

"Aber für diese Entscheidung ist es schon zu spät", gab das Mädchen zurück, "schon längst. Das Schicksal der Menschen muß sich erfüllen, und die Engel werden es erfüllen. Und ich werde ihnen dabei helfen. Ich will doch nur das Beste für die Menschheit!"

"Das Beste?!" Shinji stieß verächtlich die Luft auf. "Das Beste, was auf die Menschheit wartet, soll das Jenseits sein? Da kann ich mir etwas besseres vorstellen!"

Rei schüttelte verzweifelt den Kopf. "Du verstehst immer noch nicht, Ikari", meinte sie. "Das Schicksal der Menschheit IST das Jenseits! Die Menschheit hat kein anderes Schicksal mehr, als sich im Jenseits wieder zu vereinen. Darum sind die Engel gekommen."

"Dann sollen sie wieder gehen", antwortete der Junge eisig. "Die Rhoani, die Menschen, und auch ich, wir alle werden dafür sorgen, daß sich dieses Schicksal nicht erfüllt, was du und die Engel für uns vorgesehen haben."
 

"Warum verstehst du nur nicht?" Echte Verzweiflung schwang nun in der Stimme des Mädchens mit.

"Was verstehe ich nicht?"

"Die Menschheit hat nur ein Schicksal", erklärte sie fast schon flehentlich, "und dieses Schicksal ist die Vereinigung im Jenseits. Wenn dieses Schicksal verhindert wird - sei es von dir, sei es von den Rhoani - dann hat die Menschheit gar kein Schicksal mehr! Sie wird aufhören zu existieren, einfach so, als habe es sie nie gegeben! Nicht einmal mehr die Seelen werden übrig sein; sie werden vergehen wie Nebel an einem Sommertag, und niemand wird sich an sie erinnern!"

Shinji schluckte. "Wenn die Engel aufgehalten werden", fragte er stockend, "haben die Menschen gar kein Schicksal mehr?"

Rei nickte stumm.

"Aber... aber wieso?"
 

Das Mädchen sah traurig zu Boden. "In dem Moment", flüsterte sie, "in dem du den Menschen die Wahl gelassen hast, so lange in der Vereinigung aller Seelen zu bleiben, bis sie perfekt geworden sind, hast du ihnen auch die Möglichkeit gegeben, dabei zu scheitern. Und gescheitert sind sie."

"Aber die Rhoani", warf Shinji ein, "was ist mit ihnen? Sie hatten niemals diese Wahl. Sie wußten nicht einmal, daß es diese Wahl gibt!"

Rei blinzelte verwirrt. "Was haben die Rhoani damit zu tun?" wollte sie wissen. "Die Rhoani haben ihr eigenes Schicksal."

"Aber sie sind doch auch Menschen!" verteidigte sich Shinji. "Wahrscheinlich stammen sie sogar von der Erde ab; das hat zumindest Dr. Akagi gesagt..."

"Die Rhoani sind Menschen?!"

"Ja, wenn wir uns nicht..."
 

Ohne ein weiteres Wort verschwand Rei vor Shinjis Augen.

Im selben Moment spürte er tief in sich das inzwischen so vertraute entsetzliche Unbehagen.

"Der Engel Jehuel..." murmelte er.
 

---
 

"Schon wieder einer nach Sonnenuntergang!" beschwerte sich Misato. "Diese Engel werden langsam zu richtigen Nachteulen."

"Aber dieses Mal hat er die Uhrzeit bestimmt nicht gewählt, um sich besser anschleichen zu können", ertönte die Stimme Hyuga Makotos aus ihrem PersoKom.

"Wieso das?"

"Moment... ich schalte ihnen die Bildaufnahmen auf ihren Monitor hinüber!"
 

Vor der Frau wurde ihr Sichtschirm hell, und sie riß entsetzt die Augen auf.

"Mein Gott..."

Eine riesige Gestalt in der vagen Form eines menschlichen Oberkörpers, die aus glutflüssiger Lava zu bestehen schien, wälzte sich über die Berge in Richtung der Kolonie und brannte dabei alles in ihrer Umgebung nieder.
 

---
 

"Wie ist ihre Analyse, Harmis?"

Der Junge arbeitete fieberhaft an den Sensoren. "Wie es aussieht", stellte er fest, "ist das gesamte glühende Gestein nicht der eigentliche Engel. Das Muster Blau geht von einem vergleichsweise kleinen Kern aus, der sich innerhalb der Lavagestalt frei bewegt. Dieser Kern hält das ganze Äußere in Form und strahlt außerdem die Hitze ab, die es flüssig hält."

"Dann werden wir mit den Lasern keine großen Chancen haben", stellte Kommandant Fuyutsuki fest, "wenn der Engel derart resistent gegen Hitze ist. Außerdem glaube ich ohnehin nicht, daß sie durch ein AT-Field dringen können, das solche Mengen an Lavagestein zurückhält. Vorschläge?"
 

"Wir könnten versuchen", meinte Raimor, "ihn abzukühlen. Die Förderpumpen in den Bereichen 7 und 11 sind auf große Grundwasserreservoirs gestoßen, und wenn wir sie auf volle Leistung stellen, pumpen sie pro Minute dreitausend Kubikmeter Flüssigkeit ab. Vielleicht besiegt ihn das."

Fuyutsuki überlegte einen Moment. "Wie kommen sie auf diese Idee?"

"Der letzte Engel lebte in unseren Träumen", erklärte der Exobiologe, "und mit unserem Erwachen starb er. Dieser Engel lebt im Feuer..."

"...und wenn wir es ihm nehmen, stirbt er vielleicht auch", vollendete Fuyutsuki seinen Satz. "In Ordnung, veranlassen sie alles. Die Techniker sollen sofort Leitungen installieren und diese hier, hier und hier mit Ausgängen versehen. Ich schätze, wir haben gut vier Stunden, bis der Engel dort eintrifft. Das sollte reichen."
 

"Mir wäre wohler zumute", murmelte Misato, "wenn wir noch einen Ausweichplan hätten."

Der Kommandant nickte zustimmend. "Sie haben schon recht", meinte er. "Aber ich wüßte im Augenblick nicht, was wir noch tun könnten."
 

---
 

Shennok hatte im Gegensatz dazu eine sehr genaue Vorstellung davon, was er tun konnte.

In den ganzen letzten Tagen hatte er darüber nachgedacht, was er eigentlich noch hier sollte. Er war wissenschaftlich nur teilweise ausgebildet, seine Führungsfähigkeiten waren nicht mehr gefragt, und wie es aussah, waren alle bis jetzt ohne ihn absolut wunderbar zurechtgekommen.

Bis jetzt. Aber jetzt war wieder ein Engel gekommen, und nach allem, was er wußte, gab es gegen die Engel nur ein Mittel. Und das würde er seinem Volk zurückbringen.
 

Der ehemalige Kommandant lächelte, als der Lastenroboter, den er programmiert hatte, die Zugangskapsel mit ihm in EVA-01 gleiten ließ.
 

Kapitel 28
 

"Meldung von dem letzten Team: Vorbereitungen beendet. Druck wurde aufgebaut."

Kommandant Fuyutsuki nickte ruhig. "Verstanden", gab er zurück. "Ventile öffnen."

"Ventile werden geöffnet!"

Und drei Millionen Liter Wasser pro Minute ergossen sich aus den eilig errichteten Pipelines auf Jehuel.
 

Unter dem schieren Druck wankte sogar der riesenhafte Engel, als ihn die Wassermassen trafen. Massen an Nebel stiegen auf und hüllten die gesamte Umgebung in einen dichten, weißen Schleier. In der Entfernung schien die Erde etwas zu erzittern.

"Beschuß scheint zu wirken", ertönte Hyugas Stimme im PersoKom des Kommandanten. "Das Ziel ist zum Stehen gekommen. Sein AT-Field scheint gegen das Wasser nicht wirksam zu sein. Wir haben wohl seine Achillesferse gefunden."

Fuyutsuki nickte in Gedanken, aber sein Gesicht zeigte noch keine Reaktion. "Gut", gab er zurück. "Beschuß fortsetzen. Und stellen sie einen Bildkontakt her."

"Negativ", war die Antwort. "Die ganze Gegend ist in heißen Dampf eingehüllt. Ich richte mich hier nur an den Sensorenmessungen, die ich von ihnen erhalte."
 

"Verstehe", meinte der Kommandant und wandte sich an Harmis. "Können sie die Daten bestätigen?"

Der Junge nickte. "Wie es aussieht", berichtete er, "kühlt der Engel langsam ab. Das AT-Field ist unvermindert stark, aber Jehuel scheint im Moment seine ganze Kraft zu brauchen, um seine Form zu halten. Aber das wird er nicht ewig durchhalten können. Ich glaube, wir haben ihn unter Kontrolle."

"Gut so", freute sich Misato. "Endlich mal ein Plan, der auf Anhieb klappt. Wenn es bisher noch irgendwelche Zweifel daran gab, daß der Führungswechsel eine gute Sache ist, dann haben wir diese Zweifel damit definitiv ausgeräumt."

Fuyutsuki wandte sich zu ihr um. "Ich würde keine Lobeshymnen halten", meinte er, "solange unser Gegner noch nicht definitiv besiegt ist. Wir haben mit den Engeln schon die Erfahrung gemacht, daß sie sehr anpassungsfähig sein können, und ich frage mich..."
 

"Kommandant", ertönte in diesem Moment die Stimme Hyugas aus dem PersoKom, "die Situation hat sich verändert!"

"In welcher Hinsicht?" fragte der ältere Mann.

"Bis eben waren unsere Wasserwerfer auf den Engel gerichtet", kam die Antwort. "Aber gerade eben... eben sind die Wasserstrahlen über ihn hinausgeschossen! Wir zielen nicht mehr auf den Engel, und ich habe keine Anzeige mehr für Muster Blau an seiner Position!"

Fuyutsuki blinzelte verwirrt. "Haben wir ihn denn schon besiegt - so plötzlich? Harmis, was sagen die Sensoren?"

"Ich habe Jehuel auch verloren", gab der Junge irritiert zurück. "Moment... ich suche im breiteren Umfeld nach ihm... Da! Ich habe ihn wieder! Aber..."

"Wo ist er?" wollte Fuyutsuki wissen. "Geben sie die Daten sofort an die Verteidigungszentrale weiter, damit sie den Beschuß..."
 

Harmis schüttelte verzweifelt den Kopf. "Das wird nicht möglich sein", meinte er. "Die Peilung ist immer noch an fast den selben Koordinaten - aber mit einer negativen Z-Peilung!"

"Und was heißt das?"

Der Junge wandte sich zum älteren Mann um. "Der Engel hat sich unter die Erdoberfläche zurückgezogen", sagte er, "und bewegt sich nun unterirdisch auf uns zu."
 

Der Kommandant senkte den Blick. "Jetzt brauchen wir wirklich ein Wunder", seufzte er.
 

---
 

"Ich werde gehen!"

"Kommt ja gar nicht in Frage! Ich gehe!"

"Nein, es ist mein Eva! Ich gehe!"

"Bist du blöd? Du wirst hier noch gebraucht, ICH gehe!!!"
 

Fuyutsuki hob beschwichtigend die Hände. "Immer mit der Ruhe", sagte er, "soweit es mich angeht, muß niemand von euch beiden in EVA-01 steigen. Ich wollte lediglich wissen, ob sich jemand von euch freiwillig meldet, falls wir wirklich keine andere Möglichkeit finden.

"Ja, ich!" schrieen Shinji und Asuka gleichzeitig.

"Ich denke, keiner von euch sollte gehen", meinte Misato düster. "Der Evangelion ist im Moment kein wirklich sicherer Ort, und ich finde immer noch, wir sollten keine Kinder gegen die Engel kämpfen lassen."

Akagi Ritsuko schüttelte ernst den Kopf. "Wenn wir EVA-01 einsetzen wollen", sagte sie, "brauchen wir die Kinder. Nur die beiden sind auf einem Evangelion ausgebildet, und zum Kampf gegen einen Engel braucht man Kampfausbildung."
 

"Dann werde ich kämpfen!" drängte sich Asuka wieder vor. "Ich bin definitiv die bessere Pilotin von uns beiden, und ich hab mit den neuen Engeln auch schon Erfahrung. Shinji kann mir ja wieder mit dem AT-Field helfen."

"Aber du verstehst immer noch nicht", meinte Dr. Akagi, "daß der Evangelion im Moment nicht bereit für einen Piloten ist! Es fehlt eine menschliche Seele in seinem Inneren, damit man ihn steuern kann - und der erste Mensch, der mit ihm synchronisieren will, wird seine Seele an EVA-01 verlieren! Wenn du gehst, Asuka, dann wirst du ihn nicht mehr steuern können."

"Also muß ich als erster gehen", meldete sich Shinji wieder. "Wie Asuka schon gesagt hat, sie ist die bessere Pilotin von uns beiden und kommt mit dem Engel sicher besser zurecht als ich."

Das Mädchen stieß ihm wütend den Ellenbogen in die Seite. "Bist du blöd?" meinte sie. "Dann steckt deine Seele auf ewig in diesem Ding fest, und wer sagt uns dann, wann die Engel kommen?"
 

"Dafür haben wir die Sensoren", warf Shinji ein. "Außerdem habe ich schon eine lange Zeit in EVA-01 verbracht und bin es gewöhnt. Bitte, Fuyutsuki-san, lassen sie mich den Platz einnehmen. Das ist unsere beste Chance!"

"Niemals!" schrie Asuka. "Ich lasse dich nicht noch mal fort!"

Der Junge hob verzweifelt die Arme. "Du mußt den Engel besiegen", erklärte er fast schon verzweifelt. "Und außerdem kannst du mich hinterher wieder zurückbringen. Du hast das schon einmal geschafft!"

"Aber damals war bereits eine Seele in EVA-01", warf Ritsuko ein, "und außerdem gab es das Band der Verwandtschaft, das..."
 

"Ich bin einverstanden", meinte Kommandant Fuyutsuki plötzlich.

"Was?!" schrie Misato und Asuka gleichzeitig.

Der ältere Mann brachte sie mit einer ruhigen Handbewegung zum Schweigen. "Ich bin einverstanden", wiederholte er. "Shinji, du kannst dich auf den Weg zu EVA-01 machen. Ich schicke dir ein Technikerteam, das dich an Bord bringt. Asuka, du steigst in die Kapsel, nachdem Shinji synchronisiert hat."

"Aber... das können sie doch nicht zulassen!" ereiferte sich Misato. "Warum wollen sie die Kinder wieder in eine solche Gefahr bringen?"

Fuyutsuki blickte sie fest an. "Sie haben sich freiwillig gemeldet", sagte er, "und durch ihre Worte bewiesen, daß sie die Tragweite ihrer Entscheidung verstehen. Ich bin bereit, ihre Entscheidung zu akzeptieren - weil glaube, daß alle beide keine Kinder mehr sind!"

"Aber sie sind doch erst..."

"Fünfzehn Jahre alt", führte der Kommandant ihre Worte weiter und lächelte, "und dann noch achtzig Millionen Jahre mehr. Wann werden sie endlich aufhören, sie wie Kinder zu behandeln?"

Misato öffnete den Mund... und schloß ihn wieder. Was hätte sie auch sagen sollen?
 

---
 

"Viel Glück, Shinji."

"Danke, Asuka. Und... auf wiedersehen!"

Mit metallischem Klacken rastete die Zugangskapsel in EVA-01 ein.

Sekunden vergingen.

Und dann kam Shinjis verwirrte Stimme aus dem PersoKom:

"Äh... Kommandant... ich kann nicht synchronisieren!"
 

Fuyutsuki sah überrascht auf. "Was sagst du da, Shinji?"

"Ich kann nicht synchronisieren", wiederholte der Junge. "Ich hab's versucht... aber da ist eine Präsenz, die mich nicht annimmt! Als wäre schon jemand in EVA-01!"

"Aber... wie kann das sein?"

Ritsuko war die erste, die reagierte. "Harmis", entfuhr es ihr, "wenn das stimmt, dann muß es jemand aus der Kolonie sein..."

"...und wir haben die Genmuster aller Leute in den medizinischen Datenbanken gespeichert!" setzte der Junge ihren Satz fort. "Ich stelle sofort die Verbindung her; sie untersuchen inzwischen den Evangelion mit den Bioscannern. Ich will wissen, wer da alles drinsteckt!"
 

Die Wissenschaftlerin und der Sens-alpha begannen sofort eilig zu arbeiten, und keine zwei Minuten später kamen sie zu einem Resultat.

"Scan vollendet", meldete Ritsuko. "Ich übergebe die Daten an ihre Arbeitsstation..."

Harmis nickte, startete die Analyse... und erbleichte.

"Was ist? Wer ist es?"

"Im Evangelion befinden sich Ikari-Shinji", sagte der Junge mit stockender Stimme, "und mein Vater..."
 

Ritsuko schluckte. "Das bedeutet", sagte sie, "der einzige, der EVA-01 im Moment steuern kann, sind sie..."
 

---
 

"Und... und wie lenke ich ihn?"

"Es ist einfacher, als es im ersten Moment aussieht", beruhigte ihn Shinji. "Du steuerst den Evangelion, indem du an das denkst, was er tun soll. Die Stärke der Handbewegungen bestimmst du mit den Handkontrollen. Sie sind reaktiv, das heißt, sie setzen dir Widerstand entgegen, so daß der EVA nur dann viel Kraft einsetzt, wenn du viel Kraft einsetzt. Das ist ein zusätzlicher Sicherheitsmechanismus, damit du nicht versehentlich etwas zerquetschst."

Harmis schluckte. "Ich... ich hoffe, ich bekomme das hin", meinte er. "Es ist nur..."
 

In diesem Moment bebte die Erde, und mit einem gewaltigen Krachen barst der Boden in etwa einem Kilometer Entfernung auf. In einer riesigen Feuerfontäne erhob sich der Engel Jehuel und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.

"Du solltest besser schnell lernen", bemerkte Asuka mit einem unsicheren Blick auf die riesige, rotglühende Gestalt.
 

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Die Zugangskapsel glitt erneut in EVA-01.

Alle hielten den Atem an.

Und der Evangelion setzte sich in Bewegung.

"Es... es funktioniert!" keuchte Harmis. "Ich... ich laufe wirklich... ich kann..."

"Ganz langsam", mahnte in Ritsuko. "Setz zu Beginn nur einen Fuß vor den anderen, sonst verlierst du vielleicht das Gleichgewicht..."

Wie auf ein Kommando kam EVA-01 in diesem Moment tatsächlich ein wenig ins Stolpern, fing sich aber gleich wieder. "Danke für die Warnung", ertönte Harmis' Stimme über das PersoKom, "es ist wirklich nicht so einfach."

"Zumindest einfacher", murmelte Shinji, "als wenn dir ein Kabel aus dem Rücken kommt."
 

"In Ordnung", schaltete sich nun Fuyutsuki in das Gespräch ein. "Kümmern wir uns rasch um die Taktik. Harmis, wie sie wissen, ist das Lavawesen nicht der wirkliche Engel. Das Ziel ist der feste Kern, der in seinem Inneren schwimmt. Ritsuko wird ihn mit den Sensoren erfassen und ihnen mündlich übergeben, wo er sich genau befindet. Sie nehmen das Schwert, welches wir von Tzadkiel erbeuten konnten und versuchen, diesen Kern zu treffen. Soweit verstanden?"

"Klar und deutlich", kam es vom jungen Rhoani zurück. "Hoffen wir nur, daß das auch funktioniert. Ich habe keine Lust, mich von diesem Lavariesen treffen zu lassen. Wieviel hält denn dieser Evangelion aus?"

Der Kommandant sah zu Boden. "Schwer zu sagen", antwortete er. "EVA-01 ist sehr widerstandsfähig, was Schaden angeht, aber wir hatten bisher nur einmal Kontakt mit flüssigem Gestein, und die Spezialausrüstung für diese Situation..."

"Geschoß im Anflug!" brüllte plötzlich und ohne Vorwarnung die Stimme Hyugas aus dem PersoKom.

Erschrocken blickten alle auf, und da sahen sie einen gewaltigen, rotglühenden Feuerball von Jehuel aus auf EVA-01 zurasen. Nein... es war kein Feuerball, sondern ein gewaltiger Brocken glutflüssiger Lava!
 

"Harmis, weich aus!" brüllte Misato, doch es war schon zu spät: Das Lavageschoß traf frontal die Brust des Evangelions und zerplatzte in einem spektakulären Feuerball. Die schiere Wucht des Aufpralls schleuderte den Giganten mehrere Meter zurück und ließ ihn rücklings zu Boden gehen. Dort, wo das glühende Gestein getroffen hatte, war die Brustpanzerung durchschlagen, und der entsetzliche Geruch verbrannten Fleisches erfüllte die Luft. Glühende Splitter steckten immer noch in Rüstung und Körper des EVAs und ließen Rauchwolken aus ihm dringen.
 

Über das Interkom gellte der furchtbare Schmerzensschrei von Harmis und ging allen durch Mark und Bein.
 

Kapitel 29
 

Der Schrei des Jungen ging ganz allmählich in ein unmenschliches Brüllen über, als die Augen von EVA-01 plötzlich in einem grünlichen Leuchten erstrahlte und der Evangelion sich langsam erhob.

Ritsuko war die erste, die reagierte.

"Fort hier!!!" schrie sie. "Wir müssen eine Deckung finden!" Mit diesen Worten begann sie, auch schon loszurennen, und die anderen folgten ihr eilig.

Während alle im Laufen waren, wandte sich Raimor an die Wissenschaftlerin. "Was ist denn?" keuchte er. "Was passiert da mit dem Evangelion?"

"Ein Amoklauf!" schrie ihn Misato von der anderen Seite an. "Hast du die Erinnerungen vergessen, die wir geteilt haben? Wenn EVA-01 schwer verletzt wird, dann macht er sich selbständig und geht auf alles los, was er für einen Feind hält. Niemand kann ihn dann noch kontrollieren!"
 

Inzwischen hatte Fuyutsuki im Laufen sein PersoKom hochgenommen und eine Verbindung zu Hyuga hergestellt.

"Verteidigungszentrale, hören sie mich?"

"Positiv", kam die Antwort.

"Neue Befehle", gab der Kommandant bekannt. "Geben sie volle Energie auf das Partikelgeschütz und bereiten sie es zum Abschuß vor."

Einen Moment schwieg Hyuga, wahrscheinlich vor Überraschung. "Kommandant", meinte er dann, "wenn wir in Bodennähe das Partikelgeschütz einsetzen, dann..."

"Ich bin mir über die Folgen durchaus im Klaren", unterbrach ihn Fuyutsuki. "Aber wir brauchen eine letzte Chance... falls EVA-01 versagt."
 

---
 

In der Entfernung schob sich Jehuel langsam weiter voran. Der riesenhafte Schatten, der sich vor kurzem noch bewegt hatte, war unter seinem Angriff zu Boden gegangen, und sein Weg war frei...

Da erhob sich EVA-01 wieder.

Der Engel hielt inne und blickte den Evangelion an. Ob sich Überraschung in diesem Zögern zeigte oder ob er nur kurz über seine Taktik nachdachte, war unmöglich zu erkennen.

EVA-01 ließ ein ungeheures Brüllen hören und begann, auf den Lavariesen zuzusprinten.
 

In Jehuels Hand formte sich eine weitere große Kugel aus geschmolzenem Gestein. Rasch wuchs sie an, bis sie eine Größe erreicht hatte, die in etwa dem Kopf des Riesen entsprach, der auf ihn zurannte. Mit einer kurzen, fast ansatzlosen Bewegung schleuderte der Engel das Geschoß fort, und der Lavaball raste erneut auf EVA-01 zu.

Kurz, ehe er sein Ziel traf, hechtete der Evangelion mit einem gewaltigen Satz nach oben, sprang über das Geschoß hinweg, vollführte eine Flugrolle am Boden und rannte weiter, ohne dabei wesentlich langsamer zu werden. Der Lavaball jagte weiter durch die Luft und schlug fünf Kilometer weiter in einem Wald ein, der sofort in einem Flammenmeer aufging.
 

Der Engel war gerade dabei, ein drittes Geschoß vorzubereiten, als EVA-01 bei ihm war und sich auf ihn stürzte.
 

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"Kontakt!"

Auf dem Sichtschirm des Späherbunkers konnten Fuyutsuki, Shinji, Asuka, Misato, Ritsuko und Raimor verfolgen, wie sich EVA-01 mit einem Hechtsprung auf Jehuel stürzte, ungeachtet der unglaublichen Hitze, die von dem Engel ausgehen mußte. Doch der Evangelion erreichte sein Ziel nicht; wenige Meter vorher prallte er auf ein AT-Field und wurde zurückgeschleudert. Mit einer schnellen Rolle in der Luft landete der Gigant auf den Füßen.

"EVA-01 hat die Kontrolle selbst übernommen", erkannte Ritsuko mit einem Blick auf die Sensordaten, die sie sich hatte einblenden lassen. "Die Koordination seiner Bewegungen ist perfekt, und außerdem hat der Evangelion mit seinem Angriff eben genau auf den Kern des Engels gezielt. Er kann anscheinend auch ohne unsere Hilfe wahrnehmen, wo er ist."

Misato verschränkte mit einem sorgenvollen Gesichtsausdruck die Arme. "Aber er hat das Schwert nicht mitgenommen", sagte er, "und ich bezweifle, daß das ProgMesser dieser Hitze standhalten wird. Wie will er den Engel denn besiegen; mit bloßen Händen?"
 

"Wir werden ihm dabei helfen müssen", entschied Fuyutsuki und hob sein PersoKom zum Mund. "Hyuga, ist alles vorbereitet?"

"Positiv, Kommandant", war die Antwort. "Das Partikelgeschütz ist ausgerichtet und feuerbereit."

Misato fiel fast die Kinnlade herunter. "Sie wollen das Partikelgeschütz gegen den Engel einsetzen?" keuchte sie. "Sind sie wahnsinnig? EVA-01 steht direkt daneben!"

"EVA-01 hat einen direkten Treffer Ramiels überstanden", gab Fuyutsuki zurück. "und die Explosion Sahaquiels ebenfalls. Ich rechne damit, daß er die Sekundäreffekte des Partikelgeschützes ebenfalls aushält."

"Aber das verwüstet auf breiter Fläche einen ganzen Landstrich!" warf Raimor ein. "Wir müßten mehrere Quadratkilometer an Gebiet dekontaminieren und..."

"Besser, als den Engel gewinnen zu lassen", meinte der Kommandant, "und Harmis sinnlos in den Tod zu schicken. Sehen sie." Mit diesen Worten wies er auf den Sichtschirm, wo EVA-01 sich soeben wieder auf Jehuel warf. Dieses Mal gelang es dem Evangelion, das AT-Field mit einem Tritt zu durchstoßen, doch als der Fuß des Giganten in die Lava eindrang, quoll dichter schwarzer Rauch hervor, und mit einem Aufschrei, der bis in den Bunker drang, zog er sein Bein wieder zurück. Der Fuß war nur noch ein schwarzer, verkohlter Stummel, und EVA-01 stolperte zu Boden.
 

"Kommandant", meldete sich in diesem Moment wieder die Stimme Hyugas, "ich habe Probleme mit der Zielerfassung. Der Kern des Engels bewegt sich zu schnell hin und her. Die Computer errechnen nur eine durchschnittliche Wahrscheinlichkeit von 31 % für einen direkten Treffer bei automatischer Zielverfolgung..."

"Wir hatten schon schlechtere Chancen", schnitt ihm Fuyutsuki das Wort ab. "Versuchen sie, das manuell zu kompensieren und feuern sie, sobald sie das Optimum erreicht haben."

"Sehen sie nur!" schrie in diesem Moment Asuka und zeigte entsetzt auf den Sichtschirm.

Alle Augen wandten sich wieder dem Kampf zu. EVA-01 hatte sich mühsam wieder erhoben und war nun dabei, mehrere wuchtige Hiebe des Engels mit seinem AT-Field abzufangen. Immer abwechselnd links und rechts hieb Jehuel auf ihn ein, bis der Evangelion unter der Gewalt der Schläge wieder zurücktaumelte und mit dem Rücken gegen einen Berg gedrängt wurde. Der Engel hob beide Arme und sammelte über seinem Kopf flüssiges Gestein für einen gewaltigen Lavaball zusammen - und in diesem Moment stieß EVA-01 vorwärts und griff mit beiden Händen nach dem feisten Hals des Engels. Der Evangelion durchstieß das schützende AT-Field, schwarzer Qualm stieg auf, aber zur allseitigen Überraschung drangen die Hände nicht in die Lava ein, sondern schienen etwas Festes umfaßt zu haben.
 

"Er hat den Kern gepackt!" erkannte Ritsuko. "EVA-01 hat den Kern greifen können!"

Mit gewaltiger Kraftanstrengung zerrte EVA-01 am Hals der Feuergestalt und versuchte, das feste Zentrum Jehuels herauszureißen. Doch der Kern saß zu fest, zu tief im AT-Field des Engels verankert. Zwar gelang es dem Evangelion, ganz allmählich das Feld mit seinem eigenen auszulöschen, doch viel schneller wuchs über ihm der Feuerball an, der ihn gleich zermalmen würde.

"Feuer", sagte Fuyutsuki leise zu Hyuga.

Im Partikelgeschütz in einigen Kilometern Entfernung wurde das Geschoß im Rotationstubus auf höchste Beschleunigung gebracht und verließ den Lauf der gewaltigen Waffe mit halber Lichtgeschwindigkeit.
 

Augenblicklich barsten die unterirdisch verlegten Energieleitungen unter dem schieren Druck der explosiv zur Seite gedrängten Luft. Die bloße Reibung des Geschosses an der Atmosphäre ließ die Atomhüllen aufbrechen und ließ Teilchen von Alpha- und Betastrahlern abspringen. Entlang der Flugbahn der "Kugel" riß ein gewaltiger Graben von mehreren Metern Breite und Tiefe wie eine Narbe in der Erde auf.

Das Geschoß schlug mit ungeheurer Wucht in den Kern Jehuels ein und brachte ihn zur Detonation, und der Lavakörper des Engels wurde auf vier Kilometer Entfernung verteilt. Einige Gebäude der Kolonie wurden von Bruchstücken getroffen und fingen Feuer.
 

EVA-01 lag bewegungslos in einigen hundert Metern Entfernung von der Explosionsstätte. Von seiner Frontpanzerung war nichts mehr übrig; einzelne Bruchstücke des Engels steckten in seinem Unterleib, und seine Oberarme waren bis zu den Ellenbogen abgerissen.
 

---
 

"Wird er durchkommen?"

Tyrrin senkte den Blick. "Überleben wird es Harmis", antwortete sie, "keine Frage. Aber in welchem Zustand er danach sein wird, kann ich unmöglich sagen."

Fuyutsuki nickte nachdenklich. "Welche Verletzungen hat er genau erlitten?" wollte er wissen.

"Seine motorischen Synapsen sind durch die Überbelastung abgestorben", erklärte die Med-alpha. "Außerdem hat sein Gehirn Schaden genommen - ein immenses Trauma im Kleinhirn. Seine Gehirnwellen sind abnormal flach, und das deutet auf eine Schädigung seines Bewußtseins hin."

"Können sie ihn therapieren?" wollte der Kommandant wissen.
 

Die Ärztin seufzte. "Die Nervenstränge auszutauschen", erklärte sie, "ist nicht schwer. Ich kann jederzeit neue Synapsen für ihn heranzüchten. Aber die geschädigten Bereiche seines Gehirns kann ich nicht austauschen, ohne dabei weiteren Schaden an seiner Seele zu riskieren. Ehe wir nicht wissen, in welchem Zustand sich Harmis genau befindet, bin ich gegen eine solche Operation."

"Ich verstehe", meinte Fuyutsuki. "Halten sie mich auf dem Laufenden, falls sich an der Situation irgend etwas ändern sollte. Und wenn sie irgendwelche Unterstützung benötigen - ich werde ihnen alles genehmigen, was ihnen weiterhilft."

Dankbar nickte die Med-alpha ihm zu, und der Mann wandte sich ab und verließ die Krankenstation.
 

"Das hätten sie niemals tun dürfen!" fuhr Misato Fuyutsuki an, kaum daß sich die Türen hinter ihm geschlossen hatten.

Der Kommandant blickte die jüngere Frau traurig an. "Und was hätte ich ihrer Meinung dann tun sollen?" fragte er. "Sie haben doch selbst gesehen, wie sich der Kampf entwickelt hat. EVA-01 war dem Engel deutlich unterlegen. Hätten sie die beste Chance, Jehuel zu besiegen, so einfach verstreichen lassen?"

"Wenn ich Harmis damit das erspart hätte, ja!" erboste sich Misato.

"Dann wäre Harmis spätestens ein oder zwei Stunden später tot gewesen", gab Fuyutsuki zurück, "und wir alle mit ihm. Außerdem ist der Junge noch am Leben..."

"...aber in was für einem Zustand?" fuhr die Frau den Kommandanten an. "Es ist genau wie mit Shinji damals: sie scheren sich einen Dreck darum, ob Kinder leiden müssen, wenn sie nur ihren Plänen nutzen! Sie haben keine..."
 

"Haben sie ihrem Vater immer noch nicht verziehen", fragte Fuyutsuki leise, "daß er sie damals auf die Antarktis-Expedition mitgenommen hat?"

Misatos Mund blieb offen stehen.

Einen Moment lang blickte sie dem grauhaarigen Mann fassungslos in die Augen. Dann wandte sie sich wütend ab und stürmte davon.
 

Fuyutsuki blickte ihr wortlos hinterher.
 

---
 

Asuka saß auf ihrem Bett und hatte die Beine an den Körper gezogen.

"Er hat sich geopfert", flüsterte sie fassungslos, "einfach so geopfert..."

Shinji, der mit hängenden Schultern neben ihr saß, nickte. "Er muß gewußt haben, daß er niemals eine Chance hatte", murmelte er. "Es... es war wie bei meinem ersten Einsatz. Ich hab's auch nur gemacht, weil es sonst niemand konnte... und weil sie sonst Rei geschickt hätten. Ich..."

"Das glaub ich nicht", meinte das Mädchen und wandte sich zu ihm um. "Weißt du... ich glaube, er hat es gemacht, weil er was beweisen wollte."

"Beweisen wollte?" Der Junge blickte sie überrascht an. "Was... was hatte er denn zu beweisen?"
 

Asuka seufzte. "Na ja", meinte sie leise, "er ist ungefähr so alt wie wir. Bestimmt hat er auch schon oft erfahren, daß er ,noch so klein' ist und man ihn nicht für voll nimmt."

"Glaub ich nicht", meinte Shinji. "Harmis hat doch die Abteilung Sensortechnik geleitet und anderen Leuten Befehle geben dürfen. Warum sollte man ihn nicht ernst nehmen?"

"Ist nur so ein Gefühl", meinte Asuka. "Aber vor allem glaube ich, er hat es gemacht, um zu beweisen, daß seine Leute nicht von uns abhängig sind."

Die Augen des Jungen wurden groß. "Meinst du?"

"Ganz sicher", nickte das Mädchen. "Es muß ihn doch furchtbar erschreckt haben, als wir seinen Vater nicht mehr als Kommandanten haben wollten und Misato überall herumerzählt hat, daß nur wir beide mit EVA-01 die Kolonie beschützen konnten. Bestimmt hat er sich gedacht, wenn er jetzt EVA steuert, beweist er das Gegenteil.
 

"Ich glaube nicht", meinte Shinji, "daß das ein Grund war. Ich meine, wer hätte denn so einen Beweis verlangt? Ich bestimmt nicht.

"Ich schon..." gab Asuka leise zurück.
 

---
 

Weit draußen, in der Nähe des gewaltigen Explosionskraters, lag EVA-01 immer noch angeschlagen und verstümmelt. Aber ganz allmählich begannen sich die abgerissenen Arme und der verkrüppelte Fuß des Giganten zu regenerieren. Knochen wuchsen nach, Fleisch bildete sich neu, Sehnen und Muskeln formten sich.
 

