Zum Inhalt der Seite

Verschlungene Pfade

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Auf dem Weg zurück zur Bar, um mir tatsächlich das nächste Bier zu holen, stockte ich.

Tamilo stand bei Ben und sprach auf ihn ein.

Ich zögerte, auf sie zuzugehen. Dabei hatte ich doch gar keinen Grund, einen von beiden zu meiden. Gut, Ben war scheinbar schwul… aber deswegen würde ich ihm kaum aus dem Weg gehen.

Er hatte mich dabei ertappt, wie ich Tamilo beobachtet hatte. Das war etwas peinlich. Nein, das war unglaublich peinlich, doch würde ich seine seltsamen Vermutungen nicht noch bestätigen, wenn ich ihnen nun aus dem Weg gehen würde? Über die genauen Vermutungen wollte ich gar nicht weiter nachdenken. Nachher hielt mich Ben für schwul… oder zumindest für interessiert genug, schließlich hatte er mich in einen Club eingeladen, der bekanntermaßen überwiegend homosexuelles Publikum hatte. Ein Angebot, das ich selbstverständlich nicht annehmen würde, denn ich war nicht schwul. Trotzdem befand sich Bens Zettel mit seiner Telefonnummer in meiner Hosentasche. Wieso hätte ich sie auch wegwerfen sollen?

In Hörweite der beiden angekommen, schnappte ich noch kleine Gesprächsfetzen auf.

„Du tust, was du für richtig hältst. Dasselbe gilt für mich. So einfach ist das. Mal sehen, wer von uns damit besser fährt. Dein Verhalten finde ich feige, unreif und verdammt nochmal nicht fair“, hörte ich Ben sagen.

„Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst, also halte dich da raus. Für dich ist das alles doch ein riesengroßer Spaß“, entgegnete Tamilo.

Obwohl es mich interessiert hätte, Weiteres zu hören, trat ich entschlossen näher heran und machte mich bemerkbar.

„Hey“, sagte ich an Ben gewandt und das Gespräch der beiden verstummte, „ich dachte, du musst wieder an die Arbeit?“ Grinsend schwenkte ich meine leere Bierflasche.

„Gib mir eine Sekunde“, bat Ben schmunzelnd und verzog sich wieder hinter den Tresen.
 

„Leonie hat dich vermisst“, zischte Tamilo.

Verwundert über den ungewohnt harten Tonfall, sah ich zu ihm.

„Ich war doch nur eine rauchen“, sagte ich mit gerunzelter Stirn. Ich war mir ziemlich sicher, dass Leonie in der Galerie zuerst nachgesehen hätte, wenn sie mich tatsächlich gesucht hätte.

Tamilos Blick huschte kurz zu Ben, der sich gerade die Schürze umband und ein paar Worte mit einem Kollegen wechselte.

„Aha“, sagte Tamilo knapp.

„Ist das neuerdings ein Verbrechen?“, fragte ich nun etwas belustigt. Fing Tamilo etwa an, mir eine Szene zu machen, weil ich mit Ben zusammen eine Zigarette geraucht hatte? Was war denn hier los?

Ein suchender Blick verriet mir, dass Leonie offensichtlich auf Bekannte getroffen war und weiterhin die Tanzfläche mit ihrer Anwesenheit beehrte. Soviel zum Thema, sie hätte mich vermisst. Leonie hatte definitiv keine Probleme damit, sich auch mal ohne mich zu beschäftigen.

„Ach Quatsch. So habe ich das gar nicht gemeint“, lenkte Tamilo sofort ein, „Ich…“

Er… egal, ich erfuhr nicht, was Tamilo erklären wollte, denn Ben unterbrach ihn, indem er nun seinerseits mit einer Bierflasche vor mir wackelte. Mit einer vollen selbstverständlich.

Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, wie nahe wir beieinander standen und beinahe ertappt brachte ich wieder etwas Abstand zwischen uns. Ich stellte fest, dass auch Tamilo auf diese Weise reagiert hatte und versuchte, mir vorzustellen, wie das auf Außenstehende wirken musste. Also auf Leute wie Ben. Der schien es jedenfalls gesehen zu haben und amüsant zu finden. Als ich ihm das Bier hastig abnahm, zwinkerte er mir zu und sagte: „Das Bier bin ich dir noch schuldig.“

Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Aus Bens anfänglichem Grinsen wurde nun ein offenes und ehrliches Lachen. Offenbar war die Beleuchtung hier besser, als ich gehofft hatte. Langsam beugte Ben sich ein Stück über den Tresen. Tamilo würdigte er keines Blickes mehr. Sein intensiver Blick bohrte sich direkt in meinen. Für meinen Geschmack war er zu intensiv. Amüsiert blitzten Bens Augen auf. Blaue Augen. Der genaue Farbton war in diesem Licht nicht genau zu erkennen. War mir seine Augenfarbe bisher überhaupt einmal aufgefallen? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Allerdings wurde mir in diesem Augenblick bewusst, dass mich die Augenfarbe von Ben eigentlich nicht wirklich interessierte. Es war mir durch den Blickkontakt einfach nur aufgefallen.

Ich war nicht wirklich in der Lage, seinem Blick auszuweichen, als Ben sagte: „Du weißt ja, mein Angebot steht. Wenn dir nach ein wenig Abwechslung ist, ruf mich an.“

Entgeistert sah ich ihn an. Wie klang das denn? Egal, wer das hörte, musste denken, Ben machte mich an. Dabei sprach er nur von seiner Einladung… hoffte ich doch.

„Ich hätte auch gern ein neues Bier“, erklang nun eine kühle Stimme zu meiner Linken. Tamilos Lippen waren schmal und von seinem sanften Gesichtsausdruck war nicht mehr viel zu erkennen. Seine Augen waren noch kälter, als seine Stimme. Augenblicklich war ich froh, dass Ben dieser Blick traf und nicht mich.

Welche Rolle spielte Tamilo in diesem ganzen Theater?

Grinsend kam Ben seiner Pflicht nach und stellte auch Tamilo ein Bier vor die Nase.

Das Grinsen, mit dem er Bens erwiderte, wirkte mehr als gekünstelt. Tamilo kramte in seiner Tasche und legte Geld auf den Tresen.

„Stimmt so“, sagte er knapp und griff nach der Flasche.

„Man dankt“, erwiderte Ben und wandte sich anderen Gästen zu.

Tamilo sah mir fest in die Augen und sagte: „Das scheint ja eine sehr … interessante Zigarettenpause gewesen zu sein.“ Damit wandte er sich wieder von mir ab. Ich folgte ihm ein paar Schritte.
 

„Hey, wie wäre es mit weniger Bier und dafür mit mehr tanzen?“, fragte Leonie, die plötzlich mit Caro im Schlepptau neben uns auftauchte, und schmiegte sich an mich.

„Ach, wir schließen lieber eine enge Freundschaft mit dem Barkeeper“, erwiderte Tamilo und ich spürte seinen Blick auf mir liegen.

Ich versuchte, es zu unterdrücken, doch das Grinsen zupfte an meinen Mundwinkeln und ließ nicht locker, ehe die Gesichtsmuskeln vor ihm in die Knie gingen. Je mehr ich über diese absurde Situation nachdachte, desto hartnäckiger klopfte auch das Lachen an, das sich irgendwo in meinem Bauch zusammenbraute. Anfangs versuchte ich noch, das Lachen als Husten zu tarnen, doch als die Blicke der drei anderen auf mir lagen, gab ich das auf. Ich lachte darüber, dass Tamilo offensichtlich dachte, Ben hätte sich mit mir irgendwo vergnügt und mir nun eine Verabredung für … weitere Vergnügungen angeboten.

Leonie und Caroline hatten ein verständnisloses Grinsen im Gesicht und Tamilo sah mich nur mit erhobenen Augenbrauen an.

„Alles in Ordnung, Schatz? Was ist denn mir dir los?“, fragte Leonie belustigt.

Mühsam riss ich mich zusammen und atmete tief durch, während ich den Kopf schüttelte.

„Schon gut. Ben hat sich einen Spaß erlaubt und Tamilo hat das in den falschen Hals gekriegt“, erklärte ich grinsend.

„Ist aber eher ein Männerding. Ein Insider quasi. Vermutlich fändet ihr das nicht einmal lustig“, fügte ich hinzu, ehe Leonie weiter nachhaken konnte.

Eigentlich war ich überzeugt davon, dass die Mädels sich herrlich darüber amüsieren würden, doch erklären wollte ich das alles wirklich nicht. Der Gedanke daran, zu erklären, wie es zu dieser Situation gekommen war, ließ meinen Körper den Kampf gegen das Lachen endgültig gewinnen und nun war es eine neue Anstrengung, wenigstens das Grinsen in meinen Mundwinkeln zu behalten.