Und in Harmis' Körper begann ein ähnlicher Prozeß abzulaufen.
 

Kapitel 30
 

"Akagi-san... hätten sie einen Moment Zeit für mich?"

Ritsuko drehte sich auf ihrem Stuhl um und sah Shinji hinter sich stehen. Die Frau zog ihre Augenbrauen fragend hoch. "Eigentlich nicht", meinte sie, "ich habe sehr viele Daten zu überprüfen. Ist es denn so wichtig?"

Shinji nickte ernst und mit schmalen Lippen.

"Dann komm rein", meinte die Wissenschaftlerin, "aber wirklich nur für einen Moment."
 

Der Junge trat ein, und die Tür des Sensorenzentrums schlossen sich hinter ihm. "Haben sie..." fragte er unsicher, "haben sie schon herausgefunden, wie sie Rei finden können?"

"Nein", antwortete Ritsuko, "und im Moment habe ich auch wirklich dringlichere Probleme." Sie verzog etwas verärgert das Gesicht. "Wolltest du mich nur deshalb sprechen?"

Shinji schüttelte sofort den Kopf. "Das ist es nicht", sagte er eilig, "aber... aber es hat damit zu tun. Wissen sie... Gestern nacht hat mich Rei besucht."

"Sie hat was?!" Die Wissenschaftlerin blinzelte verdutzt. "Aber... wann? Und wo?"

"Sie ist zu mir ins Zimmer gekommen", erzählte er, "und wollte mit mir reden."

Dr. Akagi beugte sich zu ihm vor. "Und was hat sie gesagt?"

"Sie wollte wissen, warum wir uns gegen die Engel wehren. Ich habe ihr erklärt, daß wir nicht sterben wollen, und darauf meinte sie, daß es unser Schicksal wäre, von den Engeln ins Jenseits gebracht zu werden. Als ich ihr dann gesagt habe, daß wir uns gegen das Schicksal wehren würde, hat sie mich geradezu angefleht, das nicht zu tun... weil wir sonst gar kein Schicksal mehr hätten."
 

Ritsukos Augen wurden groß. "Gar kein Schicksal mehr?" fragte sie. "Was soll das heißen?"

"Genau weiß ich es nicht", gab der Junge zurück. "Rei meinte, die Menschheit würde einfach so aufhören zu existieren, und nicht mal die Seelen würden übrigbleiben. Wenn wir vorher sterben, wären unsere Seelen wenigstens im Jenseits vereint."

"Eigenartig", murmelte die Wissenschaftlerin. "Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie das gemeint haben kann. Menschen verschwinden nicht so einfach... und schon gar nicht ihre Seelen. Vielleicht hat sie dich angelogen, um dich auf ihre Seite zu bringen?"

Shinji schüttelte den Kopf. "Sie klang ehrlich", sagte er, "und außerdem hätte sie keinen Grund gehabt, mich anzulügen. Wenn ich ihr im Weg stehe, hätte sich mich ganz leicht töten können. Ich glaube nicht, daß sie mich angelogen hat; sie kam mir mehr so vor, als würde sie nach einer Erklärung suchen, warum ich mich auch den Engeln widersetze."
 

"Hast du ihr eine Erklärung gegeben?" wollte Ritsuko wissen.

Der Junge schüttelte den Kopf. "Ich habe ihr nur gesagt, daß wir alle nicht sterben wollen", meinte er, "und daß die Rhoani nie in der Vereinigung im Meer waren und es darum ungerecht ist, sie auch mit hineinzuziehen."

"Moment", warf die Wissenschaftlerin ein. "Hast du etwa erwähnt, daß die Rhoani Menschen sind?"

Shinji nickte. "Ja, wieso..." Dann glitt plötzlich ein erschrockener Ausdruck über sein Gesicht. "Mein Gott..."

"Ja, genau", gab die Frau bissig zurück. "Rei hat sich bisher nur zurückgehalten, weil sie dachte, sie würde damit ins Schicksal der Rhoani einzugreifen, was sie nicht darf, weil die Rhoani nicht das Schicksal der Menschen teilen... und du erzählst ihr so einfach, daß die Rhoani auch Menschen sind?!"

"Ich... ich wollte nicht..."

Mit einem wütenden Blick schnitt Ritsuko ihm das Wort ab. "Für Entschuldigungen ist es jetzt zu spät", meinte sie bitter, "jetzt sollten wir besser darauf vorbereitet sein, daß Rei uns bei der nächsten Gelegenheit allesamt zu einem Teil des LCL-Meeres macht, wie sie es schon mit den EVA-Serienmodellen gemacht hat."
 

Der Junge stand betreten da. "Kann ich vielleicht etwas..." stotterte er.

"Am besten", meinte Ritsuko, "erzählst du Kommandant Fuyutsuki baldmöglichst, was du mir eben erzählt hast. Und ich werde meine momentane Arbeit zurückstellen und mich doch erst einmal darum kümmern, daß wir in der Lage sind, Rei sicher zu orten. Dank dir ist das ja jetzt auf meiner Prioritätenliste sehr weit nach oben gerutscht."

Shinji nickte. "Ich gehe dann", meinte er.

"Ja, tu das", gab die Wissenschaftlerin zurück. "Und wenn du Rei wieder einmal siehst..."

"Ja?"

"Richte ihr aus, sie kann sich nicht ewig vor mir verstecken."
 

---
 

Ayanami Rei saß auf einem Hügel und blickte in den Himmel.
 

Menschen und Rhoani; Rhoani und Menschen.

Zwei Völker.

Ein Wesen?

Kann das wahr sein? Warum konnte ich das nicht spüren, als mein Geist eins mit Harmis war? In seinen Erinnerungen war nichts; und er fühlte sich... fremd an.

Ja, fremd. Fremd und vertraut.

Vertraut... vertraut wie ich mir selbst.

Mir ähnlich.

Sind die Rhoani so wie ich? Dann wären sie keine Menschen.

Aber warum helfen sie dann den Menschen? Sie müssen die Stimme doch auch gehört haben.

Halt. Shinji hat die Stimme auch vernommen. Aber er steht auch gegen sie.

Nein, das ist nicht richtig. Shinji ist selbst ein Mensch. Der göttliche Plan wirkt sich auch auf ihn aus; es ist nur vernünftig, wenn er sich mit den anderen Menschen gemein macht. Er hat die gleichen Konsequenzen zu befürchten wie alle Menschen, und wenn sie sich fürchten...

Wenn sie sich fürchtet...

Natürlich, Asuka!

Jetzt verstehe ich Shinji. Er hat sie schon einmal verloren. Er fürchtet, sie wieder zu verlieren, wenn die Menschheit von dieser Welt geht. Und er hat recht damit. Im Jenseits ist kein Platz für ihn.

Aber warum die Rhoani? Warum nur? Weil sie denken, sie seien selbst Menschen? Damit irren sie sich. Ich weiß es; ich habe mich schon mit einem Rhoani vereint.

Vielleicht haben sie nie die Stimme Gottes vernommen, weil sie von so weit her kommen?

Das ist möglich.
 

Rei lächelte.
 

Dann sollen sie die Stimme Gottes vernehmen. Ich werde sie ihnen schicken.

Wenn sie wie ich von Engeln abstammen, werden sie sie hören.
 

---
 

"Diese Werte können unmöglich stimmen..."

Med-alpha Tyrrin blickte von einem Sichtschirm zum anderen, ehe sie sich Med Corian zuwandte, der neben ihr stand. "Haben sie etwa wieder mit den Auswertungsalgorithmen herumgespielt?"

Der jüngere Arzt hob abwehrend die Hände. "Nein, niemals!" verteidigte er sich. "Ich habe nur die Daten gesammelt, wie immer. Daß sich dabei solche Ergebnisse zeigen, überrascht mich ebenso wie sie."

"Sie wissen", meinte Tyrrin, "daß das hier eine medizinische Unmöglichkeit darstellt?"

",Medizinisches Wunder' trifft es wohl eher", meinte Corian. "Ich meine, die spontane Selbstheilung eines Schwerverletzten ist uns zwar immer noch unerklärlich, aber es gibt doch in der Geschichte unseres Berufes durchaus mehrere Ereignisse, in denen sie auftrat."
 

Die Med-alpha schüttelte den Kopf. "Aber niemals die natürliche Regeneration von Nervensträngen", widersprach sie. "Und auch Gehirnzellen wachsen nicht einfach so nach. Sie besitzen überhaupt nicht die Fähigkeit dazu - besäßen sie die, dann wären Hirntumore und krankhafte Wucherungen der Nervenstränge in unserer Spezies an der Tagesordnung. Was hier geschieht, ist medizinisch unmöglich."

"Und doch geschieht es", gab der jüngere Arzt zu bedenken. "Die Daten stimmen; sie können sie selbst überprüfen. Die Nervenschäden, die Harmis erlitten hat, sind zurückgegangen, ebenso wie der Gehirnschaden. Bei dieser Heilungsrate ist er in weniger als sechs Tagen wieder vollständig geheilt."

"Das glaube ich erst", gab Tyrrin zurück, "wenn ich es selbst gesehen habe. Und wenn ich mir sicher sein kann, daß hier niemand eingegriffen hat."
 

Corian blinzelte verwirrt. "Sie meinen...?"

"Ich meine", sagte die Med-alpha, "daß hier möglicherweise jemand bei der Heilung ein wenig nachgeholfen hat..."
 

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"Das Wort hat Akagi Ritsuko", meinte Kommandant Fuyutsuki, "Vertreterin der Abteilung Sensortechnik."

Die Wissenschaftlerin nickte dem grauhaarigen Mann zu und trat in die Mitte des Rates. Die Augen von Menschen und Rhoani richteten sich interessiert auf sie.

"Als ich vor sechs Tagen von Shinji die Nachricht erhielt", erzählte sie, "Rei sei bei ihm zu Besuch gewesen, habe ich sofort begonnen, an den Sensorensystemen zu arbeiten, um ihre Effizienz zu steigern. Zu meinem Leidwesen muß ich heute allerdings bekanntgeben, daß es mir trotz der tatkräftigen Unterstützung der Abteilung Exobiologie nicht gelungen ist, einen Weg zu finden, auf dem ich Rei ausfindig machen kann."

Die Enttäuschung stand nicht nur ihr, sondern auch dem restlichen Rat ins Gesicht geschrieben, und Ritsuko beeilte sich, rasch fortzufahren.
 

"Aber ich kann andere Ergebnisse vorlegen", meinte sie, "und diese Ergebnisse sind nicht weniger interessant bezüglich der Frage, was der Besuch und die Worte Reis zu bedeuten hatten. Zum Teil werde ich diese Ergebnisse ihnen nun selbst vorstellen, zum Teil wird das Exo-alpha Raimor tun, der sich näher mit den Gemeinsamkeiten von Menschen und Rhoani beschäftigt hat. Auch das ist ein Teil der Antwort, die wir heute finden werden.

Zunächst einmal ist es uns endlich gelungen, eine Erklärung für die Existenz und die Herkunft des Etheriums zu finden. Wie ich selbst bei Untersuchungen festgestellt habe, handelt es sich beim Etherium um Gewebe aus dem Körper des Engels Adam, der vor etwa achtzig Millionen Jahren auf der Erde entdeckt wurde. Bei dieser Entdeckung kam es zu einem Zwischenfall - wir Menschen sprachen vom Second Impact - der mit einer gewaltigen Explosion verbunden war. Diese Explosion war so gewaltig, daß sie den südlichen Polarkontinent der Erde zerriß... und offensichtlich hat sie auch Teile Adams ins All geschleudert.

Sie haben richtig gehört, Kollegen Ratsmitglieder. Ins All geschleudert.

Meiner Einschätzung nach ist ihr ,Etherium' ein solches Bruchstück, das auf vor 65 Millionen Jahren ihrer Zeitrechnung auf Rhoan eingeschlagen ist."
 

Die Wissenschaftlerin lächelte in die Runde und ließ diese Worte einen Moment wirken, ehe sie fortfuhr. "Weitere Indizien für diese Theorie", sagte sie, "ist die Existenz menschlichen Erbguts inmitten der Überreste Adams... und nicht zuletzt die Übereinstimmung des Erbguts von Menschen und Rhoani. Was Rhoani und Menschen äußerlich unterscheidet, sind nur kleinere Anpassungen an unsere jeweiligen Lebenssituationen.

Was hat dies alles aber nun mit unseren Schicksalen zu tun, von denen Rei sprach? Nun... dazu wird sich wohl Raimor äußern wollen. Ich danke ihnen für ihre Aufmerksamkeit."
 

Sie nickte dem Exo-alpha zu, und der nahm ihren Platz in der Mitte des Rates ein, während sie sich wieder setzte.

"Werte Kollegen Ratsmitglieder", begann der Rhoani, "wie ihnen allen bekannt sein dürfte, ist das Erbgut der Reisenden auf der ,Vagabund' im Laufe unserer langen Fahrt teilweise geschädigt worden. Es gibt einige Fälle von Mißbildungen unter den Rhoani, und auch Unfruchtbarkeit trat in manchen Fällen bereits auf. Nicht mehr lange, nur noch wenige Generationen, und wir wären nicht mehr zur Fortpflanzung fähig gewesen.

Als ich vor einigen Tagen mit den Nachforschungen an menschlichem Erbgut begann, wußte ich noch nicht, daß ich bei den Menschen ähnliche Probleme entdecken würde."
 

Überraschtes Getuschel erhob sich bei diesen Worten unter dem Rat, aber ein kurzes Klopfen Fuyutsukis auf den Tisch ließ das sogleich wieder verstummen.

"Danke, Kommandant", nahm Raimor wieder seine Rede auf. "Wenn ich von ,ähnlichen Problemen' rede, dann meine ich damit im Fall der Menschen nicht die direkte Unfruchtbarkeit. Aber anscheinend hat sich durch die Vereinigung im LCL-Meer, der alle Menschen ausgesetzt waren, ihr Erbgut stark miteinander vermischt. So sehr, daß sie inzwischen - rein von ihren Erbanlagen her - miteinander verwandt sind. Und zwar ersten Grades - wie Geschwister.

Und das bedeutet, wenn sie in Zukunft miteinander Kinder haben, werden diese Kinder zum großen Teil mißgebildet und nicht lebensfähig sein.

Ich glaube, das ist es, was Rei meinte, als sie sagte, die Menschheit hätte ,kein Schicksal' mehr."
 

Der Exo-alpha ließ seinen Blick über die bedrückten Reihen der Ratsmitglieder schweifen. "Ich kann mir vorstellen", sagte er, "daß sie das alle sehr trifft, aber wir können es uns nicht leisten, uns von solchen Entdeckungen entmutigen zu lassen. Vielmehr müssen wir nun versuchen, eine Lösung für dieses Problem zu finden. Und aus diesem Grunde hoffe ich, daß der Rat heute seine Tagesordnung zurückstellen kann und erst einmal eine offene Diskussion zu diesem Thema hält. Danke."

Er trat auf seinen Platz zurück, und Fuyutsuki erhob sich langsam.
 

"Irgendwelche Wortmeldungen?"
 

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Still und ruhig lag Harmis im Krankenbett. Die medizinischen Scanner tickten leise, während sie seine Daten aufnahmen, und die Augen von zwei Pionieren, die als Wachen abgestellt worden waren lagen dauernd auf ihm.
 

Aber niemand konnte sehen, was in seiner Seele geschah.

Und niemand hörte die Worte.

Nur er.
 

Kapitel 31
 

"Muster blau lokalisiert! Wiederhole, Muster blau!!!"

Fuyutsuki stellte eilig die Verbindung mit der Verteidigungszentrale her. "Hier spricht der Kommandant", sagte er ruhig in sein PersoKom. "Bestätigen sie Muster Blau?"

"Bestätigt", ertönte die Stimme von Aoba Shigeru. "Ich habe bereits die Orbitalbeobachter aktiviert, aber ich habe keinen visuellen Kontakt. Den Koordinaten nach befindet sich der Engel aber bereits in der Kolonie!"

"Mitten unter uns?!" Der Kommandant sah auf. "Wo genau?"

"Innerhalb von Wohneinheit A", war die Antwort, "dritte Ebene."
 

Fuyutsuki biß die Zähne zusammen. "Sofort Alarm geben", sagte er, "und lassen sie die Wohneinheit evakuieren. Und sehen sie zu, daß das Gebäude so gut wie möglich abgeriegelt wird."

"Jawohl!"

Besorgt schaltete der Kommandant das PersoKom ab überlegte fieberhaft, welche Taktik man gegen einen Feind anwenden konnte, über den nichts bekannt war und der mitten in den eigenen Reihen auftauchte.

Und der von seinem Namen her wahrscheinlich in der Lage war, Widerstand ohne Probleme zu brechen.
 

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Erschrocken blickte Asuka von ihren Spielsteinen auf, als plötzlich das Alarmsignal ertönte. Auch Misato fuhr hoch. "Das ist der Evakuierungsalarm!" entfuhr es ihr erschrocken. "Was auch immer los ist... es ist verdammt nahe!"

"Och, Mist!", fluchte das Mädchen. "Da ist man einmal am Gewinnen... Hast du nicht gesagt, hier mitten in einer Raumschiffsektion wäre es sicher?"

"Bei diesen verdammten Engeln ist nichts sicher", gab Misato zurück. "Welcher von denen war jetzt noch mal dran?"

Asuka überlegte kurz. "Warte mal", meinte sie, während sie rasch ein paar Sachen in ihre Tasche steckte, "was meinte Harmis noch mal? Ach ja, richtig, Cadmiel war jetzt an der Reihe."

"Der Weber des Schicksals", meinte Misato. "Wollen wir hoffen, daß er unter ,Schicksal' nicht das gleiche wie Rei versteht." Mit diesen Worten packte sie ihre Unterlagen zusammen und machte sich auf zur Tür. "Los, beeil dich!"
 

Vor den beiden glitten die Türen auseinander, und sie hasteten eilig den langen Gang an den leeren Personalquartieren auf der fünften Ebene vorbei. Normalerweise lebte hier die Belegschaft der Abteilung Exobiologie, doch im Moment hatten die meisten wissenschaftlichen Mitarbeiter ihr Wohnquartier direkt in die Labors verlegt - es gab ohnehin Tag und Nacht zu tun. Aber Misato hatte darauf bestanden, wenn sie den Rhoani gleichberechtigt war, auch wie sie innerhalb der ehemaligen Raumschiffsektionen leben zu dürfen. Das hatte einige Vorteile.

Und Nachteile.

"Wie lange sind denn die verdammten Gänge noch?" keuchte Asuka. "Müßten wir nicht schon längst an diesem Transportsystem angekommen sein?"

Misato antwortete nicht, sondern hielt selbst Ausschau. Das Mädchen hinter ihr hatte recht... irgendwie hatte der Weg gestern, als sie ihn zum ersten Mal gegangen war, kürzer gewirkt. Das ließ nur einen Schluß zu...

"Mist", murmelte die Frau und blieb ruckartig stehen, so daß Asuka fast in sie hineingerannt wäre. "Ich hab's mal wieder geschafft."

"Was geschafft?"

"Ich hab mich am ersten Tag in der neuen Basis verlaufen."
 

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Zwei Stockwerke über den beiden rannten andere Leute in heilloser Panik um ihr Leben.

Aber sie rannten mehr oder minder kopflos in ihr Verderben.
 

Ein Rhoani, der es in eine Kapsel des IntraTrans geschafft hatte, programmierte das Transportsystem auf den Kurs zu den Rettungskapseln. Auf die Reaktion des Computers, daß die Rettungskapseln nicht erreichbar seien, weil die entsprechende Sektion abgetrennt worden war, geriet er völlig in Panik, riß das Kontrollsystem heraus und schloß es kurz, damit es ihn trotzdem an sein Ziel brachte. Neunzehn Sekunden später prallte die Kapsel mit rasender Geschwindigkeit auf das inzwischen verschweißte Schott, das ehemals zum Hangar geführt hatte, und der Insasse wurde zerquetscht.
 

Ein anderer hatte die Kapsel verpaßt und öffnete das IntraTrans-Rohrnetz über den Notzugang von Hand. Hinter sich schloß er die Zugangsluke wieder, wodurch das Vakuum in der Röhre wieder hergestellt wurde und er einen etwas langsameren, aber dafür um so spektakuläreren Tod hatte, als sein Blut im Unterdruck zu kochen begann und seine Lungen platzten.
 

Ein dritter rannte mit dem Kopf so lange gegen eine verschlossene Tür, bis sein Schädel brach.
 

Der Engel tat sein Werk gut.
 

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"Kommandant, der erste Statusbericht ist da."

Fuyutsuki nickte bedächtig. "Ich höre", sagte er.

"Die Pioniere sind in Stellung", war die Meldung Aobas. "Bisher sind vierzig Leute von einundsiebzig aus der Wohneinheit evakuiert. Die letzten, die kamen, berichteten von einer Massenpanik, die im Inneren ausgebrochen sein soll."

"Ich verstehe", meinte der grauhaarige Mann. "Schalten sie die Energieversorgung für die Wohneinheit aus."

Einen Moment herrschte Stille. "Bitte wiederholen sie den letzten Befehl", kam über das PersoKom.

"Schalten sie die Energieversorgung für die Wohneinheit ab."

"Das können sie nicht ernst meinen!" ertönte Aobas entsetzte Stimme. "Es sind noch Leute in diesem Trakt, und ohne die Energieversorgung funktioniert das interne Transportsystem nicht mehr!"
 

Fuyutsukis Gesicht zeigte keine Regung. "Eben aus diesem Grund sollen sie sie abschalten", sagte der Kommandant. "Wenn die letzten Leute, die es hinausgeschafft haben, bereits Kontakt zu dem Engel hatten, dann kann der Engel nicht weit hinter ihnen sein. Wenn wir das IntraTrans nicht deaktivieren, dann kann es der Engel auch nutzen, und dann ist er vielleicht in der nächsten Minute schon draußen. Je länger er für den Weg braucht, um so mehr Zeit haben wir für unsere Vorbereitungen."

"Aber die Leute im Wohntrakt..." versuchte es Aoba noch einmal.

"Müssen sich selbst retten", gab der ältere Mann zurück. "Und jetzt schalten sie die Energie ab!"
 

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Im Medlabor traten zwei Pioniere unruhig von einem Fuß auf den anderen. Die Alarmmeldung hatte auch sie erreicht, aber man hatte ihnen befohlen, auf ihren Posten zu bleiben und darauf zu achten, daß niemand zu Harmis gelangen konnte. Vor allem keine nackten, blauhaarigen Mädchen.

Um so überraschter waren sie, als sich der Junge, den sie bewachen sollten, plötzlich mit lautem Keuchen in seinem Bett aufsetzte.

Der Unteroffizier der beiden Pioniere blickte überrascht auf und trat einige Schritte näher heran. "He, Harmis", sprach er ihn an, "kannst du mich verstehen? Geht es dir..."
 

In diesem Moment drehte sich der Junge zu ihm um und sah ihn aus leuchtend roten Augen an.

Der Pionier konnte noch: "Was bei allen..." sagen, ehe Harmis die Hand nach ihm ausstreckte, sein AT-Field neutralisierte und seinen Körper zu einer ziemlich großen Menge von LCL verwandelte, das augenblicklich in seinen SecuriSuit schwappte und den Anzug in sich zusammenfallen ließ.

Der andere Rhoani war derart überrascht, daß er nicht einmal seinen Nadler hochnahm, als der Junge auf ihn zutrat. Er sah nur völlig verdutzt zwischen seinem zusammengebrochenen Vorgesetzten und Harmis hin und her, bis der Junge ihn erreichte und auch seinen Körper verflüssigte.
 

Harmis lächelte, wisperte: "Ja, Herr", und machte sich auf den Weg nach draußen.
 

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Der Alarm verstummte, und im selben Moment schaltete die Beleuchtung von einem warmen, gelben, hellen Licht auf ein kaltes, dämmriges Blau um.

"Verdammt!" fluchte Misato.

"Was ist denn jetzt los?" wollte Asuka wissen.

Die Frau atmete tief durch. "Sie haben dieser Sektion den Saft abgedreht", meinte sie bitter. "Jetzt können wir das Transportsystem vergessen - das läuft nicht mit Notstrom. Na ja... wenigstens weiß ich sicher, wo die Notgänge sind."

Das Mädchen riß die Augen auf. "Soll das heißen", schrie sie, "wir rennen hier minutenlang auf der Suche nach diesen Transportkapseln herum, und du hättest uns schon die ganze Zeit zu den Notgängen bringen können? Bist du blöd?!"

"He, immer mit der Ruhe!" brüllte Misato zurück. "Wir sind hier auf der obersten Ebene, also in über neunzig Metern Höhe. Und die Notgänge sind ein Leitersystem! Hast du Lust, 90 Meter Leitern zu steigen?"

"Immer noch besser, als hier zu verrecken!" fuhr sie Asuka an. "Wenn uns der Engel sieht, sind wir tot, und das meine ich wörtlich! Er erfüllt unser Schicksal, und laut Rei ist unser Schicksal das Jenseits!"

"Das weiß ich auch!" keifte die Frau zurück. "Und jetzt mach schon, mir nach! Wird Zeit, daß wir langsam mal anfangen..."
 

In diesem Moment öffnete sich direkt neben den beiden die Tür zu einem der Gänge.

Asuka und Misato schrieen erschrocken auf.

Mit dem Effekt, daß Shinji gleichermaßen überrascht zurücksprang.
 

"Du hier?!" keuchte Asuka. "Aber..."

"Ich war gerade draußen", erklärte der Junge, "als ich den Engel gespürt habe, und ich wollte dich unbedingt warnen..."

"Keine Zeit für Erklärungen", unterbrach ihn Misato. "Wir müssen hier schleunigst raus. Cadmiel darf uns nicht finden, sonst schickt er unsere Seelen ins Jenseits."

"Cadmiel?" Shinji blinzelte verwirrt. "Aber... wieso Cadmiel?"

"Weil Cadmiel der Engel ist, Doofmann!" fuhr ihn Asuka an.

Der Junge schüttelte den Kopf. "Ist er nicht", widersprach er. "Ich spüre die Namen der Engel in mir, und dieser hier heißt Morael."
 

"Morael?!" Das Mädchen blinzelte verwirrt. "Aber es gibt keinen Engel namens Morael..."

Misato schüttelte den Kopf. "Doch, den gibt es", sagte sie. "Er ist der Engel von Ehrfurcht und Furcht."

"Aber warum hat Harmis nichts davon erzählt?"

"Er hat davon erzählt; zumindest vor den Exobiologen und mir." Die Frau nickte bestätigend. "Genau, Engel Nummer neun war Morael, nicht Cadmiel. Cadmiel ist erst Nummer zehn."

Asuka blickte finster vor sich hin. "Dieser Affenarsch hat mir was verschwiegen", murmelte sie, "den kill ich dafür..."

"Wenn du dazu noch eine Gelegenheit bekommst", meinte Misato finster.
 

---
 

Vor dem Wohntrakt hatte sich sämtlichen verfügbaren Pioniere versammelt und erwarteten mit gezückten Waffen den Engel. Ihre Augen waren so gebannt auf das Geschehen vor sich gerichtet, daß sie erst gar nicht merkten, daß von hinten ein ihnen gut bekannter Junge nähertrat.

Erst, als die ersten von ihnen bereits zu LCL zerfallen waren, reagierte der Rest.
 

"Harmis?! Aber... wieso..."

"Truppenführer! Was sollen wir tun?"

"Befehle! Ich brauche Befehle!"

"Weg von dem Jungen! Weg von dem Jungen!"
 

Ein paar, die an ein Trugbild glaubten, entluden ihre Mikroraketenwerfer auf Harmis, aber ohne sichtbaren Erfolg. Die Sprenggeschosse detonierten kurz vor ihm, als sie auf sein AT-Field trafen, und die Explosionen erreichten ihn nicht. Unbeeindruckt schritt er voran, und wo er kam, wichen die Pioniere entsetzt zurück. Niemand hatte damit gerechnet, daß der Sohn ihres ehemaligen Kommandanten, der sie alle vor der Lavabestie gerettet hatte, einmal gegen sie stehen würde.
 

Noch ehe sie Ordnung in ihre Reihen bringen konnten, geschah aber etwas, das sie in noch größere Verwirrung stürzte.

Direkt vor Harmis erschien plötzlich Rei.

"Was tust du da?" fragte das Mädchen überrascht.

Der Junge lächelte und blickte sie aus roten Augen an. "Ich bereite den Pfad für Morael", sagte er, "wie der Herr es gebat."
 

Rei schüttelte den Kopf.

"Das kann ich nicht zulassen", sagte sie.
 

Kapitel 32
 

Mit erheblicher Kraftanstrengung zog Misato die schwere, chromverspiegelte Bodenklappe zu den Notgängen auf und ließ sich hinuntergleiten. Ein kurzer Blick nach links und nach rechts überzeugte sie davon, daß es hier vorerst sicher war.

"In Ordnung, ihr könnt nachkommen", meinte sie zu Shinji und Asuka, und die beiden Kinder folgten ihr in den Gang. Es war eng dort unten; das Notsystem war kaum 1,20 m hoch und breit, und die Beleuchtung war noch fahler als in den Hauptgängen. Alle drei ließen sich auf die Knie nieder.

"Wo müssen wir lang?" wollte Asuka wissen.

Misato deutete in die Richtung, in die sie sich bereits gewendet hatte. "Dort lang", sagte sie.

"Diesmal sicher?!"

"Ja", gab die Frau genervt zurück. "Hier neben an der Wand ist ein kleines Schild, auf dem ,Zum Leiterschacht' steht."

"Oh."
 

Die drei krabbelten los; Misato voraus, hinter ihr Asuka, dann Shinji.

"Das letzte Mal war es interessanter", meinte das Mädchen nach etwa einer Minute plötzlich, "oder, Shinji?"

Der Junge blinzelte irritiert. "Wann, das letzte Mal?"

"Das letzte Mal, als wir durch einen Gang gekrabbelt sind", sagte sie. "Damals im NERV-Tunnel; du, Rei und ich."

"Was war da interessanter?"

Asuka drehte sich um und grinste ihn an. "Da hatte ich noch nicht diesen Overall an", kicherte sie, "und du konntest mir unter den Rock kucken, erinnerst du dich?"

"Ich habe dir nie unter den Rock gekuckt!" verteidigte sich Shinji vehement.

"Wirklich nicht?"

"Nein!"

"Und warum nicht?"

"A... also..."
 

"Ruhe da hinten!" zischte Misato den Kindern zu. "Die Gänge hier leiten wahrscheinlich jedes Geräusch weiter. Und wenn euch der Engel hört, dann habt ihr euch die längste Zeit gestritten!"

Betreten schwiegen die Kinder und krabbelten wortlos weiter.
 

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"Kommandant, weitere Unruhe unter den Pionieren!" meldete sich Aoba über das PersoKom. "Keine Koordination zwischen den Einheiten."

"Verstanden", meinte Fuyutsuki eisig. "Dann sollen sich die Truppen auf die Höhe der Abteilung Astrophysik zurückziehen und dort neu sammeln. Und ich will einen Kontakt zu jedem Einheitsführer. Es kann doch nicht angehen, daß ein einzelner Gegner die Moral derart untergräbt!"

Der Kommandant blickte nachdenklich vor sich hin. Sicherlich, das Auftauchen von Harmis war überraschend gewesen, und es war schon verständlich, daß die erste Reaktion der Pioniere aus Verwirrung und Unsicherheit bestand. Aber inzwischen hätte ihnen doch klar werden müssen, daß das hier ein Gegner war und nicht mehr der Sohn ihres früheren Kommandanten. Von den Rhoani hatte er sich eigentlich mehr erwartet...
 

"Neuer Statusbericht von Einheit 7", ertönte in diesem Moment wieder die Stimme Aobas. "Die Truppe meldet, es sei ein zweites Ziel aufgetaucht - Rei ist plötzlich bei Harmis erschienen!"

Fuyutsuki blickte überrascht auf. "Rei?" entfuhr es ihm. "Aber... verdammt, warum greifen die Pioniere dann nicht schon längst an? Rei ist seit Wochen als Zielobjekt bekannt!"

"Anscheinend", meldete die Verteidigungszentrale, "hat sie sich gegen Harmis gestellt!"
 

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"Der Herr hat sein Urteil gefällt", meinte Harmis ruhig zu Rei. "Und niemand wird seine Boten aufhalten."

Das Mädchen schüttelte den Kopf. "Das kann nicht sein", gab sie zurück. "Ich habe die Stimme des Herrn ebenfalls gehört. Und er hat nicht befohlen, seine anderen Kreaturen dafür zu strafen, daß sie den Menschen aus Mitleid helfen."

"Es gibt keine anderen Kreaturen", widersprach der Junge. "Es gibt nur die Menschen, und diese werden die Engel nicht länger aufhalten. "

"Dann ist es also wahr?" wollte Rei wissen. "Die Fremden sind auch Menschen, trotz ihres Aussehens?"

Harmis nickte lächelnd.

"Und du bist keiner von ihnen, sondern wie ich zum Teil ein Engel?"

Der Junge nickte erneut.

"Dann darf keiner von ihnen ins Jenseits gerissen werden!", meinte das Mädchen.
 

Das Lächeln auf dem Mund des Jungen verschwand.

"Auch du widersetzt dich dem Willen des Herrn?" fragte er leise.

Rei schüttelte den Kopf. "Ich widersetze mich nicht", sagte sie. "Der Wille des Herrn war, daß die Menschheit kein Schicksal mehr haben sollte, wenn sie nicht Buße für ihren Frevel tun und ihre Sünden im Meer ablegen. Aber diese fremden Menschen hier haben Gott niemals gefrevelt, und ich weiß, daß sie ein Schicksal haben. Und wenn sie dieses Schicksal mit ihren Brüdern teilen wollen, dann müssen sie das tun dürfen!"

"Auch die Rhoani haben gefrevelt", widersprach Harmis. "Sie haben mich geschaffen, und sie haben auf ihrer Heimatwelt noch unzählige andere wie mich geschaffen. Sie alle haben die Stimme Gottes vernommen, als du sie ihnen und mir gesandt hast. Dieser Frevel ist nicht geringer als der, welcher hier auf der Erde geschah; und auf Rhoan ist er bereits gesühnt worden."
 

Das Mädchen blickte ihr Gegenüber fest an. "Aber sie handelten aus Unwissenheit", sagte sie. "Sie wollten Kinder, um ihre Liebe und Zuneigung weiterzugeben. Sie wollten keine neuen Götter erschaffen. Ihre Taten mögen frevelhaft sein, aber sie entsprangen guten Absichten."

"Der Pfad zur Verdammnis ist gepflastert mit guten Absichten", widersprach der Junge. "Und für die Menschen hat er in die Verdammnis geführt."

"Das ist nicht wahr", sagte Rei, "und du weißt es. Wenn Menschen und Rhoani ein Volk sind, dann haben sie noch ein gemeinsames Schicksal, und ich als Hüterin dieses Schicksals werde nicht zulassen, daß es aufgegeben wird."

Harmis senkte langsam den Blick. "Du stellst dich also gegen den Willen Gottes?" fragte er.

"Ich stelle mich gegen einen Gott", antwortete das Mädchen, "der den Menschen den freien Willen gab, ihr Schicksal selbst zu wählen und ihnen eben diesen freien Willen dann verweigern will, wenn er nicht in seinen göttlichen Plan paßt."
 

Der Junge nickte traurig. "Also begehrst du ein weiteres Mal auf", sagte er. "Vielleicht hätte von dir nichts anderes erwarten sollen, Lillith."
 

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"Au!" Misato zuckte zusammen, als sich Asukas Fuß auf die Leitersprosse senkte, wo noch ihre Hand war. "Paß doch auf, wo du hintrittst!"

"Nimm halt das nächste Mal deine Hand früher weg", gab das Mädchen wütend zurück. "Was trödelst du überhaupt so herum?"

Die Frau antwortete nicht, sondern kletterte weiter mit eisigem Blick abwärts. Sie hatten noch nicht mal eine Ebene ganz hinter sich gelassen, und schon fingen die Beinahe-Unfälle an. Es gab zwar bei jedem Zugang kleine Plattformen, aber das hieß immer noch achtzehn Meter am Stück eine Leiter überwinden; und achtzehn Meter Sturz auf eine metallene Plattform brachten einen Menschen auch um.

Sie seufzte erleichtert auf, als ihr Fuß endlich die erste Plattform berührte und sie einen Moment verschnaufen konnte. Asuka und Shinji kamen kurz hinter ihr an, und beide schienen noch sehr viel besser in Form zu sein als sie. Vielleicht wurde sie inzwischen wirklich alt...
 

In diesem Moment hörte sie die Schreie.
 

Erschrocken blickten alle drei über das Geländer nach unten, tiefer in den Notschacht hinein. Unten, auf der nächsten Ebene, stand die Zugangsluke offen, und von dort hallte das Geschrei zu ihnen hinauf. Es war entsetzlich; ein Mann schrie offensichtlich in völliger Todesangst, und den Geräuschen nach zu urteilen kam er rasch näher.

Einige Sekunden später zwängte sich eine Gestalt durch die Zugangsluke auf der tieferen Ebene. Offensichtlich war es ein Rhoani, der in Panik auf die Plattform sprang, dort der Länge nach hinschlug, sich über die Schulter umsah und dann mit einem bestialischen Schrei über das Geländer nach unten hüpfte. Weitere achtzehn Meter tiefer unten schlug er auf.

Angewidert wandten Shinji und Misato den Kopf ab; nur Asuka blickte weiter fassungslos hinunter und murmelte: "Cool..."
 

Misato war schließlich die erste, die ihre Beherrschung wiederfand. "Los, rein da!" zischte sie und deutete auf die chromummantelte Zugangsluke zu Ebene vier, die sich direkt auf ihrer Plattform befand.

"Aber ich dachte", meinte Shinji, "wir klettern hier bis zum Boden hinunter..."

"Wenn die Leute auf Ebene 3 flüchten, ist Morael bestimmt direkt hinter ihnen", erklärte die Frau. "Und ich habe keine Lust auf eine Begegnung mit ihm, wenn er solche Reaktionen auslösen kann." Mit diesen Worten entriegelte sie die schwere Klappe und öffnete den Zugang.

"Und wie wollen wir dann hier rauskommen?" fragte Asuka.

"Ich arbeite dran, ich arbeite dran..."
 

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"Kommandant, Rei und Harmis... sie kämpfen anscheinend gegeneinander!"

Fuyutsuki schüttelte ungläubig den Kopf. "Was um alles in der Welt ist da bloß passiert?" murmelte er, dann faßte er eine Entscheidung. "Wie weit sind die Pioniere?"

"Sie haben sich alle wie befohlen vor der Astrophysik gesammelt", war die Antwort aus dem PersoKom. "Elf Mann Verluste."

"Gut", gab der grauhaarige Mann zurück. "Dann sollen sie dort bleiben und die Lage weiter beobachten. Inzwischen machen sie die Lasertürme feuerbereit, die das Gebiet erfassen können."

"Verstanden", kam Aobas Antwort. "Auf wen der beiden soll ich die Geschütze ausrichten lassen?"

Fuyutsuki lächelte. "Auf keinen der beiden", sagte er. "Zielen sie auf den Wohntrakt. Und wenn es auch nur das geringste Anzeichen gibt, daß Morael herauskommen könnte... zerstören sie ihn!"
 

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Der große Felsen sauste mit einer ungeheuren Geschwindigkeit auf Rei zu. Das Mädchen riß den linken Arm in seine Richtung hoch, und als sei er gegen eine unsichtbare Mauer geprallt, zerbarst der riesige Stein, und Splitter spritzten in alle Richtungen, nur nicht in ihre. Gleichzeitig richtete das Mädchen ihren Blick auf Harmis, und eine Welle rötlicher Energie rollte auf den blauhaarigen Jungen zu. Der junge Rhoani verkreuzte seine Arme vor der Brust, und das AT-Field prallte gegen sein eigenes und verlosch.
 

"Du kannst mich nicht besiegen", meinte er ruhig zu Rei. "Ich handle im Auftrag Gottes."

"Das tue ich ebenso", gab das Mädchen zurück.

Harmis lächelte. "Du widersetzt dich dem Willen Gottes", sagte er.

"Der Wille Gottes war es", antwortete sie, "daß ich über das Schicksal der Menschheit wache. Und diesen Willen werde ich erfüllen."

Mit diesen Worten verschwand sie in einer orangefarbenen Nebelwolke.
 

Überrascht hielt der Junge inne und blickte sich suchend um. Wohin war sie verschwunden? Warum konnte er ihr AT-Field nicht mehr spüren? Was war das für eine Kraft?

Als er gerade nachdenklich zu Boden blickte, tauchte Rei wie aus dem Nichts direkt hinter ihm auf und legte ihren Arm um seinen Hals.

Harmis rang nach Luft. Mit einem Stoß seines AT-Fields versuchte er, das Mädchen von sich abzuschütteln, doch die hielt mit ihrem eigenen dagegen. Verzweifelt packte er den Arm, den sie wie einen Schraubstock um ihn gelegt hatte und versuchte ihn wegzuzerren, doch sie griff mit ihrer freien Hand danach und zog ihn noch fester.

In diesem Moment griff Harmis noch entschlossener zu und warf sich nach vorne.
 

Rei wurde hochgerissen und flog über ihn hinweg, und im Fallen löste sich ihr Griff. Sie landete auf dem Rücken vor dem Jungen, und sofort setzte der ihr den Fuß auf den Hals. Das Mädchen aktivierte sofort ihr AT-Field und drückte ihn zurück, doch Harmis reagierte sofort mit seinem eigenen. Er paßte es langsam ihrem an, und Millimeter um Millimeter näherte sich sein Fuß ihrer Kehle.

"Ich sagte doch", meinte er traurig, "du kannst mich nicht besiegen."
 

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"Das ist ein verdammter Scheißplan, der niemals klappen wird!!!"

Misato nickte. "Da hast du recht, Asuka", stimmte sie zu. "Und genau deshalb werde ich ihn auch selbst ausführen."

"Tu's nicht!" bat Shinji. "Das ist doch nur ein Schuß ins Blaue! Du hast keine Ahnung, ob das Morael wirklich besiegt!"

Die Frau lächelte. "Entweder wir versuchen es und sterben dabei", sagte sie, "oder wir versuchen es nicht und sterben, wenn der Engel das Meer erreicht. Ich möchte wenigstens eine Chance haben."

Mit diesen Worten griff sie nach dem großen, runden Blech, das sie aus dem Gang abgeschraubt hatte, klemmte es sich unter den Arm und schlüpfte durch die Zugangsluke zurück in den Leiterschacht.
 

"Sie wird sterben", murmelte Asuka, "sie wird einfach sterben! So was Blödes kann einfach nicht klappen!"

Shinji blickte zu Boden. "Ich hoffe", meinte er, "du hast unrecht."
 

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Harmis' Ferse berührte Reis Hals.

"Gib deinen Widerstand auf", bat der Junge, "dann stirbst du schneller."

"Niemals", keuchte das Mädchen.
 

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Misato ließ sich die letzten drei Sprossen fallen. Es war sauschwer, eine Leiter herunterzusteigen, wenn man ein sperriges Blech unter den Arm geklemmt hatte. Schwer atmend blieb sie einen Moment stehen.

Da hörte sie, daß sie nicht alleine war.

Neben ihr im Gang bewegte sich etwas langsam auf sie zu. Und es klang nicht so, als ob es Schritte wären... eher wie ein Schlurfen und Zischen.

Morael.
 

Die Frau unterdrückte den Impuls, zu dem Engel hinzusehen. Statt dessen nahm sie das Blech vor sich, hob es vor ihr Gesicht und drehte sich erst dann zu Morael um.

Der Engel sah in der glänzenden, spiegelnden Chromplatte, die Misato von der Zugangsluke eine Ebene höher abgenommen hatte sein eigenes Antlitz, welches tödliche Panik in jedes Lebewesen von Gottes Schöpfung tragen konnte.

Und in einem Aufschrei des Entsetzens verging er im Angesicht seines eigenen Wesens.
 

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Im selben Moment keuchte Shinji entsetzt auf.

Auch Asuka war zusammengefahren. "Was für ein Schrei", meinte das Mädchen schaudernd. "Ob das Misato war?"

Der Junge schüttelte den Kopf. "Nein", meinte er, "es muß Morael gewesen sein. Ich spüre ihn nicht mehr."

Das Mädchen atmete auf. "So ein Glück..."

"Aber dafür", fuhr Shinji fort, "spüre ich jetzt Cadmiel..."
 

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Der Druck auf Reis Kehle wurde unerträglich.

Dann plötzlich endete er. Überrascht schlug das Mädchen die Augen auf.

Vor ihr wuchs die Gestalt von Harmis zu einem großen, silbern leuchtenden Wesen heran.
 

Kapitel 33
 

"Muster Blau ist verloschen!" ertönte die überraschte Stimme von Aoba Shigeru über das PersoKom.

Fuyutsuki sah überrascht auf. "Verloschen?" fragte er. "Sind sie sicher?"

"Positiv", kam die Antwort. "Bis eben hatte ich mit den Sensoren noch eine sichere Erfassung, aber dann war sie... Moment, was ist DAS?!"

"Was ist WAS, Aoba?" wollte der Kommandant verärgert wissen. "Los, Bericht!"

"Das Muster Blau ist wieder aufgetaucht", meldete sich der Operator wieder, "aber nicht an seiner vorherigen Position, und in anderer Form!"

Fuyutsuki griff sich an den Kopf. "Was soll ich denn damit anfangen?" schimpfte er. "WO ist das Muster aufgetaucht, und in WELCHER Form?"

"Das Muster ist jetzt außerhalb des Wohntraktes", meldete Aoba, "direkt dort, wo Rei und Harmis kämpfen. Und die Form ist... anscheinend riesenhaft, weiter wachsend... Ich bekomme eben die ersten Meldungen von den Pionieren, die die Lage beobachten."
 

"Die sollen sich sofort zurückziehen!" befahl Fuyutsuki scharf. "Sie sind außer Kernschußweiten, und wir müssen jeden Sichtkontakt mit Morael vermeiden. Der Engel von Furcht und Ehrfucht kann mit Sicherheit alleine durch seinen Anblick schon Panik auslösen."

"Aber die Berichte widersprechen dem!" ertönte es aus seinem PersoKom. "Die Pioniere beschreiben unzweifelhaft ein sehr großes, aber nicht unbedingt furchterregendes Wesen. Und..."

"Das ist egal!" unterbrach ihn der Kommandant. "Sie sollen sich sofort zurückziehen!"

"Befehl wird weitergegeben", gab Aoba zurück. "Aber sie sollten den Bericht trotzdem zu Ende hören."

Fuyutsuki atmete tief durch. "In Ordnung", sagte er, "ich höre."
 

"Das Muster Blau ist zwar plötzlich aufgetaucht", erklärte der Operator durch das PersoKom, "aber der Engel ist nicht einfach so erschienen. Statt dessen scheint er aus Harmis irgendwie... herausgewachsen zu sein!"

"Herausgewachsen?!"
 

---
 

Rei erhob sich langsam und blickte zu der gewaltigen Gestalt Cadmiels hoch. Der schlanke, silbrig glänzende Engel ähnelte einem riesenhaften Menschen entfernt, doch er war viel dürrer, und seine Proportionen waren auch fremdartig. Seine Arme und Beine waren dünn und elegant geschwungen, dafür waren seine Hände groß und hatten lange, schlanke Finger. Seine Haut glänzte und glitzerte, als sei sie mit Millionen kleiner Diamanten durchsetzt, und aus seinem großen, kegelförmigen Kopf blickten zwei goldene, strahlende Augen aus über 50 Metern Höhe auf sie hinab.

Dann hob er langsam den Kopf und breitete mit einem majestätischen Schlag seine gewaltigen, wunderschönen, silberglänzenden Schwingen aus. Tausende von Federn wirbelten hinaus und schwebten langsam, sehr langsam, wie vom Wind getragen durch die Kolonie.
 

Rei entschloß sich, etwas zu tun.

Mit einem kurzen Moment der Konzentration baute sie ihr AT-Field wieder um sich auf und stieß sich vom Boden ab. Getragen vom Licht ihrer Seele schwebte sie hoch, bis sie sich auf Kopfhöhe Cadmiels befand.

"Bote Gottes, höre mich", sagte sie leise. "Ich bin Rei, Hüterin des Schicksals, die dich gerufen hat. Kehre zurück zu deinen Brüdern und Schwestern. Das Schicksal der Menschheit wird sich erfüllen, ohne daß du es webst."

Wie das Klingen einer großen, bronzenen Glocke bebte die Stimme des Engels durch Reis Körper. "Ich bin Cadmiel", sagte er, "Weber des Schicksals der Menschheit und mit ihnen verwoben. Ich kann nicht zurückkehren. Wie die Seelen der Menschen werde auch ich erst wieder meine Heimat sehen, wenn ich an ihrer Seite ins Jenseits einkehre. Darum webe ich ihr Schicksal."

"Dann werde ich", gab Rei leise zurück, "die dich gerufen hat, dich dabei aufhalten müssen."
 

Die goldenen Augen Cadmiels blitzten einmal kurz auf, und Rei wurde weggeschleudert, als hätte eine gewaltige Faust sie getroffen.
 

---
 

"Endlich! Ich dachte schon, diese verdammte Leitern hätten nie ein Ende!"

Mit einem erleichterten Seufzer zog Misato den Hebel, der die Handverriegelung des Eingangsportals aus dem Wohntrakt öffnete. Sie drückte mit der Schulter die schwere Türe auf - und erstarrte.

Keine zehn Meter vor ihr stand eine riesige, schlanke Gestalt, die silbrig glänzte und deren gewaltige Schwingen weit ausgebreitet waren.
 

Sofort sprang die Frau zurück, und damit mitten in Asuka und Shinji hinein, die ihr beide eben nachfolgen wollten. Die Kinder stolperten zurück, und alle drei fielen in einem Knäuel durcheinander.

"He, was sollte das?" beschwerte sich Asuka.

Misato fuhr herum. "Leise" zischte sie, "direkt da draußen steht der nächste Engel!"

"Dann müssen wir sofort die anderen warnen!" entfuhr es Shinji. "Wenn sie noch denken, daß er im Gebäude ist..."

"Der ist nicht zu übersehen", unterbrach ihn die Frau, "das Biest ist bestimmt fünfzig oder sechzig Meter groß. Mit Sicherheit wissen sie schon, daß er da ist. Aber in einer Hinsicht hast du recht", fügte sie hinzu, "wir sollten uns langsam mal melden. Nicht, daß die hier noch Massenvernichtungswaffen einsetzen, solange wir daneben stehen." Mit diesen Worten hob sie das PersoKom und suchte nach der richtigen Verbindung zur Verteidigungszentrale.

"Du hättest die ganze Zeit um Hilfe rufen können?" fragte Asuka fassungslos.

Misato schüttelte den Kopf. "Vom Moment an, in dem der Strom weg war, hatte ich vom Wohntrakt aus keinen Empfang mehr", erklärte sie. "Die PersoKoms haben an sich keine sehr starken Sender, aber in jeder Sektion in der Kolonie gibt es Signalverstärker. Nur hängen die alle an der zentralen Stromversorgung, und wenn... ah!"
 

"Verteidigungszentrale?" meldete sich die Stimme Aoba Shigerus.

"Misato hier", meldete sich die Frau. "Wir stehen eben am Ausgang des Wohntraktes, nur ein paar Meter neben dem Engel."

"Sichtkontakt unbedingt vermeiden!" kam es sofort aus dem PersoKom. "Der Engel ist Morael, und seine Fähigkeiten sind wahrscheinlich..."

"Das ist nicht Morael", widersprach Misato, "Morael ist tot."

Einen Moment herrschte verblüfftes Schweigen. "Wie, tot?"

"Wir haben ihn erledigt", erklärte die Frau kurz angebunden. "Der neue hier ist Cadmiel, der Weber des Schicksals, meint Shinji, und ich möchte davon abraten..."
 

In diesem Moment streifte Misato etwas leicht an der Wange, und als sie hinübersah, lag da eine silbrige Feder auf ihrer Schulter.

Und im nächsten Moment brach sie ohne einen Laut zusammen.

Die Feder flatterte wie von einem Windstoß getragen auf und kehrte langsam zu Cadmiel zurück.
 

---
 

"Misato? Misato?!"

Aoba blickte auf seine Kontrollen, doch die zeigten an, daß die Verbindung noch bestand. "Misato, hörst du?" wollte er nochmals wissen.

"Hier... hier ist Shinji", ertönte in diesem Moment die Stimme des Jungen. "Misato ist... ist eben plötzlich zusammengebrochen."

Der Operator sah auf. "Zusammengebrochen? Sieht es schlimm aus?"

"Ich... ich weiß nicht", war die Antwort. "Sie liegt einfach so da... ich glaube, sie atmet nicht..."

"Bleib bei ihr", sagte Aoba, "ich sehe zu, daß ihr so schnell wie möglich Hilfe bekommt. Und rührt euch da nicht vom Fleck, ja?"

"Ja", war die Antwort.
 

Mit ein paar schnellen Tastendrücken stellte der Operator die Verbindung zum Kommandanten wieder her.

"Verteidigungszentrale hier", meldete er sich eilig. "Kommandant, neue Daten über den Engel und eine Notfallmeldung!"

"Die Notfallmeldung zuerst", kam aus dem Kommunikator Fuyutsukis Stimme.

Aoba atmete kurz durch. "Misa... Ratsmitglied Katsuragi hat sich eben gemeldet", sagte er. "Sie ist zusammen mit Shinji aus dem Wohntrakt entkommen, aber kurz darauf bewußtlos zusammengebrochen."

"Wahrscheinlich die Auswirkung des Engels", meinte Fuyutsuki. "Aber im Moment können wir da nicht viel tun. Der Junge soll in Deckung bleiben und bloß nicht..."

Der Operator biß sich auf die Lippe. "Moment noch", unterbrach er den Kommandanten. "Ich habe die sichere Information erhalten, daß Morael besiegt ist und es sich bei dem Muster Blau um den nächsten Engel, Cadmiel handelt."
 

Einen Moment lang herrschte Schweigen. "Wie sicher ist diese Information?" kam dann die Rückfrage.

"Katsuragi-san meinte", erklärte Aoba, "sie hätte den Engel selbst getötet."

Nochmals vergingen einige Sekunden, ehe Fuyutsuki endlich antwortete. "Das ist mir sicher genug", sagte er. "Schicken sie ein Rettungsteam los und richten sie die Lasertürme auf den Engel aus. Und stellen sie die Sichtverbindung wieder her. Wenn das nicht mehr Morael ist, können wir ihn optisch anvisieren."

"Verstanden", gab der Operator zurück und leitete sofort alles in die Wege.
 

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Besorgt kniete Shinji neben Misato und blickte auf sie herab.

"Ich glaube wirklich, daß sie nicht mehr atmet", meinte er. "Ihre Lippen werden langsam blau."

Asuka beugte sich über die Frau. "Hm... laß mich mal ran", meinte sie. "Ich kann ein bißchen Erste Hilfe... vielleicht daß ich sie beatmen kann. Verstehst du was von Herzmassage?"

"Ihre Seele ist nicht mehr in ihrem Körper", meinte in diesem Moment eine sanfte, leise Stimme hinter den beiden Kindern.
 

Asuka und Shinji fuhren herum. Keinen Meter hinter ihnen stand Rei.

"Verdammt, hattest du das letzte Mal noch nicht genug?" fluchte Asuka und sprang auf die Füße. "Los, komm, wenn du dich traust!" Drohend erhob sie die Fäuste.

Das blauhaarige Mädchen schüttelte langsam den Kopf. "Ich werde euch nichts tun", sagte sie. "Aber ich brauche eure Hilfe."

"Wir werden dir nicht helfen!" sagte Shinji bitter. "Du weißt genau, wie ich über das Schicksal der Menschheit denke."

"Ihr müßt mir helfen", sagte Rei, "Cadmiel zu besiegen."
 

Einen Moment lang standen die beiden anderen Kinder verblüfft da.

Asuka faßte sich schließlich als erste wieder. "Bist du blöd?" fuhr sie Rei an. "Nach all dem Mist, den du hier abgezogen hast, sollen wir dir noch vertrauen?"

"Ihr sollt mir nicht vertrauen", gab das blauhaarige Mädchen ruhig zurück. "Ihr sollt EVA-01 steuern und damit gegen den Engel kämpfen."

"Was?" Shinji blinzelte verwirrt. "Aber... aber keiner von uns kann mit ihm synchronisieren!"

"Und selbst wenn wir das könnten und wir dir genügend trauen würden", fügte Asuka hinzu, "können wir noch immer nicht so einfach da draußen rumrennen, ohne daß uns der Engel sieht."
 

Rei lächelte. "Cadmiel wird nicht auf euch achten", sagte sie. "Er schickt nur seine Federn aus, um die Seelen der Menschen einzusammeln und sie so ins Jenseits tragen zu können. Und ich werde achtgeben, daß euch keine der Federn findet."

In diesem Moment zuckten aus der Entfernung zwei Lichtblitze durch die Luft und bohrten sich zischend durch das AT-Field des Engels in seinen linken Flügel. Der Engel fuhr zusammen und schlug mit einem Klagelaut die Schwingen um seinen Körper.

"Und wenn wir uns beeilen", fügte Rei mit einem Blick über die Schulter hinzu, "dann können wir ihn sogar noch besiegen, ehe er zu viele der Seelen hier aufgesammelt hat."
 

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"Ziel getroffen!" ertönte Aobas Stimme über Fuyutsukis Kommunikator.

Der grauhaarige Mann lächelte. "Ich sehe es", meinte er mit einem Blick auf den Sichtschirm des Gerätes. "Bereiten sie so schnell wie möglich die zweite Salve vor. Ich möchte diesem Engel einen zweiten Schlag versetzen, ehe er sich regenerieren kann."

"Verstanden", kam die Antwort. "Ich gebe alles weiter. Das medizinische Team ist übrigens bereit und wart..."

Unvermittelt brach der Operator ab.

"Verteidigungsbasis?"

Fuyutsuki blickte irritiert auf seine Anzeigen, nach denen die Kommunikationsverbindung noch bestand.

"Verteidigungsbasis, hören sie mich?"
 

In diesem Moment sah er ein kurzes Glitzern in den Augenwinkeln, als eine silbrige Feder an seiner Wange vorbeistreifte.
 

---
 

"Klon Lilliths, Sproß meines Blutes, erwache."

Die grünen Augen von EVA-01 leuchteten hell auf, und mit einem tiefen Knurren erwachte der Riese zum Leben, als Rei sanft zu ihm sprach. Asuka und Shinji traten unwillkürlich einen Schritt zurück, doch es begann kein Amoklauf des Evangelions. Statt dessen stand er einfach nur still da und atmete tief durch.

"Öffne dein Herz", sagte Rei, und aus dem Giganten fuhr mit einem Klicken die Zugangskapsel heraus. Mit einer Handbewegung dirigierte Rei sie langsam zu Boden und ließ die Klappe aufspringen. "Steigt ein", sagte sie zu den anderen beiden Kindern.
 

"Moment noch", meinte Asuka. "Wenn du das Ding hier so einfach herumkommandieren kannst, warum sollen wir es dann steuern?"

Das blauhaarige Mädchen blickte sie an. "EVA-01 wird sich weigern, gegen Cadmiel zu kämpfen", sagte sie.

"Aber die EVAs haben doch schon immer gegen die Engel gekämpft..." warf Shinji ein.

"Die Engel waren auch niemals ihre eigenen Kinder", sagte Rei. "Steigt ein."

Mit einem nachdenklichen Nicken stieg der Junge in die Zugangskapsel, und Asuka folgte ihm widerstrebend. "Eins möchte ich jetzt aber noch wissen", sagte sie. "Wie, bitteschön, sollen wir so einfach mit EVA-01 synchronisieren können? Die Seele Shennoks wird sich doch dagegen wehren!"
 

"So wird es gehen", sagte Rei und ließ die Körper der beiden anderen zu LCL zerfallen.
 

Kapitel 34
 

"Dumme Kuh! Miststück!! Schlampe!!!"

Asuka war, milde ausgedrückt, nicht begeistert.
 

*Asuka, hörst du mich?* schickte Shinji seinen Geist aus.

Das Mädchen hielt inne. *Shinji?* fragte sie.

*Ich bin auch hier*, dachte der Junge zu ihr. *Warte, ich komme zu dir.*

*Gut.*
 

Im Nichts, das das Mädchen umgab, erschienen die tastenden Fingerspitzen Shinjis, und sie griff nach ihnen. Augenblicklich sah sie sowohl den Jungen als auch sich selbst wieder.

"Diese Mistbiene!" fluchte Asuka. "Ich wußte, wir hätten ihr nicht vertrauen dürfen. Jetzt hat sie uns aus dem Weg!"

"Das glaube ich nicht", entgegnete Shinji. "Wenn sie uns hätte weghaben wollen, warum hat sie uns dann nicht gleich erledigt, als wir noch beim Engel standen?"

Das Mädchen überlegte. "Du denkst immer noch, sie wollte uns helfen?!"

"Genau", nickte der Junge.

"Und was bitte hilft es uns, zu LCL zerfallen zu sein?"
 

Shinji suchte kurz nach den richtigen Worten. "Du weißt doch", sagte er, "wenn ich mit EVA-01 so intensiv wie möglich synchronisiere, dann zerfällt mein Körper zu LCL."

"Ja, und?"

"Das geschieht nicht", erklärte der Junge, "weil ich synchronisiere; das geschieht, damit ich überhaupt erst synchronisieren kann. Meine Seele verläßt ihren Körper und durchdringt die Barriere, die die Seele EVAs aufgebaut hat. Normalerweise wird sie sich wehren und einen Körper zusammenhalten, wenn er nicht kompatibel ist..."

"...aber er hält keine Seelen auf, die ohnehin schon in LCL sind!" erkannte Asuka. "Und was machen wir jetzt, wo wir drin sind?"
 

"Du suchst nach der Seele von EVA-01", gab Shinji zurück, "und versuchst, die Kontrolle zu bekommen. Ich suche nach Shennok."

Das Mädchen blinzelte verwirrt. "Warum denn Shennok?" wollte sie wissen.

"Ich muß ihn bitten", sagte der Junge, "dich nicht aufzuhalten."
 

---
 

Mit einer letzten Bewegung ihrer Hand führte Rei die Zugangskapsel in EVA-01 ein und sah zu, wie sie im Körper des Giganten einrastete und verschwand.

War es eine gute Idee gewesen, Shinji und Asuka zu schicken? Rei wußte es nicht. Sie hätte auch selbst mit dem Evangelion verschmelzen können, und dann wäre es nicht schwer gewesen, die Kontrolle zu übernehmen. Lilliths Splitter in ihm hätte sie sicherlich wiedererkannt, und es war fraglich, daß sich Shennok gegen sie wehren konnte.

Aber dann hätte niemand die Menschen vor Cadmiel beschützen können.
 

Ohne einen weiteren Blick auf EVA-01 zu verschwenden, wandte sich Rei ab und flog in Richtung der Kolonie, so schnell es ihre Kräfte erlaubten.
 

---
 

"Es sind diese Federn! Laßt euch nicht von ihnen berühren!"

In Panik stoben die Mitarbeiter der Abteilung Sensorentechnik auseinander, in heilloser Flucht vor dem Jenseits. Aber es war ein aussichtsloses Rennen: Cadmiels Federn durchdrangen Wände und Decken, als seien sie gar nicht da; und obgleich sie sich nicht schnell bewegten, verfolgten sie ihre Ziele stetig und ungehindert. Wieder und immer wieder wurde einer der Fliehenden von ihnen eingeholt und seine Seele beraubt; andere, die nicht so aufmerksam waren, liefen durch eine Tür und genau in eine Feder hinein.

Überall brachen Menschen und Rhoani zusammen.
 

Ritsuko und Maya taten ihr Bestes, um ihre Mitarbeiter so schnell wie möglich hinaus aus dem Komplex und nach draußen auf die freie Ebene zu bringen, wo sie wenigstens in alle Richtungen ausschwärmen konnten. Sie lenkten den Strom der Fliehenden aus den überfüllten Arbeitsräumen hinaus und durch die Korridore hin zu den IntraTrans-Kapseln, und als diese voll waren, weiter zu den Notschächten. Die Federn holten auf, aber die beiden Frauen und die Gruppe von Wissenschaftlern, die ihnen folgte, kamen immer noch schnell genug voran, um deutlich vor ihren silberglänzenden Verfolgern den Ausgang zu erreichen.
 

Ibuki Maya war schließlich die erste, die das untere Ende der Notleiter erreichte und sich eilig ans Öffnen der Tür machte. Während sie sie mühsam aufschob, kamen hinter ihr Ritsuko und die ersten der übrigen Wissenschaftler herunter.

Dann hatte sie die Tür offen und erstarrte.

Draußen flatterte ihr eine regelrechte Wolke von Cadmiels silbernen Federn entgegen.

Ritsuko sah ebenfalls hinaus, trat schweigend neben sie und nahm ihre Hand, während sich die Wolke näherte. Die junge Frau drückte sie fest.
 

In diesem Moment schien ein gewaltiger Windstoß die Federn wegzublasen.

Und dann schwebte ein blauhaariges Mädchen vor die Eingangstür der Sektion für Sensortechnik.

"Wenn ihr leben wollt", sagte es, "kommt mit mir."
 

---
 

*Hab ich dich!*

Mit einem triumphierenden Lachen in ihren Gedanken griff Asuka nach dem vertrauten, seltsam regenbogenfarbenen Schimmer, den sie schon so oft gesehen hatte, als sie einen Evangelion gesteuert hatte. Jedes Mal hatte sie ihren Geist danach ausgestreckt und durch die Berührung ihre Nerven mit denen des Giganten verknüpft.

Diesmal würde es anders sein. Diesmal würde es wie damals im Meer sein.

Kurzentschlossen packte das Mädchen fest den Schimmer und zog sich zu ihm hin, so daß sie in den Regenbogen glitt und er zugleich ein Teil von ihr wurde.
 

Keinen Moment später ergriff das Mädchen ein ungeheures Schwindelgefühl, als sie sich auf einen Schlag plötzlich in über fünfzig Metern Höhe über dem Boden befand. Zugleich fühlte sie, daß sie wieder einen Körper besaß.

Taumelnd nahm Asuka die Arme hoch, um sich zu stabilisieren. Was war denn jetzt los? Wieso fiel es EVA-01 auf einmal so schwer, das Gleichgewicht zu halten? Darum hatte sie sich eigentlich bisher kaum kümmern müssen...

In diesem Moment sah sie hinunter und begriff es erst.

Sie hatte wieder einen Körper, aber es war nicht ihrer.

EVA-01 war sie. Sie war EVA-01.
 

Langsam begann sich ihr Schwindelgefühl zu legen. Kein Wunder, daß alles so hoch aussah - sie war ja so groß! Und zum ersten Mal saß sie nicht in einem Evangelion und beobachtete das alles... sie WAR der Evangelion und sah durch seine Augen.

Tief durchatmend sah sich Asuka um und erblickte in weiter Entfernung das silbrige Schimmern des immer noch am Boden kauernden Engels Cadmiel. Überall um ihn herum war ein Glitzern, das von seinen Federn kam.

Nicht viel Zeit, um noch die Bewegung zu üben, kam dem Mädchen ein Gedanke.

Aber dann würde sie eben auf dem Weg das Laufen üben.
 

Kurzentschlossen bückte sie sich hinunter, ergriff das riesige Schwert, das neben ihr bereitlag und machte sich auf den Weg.
 

---
 

*Shennok?*

*Harmis... bist du das?*

Shinji atmete tief durch. *Nein, ich bin es*, dachte er, *Shinji. Bitte, lassen sie mich zu ihnen.*
 

Einen Moment herrschte banges Schweigen. Dann erreichte den Jungen wieder die Seele des Rhoani.

*Shinji?!* wollte er zweifelnd wissen.

*Ja*, antwortete der Junge. *Bitte, ich muß ihnen einiges erklären. Erlauben sie mir, sie zu berühren.*

Die große, rauhe Hand des ehemaligen Kommandanten streckte sich aus dem Nichts ihm entgegen. *Hier, bitte*, dachte Shennok.
 

Shinji ergriff die Hand und ließ seine Seele die des Rhoanis berühren.

"Schön, dich zu sehen", begrüßte der grünhaarige Mann ihn.

Der Junge nickte. "Danke", sagte er, "ich freue mich auch. Es ist schon ein wenig her."

"Tatsächlich?" meinte Shennok überrascht. "Seltsam... hier spürt man gar nicht, wie die Zeit vergeht. Ich hatte im ersten Moment Angst davor, aber ich wußte, es war die einzige Möglichkeit, wie ich meinen Leuten noch weiterhelfen konnte."

Shinji blickte zu Boden. "Ich bin mir nicht sicher", sagte er, "daß sie verstanden haben, was sie hier in dem Evangelion tun."
 

Der Rhoani lächelte. "Ich sorge dafür", sagte er, "daß andere Leute ihn steuern können. Ich halte die Seele dieses Riesen im Zaum und lindere ihre Einsamkeit. Damit wird er zahm genug, um sich von anderen lenken zu lassen. Mein Sohn hat es ja schon einmal geschafft."

"Sie konnten ihn spüren?" warf Shinji überrascht ein. "Ich wußte nicht..."

"Es war ganz einfach", sagte Shennok. "Ich wußte, daß er in der Nähe war, ganz nah bei mir. Er war verängstigt, verletzt, wie in Schmerzen... und dann..." Der Rhoani brach plötzlich ab und blickte verstört vor sich. "Kann es sein, daß er wieder in der Nähe ist?"
 

"In der Nähe?" Der Junge blickte überrascht. "Ich wüßte nicht, daß..."

"Doch", unterbrach ihn der ältere Mann. "Er ist irgendwo da draußen, und wir nähern uns ihm rasch..."
 

---
 

Tausende von Federn tanzten wie ein Sturm um eine Gruppe von inzwischen achtzig oder neunzig Leuten herum, aber sie berührten sie nicht.

Denn in der Mitte war Rei, die Arme weit ausgebreitet, und hatte ihr AT-Field schützend um die Leute gehüllt.

Ritsuko blickte noch immer zweifelnd auf das blauhaarige Mädchen, das über ihr schwebte und überlegte, ob das irgendeinen Sinn machen konnte, daß sie anscheinend die Seiten gewechselt hatte. Ihr fiel kein plausibler Grund ein.
 

"Sag mal", fragte sie schließlich, "warum?"

Rei blickte herunter. "Warum was?" gab sie leise zurück.

"Warum stellst du dich plötzlich gegen die Engel?" wollte sie wissen. "Du hast die ganze Zeit immer auf ihrer Seite gestanden - hast die EVA-Serienmodelle zerstört und den Körper von Harmis übernommen. Warum hilfst du uns jetzt?"

Das Mädchen sah sie fast ein wenig peinlich berührt an. "Ich habe mich geirrt", sagte sie. "Ich dachte, die Menschheit hätte kein Schicksal mehr, wenn ich sie nicht ins Jenseits bringen würde. Und darum habe ich die Engel gerufen."

"Und was ist jetzt anders?"

"Die Menschheit hat ein Schicksal", erklärte Rei. "Die Rhoani, Menschen trotz ihrer Herkunft, haben ihr eigenes Schicksal auf die Erde gebracht und sind bereit, es mit euch zu teilen. Das gibt euch wieder eine Zukunft."

Die Wissenschaftlerin hob zweifelnd eine Augenbraue. "Und die Engel?" wollte sie wissen. "Warum greifen die Engel uns und die Rhoani überhaupt noch an?"