„Na dann… Wir besorgen uns jetzt etwas zu trinken“, rief Caro gegen die Musik an, zog Leonie zur Bar und ließ Tamilo und mich zurück.
 

„Soso, ich habe also etwas in den falschen Hals gekriegt, ja?“, fragte Tamilo und trat ein wenig näher.

„Scheint so… aber ich glaube, ich will gar nicht so genau wissen, was du dir so vorstellst“, antwortete ich und runzelte die Stirn. Tamilo grinste kurz. „Dann erspare ich dir meine Fantasien diesbezüglich lieber, aber ich gebe dir einen guten Rat“, sagte er und beugte sich noch weiter vor.

Sein Kopf befand sich nun direkt neben meinem und … scheiße, roch dieser Kerl gut. Sein Geruch schien von meiner Nase aus durch meinen gesamten Körper zu strömen, als wolle er mit jeder meiner Körperzellen Bekanntschaft machen.

Ich ertappte mich dabei, wie ich die Luft tief in meine Lungen einsog, um noch mehr von diesem Geruch aufzunehmen. Ich schluckte trocken und hielt schockiert die Luft an. Das fehlte mir gerade noch. Tamilo schien sowieso schon anzunehmen, dass ich mich mit Kerlen verabredete, um meine Freundin zu betrügen, da musste er nicht auch noch mitbekommen, dass ich drauf und dran war, hemmungslos an seinem Hals zu schnuppern.

„Wenn du ihn tatsächlich anrufst, weil dir nach Abwechslung ist, dann pass auf, dass er nichts in den falschen Hals bekommt“, raunte er mir direkt ins Ohr und sein warmer Atem, der mich streifte, traf mich völlig unvorbereitet. Ähnlich wie sein Geruch, schoss mir die Wirkung seiner Stimme und seines Atems durch sämtliche Nerven- und Blutbahnen. Sämtliche. Ach du Scheiße.

„Du scheinst dich mit Bens Hals ja bestens auszukennen.“

Mein Mundwerk funktionierte noch. Auch wenn meine Stimme verdammt heiser klang. Kein Wunder, denn so trocken, wie meine Kehle gerade war, konnte ich froh sein, dass ich überhaupt einen Ton herausgebracht hatte. Tamilo lachte leise auf und zog sich wieder ein Stück zurück.

Mir blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass Tamilo den Schauer, der mir über den Rücken lief, nicht wahrnahm. Falls er es tat, ließ er sich das wenigstens nicht anmerken.

„Ich kenne Ben schon eine Weile“, erklärte Tamilo knapp und ließ mich mit diesem Satz einfach stehen.
 

Ich hatte beschlossen, einen kurzen Abstecher zur Toilette zu machen, ehe ich mich wieder in die Nähe unserer Mädels begab. Ich musste dringend… erst einmal runterkommen. Ein kurzer Blick hatte mir gezeigt, dass ich zwar keine Erektion hatte, die jedem direkt ins Auge sprang, doch es war genug, um sie mich selbst spüren zu lassen. Und irgendwie fühlte es sich falsch an, nun Leonie entgegenzutreten. Noch schlimmer fand ich es allerdings, dass es überhaupt nötig war, dass ich hier bereits seit Minuten stand, und so tat, als würde ich mir gerade schnell die Hände waschen.

Aber das kalte Wasser über meine Handgelenke laufen zu lassen, tat gut.

Was zur Hölle war bloß los mit mir? So etwas war mir noch nie passiert. Noch nie, wirklich niemals hatte ich irgendein Interesse an einem Mann gehabt.

Nicht dass jetzt ein Interesse da war. Es war … einfach nur mein Körper der absurderweise auf Tamilo reagierte. Und ich verfluchte sie beide dafür. Tamilo und meinen Körper. Das war nicht gut. Gar nicht gut.

Ein einfacher Atemzug von Tamilo hatte meinen Körper völlig aus der Bahn geworfen. Und dann noch dieser Geruch.