"In den Augen Gottes", sagte das blauhaarige Mädchen leise, "seid ihr allesamt Frevler, die seine Gaben mißbraucht haben und an denen er seine Rache vollstreckt sehen will. Ihr seid das Böse."
 

"Und warum hilfst du uns dann?" wollte Ritsuko wissen.

"Ich sehe nicht nach Gut oder Böse", gab das Mädchen zurück. "Ich behüte nur euer Schicksal."
 

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Asuka stürmte auf Cadmiel zu, das Schwert Tzadkiels hoch erhoben. Diesen dürren Heini würde sie mit einem einzigen Schlag in zwei Stücke hauen! Wäre doch gelacht, nachdem sie sich bereits mit diesem Ritter angelegt hatte...

Der Engel blickte auf und sah sie näherkommen. Entsetzen strahlte aus seinen goldenen Augen, als er erkannte, daß der Evangelion ihn vernichten wollte. Vorsichtig entfaltete er seine Schwingen und wollte sich erheben, doch sein durch den Laserschuß verletzter Flügel schmerzte ihn noch zu sehr.
 

Da plötzlich wurde Asuka langsamer, ohne es zu wollen.

Sie blieb etwa hundert Meter vor Cadmiel wie angewurzelt stehen, das Schwert noch immer erhoben, doch sie konnte keinen Muskel rühren.

Verzweifelt bäumte sich das Mädchen auf. Doch ihre Willenskraft reichte nicht aus, um die Seele des Evangelions unter ihren Zwang zu bringen.
 

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"Nein - Harmis soll mich nicht fürchten!"

Unsicher blickte Shinji auf den Rhoani, der sich vor ihm deutlich anspannte. "Was tun sie da?" wollte er wissen.

"Harmis ist ganz nahe", sagte Shennok, "und er fürchtet mich. Ich sorge dafür, daß er mich nicht fürchten muß."

"Wie meinen sie das?"

Der ehemalige Kommandant lächelte. "Ich mache der Seele des Evangelions verständlich, daß er meinen Sohn beschützen muß."

"Das heißt, sie kontrollieren die Seele?" wollte Shinji wissen.

Shennok nickte. "Genau."

"Hören sie auf damit!"
 

Reichlich verblüfft blickte der Rhoani ihn an. "Was war das?"

"Sie müssen damit aufhören!" schrie der Junge. "Asuka ist gerade eben dabei, gegen einen Engel zu kämpfen, und wenn sie den EVA beeinflussen, schafft sie das vielleicht nicht!"

"Aber mein Sohn..."

"Wenn der Engel gewinnt", meinte Shinji verzweifelt, "dann stirbt ihr Sohn!"

Shennok schüttelte ruhig den Kopf und schloß die Augen. "EVA-01 wird Harmis beschützen", meinte er. "Ich habe volles Vertrauen, daß er alles tun wird, um..."

In diesem Moment stürzte sich Shinji voller Verzweiflung auf ihn und riß den Rhoani um.

*Asuka, mach schnell!* dachte er.
 

---
 

Langsam trat Cadmiel näher und blickte den völlig unbeweglichen Evangelion neugierig an.

Verzweifelt versuchte Asuka wieder und wieder, den immensen Widerstand zu brechen, den ihr die Seele des EVAs entgegensetzte, doch es war hoffnungslos. Sie fühlte sich, als sei sie in Stahl eingegossen worden und wollte jetzt herausbrechen.

Gerade wollte sie nachgeben und entspannte sich keuchend, als plötzlich Shinjis Gedanken zu ihr drangen.

*Asuka, mach schnell!*

Im selben Moment verschwand der Widerstand für kurze Zeit.
 

Das Mädchen zögerte keinen Augenblick und riß das Schwert Tzadkiels, welches sie immer noch über ihrem Kopf hielt, mit aller Kraft hinab. Die Klinge raste auf Cadmiel hinunter, durchdrang sein AT-Field, spaltete seinen Kopf...

...und dann war plötzlich der Widerstand wieder da, und mit einem Ruck kam das Schwert im Hals des Engels zum Stehen. Mit einem plötzlichen Erzittern funkelten seine Flügel auf, und dann wurden die Federn plötzlich fahlgrau und fielen auf einen Schlag aus.

Der Engel starb.

Im selben Moment wurden Asuka und Shinji beide aus der Verbindung geschleudert und fanden sich in ihren Körpern in der Zugangskapsel wieder.
 

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Wie ein seltsames Monument stand der leblose Körper des Engels Cadmiel immer noch da, silbern und schön, doch seine Flügel waren kahl wie Bäume im Winter. Sein Kopf war vollständig gespalten, sein Oberkörper klaffte ein Stück auseinander, und das Schwert Tzadkiels wurde immer noch von EVA-01 gehalten.

Und direkt unter dem Schwert, keine zehn Zentimeter unterhalb der Klinge, war der Kopf von Harmis sichtbar, der im Körper des Engels steckte.
 

Er war am Leben. Er atmete. Aber er war seltsam verändert. Sein Haar hatte die Farbe verloren, und seine Haut war fahler geworden. Er erinnerte Shinji auf seltsame Weise an...
 

"...Kaworu?"
 

Kapitel 35
 

"Neunhunderteinundzwanzig Leute... tot?"

Med-alpha Tyrrin nickte langsam. "Das hat die Zählung ergeben", sagte sie niedergeschlagen. "Fast zu gleichen Teilen Menschen und Rhoani. Wir waren nicht in der Lage, auch nur einen davon zu reanimieren, trotz aller Bemühungen."

"Das ist unfaßbar", meinte Ritsuko kopfschüttelnd. "Der Kommandant... Misato... Shigeru... Schon das Wissen, das wir mit ihnen verloren haben, wird uns sehr schmerzlich fehlen. Und viele von uns können nur noch um ihre Freunde und Angehörige trauern..."

"Ihre Seelen sind nicht verloren", sagte Rei leise im Hintergrund.
 

Die Augen der beiden Frauen richteten sich auf das blauhaarige Mädchen, welches in ein weites Krankenhemd gekleidet war.

"Wie meinst du das?" wollte Ritsuko wissen.

"Cadmiels hat die Seelen nicht ins Jenseits bringen können", erklärte Rei. "Seine Federn haben sie eingesammelt, aber sie sind immer noch in ihnen."

Tyrrin verschränkte mißtrauisch blickend die Arme. "Und woher sollen wir wissen", fragte sie, "in welchen Federn von den tausenden sie stecken?"

"Die leeren Federn sind mit dem Tode Cadmiels schwarz geworden", sagte das Mädchen. "Aber die mit den Seelen werden weiter silbern glänzen."

"Heißt das", wollte Ritsuko wissen, "wir könnten sie wieder in die Körper der Toten zurückbringen, und dann werden sie wieder lebendig?"
 

Rei schüttelte den Kopf. "Die Toten werden nicht wieder lebendig", sagte sie. "Aber ihre Seelen werden unter uns verweilen."

"Davon haben wir nichts", gab Ritsuko finster zurück. "Ohne ihre Körper können sie nichts mehr tun, und es ist gleichgültig, ob ihre Seelen hier oder im Jenseits verbleiben."

"Vielleicht nicht", warf die rhoanische Ärztin plötzlich ein. "Rei, kannst du genau feststellen, welche Seele in welcher Feder steckt?"

Das Mädchen nickte. "Sicher", antwortete sie. "Ich bin die Hüterin der Seelen."

"Und könntest du die Seelen auch aus den Federn herausholen?"

"Das könnte ich", meinte Rei, "aber ohne einen Körper würden sie schnell wieder vergehen."
 

Tyrrin lächelte. "Dann ist noch nicht alles verloren", sagte sie.

"Wieso?" wollte die menschliche Wissenschaftlerin wissen. "Haben sie eine Idee?"

"Akagi-Ritsuko", gab die Rhoani zurück, "ich glaube, wir können wieder Hoffnung haben..."
 

---
 

"Das ist ja gruselig!"

Shinji und Asuka sahen bedrückt zu, wie Harmis von einigen Pionieren aus dem Leichnam Cadmiels gezogen wurde. Silbriges Blut klebte am Körper des jungen Rhoani und verlieh ihm, in Kombination mit seinem grauen Haar und seiner fahlen Haut, ein seltsam verstörendes Aussehen.

"Warum sieht er nur Kaworu so ähnlich?" murmelte Shinji leise.

"Wem?"

"Kaworu", wiederholte der Junge, "das Fifth Children. Der Junge, der eigentlich der Engel Tabris war."

Auf Asukas Gesicht leuchtete das Verständnis auf. "Richtig", fiel ihr ein, "Ich habe bei meiner Vereinigung mit Misato auch von ihm erfahren. Du hast recht... jetzt, wo du es sagst, kommt er mir auch bekannt vor. Aber so viel hat sich gar nicht an Harmis verändert. Sein Haar... seine Haut..."

"Seine Gesichtszüge sind jetzt zerbrechlicher als vorher", fügte Shinji hinzu. "Aber du hast auch recht. Harmis sah auch schon vorher Kaworu ähnlich; es ist mir nur nicht aufgefallen, weil er... nun, weil er eben ein Rhoani war."

"Ich würde zu gerne wissen", murmelte das Mädchen, "was er jetzt ist."
 

In diesem Moment trat Ibuki Maya zu den beiden. "Kinder", meinte sie leise, "ich glaube, für heute habt ihr genügend schreckliche Dinge gesehen. Kommt, ich bringe euch zurück zur Kolonie."

"Wieso das denn?!" beschwerte sich das Mädchen. "Gerade jetzt, wo's interessant wird?"

Maya nickte, und ein Anflug eines Lächelns glitt über ihr ansonsten ernstes Gesicht. "Kommt mit", bat sie. "Hier sind heute schreckliche Dinge passiert; es war bestimmt der schlimmste Tag für uns alle seit dem Third Impact. Und auch, wenn ihr jetzt noch glaubt, es würde euch nichts ausmachen... das wird noch kommen."

"Nichts wird kommen!" schnappte Asuka zurück. "Ich hab schon ganz andere Sachen erlebt als das heute, und ich bin immer noch mit allem fertiggew..."
 

In diesem Moment legte ihr Shinji sanft eine Hand auf die Schulter und lächelte sie an.

"Ich weiß, Asuka", sagte er. "Und Maya weiß das auch. Aber wenn wir jetzt nicht mitkommen, dann reißt Ritsuko ihr nachher den Kopf ab, und das willst du doch nicht, oder?"

"Shinji!!!"

Die junge Frau errötete leicht, und Asuka kicherte. "Na, meinetwegen", meinte das Mädchen, "dann komme ich halt mit. Aber nur, wenn du mir eins erlaubst, Maya!"

"Und was wäre das?"

"Ich will heute bei Shinji übernachten!"

Die Computerspezialistin schmunzelte. "Geht in Ordnung", sagte sie. "Aber schreit es nicht in der Gegend herum. Ritsuko ist ein bißchen... heikel, was diese Dinge angeht. Ja?"

"Geht klar!" gab das Mädchen zurück.
 

Während sich alle drei auf den Weg zurück zur Kolonie machten, blickte Shinji etwas verwirrt zu Asuka hinüber. Das Mädchen grinste und zwinkerte ihm zu.
 

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"Wir sollen WAS?!"

Raimor verschränkte die Arme und baute sich vor dem rhoanischen Unteroffizier auf, was ihm allerdings nur teilweise gelang, da der Pionier etwa einen halben Kopf größer als er war.

"Sie haben ihre Befehle doch gehört", gab der Exobiologe zurück. "Und die Befehle stammen direkt vom Rat. Also, an die Arbeit!"

Der Pionier stemmte wütend die Fäuste in die Seiten. "Wir sind eine kämpfende Truppe", beschwerte er sich. "Was soll denn das für eine ,Arbeit' sein; irgendwelche herumliegenden Federn aufzuheben? Aufräumarbeiten sind die Angelegenheit der Techniker!"

"Der Rat wird keine Techniker schicken", empörte sich Raimor, "um Aufgabe von höchster Priorität und Sicherheitsstufe zu erledigen!"

"Federn aufsammeln ist jetzt eine Aufgabe höchster Priorität?!"
 

Der Exo-alpha holte Luft. "JETZT HÖREN SIE MIR MAL ZU!" brüllte er den Unteroffizier an. "Diese Federn sind ein Teil eines Engels und für unsere zukünftige Verteidigung absolut unverzichtbar! Sie haben doch gesehen, was dieses Monstrum mit uns angestellt hat! Wollen sie, daß wir noch mal so blöde dastehen, wenn der nächste kommt?!"

"Öh..." Der Rhoani war angesichts des plötzlichen Wutausbruches einen Schritt zurückgetreten. "Nein... eigentlich..."

"Dann machen sie sich endlich auf!" fuhr ihn Raimor an. "Wir brauchen jede einzelne silberne Feder, die hier in Kolonie oder in der Nähe des Engels liegt. Es sind exakt neunhunderteinundzwanzig Stück, und ich erwarte, daß sie und ihre Männer jede einzelne davon wiederfinden und unversehrt in die medizinische Abteilung bringen. Verstanden?"

"Jawohl!" gab der Pionier zurück und straffte sich.

"Gut so! Und jetzt wegtreten!"
 

Während der Unteroffizier sich abwandte, konnte Raimor ein Grinsen nicht unterdrücken. Typisch Pioniere, dachte er bei sich, wer am lautesten schreit, hat recht. Ich wünschte nur, ich hätte ihm eine gute Erklärung geben können, wofür Tyrrin diese Federn nun eigentlich braucht. Daß sie nicht mal mich darüber informiert hat, wo wir doch quasi Kollegen sind...
 

Ich hoffe nur, ich muß nicht noch einmal für sie lügen.
 

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Shinji und Asuka saßen beide zusammen in Shinjis Zimmer in der Kolonie, wo bis vor ein paar Tagen auch noch Misato gewohnt hatte. Keiner sagte ein Wort. Der Junge blickte schweigend auf den Boden vor sich, und das Mädchen lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und strich sich mit den Fingern in Gedanken durch das Haar.

"Sag mal..." meinte Shinji plötzlich.

"Hm?"

"Glaubst du", fragte der Junge, "es sind viele tot?"

Asuka schüttelte den Kopf. "Blödsinn", meinte sie leise. "Wir haben den Engel doch besiegt, oder? Also können die Seelen alle in ihre Körper zurück und leben wieder."

"Aber ich hab Misato gar nicht mehr gesehen", gab Shinji zu bedenken, "seit sie zusammengebrochen ist."

"Die treibt sich bestimmt wieder im Rat rum und macht sich wichtig", wischte das Mädchen die Bedenken weg. "Kennst sie doch - kaum ist ein Engel tot, schimpft sie schon wieder, daß wir Menschen die Rhoani haben retten müssen und sie uns trotzdem nichts machen lassen... blablabla."

Der Junge wandte ihr den Kopf zu. "Glaubst du nicht", fragte er, "daß sie erst mal nach uns gesehen hätte?"

"Hm."
 

Wieder saßen beide schweigend da.

"Shinji..." ergriff Asuka wieder das Wort.

"Hm?"

"Sag mal, wie war das eigentlich damals mit dir?"

Der Junge blinzelte verwirrt. "Was war mit mir?"

"Deine Zeit in EVA-01", erklärte das Mädchen. "Wie war das?"

Shinji überlegte einen Moment. "Seltsam", sagte er dann. "Einerseits war meine Mutter immer bei mir, und ich war nie alleine. Aber andererseits..."

"Was andererseits?"

"Andererseits war ich trotzdem einsam."

"Einsam?"
 

Der Junge nickte. "Einsam", sagte er. "Ich habe... einiges vermißt."

"Und was?" wollte Asuka wissen.

Shinji lächelte. "Vor allem mal dich."

"Mich?!"

"Ja, dich. Weißt du... nachdem ich dich damals aus der Verbindung geholt habe..."

Das Mädchen überlegte einen Moment. "Damals am Strand?"

"Genau", nickte Shinji. "Damals hab ich gespürt, ganz deutlich gespürt, daß in mir immer noch etwas fehlte. Daß ich... unvollständig war. Du hast mir gefehlt, Asuka."

"Hm." Asuka blickte nachdenklich vor sich hin. "Weißt du", sagte sie, "ich... ich würde gerne das selbe sagen. Aber irgendwie... irgendwie würde das dann nicht stimmen."

Der Junge blickte verwirrt auf. "Was?!"
 

"Versteh mich bitte nicht falsch", meinte das Mädchen eilig. "Es ist nicht so, daß ich dich nicht mag. Ich mag dich sogar sehr, Shinji. Von allen Menschen, die ich jemals getroffen habe, hab ich dich sicher am liebsten. Aber das Gefühl, daß ich dich unbedingt brauchen würde, das hab ich nicht mehr in mir."

"Nicht mehr?" wollte Shinji wissen.

Asuka nickte. "Damals, als du mich aus dem Meer geholt hast", erzählte sie, "da hab ich dich noch gebraucht, ganz stark. Aber in der Zeit, in der ich in der großen Verbindung war... da ging das Gefühl vorbei."

"Aber... wie das?" wollte Shinji wissen. "Ich war doch gar nicht Teil der Verbindung!"

"Trotzdem hab ich dich gefunden", lächelte Asuka. "Ich habe den Ikari Shinji gefunden, der in all den anderen steckte. Ich habe von Misato viel über den Shinji in ihr erfahren, und von Touji, und von Kensuke, und von Ritsuko. Es gab sogar einen Shinji in Fuyutsuki, denk nur!"
 

Der Junge lächelte ein wenig hilflos. "Und die ganzen Shinjis haben also dein Verlangen gestillt?"

"Genau", sagte Asuka. "Auch wenn du mir immer noch der liebste von allen bist."

Shinji seufzte. "Ich wünschte", meinte er, "ich hätte das auch gehabt. Ich habe meine Seele nie mit jemand anderem als meiner Mutter vereint. Und wie es scheint, komme ich auch nicht mehr dazu, das jemals zu machen."

"Wir können ja Rei darum bitten", kicherte das Mädchen, "daß sie uns beide wieder in LCL verwandelt..."

"Bloß nicht!" lachte der Junge.
 

Asuka grinste, stand auf und ging langsam auf Shinji zu.

"Weißt du", sagte sie, "eigentlich sind wir ja alle beide blöd."

"Wieso das?" wollte Shinji wissen.

"Wir müssen ja gar nicht mehr in eine Vereinigung", sagte sie, "wenn wir zusammen sein wollen. Ich finde, diese Welt hier ist gar nicht so übel, wenn man Freunde hat. Und wenn du dich immer noch einsam fühlst..."

Der Junge blickte zu Asuka hoch, die jetzt direkt vor ihm stand. "Was dann?"

Lächelnd beugte sich das Mädchen zu ihm herunter, legte die Arme um ihn und drückte ihn sanft an sich. "Dann weißt du ja, wo du mich finden kannst", sagte sie leise in sein Ohr.
 

Shinji hielt auch sie fest, und als sich die beiden Kinder kurze Zeit später wieder voneinander lösten, hatte sich tatsächlich etwas geändert.

Asuka hatte recht gehabt. Er fühlte sich jetzt schon sehr viel weniger einsam als vorher.
 

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Vierzehn Tage vergingen.

Und in den medizinischen Labors fand unter höchster Geheimhaltung ein Projekt statt, welches für die Zukunft von Menschen und Rhoani von entscheidender Bedeutung sein konnte.
 

Kapitel 36
 

Nur wenige Stunden waren seit dem Tod Cadmiels vergangen, und es war inzwischen Nacht.

Sehr langsam schlug Harmis die Augen auf.

Etwas hielt ihn an Armen und Beinen fest.

Verwundert blickte sich der Junge um. Er lag offensichtlich auf einer der Liegen auf der Krankenstation; zumindest erkannte er den Raum wieder. Aber seine Hand- und Fußgelenke waren mit gepolsterten Schellen an die Liege geschnallt worden.

Unwillkürlich mußte er lächeln. Dachten die anderen denn wirklich, nach allem, was er bereits vollbracht hatte, könnten sie ihn so aufhalten? Ohne besondere Mühe konzentrierte er sich und baute ein kleines AT-Field auf...

...oder wollte es zumindest aufbauen - denn es gelang ihm nicht!
 

Irritiert, fast ein wenig verärgert, zerrte Harmis an den Schellen und konzentrierte sich stärker. Immer noch passierte nichts. Er war nicht in der Lage, sich zu befreien. Was war nur los?

"Diesmal ist kein Engel da", meinte eine sanfte Stimme in seinem Kopf, "dem du den Weg bereiten kannst."

Der junge Rhoani stöhnte leise auf. "Lillith", murmelte er. "Du bist also dafür verantwortlich."

"Ich bin nicht Lillith", wisperte die Stimme in seinem Kopf. "so wenig, wie du Adam bist. Ich bin Rei, die Hüterin der Seelen, und ich bin es nicht, der deine Kräfte zurückhält."

"Wer dann?" meinte Harmis etwas spöttisch. "Wer hier hätte denn sonst überhaupt noch die Kraft dazu?"

Der Junge glaubte, ein leises Lachen zu vernehmen. "Niemand", sprach Reis Stimme weiter. "Aber wie bei mir wirken auch deine Fähigkeiten nur, wenn du die Aufgabe erfüllst, der du bestimmt bist. Ansonsten bist du nur ein Mensch wie wir alle."
 

Harmis lächelte grimmig. "Das heißt aber auch", meinte er, "daß mich die Ankunft des nächsten Engels befreien wird. Und dann gibt es nichts mehr, was mich zurückhält."

"Vielleicht mußt du dann nicht mehr zurückgehalten werden", flüsterte die Stimme des Mädchens leise in seinem Geist.
 

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Etwas geschah.
 

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Shinji streckte sich müde, als das Licht der fahlen Morgensonne auf sein Gesicht fiel. Er drehte sich unwillig ein wenig zur Seite - das Gespräch mit Asuka letzte Nacht hatte doch noch etwas länger gedauert - und er war noch nicht wirklich ausgeschlafen.

Aber dann merkte etwas in ihm, daß es doch einen guten Grund gab, jetzt aufzuwachen.

Wieso schien die Morgensonne in seine Quartiere hinein.

Der Junge öffnete langsam die Augen und wollte zur Zimmerdecke sehen.

Aber da war keine Zimmerdecke, sondern der freie Himmel.
 

Erschrocken fuhr Shinji hoch und sah sich um. Das hier waren seine Quartiere, unübersehbar, aber... was war mit ihnen passiert? Das Dach der Wohnbarracke war offensichtlich eingestürzt, und überall lagen Trümmerstücke herum! Ein seltsam süßlicher Geruch lag in der Luft, und er sah keine Spur von irgendwelchen anderen Leuten.

Eilig schwang er sich aus dem Bett. Sein Overall, der normalerweise neben ihm hing, war nirgends zu sehen; also ging er in seiner Nachtkleidung langsam in Richtung Tür und öffnete sie. Der Rahmen war verzogen, und er mußte sich dagegenwerfen, um sie aufzubekommen.

Der Anblick, der sich ihm bot, war noch schlimmer als alles, was er erwartet hatte.

Die Kolonie lag in Trümmern.
 

Keines der Gebäude, weder die provisorischen Wohnbarracken noch die Raumschiffssektionen, war noch unbeschädigt. Große, klaffende Löcher überall in den Wänden und auch im Erdboden zeugten davon, daß hier ein gewaltiger Kampf stattgefunden haben mußten. Und war noch schlimmer war: Überall in der Gegend lagen die verwesenden Leichname von Menschen und Rhoani gleichermaßen, teilweise schrecklich verstümmelt. Schwärme von Fliegen tummelten sich um die verrottenden Kadaver, und der Gestank war atemberaubend.

Shinji brach zusammen und übergab sich.
 

Nur sehr langsam brachte sich der Junge wieder unter Kontrolle. Was immer auch hier geschehen war... es mußte die Leute anscheinend völlig überraschend erwischt haben. Und vor allem konnte es kein Engel gewesen sein. Einen Engel hätte er sofort gespürt und wäre sicherlich erwacht. Und außerdem: erst gestern waren zwei Engel besiegt worden. War tatsächlich über Nacht noch ein Dritter erschienen?

Aber was konnte sonst für solch eine Zerstörung verantwortlich sein?
 

Vorsichtig und unsicher erhob sich der Junge und richtete sich mit zitternden Beinen auf. Er hatte ein ungeheures Glück gehabt, soviel stand schon einmal fest, daß die Katastrophe, die hier geschehen war, ihn verschont hatte. Vielleicht war er ja nicht der einzige gewesen. Er mußte herausfinden, ob es noch andere gab, die wie er überlebt hatten. Und vor allem mußte er wissen, ob der seltsame Feind, welcher hier alles zerstört hatte, noch in der Nähe war.
 

Vorsichtig machte sich Shinji auf den Weg.
 

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Asuka gähnte und streckte sich wohlig. Sie hatte in den letzten Tagen nicht gut geschlafen, aber diese Nacht war sehr erholsam gewesen. Ob das wohl an Misatos altem Bett lag? Das in den Quartieren des Mädchens war jedenfalls nicht so bequem gewesen, da war sie sich sicher. Aber vielleicht hatte das ja auch noch andere Gründe...

In sich grinsend schlug sie die Augen auf und drehte sich zu Shinjis Bett hinüber.

Das Bett war leer.
 

Etwas irritiert setzte sich Asuka auf. Normalerweise war Shinji doch der Langschläfer von ihnen beiden. War er etwa schon frühstücken gegangen? Aber wieso hingen dann noch seine Kleider am Ständer neben dem Bett? Der alte Doofmann war vielleicht im Bad und duschte ihr das warme Wasser weg...

Kurzentschlossen schwang das Mädchen die Beine aus dem Bett, streckte sich noch einmal, stand dann auf und lief zum Badezimmer hinüber. Sie lauschte. Kein rauschendes Wasser, keine Schritte, kein gar nichts; und die Tür war auch nicht von innen verriegelt worden. Vorsichtig öffnete sie sie und spähte hinein.

Kein Shinji.
 

Asuka zuckte mit den Schultern und beschloß, die Gelegenheit kurzerhand zu nutzen und jetzt selbst erst einmal ausgiebig zu duschen.
 

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Sehr vorsichtig pirschte sich Shinji zwischen den Ruinen der Kolonie hindurch, wobei er sorgfältig darauf achtete, den verrottenden Leichnamen nicht zu nahe zu kommen. Er duckte sich hinter allem, was ihm Deckung bieten konnte und spähte durch alle Türen und Fenster, die er erreichen konnte. Aber außer Tod und Zerstörung sah er nichts.

Sein Weg führte ihn in einem kleinen Halbkreis um den leeren Platz im Zentrum der Kolonie herum, wo er auf der offenen Fläche gestanden hätte und ein leichtes Ziel für jeden gewesen wäre. Dabei mußte er die kleine Anhöhe erklettern, die das LCL-Meer von den Wohnbarracken trennte. Vielleicht nicht die schlechteste Idee, dachte er sich, einmal von einem erhöhten Standpunkt aus die Lage zu betrachten. Wenn es Überlebende gab, dann hatten die vielleicht daran gedacht, irgendwelche Zeichen für andere aufzustellen.
 

Vorsichtig huschte der Junge von Deckung zu Deckung und achtete darauf, nie länger als nötig sichtbar zu sein. Schlielich kam er oben auf dem Hügel an, wo die Überreste des Versorgungsgebäudes standen, in dem die Neuankömmlinge aus dem LCL-Meer aufgenommen und mit Kleidung ausgestattet wurden.

Ein Blick hinunter auf die Kolonie veränderte seine Einschätzung der Situation allerdings auch nicht wesentlich. Von hier oben betrachtet war die Zerstörung wirklich umfassend; nichts mehr war übrig, das nach einer halbwegs sicheren Zuflucht aussah, und einige der Gebäude waren nicht nur beschädigt, sondern geradezu dem Erdboden gleichgemacht worden. Wer immer hier am Werk gewesen war, er hatte nichts ausgelassen.
 

Nur zur Sicherheit blickte sich Shinji noch einmal in die andere Richtung um, um festzustellen, ob vielleicht entlang des Meeres irgendwelche Lebenszeichen zu sehen waren. Aber auch da fiel ihm nichts auf. Entlang des Strandes bewegte sich außer den blauen Wellen nichts...

...außer den blauen Wellen?

Blau?!

Der Junge schluckte. Das LCL-Meer war orangefarben gewesen. Orangefarben wie... nun, eben wie LCL. Blau war nur Wasser... und das bedeutete, daß es im Meer keine Seelen mehr gab.

Also war doch ein Engel hiergewesen?

Aber wieso hatte er nur nichts davon gemerkt?
 

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"Was soll das heißen, ,ich weiß nicht'?!"

Ritsuko hob bedauernd die Arme. "Das soll heißen, ich weiß nicht, wo er ist", antwortete sie. "Du hast ihn doch zuletzt gesehen; sag du mir doch, wo er abgeblieben ist!"

"Wenn ich es wüßte", meinte Asuka wütend, "würde ich nicht fragen! Tatsache ist, daß seine Kleider immer noch in seinem Zimmer hängen, und am Nahrungssynthetisierer war er heute früh laut den Daten auch noch nicht. Wo steckt er denn?"

Die Wissenschaftlerin blickte sie ernst an. "Wenn Shinji tatsächlich weg sein sollte", sagte sie, "dann sehe ich es auch so, daß wir nach ihm suchen müssen. Aber ich würde mir vorerst noch keine Sorgen machen. Du hast ja selbst gesagt; es gibt keine Hinweise darauf, daß er gewaltsam weggebracht wurde; und unsere Sensorscans haben auch nichts Ungewöhnliches ergeben. Warte noch bis heute abend, und wenn ihn dann immer noch keiner gesehen hat, werden wir uns um ihn kümmern."
 

"Ich will mit Misato darüber reden!" verlangte das Mädchen unwirsch.

Ritsuko schüttelte den Kopf. "Das ist im Moment nicht möglich", sagte sie. "Der Angriff des letzten Engels hat sie schwer mitgenommen - und neben ihr noch über neunhundert andere - und in der Krankenstation ist im Moment ungeheuer viel los. Ich kann dir nichts versprechen, und es wird bestimmt mindestens eine Woche dauern, eher zwei, bis überhaupt jemand dort hinein darf, der nicht zum medizinischen Personal gehört. Aber Tyrrin hat mir versichert, daß sie alles tun wird, um Misato und den anderen zu helfen."

Mißmutig schnaubte Asuka und verschränkte die Arme vor der Brust. "Wenn sich keiner von euch dafür interessiert, wie es Shinji geht", empörte sie sich, "dann muß ich eben selbst nach ihm suchen. Und das, wo ich wirklich gedacht hab, ihr helft mir!"
 

Wütend wandte sie sich ab und marschierte davon. Ritsuko blickte ihr kopfschüttelnd, aber lächelnd hinterher.
 

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In einem seltsamen Rosaton ging die Sonne über der zerstörten Kolonie unter.

Shinji kaute auf einem Stück Notration herum, die er in dem Versorgungsgebäude gefunden hatte. Verhungern und verdursten würde er wohl nicht... die Vorratslager dort waren noch versiegelt gewesen und enthielten genug Rationen und Wasser für bestimmt sechzig Tage, wenn man alleine war. Aber das würde ihm auch nicht dabei weiterhelfen, andere Überlebende zu finden.

Oder vielleicht doch?
 

Der Junge überlegte ein wenig. Einen Großteil der Kolonie hatte er heute bereits absuchen können. Feinde oder gar Engel waren sicherlich keine mehr in der Gegend. Also konnte er sich auch weiter hinauswagen. Die entfernteren Anlagen, die Pionierbunker und Geschütztürme, befanden sich in mehreren Kilometern Entfernung von hier, waren aber alle noch mit einem guten Fußmarsch in ein paar Stunden zu erreichen. Wenn er sich etwas zum Essen und Trinken mitnahm, konnte er die verschiedenen Orte abgehen und dort nach anderen Menschen suchen.

Aber erst morgen, dachte er bei sich. Für heute habe ich schon genügend tote gesehen.
 

Der Gedanke bildete einen dicken Kloß in seinem Hals.

Ob Asuka wohl noch am Leben war?
 

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"In Ordnung, Grauhaar, was hast du mit Shinji angestellt?"

Harmis lächelte auf diese Bemerkung hin amüsiert. "Wie soll ich etwas mit ihm angestellt haben?" gab er zurück. "Ich bin hier ans Bett gefesselt, und das meine ich wörtlich."

"Du bist ein verdammter Pseudo-Engel", fuhr Asuka ihn an, "und ich bin sicher, du mußt das Bett gar nicht verlassen, um jemanden was anzutun! Ich hab den ganzen Tag nach Shinji gesucht, und niemand hat ihn gesehen oder was von ihm gehört? Also, wo steckt er, du Affenarsch?"

"Asuka!" Raimor legte dem wutsprühenden Mädchen eine Hand auf die Schulter. "Ganz ruhig. Ich bin sicher, wenn Harmis etwas mit der Sache zu tun hat, werden wir es herausfinden."
 

"Er hat nichts mit der Sache zu tun", ertönte in diesem Moment eine ruhige Stimme von hinten, und als das Mädchen und der Rhoani sich umsahen, trat hinter ihnen Rei in das Zimmer. Sie trug inzwischen einen der Overalls, die zur normalen Bekleidung der Kolonisten gehörten.

Raimors Augen weiteten sich. "Wer hat dieses Mädchen hier hereingelassen?" wollte er wissen.

"Ich", sagte Ritsuko bestimmt und trat hinter ihr in den Raum. "Ich habe mich heute lange mit ihr unterhalten, und ich bin davon überzeugt, daß sie wirklich auf unserer Seite steht."

"Ich wäre mir da nicht so sicher", warf der Exo-alpha ein. "Der ganze Sinneswandel kommt mir doch irgendwie sehr... plötzlich."

Rei schüttelte langsam den Kopf. "Ich habe meine Ansichten nicht geändert", sagte sie leise. "Ich bin nur von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Ich dachte, außer dem Jenseits hätte die Menschheit kein Schicksal mehr. Aber das hat sie nun doch; und das heißt, ich werde dieses Schicksal hüten."
 

"Und wie kannst du so sicher sein", meldete sich Asuka zu Wort, "daß dieser Mistbock hier auf dem Bett nichts mit Shinjis Verschwinden zu tun hat?"

"Er ist im Moment nicht in der Lage, etwas zu tun", erklärte das blauhaarige Mädchen. "Seine Aufgabe ist es, den Engeln den Weg zu bereiten, und wenn kein Engel da ist, dem er den Weg bereiten könnte, besitzt er auch keine Fähigkeiten, die ihm dabei helfen."

Asuka verschränkte die Arme. "Und wo ist Shinji dann abgeblieben?" wollte sie wissen.

"Das kann ich auch nicht sagen", antwortete Rei und senkte den Kopf. "Ich habe mich bereits nach ihm umgesehen. Aber er ist nicht in der Kolonie, und seine Seele hat keine Spuren hinterlassen. Es ist, als ob er niemals existiert hätte."
 

Harmis kicherte leise. Wenn Lillith nur wüßte, dachte er, wie nahe sie damit an der Wahrheit ist.
 

Kapitel 37
 

Shinji saß auf einem Hügel und blickte mit tränenüberströmtem Gesicht in den pastellfarbenen Abendhimmel.

In den vergangenen drei Tagen hatte der die gesamte Kolonie zu Fuß erkundet, war in jedes vorgelagerte Gebäude eingedrungen und hatte auf weitem Gebiet nach Spuren gesucht, die auf Überlebende hingedeutet hätten. Aber er hatte nichts gefunden, außer Tod und Zerstörung.

Und nun auch noch das hier. Die letzte Hoffnung.
 

Der Körper von EVA-01 lag auf der Ebene; zerrissen wie eine Gliederpuppe, die niemand mehr wollte.

Shinji wäre am liebsten auch gestorben.
 

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"Was soll das heißen, ihr beendet die Suche?!"

Ritsuko seufzte leise und senkte den Kopf. "Das soll heißen", sagte sie leise, "wir geben auf. Wir haben vier Tage lang nach Shinji gesucht, mit allen Mitteln. Die Sensoren... die Orbitalbeobachter... die Pioniere... niemand hat auch nur eine Spur von ihm entdecken können. Und so groß ist das Gebiet nicht, auf dem er sich befinden könnte."

"Wenn es ein Engel war, könnte er überall sein!" warf Asuka ein.

"Es war kein Engel!" meinte die Wissenschaftlerin scharf. "Einen Engel hätten wir gesehen; und außerdem kümmern sich die Engel nicht um einzelne Menschen. Sie wollen alle Seelen ins Jenseits bringen und müssen darum das LCL-Meer erreichen. Warum sollte irgendein Engel sich mit einer einzigen Seele begnügen?"
 

Das Mädchen stemmte die Hände in die Hüfte. "Und was ist nun", sagte sie, "wenn Shinji nur der Anfang war? Was wollt ihr tun, wenn wir nun allesamt einer nach dem anderen verschwinden, hm?"

"Bisher ist außer Shinji noch niemand verschwunden", widersprach Ritsuko. "Das ist deiner Theorie ziemlich abträglich, oder?"

Wütend stieß Asuka die Luft durch die Zähne. "Pah!" schnappte sie zurück. "Ich kann einfach nicht glauben, daß ihr Shinji so einfach aufgeben wollt, nach allem, was er für euch getan hat! Zahlt ihr es ihm so heim, daß ihr immer noch am Leben seid?"

"Asuka!" fuhr die Wissenschaftlerin sie scharf an. "Jetzt reicht es aber!"

"Es reicht eben nicht!" schrie das Mädchen. "Ihr müßt etwas für Shinji tun!"

"Wir haben schon alles für ihn getan, was wir tun konnten!" donnerte Ritsuko zurück. "Wir haben überall gesucht, haben Sonden, Sensoren und Beobachter eingesetzt, und selbst nach dieser Suche hat sich gar nichts ergeben! Was erwartest du von uns; daß wir alle Arbeiten ruhen lassen, weil ein einzelner Mensch verschwunden ist? So hart das jetzt auch klingen mag: wir haben andere Dinge zu tun! Shinji ist einfach nicht wichtig genug, daß wir uns noch länger mit der Suche nach ihm beschäftigen könnten. Hast du das jetzt verstanden?"
 

Asuka starrte die Wissenschaftlerin sprachlos an, und in ihren Augen funkelte es gefährlich. Doch ehe sie noch etwas erwidern konnte, drehte sich Ritsuko wortlos um, ging aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich.

Das Funkeln in den Augen des Mädchens begann zu zittern und floß in Form von Tränen über ihre Wangen.

"Aber für mich ist er wichtig genug", flüsterte sie. "Für mich schon."
 

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Shinji erwachte zu einem weiteren blutroten Morgen.

Trübsinnig setzte der Junge sich auf, öffnete die Versorgungstasche und nahm einen weiteren Riegel der Notration hinaus. Ohne jeglichen Appetit biß er davon ab und kaute lustlos darauf herum.

Was für einen Grund gab es eigentlich, daß er immer noch hier war?
 

Shinji überlegte ein wenig. Er war anscheinend wirklich der alleinige Überlebende der ganzen Kolonie. Die Vorräte, die in dem Versorgungsgebäude lagen, würden für ihn noch einige Wochen ausreichen. Vielleicht konnte er in den Ruinen noch weitere eßbare Sachen sichern; vielleicht auch Kleidung und irgend etwas, aus dem er sich eine provisorische Unterkunft machen konnte, falls das Wetter umschlug.

Und dann?

Warten darauf, daß noch ein paar Außerirdische die Erde fanden und für kolonisierbar hielten?

Was für einen Sinn machte es überhaupt, wenn er noch weiterlebte?
 

Der Junge stand auf und warf einen Blick hinüber zu den Gebäuden im Zentrum der Kolonie, deren Überreste in weiter Ferne wie das Gerippe eines Riesen ihre Schatten warfen. Alle waren stark beschädigt oder völlig zerstört worden, aber bei einigen, das hatte er schon damals gesehen, war die Grundstruktur noch durchaus intakt. Wenn die Notschächte im Inneren das ebenfalls waren, dann konnte er so auf das Dach gelangen. Und das Dach, das konnte er gut abschätzen, war mindestens 90 Meter hoch...

Neunzig Meter...

Ein Sprung aus dieser Höhe... nur einmal den Mut aufbringen, und alles war vorbei...
 

Kurzentschlossen packte Shinji seine Versorgungstasche und machte sich auf den langen Rückweg ostwärts zur Kolonie, die Sonne im Rücken.
 

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"Wie hat sie es aufgenommen?"

Ritsuko seufzte. "Schlecht", meinte sie, "wie wir es erwartet haben. Sie hat mir Vorwürfe gemacht, ich hätte nicht genug für ihn getan. Sie will einfach nicht verstehen, daß es gar nicht mehr viel gibt, was wir noch für Shinji tun könnten. Außer natürlich unsere Suche noch länger durchzuführen."

"Und das steht außer Frage", meinte Tyrrin und rückte den Übersetzungscomputer zurecht, der ihr ein wenig aus dem Ohr gerutscht war. "Wir werden die volle Sensorenleistung brauchen, wenn wir alle nötigen Scans für unser Projekt halbwegs im geplanten Zeitrahmen durchführen wollen."

"Ich weiß", sagte die menschliche Wissenschaftlerin. "Apropos Scans, hat sich bezüglich unseres Gefangenen etwas ergeben?"
 

Die Med-alpha schüttelte den Kopf. "Harmis bleibt für mich weiterhin ein Rätsel", sagte sie. "Ich habe alle Daten aus der Exobiologie zum Quervergleich bekommen, aber was für ein Wesen er ist, kann ich nicht feststellen. Sein Genmuster stimmt zu über 99 % mit dem eines Menschen oder Rhoani überein, aber der Rest... der Rest macht einfach keinen Sinn. Als wäre sein Körper darauf ausgelegt, einen viel größeren Organismus am Leben zu erhalten, aber er verarbeitet Energie trotzdem nicht anders als ein normaler Mensch."

"Und... haben die Verhöre noch mehr ergeben?"

"Leider nein", antwortete Tyrrin. "Er antwortet ruhig auf alle Fragen, aber er behauptet beständig, er habe nichts mit dem Verschwinden Shinjis zu tun und könne uns nicht sagen, wo er zu finden sei."

Ritsuko senkte den Kopf ein wenig. "Und ohne Rei haben wir keine Möglichkeit, seine Informationen zu überprüfen", sagte sie leise.
 

"Ich verstehe übrigens immer noch nicht ganz", meinte die Med-alpha, "wieso sie ihr so weit vertrauen können. Sicher, sie sagt jetzt, sie wäre auf unserer Seite, aber war es wirklich eine gute Idee, sie weggehen zu lassen?"

Ritsuko lächelte. "Wenn es ein Wesen auf diesem Planeten gibt", gab sie zurück, "das Shinji finden kann, dann ist es wahrscheinlich Rei. Und ich glaube, das Risiko, sie unbeaufsichtigt zu lassen, sollte der Junge uns wert sein."
 

Tyrrin senkte den Blick ein wenig. "Ich wünschte", sagte sie, "ich hätte ihr Vertrauen."
 

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Rei schwebte über das weite Meer, ihren gasförmigen Körper so weit wie möglich ausgestreckt.

In diesem Zustand hatte sie weder Augen noch Ohren, doch die Aufmerksamkeit des Mädchens war trotzdem ungebrochen. Mit jeder Faser ihrer Seele spürte sie hinaus und tastete nach dem kleinsten Hauch von etwas, das ihr bekannt vorkam.

Wo konnte Shinji nur sein?
 

Es hatte etwas mit den Engeln zu tun, das wußte das Mädchen sicher. Harmis war zwar nicht dafür verantwortlich, aber er wußte etwas, daß er nicht preisgab. Rei verstand ihn nur zu gut, denn auch sie hatte einmal die Stimme Gottes gehört. Und das war ein Erlebnis, dem man sich nicht verweigern konnte. So, wie ihre Aufgabe der Schutz der Seelen war, war es die Aufgabe von Harmis, den Widerstand der Menschen gegen die Engel zu brechen, mit allen Mitteln. Und Furcht und Unsicherheit waren starke Mittel.

Das hatte auch schon Adam gewußt.
 

Aber andererseits war es völlig unmöglich, daß ein Engel Shinji verschleppt oder getötet hatte. Den Engel waren einzelne Menschen egal; und Shinji hätte ihnen eigentlich völlig egal sein sollen. Es hätte sie nicht einmal gewundert, wenn sie den Jungen sogar verschont und zurückgelassen hätten. Er war zwar ein Mensch, aber er war nie Teil der großen Vereinigung gewesen; und er stammte auch nicht von den Rhoani ab, die wegen ihrer Freveleien ihre Zukunft verloren haben sollten. Nein, die Auslöschung Shinjis war sicherlich nicht ein Teil der Aufgabe der Engel; bestenfalls Harmis konnte seine Pflichten so interpretieren, und Harmis war ohne einen Engel machtlos.
 

Also mußte es ein Engel selbst getan haben.

Aber der nächste Engel würde doch erst noch kommen.

Irgendwie machte das alles keinen rechten Sinn für Rei.
 

---
 

Ein Abend ging, ein Morgen kam, und Shinji war wieder auf dem Weg.

Es dauerte fast bis zum Mittag, ehe der Junge endlich das Zentrum der Kolonie erreichte. Eigentlich hätte er den Weg auch schneller schaffen können, aber seine Schritte waren nicht mehr so entschlossen und zielstrebig wie noch zu Beginn seiner Suche, als er noch gehofft hatte, Überlebende zu finden.

Wenn am Ende des Weges einen nur der eigene Tod erwartete, kam es auf die Minute nicht mehr wirklich an.
 

Inzwischen kam Shinji der Gestank der Leichen in der Kolonie deutlich schwächer vor. Entweder hatte der Wind von der See ihn ein wenig verweht, oder der Junge war inzwischen derart an den Geruch von Tod und Verfall gewöhnt, daß er abgestumpft war. Er machte sich auf jeden Fall keine großen Gedanken, sondern richtete seinen Blick hauptsächlich nach oben, um herauszufinden, welche der Raumschiffsektionen wahrscheinlich für seine Zwecke am geeignetsten war.

Schließlich entschied er sich dazu, es mit der Sektion Sensorentechnik zu versuchen. Zwar war das halbe Gebäude völlig zertrümmert und zerquetscht, aber die andere Hälfte - wo sich auch einer der Behelfszugänge befand - war noch halbwegs intakt. Shinji zog die Abdeckplatte des Öffnungsmechanismus auf und pumpte mit dem dort befindlichen Hebel Druck ins System, um so die Türverriegelung zu öffnen. Nach etwa zwei Minuten schweißtreibender Arbeit öffnete sich die Luke endlich mit einem Zischen.
 

Der Aufstieg über neunzig Meter an Leitern war härter, als es sich der Junge vorgestellt hatte. Er mußte drei Mal innehalten, um Luft zu holen, und als er endlich ganz oben ankam, war er naßgeschwitzt, und seine Arme und Beine zitterten vor Anstrengung. Mühsam öffnete er die Luke, die auf das Dach der Sektion führte und zog sich selbst aus dem Notschacht.

Keuchend setzte er sich hin und atmete tief durch. Hätte er vorher gewußt, daß es so anstrengend werden würde, hätte er sich vielleicht für einen anderen Weg entschieden, aus der Welt zu scheiden. Aber nun war es auch egal; nun war er da. Nur noch einen Moment ausruhen und Kraft sammeln... Kraft für den Sprung...

In diesem Moment stieg in Shinji ein ungeheuer starkes, bekanntes, beängstigendes Gefühl hoch, und der Junge riß fassungslos die Augen auf.
 

"Ieiaiel?!"

Der Engel kam... zurück?

Im selben Moment sah er ihn.
 

Weit draußen auf dem weiten Meer senkte sich aus dem Himmel langsam eine riesige, graue Masse hinab, die sich ungeheuer schnell drehte und von Blitzen durchzogen zu sein schien. Es mußte eine Art Windhose sein, ein gewaltiger Tornado von mehreren hundert Metern Höhe, und er kam immer weiter herunter. Schließlich berührte er die Oberfläche des Meeres.

Im selben Moment riß der Himmel über ihm auf, und ein leuchtender, gleißend heller Strahl fuhr von oben in den Engel hinein. Ieiaiel begann aufzuleuchten, und das Wasser in seiner direkten Nähe begann zu schimmern. Langsam, ganz allmählich, begann es sich zu verfärben und nahm einen Ton an, der...

...das konnte nicht sein...

...der orangefarben war. Orangefarben wie LCL.
 

Brachte dieser Engel die Seelen aus dem Meer etwa zurück?!
 

Kapitel 38
 

Ein leises, kaum wahrnehmbares Sirren schwang durch den Raum, welches vom ruhigen Atmen der beiden konzentriert arbeitenden Ärzte fast noch übertönt wurde. Es kam von den auf Hochleistung arbeitenden Lebenserhaltungssystemen.

"Nährlösung auf null Prozent Sättigung", sagte Med-alpha Tyrrin leise.

Der ihr gegenüberstehende Arzt nickte und gab die Daten ein. "Sättigungsgrad wird reduziert", bestätigte er. "Dreißig Prozent... zwanzig Prozent... zehn Prozent... Nährlösung jetzt auf null Prozent Sättigung."

"Nährlösung ablassen."

"Nährlösung wird abgelassen."
 

Die ehemals bläuliche und jetzt nahezu farblosen Flüssigkeit floß aus dem großen Tank heraus und sammelte sich im Wiederaufbereitungsbehälter am Boden. In der gleichen Zeit aktivierten sich automatisch die Antigrav-Systeme im Inneren des Tanks und hielten den darin befindlichen Körper in der Schwebe.

"System auf neutrale Position", wies Tyrrin nach einem Blick auf die Biodaten an.

"Neutrale Position", bestätigte ihr Gegenüber, und langsam senkte sich der Körper im Tank auf den Boden ab, bis er auf einer gepolsterten Fläche zu liegen kam."

Die Med-alpha führte die letzten Schritte in der komplizierten Prozedur durch. "Ich entsiegle jetzt die Dekontaminationsvorrichtung", sagte sie. "Antikörper vorbereiten."

"Antikörper sind bereit", gab der andere Arzt zurück.

"Injektion jetzt!" meinte Tyrrin und drückte die Taste für die Aufhebung der Versiegelung.

Mit einem Zischen öffnete sich der luft- und keimdichte Verschluß des Tanks und glitt auf, und im selben Moment beugte sich der jüngere Arzt über den Körper im Inneren und setzte ihm den Autoinjektor auf den Arm. Die Lösung wurde ins Muskelgewebe gedrückt.

Jetzt kam der interessante Teil der Operation.
 

"Ich setze nun die Xenoprobe ein", sagte die Med-alpha und nahm vom Tisch neben sich eine kleine, versiegelte Glaskapsel, in der sich eine einzelne, silbrig schimmernde Feder befand.
 

---
 

Shinji sah hinaus aufs Meer und verstand immer noch nichts.

Seit nunmehr zehn Tagen schwebte der Engel Ieiaiel nun an der gleichen Stelle und wirbelte leuchtend und funkelnd über den Fluten, ständig von gewaltigen Blitzen durchzogen. Vom Himmel strahlte immer noch die mächtige Lichtsäule in sein Zentrum hinab, und das Meer, soweit der Junge das sehen konnte, hatte im Laufe der Zeit vollständig den selben orangenen Ton angenommen, den es seit dem Third Impact immer gehabt hatte.

Der Junge hatte sich inzwischen in dem zerstörten Versorgungsgebäude einquartiert, von dem aus er einen guten Blick aufs Meer hatte und es in den vergangenen Tagen nicht verlassen. Zu groß war seine Sorge, der Engel könnte möglicherweise bemerkt haben, daß die Seele eines Menschen fehlte und deshalb zurückgekehrt sein, um diese Seele - ihn, Shinji - zu holen. Und er wollte um jeden Preis wissen, wenn Ieiaiel sich aufmachte.
 

Den Blick nicht von dem riesigen Wirbelsturm abwendend, der über dem LCL tobte, biß Shinji ein Stück von einem Notrationsriegel ab. Wenn der Engel tatsächlich auf der Jagd nach ihm war, dann hatte er wohl kaum eine Chance, ihm zu entkommen. Immerhin hatte er auch alle anderen Bewohner der Kolonie erwischen können, trotz ihres Widerstandes. Selbst EVA-01 war ihm ja nicht gewachsen gewesen. Aber er hatte noch einen Trumpf in der Hand, und den gedachte er auszuspielen: die Menschen im LCL!

Wenn es etwas gab, was der Junge gut konnte, dann war es die Synchronisation mit fremden Seelen.
 

Sobald Ieiaiel seinen Standpunkt über dem Meer aufgab und nach ihm zu suchen begann, wollte Shinji loslaufen und mit den Seelen dort eins werden. Er würde ihnen berichten, was passiert war und daß ein Engel gerade eben dabei war, ihren endgültigen Tod zu besiegeln. Wenn es dringlich war, konnte die Verständigung zwischen Seelen sehr schnell ablaufen - und dann standen dem Engel mit einem Male nicht nur einige tausend überraschte Menschen gegenüber, sondern einige Millionen oder Milliarden, die auf seine Gegenwart vorbereitet waren.

Alles, was er brauchte, war ein paar Momente, in denen Ieiaiel nicht auf das Meer achtete. Den Jungen selbst konnte er ja offensichtlich auf diese Entfernung nicht wahrnehmen, sonst hätte er sicherlich schon seine Jagd begonnen.
 

Gerade als Shinji noch einen Bissen von seiner Notration essen wollte, verdunkelte sich die Umgebung plötzlich ein wenig, und im nächsten Moment versiegte der gleißende Lichtstrahl, der bis zu diesem Zeitpunkt aus dem Himmel in den Engel hineingefahren war. Das Leuchten, welches Ieiaiel ausgestrahlt hatte, verlosch ebenfalls, und nur noch die zuckenden Blitze erhellten den sturmgrauen, wirbelnden Körper Ieiaiels.

Und dann begann er sich in Bewegung zu setzen.

Exakt auf das kleine Versorgungsgebäude zu, neben dem Shinji saß.
 

Die Augen des Jungen wurden groß. Einen Moment lang glaubte er an eine Täuschung, aber dann wurde ihm klar, daß der Engel tatsächlich exakt auf ihn zukam; und nicht etwa langsam und gemächlich, sondern mit einem ungeheuren Tempo.

Shinji drehte sich um und rannte den Hügel hinunter.
 

---
 

"...können wir davon ausgehen, daß sich der Zustand schon in Kür..."

"Still - sie kommt zu sich!"

Die Frau blinzelte schwerfällig und schlug langsam die Augen auf. Die Helligkeit im Zimmer stach ihr sofort hinein, und sie kniff die Lider bis auf einen kleinen Spalt zusammen.

"Licht dimmen!" ertönte eine resolute weibliche Stimme auf rhoanisch, und sofort danach wurde die Helligkeit erträglich. Die Frau schlug die Augen vollends auf und sah die schemenhaften Umrisse einer anderen Gestalt, die sich über sie beugte.

"Können sie mich sehen?" wollte die Gestalt wissen.

Die Frau nickte langsam.

"Wissen sie auch, wer ich bin?"

"Ich glaube schon", antwortete die Frau. "Sie sind Tyrrin."

Die Gestalt lächelte. "Und erinnern sie sich auch daran, wer sie sind?" fragte sie.

"Ich bin Katsuragi Misato", sagte die Frau schwach, "und ich glaube, ich muß gleich kotzen."

"Ganz ruhig", gab Tyrrin zurück. "Die Übelkeit ist nur ein Nebeneffekt der kreislaufstabilisierenden Medikamente. In ein paar Minuten geht es ihnen besser."

Misato schloß kurz die Augen und atmete tief durch. Dann öffnete sie sie wieder. "Das ist eigentlich ein gutes Stichwort", sagte sie. "Wie geht es mir überhaupt?"
 

"Den Umständen entsprechend gut", sagte Tyrrin. "Aber sie haben ganz schön was mitgemacht. Sie waren fast zwei Wochen lang ohne Bewußtsein."

"Zwei Wochen?!"

Die Ärztin nickte ernst. "Der letzte Engel - Cadmiel - hat die Seelen der Menschheit gesammelt und die Körper wie leere Hüllen liegenlassen. Wir haben bis heute an einer Methode gearbeitet, ihren Körper und ihre Seele wieder zu vereinen. Jetzt endlich ist uns das gelungen."

"Mein Gott..." Die Frau blickte an die Decke. "Und... und sonst? Gab es noch weitere Verluste durch Cadmiel?"

Tyrrin nickte abermals. "Über neunhundert Leute", erzählte sie. "Aber sie müssen sich keine Sorgen machen - wir haben die Seele von jedem einzelnen retten können, und in den nächsten Tagen werden wir sie wieder in ihre Körper zurückbringen. Ich hoffe, sie nehmen es mir nicht übel, daß ich mit ihnen bei dieser experimentellen Therapie angefangen haben - sie waren quasi Prioritätspatientin und Versuchskaninchen zugleich."
 

Misato schüttelte lächelnd den Kopf. "Das nehme ich ihnen bestimmt nicht übel", sagte sie. "Ich bin heilfroh, wieder in meinem Körper zu sein... auch, wenn er sich im Moment anfühlt wie ein nasser Sack. Ich kann kaum einen Finger rühren."

"Ihre Muskeln haben in den 14 Tagen ungeheuer abgebaut", erklärte die Med-alpha. "Wir wollten es nicht riskieren, ihren Körper übermäßig zu manipulieren und haben darum keine Maßnahmen zur Erhaltung der Muskelmasse unternommen. Aber mit den Elektroinduktoren sind sie schon in zwei oder drei Tagen wieder auf den Beinen und können dann anfangen, sich selbst wieder hochzutrainieren."

"Ich verstehe", meinte die Frau. "Gut."

Tyrrin lächelte. "Dann werde ich mich mal auf zum nächsten Patienten machen", sagte sie, stand auf und wandte sich ab. "Wenn sie noch etwas brauchen..."
 

"Ich hätte nur noch eine Frage", sagte Misato. "Wie geht es Shinji und Asuka? Haben sie mich sehr vermißt?"

Ein kurzer Schatten huschte über das Gesicht der Ärztin, aber dann fing sie sich wieder.

"Ja", sagte sie, ohne die Frau dabei anzusehen, "bestimmt."
 

---
 

Shinji rannte, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war.

Hinter ihm konnte er das Tosen und Brüllen des gewaltigen Wirbelsturmes hören, der sich vom Meer aus aufs Land zubewegte. Hatte Ieiaiel ihn etwa doch bemerkt? Dann war er so gut wie tot! Er mußte sich verstecken, irgendwo, und darauf hoffen, in einem unbeobachteten Moment ans Meer zu kommen.

Keuchend rannte er über den großen Platz im Zentrum der Kolonie, dabei immer wieder über die Schulter blickend. Seine Füße patschten durch die Blutlachen der zerfetzten Leichname...

...Blutlachen?!
 

Der Junge hielt inne und sah sich fassungslos um. Um ihn herum waren überall zerfetzte Leichen und abgerissene Körperteile... aber es war keine Spur von Zerfall oder Verwesung an ihnen festzustellen! Sie wirkten, als habe sie erst gerade eben, vor kürzester Zeit, jemand in Stücke zerfetzt! Kein Geruch, keine Fliegen, rein gar nichts! Sogar die Blutlachen waren noch frisch!

In diesem Moment erhob sich Ieiaiel hoch oben auf dem Hügel, wo das Versorgungsgebäude stand und senkte seinen gewaltigen Sturmkörper über der eingestürzten Ruine. Einen Moment lang hielt er dort inne, wie um Ausschau zu halten.

Und als er sich wieder erhob und seinen Pfad seitlich hinunter auf die Ruinen der Wohnbarracken zu fortsetzte, stand das Versorgungsgebäude wieder unbeschädigt da, als sei ihm nie etwas geschehen.

Shinji blickte fassungslos zum wieder hergestellten Gebäude hin, sah dann zum Engel und dann zu der zerfetzten Leiche neben ihm. Da erst bemerkte er, daß mit der Blutlache, in der sie lag, etwas geschah, was nicht hätte passieren sollen:

Sie wurde kleiner.

Das Blut rann langsam in den Körper zurück.

Und da erst verstand der Junge, was geschah.
 

Langsam schritt Shinji auf die Wohnbarracken zu, auf die sich auch Ieiaiel gerade zubewegte. Der Engel war natürlich in seinem immensen Tempo um einiges schneller als der Junge, und während Shinji noch weit entfernt war, brach sich Ieiaiel seinen Weg durch die Ruinen. Trümmerstücke flogen aus allen Richtungen heran, und wo immer der Engel hindurchzog, setzten sich die Gebäude wieder zusammen.

Der Junge beschleunigte seinen Schritt. Wenn es stimmte, was er dachte, dann blieb ihm vielleicht nicht mehr viel Zeit, um noch etwas zu tun.

Als er endlich die Barracke erreichte, zu der er wollte, war der Engel schon einige hundert Meter weiter und machte gerade seine Runde auf der anderen Seite des Platzes. Shinji riß kurzentschlossen die Tür auf.

Asuka blickte verärgert von ihrem Zeichenblock auf.

Dann sah sie den Jungen in seinem schmutzigen, verlotterten Nachthemd, ohne Schuhe, mit rabenschwarzen Füßen und auch ansonsten reichlich verdreckt vor sich stehen.

"Mein Gott... Shinji...?"

Der Junge nickte und wollte eben zu einer Erklärung ansetzen...

"SHINJI!!!!"
 

Asuka ließ den Block fallen, sprang auf, raste auf den Jungen zu und fiel ihm derart vehement um den Hals, daß er beinahe zusammen mit ihr umgekippt wäre.

"Shinji..." schluchzte sie, während ihr Tränen in die Augen stiegen, "ich... ich..."

"Ganz ruhig", murmelte der Junge und legte ihr vorsichtig die Hände auf die Schultern, "ganz ruhig. Es wird alles gut werden."

"Ich... ich dachte", meinte das Mädchen mit zitternder Stimme, "ich hätte dich verloren!"

Shinji nickte und befreite sich sanft aus ihrem Griff. "Hör mir zu", sagte er, "ich bin zwar wieder da, aber noch ist nicht alles vorbei. Und im Moment habe ich nicht genug Zeit, dir alles zu erklären. Aber ich muß eins wissen, ganz dringend." Er wandte sich um und deutete mit der Hand nach draußen, wo Ieiaiel gerade wütete. "Was siehst du da vorne?"

Asuka blinzelte verwirrt und blickte abwechselnd zwischen Shinji und dem Wirbelsturm hin und her. "Die exobiologische Sektion", sagte sie. "Wieso?"
 

"Das dachte ich mir", murmelte der Junge. "Hast du ein PersoKom hier?"

"Ja", antwortete das Mädchen, "aber wozu? Wen willst du..."

"Schick einen Notruf an die Verteidigungszentrale", bat Shinji, "und sag ihnen, Rei solle sofort hierher zu dir kommen."

Asuka schüttelte verständnislos den Kopf. "Was ist denn los?" fragte sie. "Warum willst du Rei..."

"Keine Zeit, Asuka", drängte der Junge, "in ein paar Minuten erscheint hier ein Engel, und dann wird es diesen Moment hier nie gegeben haben!"

Das Mädchen schluckte, ging rasch zum Schrank, öffnete ihn und nahm das PersoKom heraus.
 

---
 

"Willst du mich verschaukeln?!"

"Nein, verdammt!" brüllte die Stimme Asukas über den Kommunikator. "Shinji ist hier bei mir, und er sagt, Rei solle sofort hierher kommen!"

Aoba Shigeru verzog das Gesicht. "Wenn Shinji bei dir ist", sagte er, "dann will ich mit ihm sprechen."

"Moment", ertönte die Stimme des Mädchens. Ein paar Sekunden vergingen, dann hörte der Operator, wie sie "Wieso denn das?" sagte und danach ein Seufzen von sich gab.

"Shinji meint", erklärte sie, "du wärst noch tot und könntest ihn deshalb nicht hören."

Aoba verstummte überrascht. "Was soll denn das für ein dummer Witz sein?" fragte er.

"DAS IST KEIN WITZ!!!" schrie Asuka. "Und jetzt mach schon und schick mir Rei hinüber, oder wir sind alle tot!!!"

Das Mädchen klang so ernst und hysterisch, daß der Operator sich entschloß, trotz ihres wahnsinnigen Gehabes ihrem Wunsch vorerst einmal zu entsprechen.

Nur sicherheitshalber.
 

---
 

"Kannst du mir wenigstens jetzt erklären", fragte Asuka enerviert, "was hier vorgeht? Solange wir noch auf Rei warten..."

Shinji nickte knapp. "Der Engel, der gleich erscheinen wird", sagte er, "ist Ieiaiel, der Engel der Zukunft. Er sieht aus wie ein Wirbelsturm und zerschmettert alles, was er findet. Aber im Gegensatz zu den anderen Engeln, bewegt er sich nicht vorwärts, sondern rückwärts in der Zeit!"

"Und das heißt?"

"In dem Moment", erklärte der Junge, "in dem er erscheint, wird er bereits sein Werk vollendet haben - weil er in dem Moment, in dem er erscheint, schon immer hier war!"

"Das verstehe ich nicht", sagte Asuka.
 

Shinji holte tief Luft. "Paß auf", sagte er. "Behaupten wir mal, der Engel erscheint in exakt zehn Minuten von jetzt an. Solange, bis er erscheint, ist er noch nicht da. Aber in dem Moment, in dem er erscheint, bewegt er sich rückwärts durch die Zeit - und zehn Minuten NACH seiner Ankunft befindet er sich eigentlich zehn Minuten VOR seiner Ankunft - also jetzt! Und damit hat er sein Werk schon lange beendet, wenn er erscheint!"

"Für mich macht das immer noch nicht viel Sinn", stöhnte das Mädchen.

"Was macht nicht viel Sinn?" fragte Rei, während sie durch die Tür schwebte. "Und wo ist Shinji?"

Asuka deutete auf den Jungen "Na, hier drüben!" sagte sie.

"Was ist denn da?" fragten Rei und Shinji gleichzeitig, ohne einander zu sehen.

Das rothaarige Mädchen war nahe an einem Schreikrampf, als in diesem Moment Ieiaiel über die zerfetzte Leiche des blauhaarigen Mädchens fuhr.
 

"Rei!" keuchte Shinji auf. "Gott sei Dank! Hör zu..."

"Shinji?!" Überrascht riß das Mädchen die Augen auf. "Wo..."

"Keine Zeit für Erklärungen", unterbrach er sie. "In ein paar Minuten taucht ein Engel hier auf, und nur du kannst ihn aufhalten!"
 

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Ieiaiel hatte die letzten Gebäude - die vorderen Befestigungen - gerade hinter sich gelassen und machte sich nun auf den Weg über die Ebene. Rei schwebte ebenfalls in diese Richtung, und bei ihr Asuka und Shinji, der ihr die Richtung wies.

"Wie ich es mir dachte!" rief der Junge. "Das erste, was Ieiaiel angegriffen hat, war EVA-01. Jetzt weiß ich nur nicht, ob er auch direkt dort erschienen ist... Moment! Da vorne! Da ist er erschienen... da wird er erscheinen, meine ich?"

"Wie kannst du dir da so sicher sein?" meinte Asuka. "Die Stelle sieht nicht anders aus als..."

"Für dich nicht", unterbrach sie Shinji. "Aber ich sehe da einen großen, runden Krater. Da muß es sein! Schnell, Rei!"
 

Das blauhaarige Mädchen nickte und setzte die beiden anderen sanft ab. Dann schwebte sie auf EVA-01 zu, der immer noch stumm mit erhobenem Schwert über dem teilweise gespaltenen Körper Cadmiels stand. Shinji sah freilich nichts von dem Evangelion; für ihn sah es so aus, als spräche Rei ins Nichts.

"Klon Lilliths, Sproß meines Blutes, erwache und folge mir!"

Die Augen des Riesen glühten auf, und er knurrte tief.
 

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Ieiaiel erschien in einem Blitz, der vom Himmel fuhr.

Und im selben Moment, als er Gestalt annahm, spürte er, daß sein Kern, sein Innerstes, von etwas durchbohrt war, dem selbst er sich nicht widersetzen konnte.

Tzadkiels Waffe. Das Richtschwert Gottes.

Noch ehe der Engel der Zukunft seinen Marsch durch die Zeiten beginnen konnte, verging er wieder.
 

Kapitel 39
 

"Und du hast die ganzen letzten Tage in einer zerstörten Welt verbracht? Unglaublich!"

Shinji nickte langsam, während er genußvoll seine Suppe schlürfte. Es war das erste Mal seit zwei Wochen, daß er wieder etwas warmes in den Bauch bekam, und das Soba-Fertiggericht nach Misatos "Rezept" schmeckte ihm so gut wie noch nie etwas in seinem Leben.

"Und wie war das jetzt mit dem Engel?" hakte Ritsuko nach. "Warum haben wir nichts davon gemerkt, daß er da war, und wenn..."

"Siehst du nicht", fiel Asuka der Wissenschaftlerin ins Wort, "daß er jetzt erst mal was essen will? Da hat er schon mal so viel durchgemacht, und du läßt ihn trotzdem nicht in Ruhe!
 

Lächelnd blickte Ritsuko zum Mädchen hinüber. "Du hast recht", meinte sie, "entschuldige, Shinji. Wahrscheinlich hat das ganze wirklich noch ein bißchen Zeit. Iß ruhig erst mal auf und erhol dich ein wenig. Und sobald du bereit bist, kommst du zu mir und erzählst mir alles, was du über diesen letzten Engel hast herausfinden können, ja?"

"Geht in Ordnung", gab der Junge zwischen zwei Bissen zurück. "Dauert aber vielleicht dann etwas länger."

"Das macht nichts", sagte die Wissenschaftlerin und stand auf. "Ich habe Zeit. Also, bis nachher dann."

Shinji nickte und schluckte ein paar Nudeln herunter. "Bis nachher!"

Während die Wissenschaftlerin den Raum verließ, beugte sich Asuka vor, legte die Arme auf den Tisch und stützte das Kinn darauf. Nachdenklich blickte sie den Jungen an und legte den Kopf etwas schief.

Shinji ignorierte den seltsamen Blick etwa eine Minute lang, ehe er sich doch unbehaglich zu fühlen begann.

"Was ist denn?"
 

Das Mädchen blinzelte zweimal. "Eigenartig", sagte sie dann.

"Was?"

"Eigenartig, wie du aussiehst, wenn man zwei Wochen lang nur die Erinnerung an dich hatte."

Der Junge blinzelte irritiert. "Was ist denn anders?" wollte er wissen.

"Na ja..." Asuka grinste. "Dein Haar ist unordentlich, und dein Gesicht wirkt dünner, und deine Haut ist jetzt etwas dunkler. Du siehst nicht mehr so aus, wie ich dich in Erinnerung hatte."

Shinji lächelte. "Das gleiche könnte ich von dir sagen", gab er zurück.

"Wieso denn das?"

"Du hast etwas mit deinem Haar gemacht... warte... du hast dir den Pony kürzer schneiden lassen, richtig?"
 

Das Mädchen blickte ihn verblüfft an. "So was fällt dir auf?"

Der Junge nickte. "Ich habe in den letzten Tagen oft daran gedacht", sagte er, "was denn sein würde, wenn ich euch alle niemals wiedersehe. Und da hab ich mich auch daran zu erinnern versucht, wie ihr ausseht. Bei Fuyutsuki und Ritsuko war das nicht leicht. Aber Mama, Misato, und auch du, das war nicht schwer."

"Ooch, wie süß!" grinste Asuka. "Da hast du also die ganze Zeit an mich gedacht?"

"Na ja", meinte Shinji, "nicht die ganze Zeit. Nur abends, wenn ich mich irgendwo versteckt habe und hoffte, daß der Engel nicht kommt, während ich schlafe."
 