Frustriert stieß ich Luft aus. Na klasse. Es war gar kein Atemzug notwendig. Keiner von ihm, der meine Haut kribbelnd zurückließ und keiner von mir, der seinen Geruch in meinem Körper verteilte. Die pure Erinnerung daran verursachte, dass ich meinen Aufenthalt vor diesem blöden Wasserhahn noch ein wenig in die Länge ziehen musste.

Scheiße! Was war denn nur in mich gefahren? Das war doch alles total absurd!
 

Aufmerksam betrachtete ich mein Spiegelbild, als könnte ich darin einen Unterschied zu früher erkennen. Früher… nur ein paar Tage früher, um genau zu sein… bevor ich ihn kennengelernt hatte. Was hatte sich in dieser Zeit bloß geändert?

Mein Spiegelbild jedenfalls nicht. Ich sah dort dasselbe wie immer. Allerdings musterte mich der Kerl im Spiegel ungewohnt misstrauisch. ‚Was soll das denn werden?‘, schien dieser Blick zu fragen.

Ich hatte absolut keine Ahnung.

Was ich allerdings wusste, war, dass ich kurz vor dem dritten Jahrestag mit meiner Freundin stand. Meine Freundin Leonie, die ich liebte und die mich liebte. Fest sah ich in die blauen Augen, doch die starrten genauso erbarmungslos und entschlossen zurück. Lag Zustimmung darin? Oder Trotz?

Dass Tamilo mich zutiefst verwirrte, war mir spätestens heute klar geworden. Und auch, dass er gefährlich war. Zu gefährlich für mich. Alles, was ich selbst glaubte zu sein, alles mit dem ich bisher zufrieden zu sein schien, löste sich mit einem seiner Atemzüge völlig in Wohlgefallen auf.

Dabei war ich doch glücklich, mit dem was ich hatte! Ich hatte Leonie. Kaum ein Mensch kannte mich so gut wie sie. Wir liebten uns und ich war nicht bereit, das irgendwie zu gefährden. Wofür denn auch? Ich war schließlich nicht… nein…

Ich fragte mich erneut, welchen Platz Tamilo in diesem ganzen Spiel einnahm. Woher kannte Ben ihn?

‚Du wärst überrascht, wem man dort so über den Weg laufen kann.‘

Wieder und wieder huschte mir dieser eine Satz durch den Kopf. Konnte es sein, dass Ben Tamilo von dort kannte? Oder aus einem der anderen Clubs? Das war doch sehr unwahrscheinlich. Wenn Ben ihn aus Schwulenclubs kannte, wäre Tamilo wohl kaum mit Caro zusammen, oder? Die alleinige Tatsache, dass sie sich besser zu kennen schienen, war doch lange kein Hinweis darauf, dass auch beide schwul waren. Das war doch völliger Blödsinn.

Und wenn es doch so war? Wenn die beiden sich dort tatsächlich kennengelernt hatten?

Was trieb Tamilo dann für ein Spiel mit Caro, mit uns allen?

Ben wusste eindeutig mehr. Vielleicht sollte ich auf sein Angebot zurückkommen und versuchen mehr herauszufinden?

Aber wollte ich überhaupt mehr herausfinden?

Würde es irgendetwas ändern, wenn ich Dinge erfuhr, die bewusst vor mir und anderen Personen verborgen wurden?

Auf gar keinen Fall! Ich wollte doch gar nicht mehr wissen. Tamilo war mit Caro zusammen, ich war mit Leonie zusammen und so war doch alles wunderbar!

Am besten tat ich das, was ich schon vor einer Woche am liebsten getan hätte. Ich würde Caro und vor allem Tamilo einfach aus dem Weg gehen.

Dann hätte dieses irre Durcheinander in meinem Schädel endlich ein Ende.

„Ey, alles klar bei dir?“, wurde ich nun gefragt. Ich drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der diese Frage kam. Ich kannte den Kerl vom Sehen, seinen Namen allerdings nicht. Er musterte mich. „Du stehst da schon eine Weile“, sagte er und trat an das Waschbecken neben mir.

„Ja klar, alles in Ordnung“, nickte ich eilig.

Der Typ hob zweifelnd eine Augenbraue und beäugte kritisch den Wasserhahn. Ich folgte seinem Blick und beeilte mich, das Wasser abzudrehen, das bereits eine halbe Ewigkeit lief.

„Alles in Ordnung“, wiederholte ich und verließ die Herrentoilette ohne ein weiteres Wort.

Sollte der doch denken, ich hätte mir irgendetwas eingeworfen.
 