Das Mädchen lächelte ihn an. "Weißt du", sagte sie, "das reicht mir schon."
 

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Vorsichtig erhob sich Misato und setzte sich in ihrem Bett auf.

Die Induktionstherapie der Rhoani bewirkte wahre Wunder, soweit es sie anging. In nur zwei Tagen hatten sich ihre Muskeln weit genug aufgebaut, daß sie in der Lage war, sich wieder halbwegs normal zu bewegen. Sicher, sie war noch sehr zittrig und fahrig; und manchmal kam es ihr sogar vor, als würde sie manche Bewegungen zum ersten Mal durchführen, aber im großen und ganzen erholte sie sich sehr schnell.

Nun gut. Sitzen konnte sie schon wieder. Zeit, herauszufinden, ob sie auch schon wieder halbwegs gehen konnte. Egal, was die Ärzte sagten.
 

Langsam schwang die Frau ihre Beine aus dem Bett und stellte die Füße auf den Boden. Mit einer Hand hielt sie sich am kleinen Schrank fest, der daneben stand, und dann versuchte sie, sich zu erheben. Das erste Mal mißlang es ihr gründlich, doch im zweiten Versuch biß sie die Zähne zusammen und stand auf. Aber fast augenblicklich begannen ihre Beine zu zittern, und sie fiel wieder auf das Bett zurück. Einen Moment lang atmete sie durch, um nochmals Kraft zu sammeln. Sie wußte, daß sie stehen KONNTE.

Ein drittes Mal nahm sich all ihre Kraft zusammen und raffte sich auf, und als ihre Beine wieder nachzugeben drohten, klammerte sie sich mühsam am Schrank fest und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Bestimmt eine halbe Minute lang stand sie da und rang mit der Schwerkraft, bis sie sich endlich halbwegs sicher fühlte und ihren Griff allmählich löste. Gut. Das Stehen ging schon mal. Nun zum Laufen.
 

Unsicher trat Misato einen Trippelschritt vorwärts, um fast augenblicklich das Gleichgewicht wieder zu verlieren. Um ein Haar wäre sie vornüber gefallen, doch ihre ausgestreckten Arme erreichten die Tür, und es gelang ihr gerade noch einmal, sich abzustützen. Langsam schob sie sich näher an die Tür heran, richtete sich nochmals vollständig auf und atmete tief durch. So weit, so gut. Wohin nun?

Da fiel ihr Blick auf das Waschbecken und den Spiegel darüber.

"Oh Gott", murmelte sie, "ich sehe ja noch schlimmer aus, als ich mich fühle."
 

Langsam schob sich die Frau an der Wand entlang auf das Waschbecken zu und trat näher an den Spiegel heran. Ihr Haar war eine Katastrophe; verfilzt und unansehnlich. Aus ihrem Gesicht starrten sie zwei gerötete Augen an, und ihre Haut war blaß und stumpf.

Seufzend drückte Misato auf den Knopf für das kalte Wasser, stützte sich mit einer Hand ab und ließ sich den Wasserstrahl über die andere Hand rinnen. Dann griff sie nach dem Lappen, der an der Wand hing, machte ihn naß und begann, sich mit dem nassen, kalten Tuch über Gesicht, Arme und Hals zu rubbeln.
 

Die Entdeckung, die sie dabei machte, war so ungeheuerlich, daß ihr vor Überraschung die Kinnlade herunterfiel.
 

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"Darum denke ich, daß wir den Plan schon bald bekanntgeben können."

Langsam blickte Ritsuko in der Runde um sich. Zweifelnde Blicke fielen auf sie, und sie konnte es den anderen Ratsmitgliedern nicht verdenken. Immerhin wußten diese nicht, was sie wußte.

"Eine Bekanntgabe erfordert die Zustimmung des Rates", warf Lasatra ein, "und nachdem der Rat im Moment noch dezimiert ist, sehe ich nicht, wie das in nächster Zeit vonstatten gehen soll."

Tyrrin lächelte und beugte sich zu ihrer Ratskollegin hinüber. "Der Rat wird nicht mehr lange dezimiert sein", gab sie zurück. "Wie ich ihnen ja bereits mitgeteilt habe, handelt es sich nur noch um ein oder zwei Tage, bis auch das letzte der Ratsmitglieder das Bewußtsein wiedererlangt hat. Am längsten wird es wohl noch bei Fuyutsuki-Kôzô dauern, dessen fortgeschrittenes Alter den Heilungsprozeß etwas erschwert hat. Aber wie gesagt, nicht mehr lange, und wir sind wieder vollzählig."

"Bis auf Harmis", meinte Lasatra.
 

Peinliches Schweigen breitete sich im Rat aus, und es dauerte einige Sekunden, ehe Ritsuko wieder das Wort ergriff.

"Der Sens-alpha ist ein Sonderfall", sagte sie. "Daß wir schlecht Harmis auf diesem Posten belassen können, solange er noch von den Engeln bessessen ist, dürfte klar sein. Aber ich halte es auch für keine gute Idee, den Posten permanent neu zu besetzen - das bedeutet, daß wir die Hoffnung aufgeben, Harmis wieder für uns zu gewinnen. Wir dürfen nicht vergessen, daß uns nur noch ein Engel bevorsteht - wenn wir diesen besiegt haben, stehen die Chancen gut, daß wir hier endlich ein normales Leben werden führen können. Und was dann mit Harmis ist, kann niemand hier sagen."

"Ich frage mich trotzdem", warf Raimor ein, "was die anderen Bewohner der Kolonie von unserem Plan halten werden. So logisch und wissenschaftlich er auch begründet sein mag; die mangelnde ethische Komponente macht mir große Sorgen..."

Tyrrin schüttelte den Kopf. "Das sehe ich nicht so", sagte sie. "Wir müssen der Realität ins Auge sehen, daß die Menschen dieser Welt untereinander nicht zeugungsfähig sind und ihre einzige Chance darin besteht, Kinder mit uns zu haben. Das mag auf den ersten Blick abstoßend klingen, aber es wird kaum eine andere Möglichkeit geben. Alle Rhoani und alle Menschen werden Eizellen und Spermien spenden müssen, und wenn in Zukunft von zwei Partnern ein Kind gewünscht wird, dann wird die Zeugung mit dem jeweils anderen Erbgut vorgenommen."
 

"Wollen sie etwa den Rhoani verbieten", empörte sich Lasatra, "untereinander Kinder zu haben? Wollen sie einen potentiellen Vater dazu zwingen, ein fremdes Kind anzuerkennen, wenn er ein eigenes will? Und was tun sie, falls es doch zu Schwangerschaften zwischen zwei Rhoani kommt - sind das dann Verbrecher?"

Beruhigend hob Tyrrin die Arme. "Ganz ruhig", sagte sie beschwichtigend, "niemand hat vor, zwei Rhoani ihr persönliches Glück zu verbieten. Aber wir werden auf jeden Fall diese Vorgehensweise empfehlen. Wenn wir daran denken, daß es im Prinzip unsere Schuld war, daß die Menschen jetzt überhaupt in dieser Lage sind, glaube ich schon, daß wir eine gewisse moralische Verpflichtung haben, jetzt für sie ein Opfer zu bringen."

"Trotzdem lehne ich es ab", sagte die Astro-alpha, "solche Entscheidungen zu treffen, solange der Rat nicht vollzählig ist. Ich wäre einverstanden, Harmis vorübergehend durch den Sens-beta vertreten zu lassen, wenn sichergestellt würde, daß..."
 

In diesem Moment unterbrach sie ein leises Surren von Tyrrins PersoKom.

Die Ärztin hob den Arm. "Ja?"

"Med-alpha", ertönte eine besorgte Stimme, "hier spricht Med Corian. Sie werden wegen eines Notfalls auf der Krankenstation gebraucht."

Tyrrin nickte. "Ich bin unterwegs", sagte sie, stand auf und blickte in die Runde. "Sie werden mich hoffentlich entschuldigen..."
 

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"Nun, hast du dich entschieden?"

Harmis lächelte und blickte das blauhaarige Mädchen vor sich an. "Was macht das für einen Unterschied?" sagte er. "Du weißt, was meine Aufgabe ist und daß ich sie erfüllen werde. Und auch, wenn ich jetzt behaupten würde, ich wollte der Menschheit nichts Böses, wüßtest du, daß es nicht wahr ist."

"Es gibt sehr wohl eine Entscheidung", gab Rei zurück. "Und nur, weil du sie verleugnest, heißt es nicht, daß du nicht die Wahl hättest. Du hast die Stimme Gottes vernommen, aber das zwingt dich nicht dazu, so zu handeln, wie er es von dir verlangt. Wie ich wirst auch du nur von deinen Überzeugungen geleitet. Meine Überzeugung ist es, daß Schicksale, die gerettet werden können, nicht dem Jenseits überantwortet werden dürfen. Und deine?"
 

Der Junge seufzte. "Meine Überzeugung ist es", sagte er, "daß Gottes Wille geschehen soll. Und die Engel sind von ihm geschickt, um seinen Willen auszuführen; also ist es meine Aufgabe, ihnen den Weg zu bereiten."

"Aber die Engel kommen nicht", warf das Mädchen ein, "weil Gott sie gesandt hat. Sie kommen, weil ich sie gerufen habe - weil ich Angst um die Seelen der Menschen hatten. Mir ist die Bindung zu den Menschen viel wert - vielleicht mehr als mein eigenes Leben. Willst du bestreiten, daß du auch so fühlst?"

Harmis blickte sie ernst an. "Natürlich fühle ich das auch", sagte er. "Ich bin selbst unter Menschen aufgewachsen, und das bedeutet mir ebenfalls viel. Aber ich sehe auch den entsetzlichen Frevel, den sie begangen haben - mehrfach begangen haben! Sie wollten sich über Gott erheben und selbst beseelte Wesen schaffen, um damit selbst zu Göttern zu werden, und dafür müssen sie bestraft werden."
 

"Du selbst bist eines dieser ,beseelten Wesen'", sagte Rei leise. "Sag, hat jemals ein Mensch von dir verlangt, ihn wie einen Gott zu verehren?"

Der Junge zögerte. "Natürlich nicht... aber das ändert nichts an..."

"Das ändert alles", widersprach das Mädchen. "Die Menschen wollten keine Götter sein, und sie wollten keine neuen Götter schaffen. Sie haben nur versucht, das zu tun, wozu Gott ihnen alle Mittel gegeben haben: die letzten unerforschten Geheimnisse zu ergründen. Und eines dieser Geheimnisse waren eben Gottes Schöpfungen. Hätte Gott nicht gewollt, daß sie dies tun, hätte er ihnen keinen Verstand geben dürfen!"
 

"Aber Gott hat gesagt..."

"Daß sein Wille geschehen soll, richtig", nickte Rei. "Aber kannst du sicher sagen, daß du weißt, was sein Wille ist?
 

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"Sie hat WAS?!"

Corian nickte der Med-alpha ernst zu. "Sie hat anscheinend durchgedreht", sagte er, "und eine Pflegerin als Geisel genommen.

"In ihrem Zustand?" meinte Tyrrin fassungslos. "Unfaßbar. Und welche Forderungen hat sie?"

"Sie verlangt, mit ihnen zu sprechen", gab der Arzt zurück.

Die Med-alpha nickte langsam. "Gut", sagte sie, "dann werde ich das wohl mal tun. Sie haben richtig entschieden, keinen Sicherheitsalarm auszulösen, Corian, aber halten sie sich schon mal bereit. Wenn es mir nicht gelingt, Katsuragi-Misato zu beruhigen, werden wir möglicherweise doch die Pioniere brauchen."
 

Der Arzt nickte zögernd, und Tyrrin schritt an ihm vorbei auf die Tür zu Misatos Krankenzimmer zu, die offenstand.

"Wer ist da?!" ertönte von innen die drohende Stimme der Frau.

"Tyrrin", sagte die Ärztin. "Sie wollten mich sehen?"

"Kommen sie vor die Tür, aber langsam!"

Die Med-alpha gehorchte, trat näher und warf einen Blick in das Krankenzimmer. Die Lager sah nicht gut aus: Auf dem Bett saß Misato und hatte einen Arm um den Oberkörper von Pflegerin Renal gelegt, die neben ihr hockte. In ihrer Hand hielt die Frau eine große, spitze Glasscherbe, deren Ende mit etwas Stoff umwickelt war. Die Spitze der Scherbe hielt sie an den Hals der jungen Rhoani gedrückt, und es war bereits ein dünner Strom Blut dort zu sehen, wo das Glas die Haut geritzt hatte.
 

"Was wollen sie?" fragte Tyrrin leise.

"Die Wahrheit", zischte Misato. "Was ist mit meinem Körper geschehen?"

Die Ärztin zog die Augenbrauen hoch. "Ich verstehe nicht, worauf sie..."

"Keine Spielchen!" fuhr sie die Frau an. "Ich weiß genau, daß das hier nicht mein richtiger Körper ist! Was haben sie mit meinem alten Körper gemacht?"
 

Kapitel 40
 

Tyrrin preßte die Lippen zusammen, ließ aber ansonsten mit keiner Geste und keinem Blick erahnen, was in ihr vorging.

"Wie kommen sie darauf", fragte sie Misato, "daß ich etwas mit ihrem Körper getan haben sollte?"

"Weil ich nicht so dämlich bin wie sie", fauchte die Frau zurück. "Ich kenne meinen Körper gut genug, um Veränderungen daran zu bemerken; oder wollen sie mir weismachen, daß mir der Engel eine kosmetische Operation verpaßt hat?"

Tyrrin lächelte - damit hatte sie gerechnet. "Ach, sie spielen auf ihre Vernarbung auf dem Brustkorb an!" sagte sie. "Meine Güte - das ist doch kein Grund, so gewalttätig zu werden. Dafür bin ich in der Tat verantwortlich. Wir hatten sie zwei Wochen auf der Intensivstation, und bei der Gelegenheit haben wir sie im Rejuvenator gehabt."

"Rejuvewas?"
 

"Rejuvenator", meinte die Med-alpha. "Ein Gerät zur Lebenserhaltung, welches die Selbstregenerationskräfte des Körpers unterstützt. Narbengewebe wird sehr oft währenddessen abgestoßen und durch frisches Gewebe ersetzt." Das war im Prinzip nicht gelogen - allerdings wäre es ein Wunder gewesen, hätte der Rejuvenator eine derart alte und vor allem große Narbe wiederherstellen können.

Misato blinzelte mißtrauisch. "Und was für Wunderdinge kann dieser ,Rejuvenator' noch bewirken?" fragte sie. "Heilt er auch Veränderungen des Körpers, die nicht unbedingt Verletzungen sind? Tumore und Mißbildungen zum Beispiel?"

"Das leider nicht", antwortete Tyrrin lächelnd. "Wir sind weit von einem Allheilmittel entfernt und müssen in solchen Fällen immer noch selbst..."

"Dann lügen sie!" gab die Frau zurück und drückte die Pflegerin fester an sich. Die Glasscherbe in ihrer Hand bewegte sich ein Stück am Hals der jungen Rhoani und hinterließ eine kleine rote Linie.
 

"Ich lüge nicht!" meinte die Med-alpha verzweifelt. "Warum wollen sie mir nicht..."

Misato schüttelte langsam den Kopf. "Melanome", sagte sie.

"Was?"

"Ach, kennen sie so etwas auf Rhoan nicht?" fragte die Frau. "Zu schade. Auf der Erde hatten wir seit dem letzten Jahrzehnt unseres zweiten Jahrtausends ein gewisses Problem mit Hautkrankheiten, die durch übermäßige Sonneneinstrahlung verursacht wurden. Viele Leute erkrankten damals an einer speziellen Form von Hautkrebs, der auf den ersten Blick aussah wie ein gewöhnliches Muttermal, bis es sich plötzlich veränderte. Ich hatte zum Glück nie solche Probleme, aber ich hatte immer eine Heidenangst davor, eines Tages so was zu kriegen. Und ich kenne seither sämtliche Muttermale auf meinem Körper auswendig.

Das hier ist nicht mein Körper!"
 

---
 

Asuka blickte verblüfft aus dem Fenster, als draußen im Zentrum der Kolonie ein kleiner Trupp von Pionieren in Gefechtskleidung vorbeirannte.

"Sag mal, Shinji", meinte sie zum Jungen, der hinter ihr im Zimmer saß, "du hast nicht zufällig wieder einen Engel gespürt, oder?"

Shinji blickte auf. "Nein, wieso?"

"Da draußen scheint gerade so was wie eine Art Alarm zu sein", sagte das Mädchen und deutete aus dem Fenster. "Oder die Rhoani halten gerade ein militärisches Manöver ab."

Der Junge stand auf, trat neben sie und blickte ebenfalls aus dem Fenster. "Seltsam", sagte er. "Sie scheinen auf dem Weg zur Krankenstation zu sein. Ob wieder was mit Harmis ist?"

Asuka drehte sich zu Shinji um. "Sollen wir mal nachschauen?" fragte sie.

Der Junge nickte. "Ist bestimmt besser so", sagte er. "Vielleicht brauchen sie uns sowieso gleich draußen."
 

Die beiden traten aus der Wohnbarracke heraus und wollten eben den Pionieren folgen, als sie sahen, daß sie dabei nicht die einzigen waren: In einiger Entfernung rannte eine Gestalt aus der Richtung der Versorgungsgebäude über den Platz und schien sich die größte Mühe zu geben, mit den Pionieren aufzuschließen. Hinter ihr liefen vier oder fünf andere Leute, die hinter ihr herwinkten und ihr verschiedene Sachen zuriefen, doch die Gestalt schien nur Augen für die rhoanischen Sicherheitskräfte zu haben.

Shinji mußte grinsen.
 

Ohne weiteres Zögern rannte er auf die Gestalt zu, winkte heftig und brüllte hinüber: "He, Kensuke, hier drüben!!!"
 

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"Ich wußte es doch!!!"

Mit einem wütenden Blick funkelte Misato Tyrrin an. Die Ärztin blickte nur ernst und fest zurück.

"Es gab keine andere Möglichkeit", sagte sie ruhig. "Nachdem der Engel ihre Seele entfernt hatte, war ihr Körper nicht mehr lebensfähig. Wir konnten ihn nicht wieder herstellen. Also blieb uns nichts anderes übrig..."

"...als ihn zu klonen", fauchte Misato. "Sie verdammtes Monstrum... ich hätte ihnen niemals vertrauen dürfen! Sie und ihre großartige Wissenschaft - kennen sie denn gar keine ethischen Grenzen?"
 

Die Med-alpha verschränkte die Arme. "Ich bin Ärztin geworden", sagte sie mit fester Stimme, "um Leben zu retten und um nicht tatenlos zuzusehen, während andere Menschen sterben."

"Sie haben mein Leben nicht gerettet!" schrie Misato zurück. "Im Gegenteil, sie haben es zerstört! Sie haben meine Seele aus meinem Körper gerissen und sie in einen verdammten Klon gesteckt!"

"Ihr ,neuer' Körper", gab Tyrrin zurück, "wenn sie ihn so nennen wollen, entspricht von den Erbanlagen zu hundert Prozent ihrem alten. Es gibt keinen Unterschied..."

Die Frau schnaubte verächtlich. "Und ob es den gibt", widersprach sie. "Das hier ist nicht mein Körper! Mein Körper ist tot, und ich sollte jetzt auch tot sein!"

"Wären sie jetzt lieber tot?" fragte die Ärztin kalt zurück.
 

"Darum geht es gar nicht!" fuhr sie Misato an. "Sie haben nicht das Recht, mich einfach so neu zu erschaffen, weil es ihnen gefällt und weil sie mich vielleicht noch brauchen! Sie wußten nur zu gut, daß ich ihre verdammte amoralische Wissenschaftsgläubigkeit ablehne, und trotzdem haben sie es sich herausgenommen, einfach so über meine Existenz zu entscheiden!"

Tyrrin senkte den Blick. "Hören sie..." versuchte sie zu erklären.

"Sie haben mich sogar noch belogen", fuhr die Frau eisig fort, "weil sie wußten, daß ich nicht zustimmen würde. Aber das sieht ihrem Volk mal wieder ähnlich - sie wissen ja immer, was das Beste für andere ist. Ich wüßte nur zu gerne, wie sie den Rat davon überzeugt haben."

"Der Rat weiß nichts davon", sagte die Ärztin.
 

Einen Moment schwieg Misato überrascht. Dann verengten sich ihre Augen wütend. "Sie miese kleine..."

"Nur Akagi-Ritsuko und ich", fügte Tyrrin hinzu.

Die Frau blickte sie verdutzt an. "Sie lügen doch..."

"Nein, das ist die Wahrheit", sagte die Ärztin. "Die Entscheidung für das Klonprojekt - denn außer ihnen haben wir noch über neunhundert andere Leute geklont, Menschen wie Rhoani - fiel zwischen ihr und mir. Wir waren uns beide der ethischen Probleme sehr wohl bewußt, egal wie sie von uns denken. Und darum hielten wir es für besser, die Aktion im Geheimen durchzuführen. Außer uns ist nur noch das medizinische Stammpersonal eingeweiht gewesen - und nun auch sie und Pflegerin Renal."
 

Misato schüttelte langsam den Kopf. "Wie konnten sie nur glauben", fragte sie, "daß sie damit durchkommen würden?"

"Entweder das", gab Tyrrin zurück, "oder unzählige Leute aufgeben. Wir haben uns für die letztere Lösung entschieden. Und bisher sind wir damit durchgekommen, wie sie es ausdrücken. Nebenbei", sie blickte zur Seite, "ich möchte sie darum bitten, ihren Widerstand langsam aufzugeben. Hier sind inzwischen ein paar Leute angekommen, deren Aufgabe es ist, für die Sicherheit zu sorgen, und ich würde es nur ungerne sehen, wenn hier noch jemand ernsthaft verletzt wird."

Die Frau senkte den Blick. "Dann habe ich aber noch eine... nein, zwei Forderungen."

"Sprechen sie."

"Der Rat wird über diese ganze Angelegenheit hier informiert", verlangte Misato. "Wir haben keine Institutionen gewählt, um danach über ihre Köpfe hinweg zu entscheiden. Und zweitens müssen zumindest alle... betroffenen Leute erfahren, was mit ihnen passiert ist. Sie müssen sich selbst entscheiden können, wie sie damit umgehen. Können sie mir das zusagen?"

Die Med-alpha nickte. "Ich kann ihnen immerhin zusagen", versprach sie, "daß ich dem Rat diese Forderung überbringe. Reicht ihnen das?"
 

Die Frau nickte wortlos, ließ die Spiegelscherbe sinken und die junge Pflegerin aus ihrem Griff frei.

Auf ein Nicken von Tyrrin hin stürmten die Pioniere das Krankenzimmer.
 

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"Mensch, toll, daß du auch hier bist!"

Kensuke knuffte Shinji freundschaftlich in die Seite und blickte ihn von oben bis unten an. "Steht dir", befand er. "Diese Uniformen machen richtig was her!"

"Es sind Overalls", meinte Asuka süffisant. "Alle hier tragen so was. Das hat nichts mit irgendwelchen Uniformen zu tun."

Kensuke grinste sie an und kniff dabei die Augen ein wenig zusammen. "Du siehst auch nicht gerade schlecht aus", meinte er. "Endlich mal ein Partnerlook zwischen dir und Shinji, der zu euch beiden paßt."

"Das ist kein Partnerlook!" warf Shinji rasch ein und errötete etwas. "Wie Asuka schon gesagt hat... alle hier tragen diese Overalls!"
 

"Und was waren das dann vorhin für coole Panzeranzüge?" wollte der sommersprossige Junge wissen.

Asuka grinste. "DAS waren Uniformen", sagte sie. "Das tragen hier die Pioniere."

"Coooool! Können wir die uns mal ansehen?"

"Wir wollten ihnen eben auch hinterher", sagte Shinji. "Gehen wir doch zusammen!"

Kensuke nickte, und die drei machten sich auf den Weg zur medizinischen Station.
 

"Sagt mal", wollte der sommersprossige Junge wissen, während sie gemeinsam liefen, "hier ist nicht zufällig eine Brille aufgetaucht, die keinem gehört, oder?"

Asuka sah ihn schief an. "Bist du blöd?" wollte sie wissen. "Wie soll irgend jemand nach so viel Zeit noch deine Brille wiederfinden?"

"Wieso nach so viel Zeit?" fragte Kensuke.

"Es sind etwa achtzig Millionen Jahre seit dem Third Impact vergangen", meinte Shinji.

Der sommersprossige Junge riß die Augen auf. "Coooooool!" sagte er. "Dann gibt's wahrscheinlich gar keine Brillen mehr, oder?"

"Keine Ahnung", gab der andere Junge zurück. "Ich glaube aber, die können inzwischen deine Augen so operieren, daß du keine Brille mehr brauchst."

"Cool!"
 

"Sag mal", warf Asuka plötzlich ein, um das Thema zu wechseln, "sind Touji und Hikari auch schon hier?"

Kensuke schüttelte den Kopf. "Ich hab mit ihnen nicht viel Kontakt gehabt", sagte er. "Touji hat seine Schwester gefunden und war fast immer mit ihr zusammen, und Hikari auch. Ich glaube, die drei zusammen sind schon vollständig; da hätte ich bestimmt nur gestört."

"Und was hat dich hierhergebracht?" wollte Shinji wissen.

Der sommersprossige Junge lächelte. "Na ja, einmal hab ich mich gefragt, wo Misato steckt. Und dann war plötzlich auch noch Asuka weg... da mußte ich doch einfach suchen..."

Asuka errötete leicht, und Shinji blickte überrascht zu ihr. "Gibt's das was, das ich wissen sollte?" fragte er.

"Bist du blöd?" fuhr ihn das Mädchen an, aber es klang nicht wirklich verärgert, eher peinlich berührt. "Wir waren halt beide in der großen Vereinigung und haben uns dort ein paar Mal gesehen!"

"Na ja", fügte Kensuke hinzu, "wir haben uns eigentlich die ganze Zeit über gesehen. Wir waren ziemlich oft..."
 

"Schaut mal, da vorne ist Misato ja!" unterbrach ihn Asuka rasch und wies mit der Hand auf den Ausgang der Krankenstation. Tatsächlich trat sie gerade aus der Tür, gestützt von einem der Pioniere, und sechs weitere folgten ihr, die Waffen im Anschlag.

"Was ist denn da los?" fragte Shinji. "Wieso wird sie von bewaffneten Leuten eskortiert?"

Kensuke schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. "Die sind bewaffnet?" fragte er. "Das ist aber komisch. Sag mal, haben sie die Waffen einstecken?"

"Nein", gab Shinji zurück, "sie tragen sie direkt bei sich, also im Arm."

"Und sehe ich das richtig", fragte Kensuke nach, "daß da sechs Leute hinter Misato laufen und einer neben ihr?"

Shinji nickte. "Ganz recht."
 

"Dann eskortieren diese Leute sie nicht", stellte der sommersprossige Junge fest und blieb stehen.

"Und was sonst?" wollte Asuka wissen.

Kensuke blickte zu ihr. "Sie führen sie ab", sagte er.
 

Kapitel 41
 

"Aber... Misato? Das kann ich einfach nicht glauben!"

Ritsuko senkte den Blick und nickte ernst. "Es ist aber wahr", sagte sie. "Misato hat kurz nach ihrem Erwachen plötzlich aggressiv reagiert und eine Krankenpflegerin angegriffen - vielleicht eine Spätfolge des Angriffs von Cadmiel. Tyrrin hat mir fest versprochen, daß sie das näher untersuchen wurd, aber bis das geklärt ist, muß Misato unter Arrest gestellt werden."

"Aber wieso bleibt sie dann nicht einfach auf der Krankenstation?" wollte Asuka wissen. "Dieser Arsch Harmis ist doch auch dort unter Bewachung!"

"Und was wäre", meinte Ritsuko, "wenn Harmis sie überhaupt erst dazu gebracht hätte, jemand anderen anzugreifen? Wir wollen nicht riskieren, sie in seine Nähe zu lassen, bis wur sicher wissen, was mit ihr passiert ist."
 

Shinji nickte langsam. "Ich verstehe", murmelte er. "Ich nehme also an, wir können Misato in der nächsten Zeit auch nicht sehen, oder?"

"Da hast du leider recht", stimmte ihm die Wissenschaftlerin zu, "zumindest mal für die nächsten ein oder zwei Tage. Wenn wir uns sicher sind, daß von ihr keine unmittelbare Gefahr ausgeht, kann sie natürlich Besuch bekommen. Aber vorher..." Sie schüttelte bedauernd den Kopf.

"Zu schade", meinte der Junge. "Ich hätte sie wirklich gerne wieder einmal gesehen."
 

Ritsuko nickte. "Sie dich auch", gab sie zurück, "da bin ich mir ganz sicher." Sie lächelte und schien einen Gedanken zu bekommen. "Vielleicht hätte das sogar etwas geändert..." fügte sie leise hinzu.

"Hm?"

"Oh... nichts..."
 

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"Das ist eine Ungeheuerlichkeit, und sie wissen es beide!"

Anklagend zeigte Lasatra auf Tyrrin und Ritsuko, die ebenfalls aufrecht am Ratstisch standen, aber nicht wie üblich an ihren Plätzen, sondern im Zentrum. Der Rest des Rates saß um sie herum versammelt, mit Sens-beta Karzan anstelle von Harmis als Vertreter seiner Sektion. Misato fehlte noch völlig.

"Es gab kaum eine andere Wahl", verteidigte sich die Med-alpha, "wenn wir die Stabilität dieser Kolonie retten wollten. Hätten wir den Leuten hier mitteilen müssen, daß der Angriff Cadmiels das Leben von über neunhundert Leuten gekostet hatte, dann wäre eine Panik ausgebrochen, gegen die die letzten Ereignisse gar nichts waren! Sehen sie sich nur einmal an, welche Auswirkungen alleine die fünfunddreißig Opfer Moraels hatten!"
 

Karzan hieb wütend auf den Tisch. "Und deshalb setzen sie sich einfach so über den Rat hinweg und beschließen auf eigene Faust, die Körper einfach neu zu züchten?" fuhr er die Ärztin an und schüttelte den Kopf. "Sie kennen unsere Regeln bezüglich dem Einsatz der Kloning-Technologie sehr genau - an diesen Regeln haben ganze Generationen von Ethikern gearbeitet - und sie wissen, daß der Rat dem niemals zugestimmt hätte!"

"Ohne das Eingreifen Tyrrins gäbe es jetzt keinen Rat!" warf Ritsuko ein. "Sehen sie sich doch nur einmal an, wie wenig wir in den letzten sechzehn Tagen zustandegebracht haben, als wir nicht vollzählig waren. Die Entscheidung, welche sie und ich gemeinsam getroffen haben, mag ihren ethischen Ansprüchen nicht genügen, Sens-beta, aber sie hat dafür gesorgt, daß wir überhaupt wieder in der Lage sind, weitere Entscheidungen zu treffen. Und ich denke, alleine schon das rechtfertigt unser Handeln."

"Dem kann ich nicht zustimmen", widersprach Fuyutsuki ruhig und beugte sich in seinem Antigrav-Stuhl ein Stück vor.
 

Die Augen des Rates richteten sich auf den grauhaarigen Mann, dessen Klonprozedur erst an diesem Morgen beendet worden war, aber darauf bestanden hatte, sofort und unverzüglich eine Ratssitzung einzuberufen.

"Es geht hier nicht um diese Kolonie", sprach er leise, "oder um einzelne Personen, und auch nicht um ethische oder moralische Grundsätze. Es geht ausschließlich darum, daß sie beide, Ritsuko und Tyrrin, sich bei einer Entscheidung über den Rat hinweggesetzt haben, bei der sie ihn hätten konsultieren müssen. Das wird ihnen beiden bekannt sein, und die Tatsache, daß der Rat dem ihrer Ansicht nach nicht zugestimmt hätte, entschuldigt diese Handlung nicht.

"Mein Vorschlag wäre, sie beide wegen ihres Verstoßes aus dem Rat auszuschließen und ihnen, Tyrrin, außerdem ihr Amt als Med-alpha zu entziehen. Damit sollte aufgewogen sein, daß sie nicht bereit waren, die Autorität des Rates anzuerkennen und sich unserer Entscheidungskraft anzuvertrauen. Würden sie ein solches Urteil akzeptieren, wenn der Rat es fällen sollte?"

Fuyutsuki blickte fragend zu den beiden Frauen hinüber, die sich kurz anblickten und danach nickten.
 

"Soll der Vorschlag so zur Abstimmung gelangen", fragte der Kommandant nun an den Rest des Rates gewandt, "oder soll dem noch etwas hinzugefügt werden? Ich wiederhole noch einmal, dieses Urteil bezieht sich bisher ausschließlich auf das Übergehen des Rates und hat noch nichts mit dem Klonen der Opfer Cadmiels zu tun."

Niemand meldete sich.

"Dann darf ich jetzt um das Votum des Rats bitten", fuhr er fort. "Sie auch, Tyrrin und Ritsuko. Wer ist für den Vorschlag?"

Alle hoben die Hände, bis auf Raimor und Ritsuko.

"Wer ist dagegen?"

Raimor hob als einziger die Hand.

"Ritsuko, und sie?"

"Ich enthalte mich der Stimme", sagte die Frau. "Ich werde nicht über mich selbst abstimmen."

Fuyutsuki nickte. "Akzeptiert", sagte er. "Dann stelle ich fest, daß der Rat bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung beschlossen hat, sie beide aus dem Rat zu entfernen und ihnen, Tyrrin ihr Amt als Med-alpha unverzüglich zu entziehen. Med-beta Oratas wird in ihr Amt erhoben und sich einen neuen Stellvertreter suchen."
 

Der Kommandant lehnte sich wieder in seinem Antigrav-Stuhl zurück. "Kommen wir nun zum zweiten Punkt", sagte er, "die Tatsache, daß wir insgesamt neunhunderteinundzwanzig Klone unter uns haben. Wir müssen nun einerseits entscheiden, was mit diesen Leuten geschieht - wozu auch ich zähle - und was wir deswegen mit ihnen beiden tun.

"Ihr eigentliches Handeln - das Klonen der Körper der von Cadmiel Getöteten - wiegt meiner Ansicht nach weniger schwer. Wie sie ausgeführt haben, geschah das aus den besten Absichten, und was mich angeht: ich empfinde sehr viel mehr Dankbarkeit darüber, wieder unter den Lebenden zu sein, als mich der Gedanke abstößt, ein künstlich erschaffenes Wesen zu sein. Ich kann allerdings nicht wissen, wie sich andere in dieser Situation fühlen... weder die anderen geklonten Leute, noch sie hier im Rat, die in Zukunft mit ihnen zusammenleben müssen."
 

Fuyutsuki blickte in die Runde. "Ich gebe die Diskussion über diese Fragen hiermit frei."
 

---
 

"Du wolltest mich sehen?"

Harmis nickte langsam und lächelte. "Ich freue mich", sagte er, "daß du tatsächlich gekommen bist."

"Es gab keinen Grund, nicht zu kommen", gab Rei leise zurück.

"Und dafür einen um so besseren Grund, ganz schnell zu kommen", schmunzelte der Junge, "richtig?"

Das blauhaarige Mädchen nickte. "Für den Fall, daß du dich entschieden hast", gab sie zurück.
 

Harmis seufzte leise. "Das ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst", sagte er. "Du hast schon recht, wenn du sagst, daß Gottes Wille mitunter... unergründlich ist und es für mich sehr schwer ist, seine Absichten sicher zu deuten. Aber ich kann nicht darüber hinwegsehen, daß die Engel seine Geschöpfe sind."

"Aber ich habe sie gerufen", warf Rei ein.

"Nur wären sie nicht gekommen", lächelte der grauhaarige Junge, "wenn Gott es nicht zugelassen hätte. Dadurch, daß er deinem Wunsch entsprochen hat, hat er zugleich gesagt, daß es seinem Willen entspricht, was du verlangst."

Das Mädchen schüttelte den Kopf. "Die zwölf Engel der Läuterung waren meinem Ruf übertragen worden", sagte sie, "als ich zur Hüterin der Seelen wurde. Diese Macht zu entfesseln, lag einzig und alleine in meiner Entscheidung, nicht in der Gottes."

"Dann interessiert dich wohl auch nicht", meinte Harmis, "daß deine sogenannte ,eigene Entscheidung' eine rhoanische Prophezeiung erfüllt?"

Rei blickte verwirrt. "Was?!"
 

"Vierhundert Tage bilden ein rhoanisches Jahr", sagte Harmis, "und vierhundert Jahre bilden eine Jahreswende. Der Begriff stammt aus der alten Geschichte, als man so große Zeitspannen noch nicht richtig erfassen konnte. Man nahm damals an, daß immer am Ende einer Jahreswende alles Alte enden würde und eine neue Ära beginnen würde.

"Und vor fast genau einer Jahreswende hat die ,Vagabund', unser Raumschiff, damals Rhoan verlassen und sich auf die Reise begeben. Genauer gesagt, vor exakt dreihundertneunundneunzig Jahren und dreihundertdreiundneunzig Tagen.

"Auf deinen Ruf hin erschien vor dreiundneunzig Tagen Aftiel, der Engel der Dämmerung. Der erste Engel. Und auf den selben Ruf hin wird in sechs Tagen Derdekea erscheinen, die himmlische Retterin..."
 

"...und damit versuchen, die Ära der Rhoani hier zu beenden", erkannte Rei entsetzt.

Der Junge nickte. "Und nun sag selbst", meinte er lächelnd. "Ist das nicht himmlische Vorsehung?"
 

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Die Tür öffnete sich mit einem leisen Zischen, und Misato sah auf.

"Das wurde ja auch mal Zeit", sagte sie. "Fünf Tage lang niemanden sehen dürfen und sich mit dem Nahrungsverteiler unterhalten müssen - das grenzt ja an Isolationsfolter!"

"Dann wird es sie freuen", meinte ein Schatten, der sich in die Tür schob, "daß sie jetzt vorbei ist."

"Kôzô!"
 

Die Frau sprang überrascht auf und trat auf den grauhaarigen Mann zu. Er schien noch etwas geschwächt, aber ansonsten in gutem Zustand zu sein.

"Wie geht es ihnen?" erkundigte sich die Frau besorgt.

Fuyutsuki lächelte. "Inzwischen wieder ganz gut", sagte er. "Ich komme leider nicht ganz so schnell in Form wie sie, aber allmählich kann ich wieder recht normal laufen. Ich höre, sie haben ihr Arrestzimmer als Trainingscenter mißbraucht?"

Misato grinste verlegen. "Na ja", sagte sie, "irgendwie mußte ich mich doch abreagieren. Ich hatte eine Stinkwut auf Tyrrin und Ritsuko - eigentlich hab ich die immer noch. Was hat denn so lange gedauert?"

"Der Rat mußte einiges beschließen", sagte der ältere Mann.

"Ja? Und was ist jetzt alles?"
 

Fuyutsuki blickte sie ernst an. "Zunächst einmal muß ich ihnen mitteilen", sagte er, "daß sie nicht länger Mitglied des Rates sind. Sie werden sicher verstehen, daß ihr Angriff auf die arme Krankenschwester kein wirklich gutes Licht auf sie geworfen hat. Zwar hat man angesichts der besonderen Situation, in der sie sich befanden, das als Affekthandlung bewertet und auf weitere Strafen verzichtet, aber trotzdem: Ein Ratsmitglied muß in der Lage sein, sich zu beherrschen und seine Handlungen zum Vorbild für andere zu machen. Dazu waren sie offensichtlich nicht fähig."

"Ich verstehe", sagte Misato leise. "Und... und was ist mit den anderen?"
 

"Tyrrin und Ritsuko sind ebenfalls aus dem Rat ausgeschlossen worden", sagte der ältere Mann. "Sie haben außerdem ihre Privilegien verloren und werden..."

"Das meinte ich nicht", unterbrach ihn die Frau. "Was ist mit den anderen Leuten, die wie sie und ich geklont wurden?"

Fuyutsuki senkte die Stimme ein wenig. "Der Rat hat entschieden", sagte er, "entsprechend ihrem Vorschlag alle Leute, die es betrifft, über das Klonprojekt zu informieren. Aber es wird keine offizielle Bekanntmachung vor den anderen erfolgen. Nach den Zwischenfällen mit Harmis wäre die Gefahr zu groß, daß sich die Stimmung gegen die Klone wendet und sie ausgegrenzt oder, noch schlimmer, angegriffen werden. Darum wird offiziell Stillschweigen darüber bewahrt."
 

"Können wir denn sicher sein", fragte Misato, "daß von uns bestimmt keine Gefahr ausgeht?"

"Nein", gab Fuyutsuki zurück und lächelte. "Aber kann man das überhaupt bei einem Menschen?"
 

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Vier Tage vergingen.

Med Corian war gerade dabei, routinemäßig einige Patientendaten zusammenzutragen, als ihn ein leises Signal aufhorchen ließ. Es kam von einer der Sensorkonsolen, die die biologischen Funktionen von ausgewählten Patienten überwachten und Abweichungen von den Normwerten meldeten. Es war kein Alarmsignal, und normalerweise hätte Corian es ignoriert. Aber es kam von einer Konsole, von der normalerweise gar nichts zu hören war, und das machte ihn doch ein wenig stutzig.

Der junge Arzt stand auf und schritt zu der Apparatur hin. Sie war auf die Überwachung der Biodaten einer isolierten Person eingestellt worden und zeigte an, daß sich die Werte von einem schlafähnlichen Ruhezustand langsam zu einem normalen Wachzustand erholten.

Das hatten sie noch nie, seit die Person eingeliefert worden war.
 

Corian aktivierte sofort sein PersoKom und stellte eine Verbindung zur medizinischen Zentrale her. "Psychiatrie hier", sagte er. "Wie es aussieht, wacht Ikari-Yui gerade eben auf!"
 

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Harmis spürte, wie die Kraft ihn durchströmte und sprengte ohne die geringste Anstrengung seine Fesseln.

"Es hat also begonnen."
 

Kapitel 42
 

"Mann, ich bin echt froh, dich wiederzusehen!"

Misato lächelte verschmitzt. "Gleichfalls, Shinji", sagte sie. "Ich hätte euch eigentlich schon vor vier Tagen wieder treffen können, aber ich brauchte noch etwas... Zeit, um mir über meine Lage klarzuwerden." Eigentlich hatte sie die vergangenen Tage damit verbracht, ihre Geschichte mit den Ärzten abzustimmen und um sich zusammen mit Fuyutsuki eine passable Erklärung für die Veränderungen an den Körpern der Klone auszudenken.

"Und was war jetzt mit dir?" brachte Asuka das Gespräch auch schon auf diesen Punkt.

"Na ja", meinte die Frau, "ich war nach dem Aufwachen sehr... schwach und verwirrt. Von den zwei Wochen, als meine Seele nicht in meinem Körper war, habe ich nicht viel mitbekommen, aber es war ein furchtbar... einsames Gefühl gewesen. Und als ich dann auf der Krankenstation aufwachte, immer noch alleine, und dann diese unbekannte Rhoani hineinkam, da hat mich etwas gepackt..." Sie blickte hilflos zu Boden. "Es tut mir jetzt alles furchtbar leid."
 

"Kopf hoch, Misato-san!" ermunterte sie Kensuke fröhlich. "Jetzt ist der ganze Alptraum ja vorbei, und sie sind wieder unter den Lebenden. Wenn es auch schade ist, daß man sie aus dem Rat geworfen hat, den sie selbst gegründet haben."

Misato lächelte. "Ich denke", sagte sie, "es würde den Leuten ein bißchen schwer fallen, mich noch dort zu akzeptieren. Immerhin bin ich mit einer Spiegelscherbe auf eine Rhoani losgegangen und habe sie als Geisel genommen; das ist nicht so schnell zu verzeihen."

"Ach, die sollen sich nicht so haben!" meldete sich Asuka wieder zu Wort. "So ein Engel kann jeden aus der Bahn werfen, und das dauert halt, bis man sich davon erholt hat."

"Asuka hat recht", stimmte ihr Kensuke zu, "die Engel gehen nicht gerade behutsam mit den Seelen von Menschen um. Wenn ich daran denke, in welchem Zustand sie war, als wir uns in der Vereinigung getroffen haben..."

Das Mädchen warf ihm einen wütenden Blick zu, und der sommersprossige Junge verstummte.
 

"Richtig", warf Shinji mit einem Blick auf Asuka ein, "du bist ja damals auch von einem Engel direkt angegriffen worden. Du kannst dich bestimmt gut in Misatos Lage versetzen, oder?"

Asuka blickte zu Boden. "Darüber will ich lieber nicht reden", murmelte sie.

"Aber vielleicht hilft es Misato ja weiter, wenn..."

"ICH WILL NICHT DRÜBER REDEN, KAPIERT?" fuhr das Mädchen ihn an, und der Junge wich erschrocken etwas zurück.

Kensuke hob beruhigend die Hände. "Asuka", meinte er, "Shinji hat das nicht so gemeint. Er war nie Teil der Vereinigung und kann nicht wissen, wie schmerzhaft das für dich war, als Auriel in deine Gedanken eingebrochen ist. Wir haben alle unter den Engel gelitten, jeder auf seine Weise, aber Shinji hat unsere Erlebnisse nicht so wie wir beide geteilt."

"Es... es tut mir leid", murmelte Shinji. "Kensuke hat recht... ich kenne nur kleine Bruchstücke aus deiner Vergangenheit. Wenn ich dir wehgetan habe..."
 

Kensuke wandte sich Shinji zu. "Das Problem ist", sagte er, "daß Worte nicht ausreichen, um zu beschreiben, was die Engel den Menschen antun können. Es gibt keinen Ausdruck für den Schmerz, den sie verursachen; und will man ihn in Worte fassen, kommt die Erinnerung daran zurück. Asuka und ich, wir haben unsere Seelen oft vereint, und ich habe mit ihr empfunden, und darum kann ich sie gut verstehen. Und du..." Er verstummte.

Peinliches Schweigen breitete sich in der kleinen Runde aus, das erst wieder unterbrochen wurde, als Misato sich zu Wort meldete. "Genug von der Vergangenheit", meinte sie lächelnd, "wer hat Lust, sich mal wieder mit dem Nahrungssynthetisierer rumzuschlagen?"
 

Alle stimmten eifrig zu, auch wenn es nur aus dem Grund geschah, das unangenehme Thema zurückzulassen.
 

---
 

"Wie sind ihre Werte?"

"Alle im normalen Bereich", meldete Corian eifrig. "Sie hat sich schon selbst aus ihrem Bett erhoben und ist im Moment dabei, langsam ihr Zimmer abzuschreiten. Als wollte sie ihre neue Umgebung allmählich kennenlernen."

Tyrrin blickte auf den Sichtschirm, der das Innere des Zimmers zeigte. "Überaus faszinierend", sagte sie. "Los, holen sie Shinji her. Ich will der armen Frau nicht als erstes den Anblick eines Rhoani zumuten, aber vor ihrem eigenen Sohn sollte sie keine Angst haben."

"Das wird nicht nötig sein", ertönte in diesem Moment eine sanfte Stimme hinter den beiden Ärzten.
 

Die Rhoani fuhren herum und sahen zu ihrem Entsetzen Harmis im Raum stehen.

"Wie bei allen Galaxien bist du hier reingekommen?" wollte Tyrrin entsetzt wissen. "Der Alarm hätte doch..."

"Elektronik ist leicht zu beeinflussen", meinte der Junge lächelnd. "Aber ich danke ihnen, daß sie nicht wieder Wachen abgestellt haben. Ich habe schon einmal töten müssen, und es wäre mir lieber, wenn das nicht mehr nötig wäre."

Die Ärztin schluckte. "Was hast du mit uns vor?"

"Nichts", gab Harmis zurück, "aber ich muß die Frau holen. Bitte seid so nett und versucht nicht, mich aufzuhalten."

Tyrrin blickte ihn abschätzend an, dann schüttelte sie den Kopf. "Es tut mir leid", sagte sie, "aber ich kann dich nicht zu ihr lassen. Sie ist meine Patientin, und als ihr Arzt muß ich sie beschützen."

"Und wenn ich verspreche", meinte Harmis, "daß ich ihr kein Leid zufügen werde?"

"Müßte ich trotzdem ablehnen, weil ihr geistiger Zustand noch unklar ist."
 

Ohne ein weiteres Wort hob der grauhaarige Junge die Hand, und Tyrrin zerfloß zu einer Welle von LCL.

"Und sie?" meinte Harmis an Corian gewandt, der zurückgewichen war und mit dem Rücken gegen die Wand gepreßt dastand. "Wollen sie mich auch aufhalten?"

Der junge Arzt schüttelte ängstlich den Kopf.

"Danke", sagte der grauhaarige Junge mit einem Lächeln und trat an ihm vorbei zur Tür, die zu Yuis Krankenzimmer führte. Auf einen Blick von ihm öffnete sich die elektronische Verriegelung, und er schritt langsam in den Raum hinein.
 

Überrascht fuhr Ikari Yui herum, als sie das Zischen der Tür hörte, und als der grauhaarige, spitzohrige Junge hinter ihr stand, entfuhr ihr ein Schreckenslaut.

Harmis legte langsam einen Finger auf die Lippen. "Schhht", meinte er sanft, "keine Sorge. Ich will dir nichts tun, Ikari-Yui. Ich bin gekommen, um dich deiner Bestimmung zuzuführen."

Die Frau blickte ihn ängstlich an. "Wer... wer bist du?" wollte sie wissen. "Bist du Gott?"

"Ich bin nicht Gott", gab der Junge zurück, "und ich bin es nicht einmal wert, sein Diener genannt zu werden. Aber ich werde dich zu seinen Dienern führen."

"Die Engel!" entfuhr es Yui.

Harmis nickte. "Richtig, die Engel", stimmte er zu. "Sie warten schon auf dich, um dich mit deinem Schicksal zu vereinen."
 

Die Frau blinzelte unsicher. "Was muß ich tun?" fragte sie.

"Nimm meine Hand", sagte Harmis, "und folge mir." Einladend streckte er ihr den Arm entgegen.

Zögernd ergriff Yui sie.
 

---
 

"Mmmmh... Nudelsuppe mit Frühlingszwiebeln!"

Gierig sog Kensuke den Duft der dampfenden Schale vor ihm ein. Asuka, Shinji und Misato beäugten ihn skeptisch.

"He, ich hatte seit ein paar Jahrmillionen nur die Erinnerung an eine gute Suppe!" verteidigte sich der sommersprossige Junge. "Und seit meiner Ankunft hab ich nur diese komischen Rationsriegel gekriegt. Warum sagt einem keiner, daß es hier auch normale Sachen gibt?"

"Das sagen sie einem schon", kicherte Asuka, "und zwar direkt bei der Ankunft. Aber wenn man natürlich nicht abwarten kann, bis einem die Leute alles erklärt haben, weil man unbedingt hinter einem Trupp Soldaten herrennen muß, kann man das schon verpassen."
 

Misato schmunzelte in sich hinein und begann, ihre eigenen Nudeln zu schlürfen. Für ihren Geschmack war es schon viel zu lange her, daß sie einmal alle gemeinsam an einem Tisch gesessen und gegessen hatten. Sie sehnte sich sehr nach Normalität... vielleicht, weil ihr gesamtes bisheriges Leben so furchtbar aufregend gewesen war. Jetzt, da jegliche Verantwortung von ihr genommen worden war, fühlte sie sich seltsam... leicht, oder vielleicht auch frei. Was das wohl zu bedeuten hatte?

Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als plötzlich Rei in die Kantine hineinkam und sehr eilig zum Tisch der vier lief.

"Hallo, Rei", begrüßte sie Kensuke zwischen zwei Bissen. "Schön, daß es dich auch noch..."

Das blauhaarige Mädchen ignorierte den sommersprossigen Jungen völlig.

"Shinji, was geht hier vor?" wollte sie wissen.
 

Der Junge blickte Rei irritiert an. "Was soll denn vorgehen?" fragte er.

"Ich spüre seltsame Veränderungen hier in der Gegend", gab das Mädchen zurück. "Ist wieder ein Engel unterwegs?"

"Nicht, daß ich wüßte", gab Shinji zurück. "Was genau spürst du denn?"

"Die Kräfte von Harmis scheinen wieder aktiv zu sein", sagte sie, "und vor kurzem ist ein menschliches AT-Field ausgelöscht worden."
 

Misato verschluckte sich an ihren Nudeln. "Was?!" hustete sie. "Aber das heißt ja..."

"Ein Engel muß unterwegs sein", sagte Rei, "sonst könnte Harmis nicht versuchen, ihm den Weg zu bereiten."
 

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"Es ist nicht mehr weit, komm!"

Harmis zog Yui sanft hinter sich her, und wie in einem Tagtraum schlurfte die Frau von ihm geführt durch die Korridore der medizinischen Station. Sie trafen auf einige Rhoani, aber die warfen ihnen nur erschrockene Blicke zu und verschwanden dann eiligst.

Mit Sicherheit hätten sie Alarm ausgelöst, hätte der Junge diese Systeme nicht schon lange deaktiviert.
 

Schließlich erreichten die beiden den Ausgang, und auf einen Blick von Harmis öffnete er sich. Der Junge und die Frau traten hinaus in die Kolonie, und Yui sah sich überall verwundert um.

"Es sieht alles so... unwirklich aus", murmelte sie.

"Und es ist unwirklich", gab Harmis zurück, "denn es ist nicht das, was für diese Welt vorgesehen war. Aber schon bald wird sich alles zum Guten wenden."

"Aber nur", ertönte eine feste Stimme, "wenn auch der letzte Engel besiegt wird!"

Harmis schmunzelte. "Hallo, Rei", sagte er.
 

Das blauhaarige Mädchen schwebte den beiden entgegen und hielt etwa einen Meter vor ihnen inne. "Du weißt", sagte sie, "daß ich euch nicht weitergehen lassen kann. Ich weiß nicht, was du vorhast, aber du wirst damit aufhören, oder ich werde euch beide auslöschen. Ein zweites Mal besiegst du mich nicht."

"Ich muß den Engeln den Weg bereiten", gab Harmis zurück, "und eben das tue ich gerade."

"Und dafür brauchst du sie?" wollte Rei wissen.

Der Junge nickte.

"Du wirst sie gehenlassen", forderte das Mädchen.

Harmis senkte kurz den Blick, dann nickte er. "Wie du wünschst", meinte er und ließ Yui los.
 

Die Frau blickte kurz zu dem Jungen, dann lächelte sie Rei an und trat nahe zu ihr. "Ich erkenne dich", sagte sie. "Shinji hat mir von dir berichtet, und ich habe dich auch schon selbst gespürt. Du bist meine Tochter."

"Ich bin Ayanami Rei", antwortete das Mädchen, "die Hüterin der Seelen. Ich beschütze das Schicksal der Menschheit."

Yui seufzte leise. "Eine so große Aufgabe für ein so kleines Mädchen", sagte sie. "Ist das nicht eine entsetzliche Last?"

"Ich weiß nicht..." meinte Rei unsicher. "Jemand muß diese Aufgabe erfüllen."

"Dann laß mich es tun", gab die Frau zurück und strich dem Mädchen sanft über den Kopf.
 

Im selben Moment durchfuhr es Rei wie ein Blitz, und jegliche Kraft wich aus ihr. Yui bäumte sich im selben Moment auf, ein eigenartiges Zucken ging durch ihren Körper. Dann war der Augenblick vorbei, und das Mädchen sank zitternd zu Boden.

"Jetzt bist du von dem Fluch erlöst", sagte Yui sanft und wandte sich danach wieder Harmis zu. "Können wir weitergehen?"

Der Junge nickte lächelnd. "Aber nur, wenn du wirklich willst", gab er zurück.

"Das will ich", meinte Yui und blinzelte ihm aus roten Augen zu. Dann nahm sie ihn bei der Hand, und beide erhoben sich in den Himmel.
 

---
 

"Rei!!!"

Shinji, Asuka, Kensuke und Misato waren so schnell gerannt, wie ihre Beine sie tragen konnten, aber sie hatten natürlich nicht dem Mädchen mithalten können, das wie üblich geflogen war. Aber nun flog sie nicht mehr; statt dessen kauerte sie am Boden und schien wie in entsetzlicher Angst zu zittern.
 

Misato war die erste, die sie erreichte und sich vorsichtig zu ihr hinabbeugte.

"Rei, geht es dir..." fing sie an, aber dann stockte sie erschrocken.

Das Mädchen sah auf, wischte sich eine dunkelbraune Haarsträhne aus dem Gesicht und sah Misato aus ängstlichen, graublauen Augen an.
 

Kapitel 43
 

Harmis und Yui erhoben sich in einem rötlichen Schimmern langsam hoch in den Himmel.

Unter den beiden wurde die Kolonie langsam immer kleiner und war kaum noch auszumachen. Über ihnen verdunkelte sich der Himmel allmählich, während sie immer höher in der Atmosphäre aufstiegen. Immer mehr Sterne wurden sichtbar, und die Erde wurde nach und nach erkennbar zu einer Kugel.

"Wohin wirst du mich führen?" wollte die Frau wissen.

Der Junge schmunzelte. "Zum Ort deiner Bestimmung", sagte er. "Dorthin, wo deine Seele Erlösung finden wird."

"Erlösung von dem Leid dieser Welt?"

"Erlösung von allen Leiden!"
 

Die beiden stiegen noch höher hinauf in den Himmel. Lange schon hatten sie die Wolken hinter sich gelassen, und nun schwebten sie in der Höhe, wo noch vor wenigen Wochen die ,Vagabund' ihre Kreise um die Erde gezogen hatte. Allmählich wurden sie langsamer, und schlielich kamen sie zum Stehen.

Yui blickte sich unsicher um. "Das Atmen fällt mir langsam schwerer", sagte sie.

"Das liegt daran", erklärte Harmis, daß dir bald die Luft ausgehen wird, die du in deinem AT-Field mitgenommen hast. Aber hab keine Angst; sie sind schon ganz nahe."

"Wer ist schon ganz nahe?" fragte die Frau leise.

"Sie", sagte der Junge und zeigte hinaus ins All. Yui blickte in die Richtung.

Eine gewaltige, schimmernde und glänzende Wolke jagte mit ungeheurer, von Naturgesetzen ungehinderter Geschwindigkeit aus der Tiefe des Alls auf sie zu.
 

"Mein Gott", sagte Yui.

Dann trafen die Seelen, die direkt von Rhoan gekommen waren, auf sie und verschmolzen in einer Explosion von Licht und Glanz mit ihr.
 

---
 

"Was um alles in der Welt ist nur geschehen?"

Misato zog das zitternde Mädchen vorsichtig hoch und nahm es behutsam in den Arm. Ströme von Tränen liefen über seine Wangen, und es schluchzte unkontrolliert. Vorsichtig strich die Frau ihr über das weiche, dunkelbraune Haar und drückte sie zärtlich an sich.

"Ist... ist das Rei?" fragte Shinji fassungslos. "Aber... wie..."

Misato schüttelte den Kopf in seine Richtung und drückte Rei weiterhin sanft an sich. Während Kensuke, Asuka und Shinji um sie herum in die Hocke gingen, beruhigte sich das schluchzende Mädchen langsam wieder ein wenig, und schließlich fand sie genug Kraft, um aufzublickten, sich kurz über das Gesicht zu wischen und danach in die Runde zu sehen.

"Es IST Rei!" sagte Kensuke fasziniert. "Mein Gott... was ist mit dir passiert?"
 

"Yui", sagte Rei leise und mit immer noch erstickter Stimme. "Sie hat aus mir herausgerissen, was nicht menschlich war und es zu einem Teil von sich gemacht. Jetzt ist sie wieder ein ganzes Wesen... und ich..." Abermals versagte ihr die Stimme, und die Tränen begannen wieder zu fließen.

Shinji beugte sich etwas zu ihr vor. "Du sagtest", meinte er, "meine Mutter sei ,wieder' ein ganzes Wesen. Wie meinst du das, und wie konnte sie etwas aus dir herausreißen?"

Das Mädchen schluckte ihre Tränen mühsam herunter. "Die Ikari Yui", erklärte sie, "die zusammen mit dir und Asuka aus EVA-01 zurückgekehrt ist, war ein unvollständiges Wesen. Ihre Seele hat sich nach Kontakt verzehrt - nach dem Kontakt, den sie Millionen von Jahren mit der Seele Lilliths in EVA-01 hatte. Dem Teil, den sie auch in mir finden konnte. Und ihr Wille, mich von meiner Bürde zu erlösen, hat ihr die Kraft gegeben, sich den Splitter Lilliths in mir zu nehmen."
 

"Das heißt also", fragte Asuka, "sie hat jetzt alle Kräfte, die du vorher hattest?"

Rei nickte traurig. "Und ich bin nicht mehr die Hüterin der Seelen", sagte sie. "Jetzt bin ich, was ich nie war: Ayanami Rei, ein Mensch."

Kensuke schluckte. "Wenn ich das richtig verstanden habe", meinte er, "dann hast du doch vorhin gemeint, Harmis hätte auch seine Kräfte wieder..."

"Richtig", nickte das Mädchen, "er hat Yui befreit und begleitet sie im Moment."

"Dann mache ich mir ernsthaft Sorgen", warf Kensuke ein, "was Yui wohl mit Reis Kräften anstellen wird, wenn dieser Harmis sie begleitet."

In diesem Moment leuchtete plötzlich eine zweite Sonne am Himmel derart hell auf, daß alle am Boden kurz geblendet die Augen schlossen. Sofort danach verschwand die Sonne finster.
 

"Jetzt wissen wir es", sagte Shinji. "Das ist Derdekea."
 

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Das gewaltige Leuchten erstarb ebenso schnell, wie es aufgetaucht war, und zurück blieb nur die Gestalt Ikari Yuis. Sie sah im Vergleich zu vorher kaum verändert aus; ihr Haar war immer noch blau, ihre Augen rot und ihre Haut fahlweiß. Aber nun schimmerte sie von innen heraus silbrig, und um ihren Kopf leuchtete ein anderer, goldener Schimmer.

"Du bist wunderschön, Derdekea", sagte Harmis.

Der Engel lächelte den Jungen an. "Danke", sagte sie. "Jetzt endlich macht es alles einen Sinn. Ich bin Derdekea, die Retterin der Menschheit, und in mir sprechen die Stimmen der fernen Heimat. Sie singen von der Erlösung, welche sie gebracht haben, und sie jubilieren im Angesicht der Erlösung, welche nun über die Erde kommen wird."
 

Harmis nickte zufrieden. "Dann wirst du also die Seelen der Menschen ins Jenseits führen?"

"Ich sorge dafür, daß ihnen kein Leid widerfahren kann", war die Antwort Derdekeas. "Ich beende den ewigen Zirkel der Schmerzen und eröffne ein neues Kapitel in der Geschichte der Menschheit."

"Gut", sagte der Junge. "Dann beginne mit mir; ich bin bereit." Langsam schloß er die Augen.

"Das kann ich nicht", meinte der Engel.

Harmis schlug überrascht die Augen auf. "Wieso kannst du das nicht?"

"Ich sorge für die Menschen", sagte Derdekea. "Du bist kein Mensch."

"Aber... das verstehe ich nicht!" erwiderte der Junge. "Ich habe dich doch hierhergeführt und dafür gesorgt, daß du erscheinen konntest! Meine Aufgabe ist damit beendet."

Der Engel nickte.

"Und was tue ich nun, da meine Aufgabe erfüllt ist?"

"Deine Aufgabe ist zwar beendet", sagte Derdekea, "aber nicht erfüllt."

"WAS?!"
 

Der Engel lächelte sanft. "Es war deine Pflicht, Adamsblut", sagte sie, "mir den Weg zu bereiten. Du hast mich auf dem Weg geführt. Aber bereitet hast du ihn mir nicht."

"Aber ich habe doch..."

"Bereitet hat ihn mir Ayanami Rei."

Harmis sah Derdekea mit dem Ausdruck völligen Unglaubens an.

"Rei hat mir den Teil ihrer Seele gegeben, der Lillith war", sagte sie. "Und damit hat sie mir die Kraft gegeben, die Stimmen der fernen Heimat in mir aufzunehmen. Sie hat mich auf die Aufgabe vorbereitet, die vor mir liegt. Du hast mich nur geführt."

"Aber das ist Wahnsinn!" schrie der Junge. "Ich bin unsterblich, wenn ich keine Erlösung finde! Was soll ich denn bis in alle Ewigkeit tun?"

Derdekea legte Harmis zärtlich einen Arm auf die Schulter und drückte ihn sanft an sich. "Ich bedauere dich sehr", sagte sie. "Du wirst die Galaxis zu deinem Spielplatz erhalten und die Freiheit haben, zu tun was du willst. Aber die Erlösung wird nur den Menschen geschenkt, nicht dir."
 

"Das lasse ich nicht zu!" schrie der Junge.

"Dir wird nichts anderes übrigbleiben", gab der Engel sanft zurück, schloß die Augen und begann zu wachsen.
 

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"Statusbericht?"

"Energiekonverter voll aufgeladen", gab Aoba Shigeru über das PersoKom des Kommandanten zurück. "Die Notreparaturen halten anscheinend. Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, ob es für mehr als einen Schuß reicht..."

"...aber mehr als einen Schuß haben wir auch nie gebraucht", gab Fuyutsuki grimmig zurück. "Gut so halten sie sich bereit." Er deaktivierte sein PersoKom und wandte sich an die Kinder und Misato, die neben ihm standen. "Es ist gut", sagte er, "daß ihr so schnell herkommen konntet. Diesmal wird der Engel keine große Überraschung für uns sein, und wir können sogar das Partikelgeschütz einmal effektiv einsetzen. Wenn Derdekea laut der Überlieferung ,aus dem Himmel herabsteigt', dann kommt sie von oben. Und nach oben können wir feuern, ohne dabei gleich die halbe Erde umzugraben."
 

"Ich hoffe nur", warf Misato ein, "daß die Feuerkraft ausreicht. Derdekea ist der letzte Engel, und wahrscheinlich ist er auch der mächtigste."

Shinji trat einen Schritt vor. "Und außerdem", meinte er leise, "ist er wahrscheinlich meine Mutter."

"Deine Mutter ist blöd", sagte Asuka und legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter, "vor allem, weil sie uns sowieso die ganze Zeit am liebsten im Jenseits gesehen hätte. Glaubst du im Ernst, du hättest sie von was anderem überzeugen können?"

Shinji blickte zu Boden. "Ich weiß nicht", murmelte er leise.

Misato trat näher zu ihm. "Schau mal", sagte sie, "was immer sie auch vorher war: jetzt ist Ikari Yui ein Engel. Mit den Engeln kann man nicht reden; das müßtest du am besten wissen."

"Mit Kaworu KONNTE ich reden!" widersprach der Junge.
 

"Kaworu war ein Sonderfall", mischte sich Rei leise ein. "Er war der Engel des freien Willens, und er hatte als einziger die Wahl, sich zwischen seinem Leben und deinem zu entscheiden. Die anderen Engel haben diese Entscheidungsgewalt nicht."

"Ganz davon abgesehen", warf Fuyutsuki ein, "daß diese Unterhaltung soeben ohnehin sehr hypothetisch geworden ist. Da!" Mit diesen Worten zeigte er auf den Sichtschirm.

Alle Augen richteten sich auf die Anzeige und erblickten ein goldenes Leuchten, das schnell an Größe gewann.

"Wow..." entfuhr es Kensuke.

"Sie wächst ungeheuer schnell", sagte Misato. "Zu schade, daß wir hier keine Größenverhältnisse sehen können."
 

Der Kommandant bediente ein paar der Kontrollen vor ihm, und auf dem Sichtschirm wurden zusätzlich Meßdaten eingeblendet.

"Bereits neunhundert Meter groß?!" keuchte Asuka. "Verdammt, das Ding ist riesig! Wie um alles in der Welt sollen wir dagegen kämpfen?"

"Ich wünschte", fügte Shinji hinzu, "wir hätten EVA-01 auf unserer Seite."

Fuyutsuki schüttelte den Kopf. "Wir werden EVA-01 nicht brauchen", sagte er, "wenn wir das Partikelgeschütz einsetzen."
 

In diesem Moment verstärkte sich das Leuchten um Derdekea ungeheuer, und sie begann sich langsam auf die Erde zuzubewegen. Ihre Gestalt wurde von dem Strahlen um sie herum völlig überdeckt, und hinter der Form ihres Körpers entstand ein glühender Schweif ähnlich dem eines Kometen.

"Partikelgeschütz bereitmachen", sagte der Kommandant in sein PersoKom.

In diesem Moment sah Misato den Evangelion.
 

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Harmis saß in der Zugangskapsel von EVA-01 und steuerte den Giganten zielsicher auf die Kolonie zu.

,Du hast mich auf dem Weg geführt. Aber bereitet hast du ihn mir nicht.'

Die Stimme Derdekeas klang immer noch in seinem Kopf nach.

"Du kennst die Menschen nicht mehr, Engel", murmelte er leise zu sich. "Sie haben sich gegen Gott erhoben, und sie haben Mittel ersonnen, seine Diener aufzuhalten. Mächtige Mittel. Vielleicht sogar mächtiger als du."

Tief in den Gedanken des Jungen konnte er die Präsenz Shennoks spüren, des Menschen, der einmal sein Vater gewesen war. Er war nahe bei ihm; versuchte, Kontakt zu ihm aufzunehmen, doch Harmis blockte ihn ab. Der Mann bedeutete ihm nichts mehr. Einzig und alleine das Ziel war von Bedeutung.
 

Vor ihm tauchte das riesige Gebäude auf, welches er gesucht hatte, und er beschleunigte den Schritt des Evangelions nochmals.
 

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"Kommandant, da!!!"

Misatos Schrei kam keine Sekunde zu früh. Fuyutsuki sah hinüber auf den anderen Sichtschirm und erfaßte die Situation sofort.

"Sicherheitszentrale", brüllte er in sein PersoKom, "EVA-01 nähert sich dem Partikelgeschütz in hohem Tempo! Feindliche Absichten wahrscheinlich! Geschütz sofort abfeuern!"

"Aber der Engel ist noch weit entfernt", gab Aoba zurück. "Wenn wir jetzt schießen und das AT-Field nicht durchschlagen, haben wir vielleicht keinen zweiten Schuß!"

"Wenn sie jetzt nicht sofort schießen", donnerte der Kommandant, "dann haben wir nicht mal einen ersten Schuß!"

"Verstanden!" gab der Leutnant zurück und aktivierte die Waffe.
 

Energie floß in das Partikelgeschütz, das Geschoß wurde beschleunigt und verließ mit der üblichen halben Lichtgeschwindigkeit den Lauf. Die Druckwelle, die sich dieses Mal in alle Richtungen ausbreiten konnte, ließ zwar einen Sturmwind über die Kolonie heulen, aber diesmal blieben die Verwüstungen aus.

Hoch oben im Himmel traf das fünf Kilo schwere Geschoß auf Derdekeas AT-Field und zerbarst zu Staub.
 

Keine fünf Sekunden später erreichte EVA-01 das Partikelgeschütz und hieb es mit Tzadkiels Schwert entzwei.
 

Kapitel 44
 

"Siehe, Derdekea, was ich für dich tue!"

Harmis blickte stolz auf das irrparabel beschätigte Partikelgeschütz. Gewaltige elektrische Entladungen zuckten um es herum und trafen auch EVA-01, störten den Giganten aber nicht im Geringsten. Sein AT-Field schützte ihn.

Der Junge hob den Kopf und blickte zum Himmel, wo der strahlende Komet, der Derdekea war, langsam größer wurde. "Meine Aufgabe war noch nicht beendet", rief Harmis hinauf, "denn die Menschen widersetzen sich dir noch! Aber ich werde ihren Widerstand zerschmettern und mir damit Erlösung verdienen!"
 

In diesem Moment schlug eine Salve Raketen in den Rücken von EVA-01 ein, explodierte mit gewaltiger Wucht und schleuderte den Giganten vornüber.

Der Junge fing den Sturz mit den Armen seines Evangelions ab und biß die Zähne angesichts des sengenden Schmerzes in seinem Rücken zusammen. Größere Schäden hatte es offensichtlich nicht gegeben, aber seit dem Kampf gegen Jehuel hatte EVA-01 kaum noch Panzerung auf dem Körper, und selbst so vergleichsweise schwache Waffen wie die Raketen der Basisverteidigung konnten ihm noch leichte Wunden zufügen.

Harmis ließ den Evangelion herumrollen und einer weiteren Raketensalve ausweichen, die sich neben ihm in die Erde bohrte und bei der Explosion einen Krater hinterließ. Dann war er mit einem Sprung wieder auf den Beinen, packte Tzadkiels Schwert, welches ihm kurz entglitten war und begann, wieder loszulaufen; dieses Mal in Richtung der Raketenlafetten, die eben auf ihn gefeuert hatten.
 

Während er mit wilden Sprüngen den ankommenden Geschossen auswich, rief er laut: "Siehe, Derdekea, ich bereite dir den Weg!"
 

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"Verdammt! Bei der Geschwindigkeit bekommen wir nie eine Chance zum Feuern!"

Fuyutsuki nickte auf diesen Kommentar Misatos hin ernst. "Das sehe ich ähnlich", sagte er. "Die Raketen würden EVA-01 höchstens ein wenig aufhalten, wenn sie ihn denn treffen, aber durch sein AT-Field wird er nicht beschädigt werden. Unsere beste Chance liegt in gebündeltem Laserfeuer, aber dafür läuft er zu schnell. Ich sehe im Moment nur eine Möglichkeit, ihn auszuschalten: wenn er einige Sekunden stehenbleibt."

"Und was machen wir in der Zwischenzeit mit dem Engel?" warf Asuka ein.

Die Augen des Kommandanten richtete sich auf das Mädchen. "Hast du Vorschläge?" fragte er.

"Öh..."

Fuyutsuki lächelte. "Ich wüßte auch keine effektive Taktik mehr", sagte der ältere Mann. "Unser Partikelgeschütz ist zerstört, die Lasertürme lassen sich nicht so weit nach oben ausrichten, und die Raketen werden mit Sicherheit keinen Effekt haben. Wir müssen vorerst die unmittelbare Bedrohung durch EVA-01 beenden, dann können wir uns Gedanken machen, ob wir noch in der Lage sind, etwas gegen Derdekea zu tun."
 

"Ich sehe noch eine Möglichkeit", meldete sich plötzlich Shinji zu Wort.

Alle Augen richteten ihn auf den Jungen.

"Wenn es noch etwas gibt, das Derdekea besiegen kann", meinte er, "dann ist es ja wohl EVA-01, oder?"

Misato nickte. "Das ist schon richtig", meinte sie, "aber EVA-01 ist gerade eben dabei, unsere Basisverteidigung niederzuwalzen. Ich würde sagen, Harmis steuert ihn und stellt sicher, daß der Engel heil hier unten ankommt."

"Das hoffe ich", sagte Shinji. "Harmis läßt nämlich vielleicht mit sich reden."

"Bist du blöd?" fuhr ihn Asuka an. "Der Affenarsch steht auf der Seite der Engel! Er hat schon ein paar Rhoani umgebracht, damit sie den Engeln nicht im Weg stehen - und du willst jetzt mit ihm reden, wo er in EVA-01 sitzt?"

"Haben wir noch viele Möglichkeiten?" fragte der Junge zurück.

Schweigen breitete sich in der Runde aus.
 

Schließlich ergriff Kommandant Fuyutsuki das Wort. "Shinji hat recht", sagte er mit einem Blick auf den Sichtschirm, wo EVA-01 gerade eine Raketenlafette mit Tzadkiels Schwert in Fetzen hieb, "unsere letzte Chance ist es, die Kontrolle über EVA-01 wiederzubekommen. Misato, sie kennen sich doch mit der Bedienung eines ExploraSuits aus, oder?"

"Das stimmt", sagte sie, "aber..."

"Hervorragend", unterbrach sie der ältere Mann. "Dort hinten im Ausrüstungsschrank steht einer. Ziehen sie ihn rasch an, und dann werden sie Shinji und Rei hinüber zur Position von EVA-01 fliegen. Ich erledige die Navigation."

Die Frau riß entsetzt die Augen auf. "Sind sie wahnsinnig geworden?" keuchte sie. "Ich kann doch nicht zwei Kinder einem Evangelion entgegenschicken!"

"Im Evangelion sitzt selbst ein Kind", gab Fuyutsuki zurück. "Rei kennt die Situation von Harmis besser als wir alle, weil sie in einer ähnlichen Lage wie er war; und Shinji hat eine persönliche Beziehung zu EVA-01 und zum Engel Derdekea. Wenn es jemand schaffen kann, Harmis auf unsere Seite zu ziehen, dann die beiden."

"Das ist doch Blödsinn!" schimpfte Asuka. "Gegen diesen Affenarsch muß man kämpfen, nicht palavern!"

"Ohne eine Waffe haben wir nicht viele Möglichkeiten zum Kampf", gab Rei zu bedenken.

Misato schüttelte entschieden den Kopf. "Das werde ich auf keinen Fall tun!" widersprach sie. "Ich liefere doch keine zwei Kinder einem wildgewordenen Evangelion aus!"

"Wenn du es nicht tust", meinte Shinji leise zu ihr, "dann lieferst du uns damit alle dem Engel aus."
 

Die Frau blickte verzweifelt vom Jungen zum Kommandanten und wieder zurück.

"Ach, verdammt!" rief sie dann und trat zum Ausrüstungsschrank.
 

---
 

Mit einem mächtigen Schwung des riesigen Schwertes hieb EVA-01 eine große Rakete durch, die gerade im Anflug auf ihn war. Das Projektil explodierte, ohne auch nur eine Spur am Evangelion zu hinterlassen. Der Gigant riß das Schwert herum und führte es im Rückschwung durch eine halb im Boden versenkte Raketenlafette. Auch die Detonation der unterirdisch gelagerten Waffen glitt wirkungslos an seinem AT-Field ab.

"So, wer ist der nächste?" lachte Harmis böse und blickte sich um. Raketen schienen keine weiteren unterwegs zu sein, und wenn er sich recht erinnerte, hatte er alle Lafetten erledigt, die in der Kolonie aufgestellt worden waren. Blieben nur noch die Lasertürme übrig. Wahrscheinlich würde es nicht ganz so leicht werden, an diese heranzukommen, denn im Gegensatz zu den Raketen konnten die Laser dem Evangelion durchaus gefährlich werden. Ausweichen konnte man den Strahlen nicht; man konnte nur vermeiden, ins Visier genommen zu werden. Also war Bewegung angesagt.
 

Mit großen, unregelmäßigen Sprüngen begann EVA-01 seinen Vormarsch auf den Laserturm, der ihm am nächsten war. Er hüpfte, sprang, rollte sich über dem Boden ab und vollführte wilde Rollen in der Luft - und mit Erfolg: Ein gleißender Strahl zuckte kurz in seine Richtung, verfehlte aber seinen Unterleib knapp, als er sich in einer Rolle zur Seite warf.

"Daneben!" brüllte Harmis, brachte den Evangelion auf die Beine und rannte mit höchster Geschwindigkeit auf den Laserturm zu. Er erinnerte sich noch gut an die Schwäche der Energiegeschütze: hier in der Atmosphäre überhitzten sie sich leicht und konnten nur äußerst langsam feuern. Wenn er sich beeilte, war er bei der Geschützstellung, noch ehe diese bereit für den nächsten Schuß war.

Noch ein Kilometer trennte ihn von dem Ziel; noch neunhundert Meter. Der Junge brachte sein AT-Field auf höchste Leistung, um von der Explosion des Lasers nicht verletzt zu werden.

Noch achthundert Meter, noch siebenhundert, noch sechshundert. EVA-01 nahm das Schwert hoch und hielt es zum Schwung bereit.

Noch fünfhundert Meter, noch vierhundert, noch dreihundert. Der Evangelion holte im Laufen weit aus.

Als er auf zweihundert Meter Entfernung war, feuerte das Lasergeschütz erneut.
 

Der gebündelte Strahl traf auf das AT-Field des Giganten und durchschlug es. Die Energie traf auf dem Brustkorb von EVA-01 auf...

...und verging. Die Feuerkraft war nicht stark genug gewesen, um nach dem AT-Field noch Schaden anzurichten.

Im nächsten Moment war der Evangelion beim Laserturm und fällte ihn mit einem gewaltigen Schlag von Tzadkiels Schwert wie einen Baum.

"Halt!!!" ertönte in diesem Moment eine Stimme im Rücken des Giganten.
 

Harmis drehte EVA-01 überrascht um. Nur ein kleines Stück hinter ihm standen drei winzige Gestalten auf dem Boden.

Misato, Shinji... und Rei.

Langsam beugte sich der Evangelion zu ihnen herunter.
 

---
 

Fuyutsuki, Asuka und Kensuke verfolgten die Vorgänge auf dem Sichtschirm.

"Er greift also nicht sofort an", sagte der Kommandant. "Gut. Aoba, hören sie mich?"

"Laut und deutlich", war die Antwort.

Der ältere Mann nickte. "Richten sie alle verbleibenden Lasergeschütze auf den Kopf von EVA-01 aus", sagte er, "und feuern sie konzentriert, sobald sie bereit sind."

"Verstanden", kam es über das PersoKom.

"Aber... he!" mischte sich Asuka ein. "Sie haben doch gesagt, wir sollten versuchen, mit Harmis zu reden!"

Fuyutsuki wandte sich dem Mädchen zu. "Ehrlich gesagt", meinte er, "ich glaube nicht daran, daß Shinji und Rei Erfolg haben. Aber wenn wir EVA-01 dazu bringen können, eine Minute lang stillzuhalten, sind wir in der Lage, auf ihn zu feuern."

"Das war also nur eine Ablenkung", erkannte Kensuke. "Aber wieso haben sie Rei, Shinji und Misato nichts davon gesagt?"

"Hätten sie es gewußt", gab der Kommandant zurück, "hätten sie Harmis anlügen müssen."
 

Asuka schluckte und wandte den Blick wieder dem Sichtschirm zu.

Ihre Hand griff unwillkürlich nach der Kensukes und drückte sie.
 

---
 

"Bitte hör auf damit!" schrie Shinji dem Evangelion zu. "Warum willst du uns denn alle vernichten?"

Harmis lächelte finster und aktivierte die Außenlautsprecher von EVA-01. "Ich will euch nicht vernichten", gab er zurück. "Ich sorge nur dafür, daß ihr euch nicht länger gegen Derdekea auflehnt."

"Aber warum tust du das?" fragte nun Rei. "Du kannst nicht wissen, ob du damit Gottes Willen erfüllst! Ich habe mich in meiner Aufgabe auch getäuscht, obwohl ich mir so sicher war. Zweifelst du denn niemals?"

"Es gibt keine Zweifel mehr", erwiderte Harmis, "wenn mir die Erlösung bevorsteht!"
 

Shinji schüttelte verzweifelt den Kopf. "Das, was du Erlösung nennst", rief er, "ist in Wirklichkeit nichts anderes als ewiger Stillstand! Im Jenseits wird sich niemals mehr irgend etwas verändern. Es ist fast genau wie in der großen Vereinigung, nur daß es dieses Mal keinen Weg hinaus gibt. Wir alle werden auf ewig verschwunden sein und haben keine Chance mehr, unsere Fehler gutzumachen und uns zu verbessern!"

"Eure Fehler können nicht mehr gutgemacht werden", widersprach der Junge im Evangelion. "Es sind Freveleien Gottes, für die es keine Sühne außer dem Tod gibt. Und der Tod ist fast noch zu gut für euch: Ihr habt Geschöpfe mit einer eigenen Seele erschaffen und euch damit angemaßt, wie Gott selbst über Schicksale entscheiden zu können. Auf Rhoan habt ihr bereits dafür bezahlt; nun ist die Erde dran."

"Wir werden also ins Jenseits kommen", sagte Rei. "Aber was wird mit dir geschehen?"
 

Harmis lächelte. "Sobald ihr von der Erde getilgt seid", sagte er, "werden meine Taten beurteilt werden." Mit einem Ruck richtete er den Evangelion auf und riß die Arme zum Himmel hoch. "Und dann wird Derdekea wissen..."

In diesem Moment fuhren drei Energiestrahlen durch die Luft - exakt an der Stelle, wo bis eben noch der Kopf von EVA-01 gewesen war.

Der Junge fuhr erschrocken zusammen, aber dann verstand er plötzlich, und Zorn wallte in ihm auf. "Ein Trick!" brüllte er wütend. "Ihr solltet mich aufhalten, bis ihr mich vernichten könnt, wie? Na wartet - jetzt vernichte ich euch! Ich vernichte euch alle!!!" Und mit einem gewaltigen Schwung hob er Tzadkiels Schwert und ließ es auf die entsetzt dastehenden Menschen hinabsausen.

Doch es erreichte nie sein Ziel.

Meter über den Köpfen prallte es von einem goldenen Leuchten ab, das plötzlich um die drei erschienen war.
 

Überrascht blickte Harmis sich um und suchte nach einer Quelle für das immens starke AT-Field, das soeben seinen Hieb abgefangen hatte. Er konnte nur eine finden.

"D...Derdekea...?"

Der Engel hoch im Himmel hatte nicht mehr die Kolonie zum Ziel. Er flog nunmehr auf dem direkten Weg und mit ungeheurer Geschwindigkeit auf EVA-01 zu.

"Aber... wieso?" schrie der Evangelion in den Himmel.

"Ich bin Derdekea", kam die Antwort in den Stimmen eines gewaltigen Chorals, "die auf die Erde hinabsteigt, um die Menschheit zu retten!"

"NEEEEEEEEEEEEEEEEEIIIIIIIIIIN!"
 

Mit der Wucht einer explodierenden Sonne traf Derdekea auf den Körper des Evangelions. Zugleich breitete sich das AT-Field, was bis eben nur über Shinji, Rei und Misato gelegen hatte, über die gesamte Kolonie aus.

Die ungeheure Detonation fegte Berge, Wälder und Seen im Umkreis von vielen Kilometern einfach weg. Sie riß EVA-01 auseinander und schleuderte seine Einzelteile in alle Richtungen. Das Leben des Evangelions verlosch, und die Seelen von Shennok und Harmis verbanden sich unter der gewaltigen Macht des Engels und entschwanden ins Jenseits.

Und während die Welle der Zerstörung über die Erde rollte und sich Menschen und Rhoani gleichermaßen in Todesangst zu Boden warfen, wurde keinem von ihnem auch nur ein Haar gekrümmt.
 

Langsam, sehr langsam kam Shinji wieder zu sich und bemerkte, daß er neben Rei unter Misato lag. Die Frau mußte sich schützend auf sie beide geworfen haben. Vorsichtig bewegte sich der Junge, und Misato erhob sich unsicher und warf einen Blick auf die beiden Kinder.

"Ist... ist es vorbei?" fragte Rei leise.

"Ich glaube schon", sagte Shinji und blickte nach vorne.

Vor den dreien stand Ikari Yui, ihr Körper silbern glänzend und ihr Kopf von einem goldenen Leuchten umgeben.

Sie lächelte ihren Sohn und ihre Tochter an.

Und dann verblaßte sie langsam und verschwand für immer.
 

Epilog
 

"Das ist also das Ende?"

"Nein. Es ist erst der Anfang."

Misatos Augen richteten sich überrascht auf Fuyutsuki, der leicht gebeugt vor den Sichtschirmen stand. "Wie meinen sie das?" wollte die Frau wissen. "Derdekea war doch der letzte Engel... oder?"

"Derdekea war der letzte Engel, richtig", sagte der ältere Mann. "Und wie es aussieht, haben wir seine Ankunft... nein, IHRE Ankunft... überlebt. Aber das heißt nicht, daß es nun mit unseren Bemühungen vorbei wäre."

Die Frau blinzelte ihn etwas verwirrt an. "Ich verstehe immer noch nicht", meinte sie, "worauf sie hinauswollen. Stehen uns denn noch mehr Kämpfe bevor?"
 

"Oh ja", sagte Fuyutsuki. "Unsere Kämpfe haben gerade erst begonnen. Wenn sie denken, daß es hier leichter wird, weil wir in Zukunft nicht mehr angegriffen werden, dann haben sie vielleicht vergessen, in welcher Lage wir uns hier befinden. Lassen sie mich einmal kurz anreißen, welche Kämpfe wir alleine in den kommenden Monaten auszutragen haben.

"Zunächst einmal werden wir einen stetigen Strom von Menschen zu versorgen haben, der aus dem LCL-Meer zurückkehrt. Wir müssen eine Infrastruktur aufbauen, die mehrere Milliarden ernähren und ihnen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen kann. Und keiner kann sagen, wie viel Zeit uns dafür bleibt.

"Zusammen mit den Menschen aus dem Meer werden neue Probleme kommen. Mit Sicherheit werden einige von ihnen länger brauchen als andere. Von Rei wissen wir, daß es Jahre, vielleicht Jahrhunderte dauern kann. Stellen sie sich vor, jemand kommt erst Jahrzehnte nach seinen Kindern zurück. Er ist nicht gealtert, aber seine Söhne und Töchter sind inzwischen vielleicht älter als er! Die Beziehungen zwischen den Menschen werden sehr viel komplizierter werden, als wir sie kennen.

"Und dann ist da noch die Frage, wie die Menschheit damit umgehen wird, daß sie nicht mehr so ohne weiteres Kinder bekommen kann und wie gut sich das Erbgut von Menschen und Rhoani miteinander verträgt. Sicherlich - die Mediziner meinen, es würden gesunde Kinder entstehen - aber wie werden sie aussehen? Wie würden sie sich fühlen, ein Kind mit rosafarbenen Haaren und spitzen Ohren zur Welt zu bringen? Niemand weiß, welche Probleme diese Kinder haben werden, wenn sie vielleicht für Menschen und Rhoani gleichermaßen fremdartig aussehen. Schaffen wir damit vielleicht eine neue Klasse sozialer Außenseiter?"
 

Der Kommandant blickte die Frau ernst an. "Wir sind weit davon entfernt", sagte er, "eine perfekte Welt geerbt zu haben. Wenn wir glauben, der Kampf gegen die Engel wäre der schwierigste Teil unserer neuen Existenz gewesen, dann irren wir uns gewaltig. Hier gibt es noch viele Probleme, die auf uns zukommen, und nicht alle werden wir lösen können, indem wir Waffen und Kampfmaschinen bauen, die sie niederwalzen."

"Wo sie gerade davon sprechen", meinte Misato leise, "das ist wahrscheinlich das, wovor ich mich am meisten fürchte."

"Wovor?"

Die Frau senkte den Blick. "Evangelions", antwortete sie. "Wenn ich daran denke, wieviel Schmerz und Leiden die EVAs über die Menschen gebracht haben, bekomme ich wirklich Angst. Nicht nur, daß sie ungeheure Zerstörungskraft hatten und fast unaufhaltsam waren... sie haben auch ihre Piloten zu seelischen Krüppeln gemacht. Ich habe Angst, daß irgendwann einmal wieder jemand auf die Idee kommt, die EVAs neu zu erschaffen und all das hier von vorne anfängt."
 

"Ich denke nicht, daß das noch einmal geschieht", gab Fuyutsuki ruhig zurück. "Derdekea hat ihre eigene Existenz beendet, um den letzten Evangelion zu vernichten und uns vor ihm zu retten, und ich glaube, das war ein sehr deutliches Zeichen für uns alle. Außerdem haben wir gar nicht mehr die Mittel, noch einmal EVAs zu erschaffen."

Misato schüttelte den Kopf. "Sie irren sich", sagte sie. "Das ,Etherium', welches die Rhoani mitgebracht haben, existiert immer noch - und man könnte neue Klone Adams daraus erschaffen. Außerdem hat die Sektion Exobiologie aus Tzadkiels Körper ein S2-Organ bergen können. Wir haben also alle Möglichkeiten, diesen ganzen Wahnsinn aufs neue zu beginnen."
 

"Dann haben wir nur noch eine Wahl", meinte der Kommandant.

"Und die wäre?"

Fuyutsuki lächelte. "Wir müssen Vertrauen haben", sagte er, "daß unsere Kinder klüger als wir sind."
 

---
 

"Ich... ich glaube, ich verstehe es langsam."

Asuka lächelte sanft. "Danke, Shinji", sagte sie. "Ich... hatte gehofft, du würdest das sagen. Es muß sicher schwer für dich sein..."

"Nein, nein!" widersprach der Junge rasch. "Es ist einfach nur so viel passiert in den letzten Wochen... so sehr viel mehr, als ich mir früher erträumt habe. Wir waren ständig zusammen, haben zusammmen gekämpft, zusammen gelacht..."

Das Mädchen nickte. "Ich weiß", sagte sie. "Darum bin ich auch deswegen zu dir gekommen. Ich wollte nicht, daß du mich irgendwann fragst und dann nicht verstehst, warum ich einfach Nein sagen muß. Ich mag dich zu sehr, um dir das anzutun."
 

Shinji gelang nur ein sehr schwaches Lächeln. "Ich wünschte", sagte er, "ich wäre in der Lage, deine Empfindungen zu teilen. Aber das kann ich nicht. Ich war nie in der Vereinigung, und wir werden uns niemals so nahe kommen können, wie du es mit Misato warst... oder mit Kensuke..."

"Es tut mir selbst sehr leid", meinte Asuka und streichelte dem Jungen sanft mit der Hand über das Gesicht. "Ich kann mich dir nicht offenbaren. Nicht mit Worten. Es würde immer etwas zwischen uns stehen, Shinji, wenn wir... wenn wir fest zusammen wären. Ich hätte Angst, daß du eines Tages Fragen stellst, die ich nicht beantworten kann..."

Der Junge nickte, nahm Asukas Hand in seine und drückte sie zärtlich. "Ich brauche dich immer noch, Asuka", sagte er, und endlich gelang ihm ein richtiges Lächeln. "Ich brauche dich jetzt vielleicht sogar mehr als vorher. Aber ich will nicht, daß du deswegen einen Teil von dir verdrängen mußt. Und darum verstehe ich, wenn du ... es macht mich zwar ein bißchen traurig, aber ich verstehe es."
 

Das Mädchen trat ganz nahe an ihn heran. "Bleiben wir Freunde?" fragte sie.

"Für immer", gab der Junge zurück.

Da beugte sich Asuka vor und küßte Shinji zärtlich auf den Mund.

Es war beinahe kein Kuß unter Freunden mehr.
 

---
 

"Ich weiß nicht recht... denken sie, daß es das richtige ist?"

Ritsuko nickte. "Ja, das denke ich", sagte sie. "Und ich will es auch. Es wird das beste sein."

"Für wen?" fragte Fuyutsuki zweifelnd. "Für Rei... oder für sie?"

"Für uns beide", gab die Wissenschaftlerin zurück. "Sehen sie, ich bin nicht mehr Mitglied im Rat, und meine Aufgabe in der Abteilung Sensorentechnik ist auch hinfällig geworden. Mein ganzes Wissen war darauf gerichtet, die Engel aufzuspüren und zu bekämpfen. Jetzt, da uns keine Angriffe von Engeln mehr bevorstehen, habe ich nicht mehr viel zu tun. Und was Rei angeht..."

Der Kommandant blickte sie zweifelnd an. "Also suchen sie nach einer Beschäftigung für ihre plötzlich umfangreich gewordene ,Freizeit'?"
 

"So ist das nicht richtig", gab Ritsuko zurück. "Ich habe Rei gegenüber eine große Schuld. Sie wissen ja, wie intensiv ich damals bei NERV mit ihr... beschäftigt war. Viel von dem, was sie erlitten hat, will ich jetzt wieder gutmachen."

Fuyutsuki blickte ernst. "Und sie glauben", sagte er, "sie würde eine Mutter akzeptieren, die sie jahrelang in einem Kellerloch eingesperrt hat und ihr jeglichen menschlichen Kontakt verweigert hat?"

"Ich bin ihr nicht böse", mischte sich Rei plötzlich ein und trat durch die offene Tür in Fuyutsukis Büro. "Wir haben schon miteinander geredet. Akagi-san weiß, daß sie vieles falsch gemacht hat, und ich glaube ihr, daß sie es jetzt besser machen würde. Außerdem... hatte ich noch niemals eine Mutter..."

Ritsuko nickte und nahm das Mädchen sanft an der Hand. "Es würde Rei bestimmt auch helfen", sagte sie, "ein normales Leben anzufangen. Bis jetzt war sie entweder EVA-Pilotin, Schlüssel zum Third Impact oder Behüterin der Seelen der Menschheit. Jetzt ist sie einfach Rei, das Mädchen, und ich möchte ihr dabei helfen, sich in dieser neuen Situation zurechtzufinden."
 

Der Kommandant überlegte. "Bisher haben wir noch kein festes Adoptionsrecht" sagte er, "und ich bin auf Anhieb jetzt auch überfragt, wie sich unsere alten irdischen Regeln mit denen der Rhoani vertragen. Aber ich denke, wenn ich das Problem vor den Rat bringe, werden wir wohl schnell eine Lösung finden. Aber bis zu diesem Zeitpunkt..."

"Ja?"

"Fangen sie schon mal mit dem Familienleben an."

Ritsuko und Rei blickten sich an und lächelten.
 

---
 

Dreißig Jahre später
 

"Eintrag von Soryu Asuka Langley, der ersten Kommandantin der Mission Heimkehr, erstes Jahr der Reise, Tag 1. Fünfzehn Stunden sind jetzt seit unserem Start vergangen, und vor wenigen Minuten hat unser Antrieb die volle Leistung erreicht. Die Technik hat mich darüber informiert, daß der S2-Reaktor einwandfrei funktioniert und die Werte sogar noch besser sind als die errechneten. Ich gehe davon aus, daß unsere Reise zum größten Teil glatt verlaufen wird. Wir werden unseren Kurs anhand der Navigationsdaten der Mission Vagabund berechnen, und Astro-alpha Aida geht davon aus, daß die ganze Reise weniger als dreihundert irdische Jahre in Anspruch nehmen wird. Soviel zum Thema Engel, die glauben, wir würden irgendwelche Prophezeiungen erfüllen.
 

"...Computer, letzten Satz löschen. Wir hoffen, auf Rhoan überhaupt noch eine Spur menschlichen Lebens anzutreffen. Laut den Aussagen von Harmis, die vor dreißig Jahren aufgezeichnet wurden, wurden die Rhoani dafür gestraft, daß sie mit Hilfe eines Bruchstücks von Adam Kinder mit Seelen erschufen - von ihren eigenen Schöpfungen. Eben diese Kinder sollen sich danach zur Erde begeben haben, um dort im Engel Derdekea aufzugehen. Auf Rhoan haben wir also keinen Widerstand mehr von ihnen zu erwarten... allerdings kann niemand sicher sagen, ob auf Rhoan überhaupt noch etwas existiert, das man ,menschlich' nennen kann. Aber wir sind auf alles vorbereitet. Die ,Heimkehr' ist dafür ausgerüstet worden, Rhoan notfalls aufs neue zu besiedeln. Unsere Besatzung ist groß genug, um eine neue Zivilisation zu beginnen, und auch dieses Generationenschiff wird sie gut über die vielen Lichtjahre führen.
 

"Trotzdem war es keine leichte Entscheidung, die Erde zurückzulassen. Es hätte auch daheim noch viel zu tun gegeben - fünfhundert Millionen Menschen sind ungeheuer schwer zu verwalten, und gerade im Licht der letzten Konflikte habe ich mir mehr als einmal überlegt, ob ich nicht bleiben soll, um weiter an der inneren Stabilität unserer Gesellschaft zu arbeiten. Aber das hätte bedeutet, dieses Abenteuer zu verpassen - und ich glaube nicht, daß ich mir das jemals verziehen hätte. Außerdem weiß ich die Erde in guten Händen und konnte mich so ohne schlechtes Gewissen verabschieden.
 

"Mehrere hundert Jahre Reise liegen nun vor uns. Die ,Heimkehr' wird viele Generationen von Menschen erleben, die sie lenken. Hoffen wir, daß sie über die Jahre nicht vergessen, weswegen sie hier sind. Sie kehren zu ihren Ursprüngen zurück.

"Soryu Asuka Langley, Eintrag beenden."
 

---
 

"Der Bericht über die Unruhen in Salem, Ikari."

Shinji nickte, ohne sich umzudrehen. "Leg das Display einfach auf meinen Tisch, Hyuga", murmelte er. "Ich... beschäftige mich gleich damit."

"Gut", meinte der Berater und wollte schon wieder gehen, als er noch kurz innehielt. "Ikari..."

Der Kommandant drehte sich mit seinem Sessel nun doch um. "Ist noch etwas?"

"Es ist wegen Asuka, oder?" fragte Hyuga Makoto.

"Was ist wegen Asuka?"

Der Berater senkte ein wenig die Stimme. "Seit die ,Heimkehr' abgelegt, bist du so verschlossen. Es fällt dir doch schwer, sie fortzulassen, oder?"
 

Shinji schüttelte den Kopf. "Das ist es nicht", antwortete er. "Sicher, wir beide hatten etwas... besonderes. Etwas einzigartiges."

"Sie ist eine besondere, einzigartige Frau", lächelte Hyuga.

"Aber trotzdem war es richtig, sie gehenzulassen", sagte der Kommandant. "Ich weiß, daß sie dort draußen glücklich sein wird, und der Gedanke macht mich auch glücklich. Nur..."

"Nur?"
 

Shinji beugte sich vor, verschränkte die Finger, stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und vergrub seinen Mund hinter den Händen. "Jetzt weiß ich sicher", murmelte er, "daß ich wirklich niemals ihre Gedanken werde teilen können."

"Das kann keiner von uns", sagte Hyuga. "Die Gedanken eines Menschen gehören ihm und ganz alleine ihm. Und so angenehm es auch gewesen sein mag, alles mit jemandem zu teilen; es war einfach nicht das, was normal gewesen wäre. Es war einfach nicht... menschlich."

Der Kommandant lächelte hinter seinen verschränkten Händen. "Sie haben wahrscheinlich recht, Hyuga", sagte er. "Wissen sie was: nehmen sie sich doch heute einfach früher frei und laden sie Misato mal wieder zum Essen ein. Sie hat sie in den letzten Wochen abends ja kaum gesehen. Und grüßen sie sie von mir."

"Danke, Ikari", sagte der Berater. "Und sie sollten vielleicht auch mal wieder früher Schluß machen. Die Welt wird nicht auseinanderfallen, nur weil sie mal vor Mitternacht ins Bett kommen."
 

Der Kommandant nickte. "Ich werde es versuchen", gab er zurück. "Also, danke noch mal für den Bericht. Und viel Spaß heute abend!"

Hyuga Makoto nickte und ging aus dem Zimmer. Shinji saß noch einen Moment lang da, ehe er schließlich das Datendisplay ergriff und den Bericht darauf abrief. Wie üblich hatte ihn Rei geschrieben. Ihren Erklärungen nach zu urteilen beruhigte sich die Lage anscheinend langsam wieder. Zwar hatte es erneut Unruhen in Salem gegeben, aber dieses Mal war es bei Protesten gegen die Zwangsverteilung des Wohnraumes geblieben. Es hatte keine ernsthaft Verletzten gegeben, und im Vergleich zu den Massenschlägereien der letzten Woche war es fast schon friedlich geworden. Wie fast immer, wenn Rei ein Problem selbst in die Hand nahm
 

Der Kommandant lächelte in sich hinein.

Rei mochte nichts mehr von einem Engel in sich haben. Aber ein Friedensengel war sie trotzdem.
 

---
 

Viele Millionen Jahre später
 

Irgendwo in den Weiten des Alls kreiste ein kleiner, unbedeutender Planet um eine kleine, unbedeutende Sonne. Zwei Monde erhellten die Nacht, aber es war niemand da, der sich an ihrem Licht erfreuen konnte. Nur Fische und einige Reptilien bevölkerten die noch junge Welt.

Aus dem All näherte sich langsam ein großer Meteor. Er war eigenartig geformt und hatte nur wenig von einem Stein.

Mit viel Fantasie konnte man darin einen riesige, geballte Faust erkennen, die einen Schwertgriff hielt.
 

Der Meteor flog auf den Planeten zu.
 

Ende.



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Kommentare zu diesem Kapitel (9)

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Von: abgemeldet
2005-01-07T17:12:34+00:00 07.01.2005 18:12
Super FanFic und so lang °°
so viel nerven hab ich nicht.
Mach mal wieder so ne FanFic^^
Bye
Von:  Nostradamus_MB
2004-11-24T18:37:34+00:00 24.11.2004 19:37
na das war ja mal wieder erfrischend die geschichte zu lesen.
Vielleicht wäre es ja noch interessant gewesen zu erfahren wie es auf der erde weiter ging. aber das ist mit sicherheit eine andere geschichte.

nos / michel
Von:  HorusDraconis
2004-04-16T09:04:12+00:00 16.04.2004 11:04
Einfach nur geil!!! Ausserirdische zu endzeitlichen Erde zu schicken...eifach ne geile Idee. Die Erzählung war perfekt und ich habe alles nachvollziehen können. Kaum Ungereimtheiten (bis auf die Sache mit dem Engel der Zeit...das habe ich nicht ganz verstanden) und eine flüssige Storyline. Das Ende kan auch wirklich gut. Nur das die beiden Haupthelden nicht zusammen gekommen sind hat mich etwas gestört. Allerdings wurde auch dafür ein triftiger Grund geliefert.
Von: abgemeldet
2004-02-08T14:34:53+00:00 08.02.2004 15:34
hey find ich echt super. ich hab es zwar nicht zuende gelesen aber was ich gelesen hab hört sich gut und spannend an! naja schönen tag noch mal sehen ob ich auch ffs reinsetz! bye muriel
Von:  Nostradamus_MB
2003-04-08T11:37:22+00:00 08.04.2003 13:37
echt gut, was sag ich "fast" schon genial.
am anfang war ich ein wenig stutzig und hab ein paar seiten vorgeblättert um sicher gut gehn, ob das auch wirklich eine NGE-FF ist.

aber eine frage blieb für mich bis jetzt unbeantwortet:
wie kann ein gebäude mit 5 stockwerken 90 meter hoch sein?
(oder hab ich mich da verlesen??? ^^')

besonders lustig fand ich die szene am schluss *g* wie shinji da so, wie sein vater vor ca. 80.000.000 jahren, in seinen büro mit der typischen gendo-haltung sitzt.

mal ne frage, ist das einen übersetzung, oder stammt das meisterwerk aus einer region in der deutsch gesprochen wird? das ende kommt mit nämlich so amerikanisch vor, oder liegt das daran, das ich die story am stück gelesen hab???
Von:  migele
2003-01-31T09:28:55+00:00 31.01.2003 10:28
kreativ ohne ende! man glaubt man weiß alles und doch kommt es dann anders oder es gibt noch eine überraschung!

McD
Von:  CaptainHarlock
2002-06-19T20:32:01+00:00 19.06.2002 22:32
wow , jetzt hab ich es entlich geschaft diese super lange story zu lesen ,und ich muß sagen sie ist einfach genial.
Die ganzen Überaschungen und veränderungen vom anfang bis zum ende,einfach "GÖTTLICH"
Von:  Kesy_Yun
2002-04-06T20:40:59+00:00 06.04.2002 22:40
ich würd das gern mal lesen wenn ich mal mehr zeit hab ^-^
Von: abgemeldet
2002-04-06T19:43:01+00:00 06.04.2002 21:43
rausper......
um erlich zu sein hab ich noch nicht alles gelesen ungefähr 5% aber fängt intressant an mal sehen wies sich entwikelt............
frage: wie lange schreibsten schon da dran?


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