Ich ließ meinen Blick suchend durch die Halle gleiten und entdeckte den Rest unseres tollen Doppeldates nicht weit von der Bar.

Wie um ihr Pärchendasein zu demonstrieren, klebten Caros Arme um Tamilos Hüfte. Er hatte ebenfalls seine Arme um Caro gelegt, schien sich aber mit Leonie zu unterhalten. Sie standen dort, wie ein ganz normales Paar. Ein ganz normales Paar… wie sich das anhörte… das waren sie doch auch… Tamilo spielte Caro doch nichts vor. Was hätte er schon davon?

Während ich mich ihnen näherte, betrachtete ich das Paar.

Caroline hatte ihren Kopf an Tamilos Brust gelehnt. Neben Till hatte sie nie so winzig gewirkt. Irgendwie wirkte das so unpassend. Daran änderte auch die Hand nichts, die Caro besitzergreifend in eine der hinteren Hosentaschen von Tamilos Jeans geschoben hatte. Nein, die änderte absolut nichts daran, dass das Bild falsch aussah. Wie auf Knopfdruck hob Caro nun ihren Kopf und ich war nahe genug, um das Lächeln zu sehen, mit dem sich Tamilo zu ihr hinunterbeugte und sie küsste.

Entzückend. Es war doch alles bestens.

Eilig schloss ich zu ihnen auf und drückte Leonie einen Kuss auf die Haare.

„Da bist du ja“, rief Leonie und schlang ihre Arme um meinen Nacken, um mich zu einem Kuss an sich zu ziehen. Als ihre Zunge auf meine traf, hätte ich beinahe erleichtert aufgeseufzt. Leonie zu küssen, fühlte sich noch immer gut an. Na, dann war ja noch nicht alles verloren oder?

Was ich allerdings wenig später als verloren ansehen musste, war meine Bierflasche, die ich vor meinem ausgedehnten Waschbecken-Besuch noch gehabt hatte. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, sie zu holen und unter diesem Vorwand Tamilo aus dem Weg zu gehen, doch alles in mir sträubte sich gegen die Idee, aus der Flasche, die nun schon einige Minuten unbeaufsichtigt im Männerklo stand, auch nur noch einen Schluck zu trinken. Also holte ich mir eine neue Flasche. Ich war nicht unglücklich darüber, dass der Barkeeper in nächster Nähe nicht Ben hieß. Denn den steckte mein Gefühl zusammen mit Tamilo in die gefährliche Schublade.
 

Mein Kopf schmerzte und Haare kitzelten meine Nase.

Ein leichter Kaffeeduft lag in der Luft. Leonie lag friedlich an mich geschmiegt und schlief noch tief und fest. Ihre Haare lagen über meinem nackten Brustkorb verstreut. Ganz leise war ihr leichtes Schnarchen zu hören. Trotz Kopfschmerzen musste ich lächeln. Leonie war so niedlich, wenn sie schlief.

Vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken strich ich die Haare, die an meiner Nase lagen zur Seite. Wie spät war es eigentlich?

Ich drehte meinen Kopf zur Seite und bereute es sofort. Mit einem Hämmern wollte mein Schädel mich eindeutig für den gestrigen Abend bestrafen. Die Ziffern auf dem Wecker sagten mir außerdem, dass es viel zu früh war, um mich mit diesen Kopfschmerzen auch nur einen Meter aus dem Bett zu bewegen. Deutlich langsamer drehte ich meinen Kopf wieder zurück, schloss die Augen und lauschte Leonies Mini-Schnarchen.

Plötzlich wünschte ich mir, ich hätte mehr getrunken. Die Kopfschmerzen waren zwar nicht angenehm, doch ich hätte auch das volle Programm mit Übelkeit, Erbrechen und Schwindel in Kauf genommen, wenn ich im Gegenzug wenigstens einen kleinen Filmriss erhalten hätte.

Doch mit Filmrissen verhielt es sich wie mit Erdlöchern. Sie waren nie da, wenn man sie brauchte.

Dabei hätte ich den vergangenen Abend gern in voller Länge aus meiner Erinnerung gestrichen. Ich hatte mich den restlichen Abend immerhin nicht mehr weiter zum Affen gemacht. Was daran liegen könnte, dass ich Milo konsequent aus dem Weg gegangen war. Soweit es möglich war, denn natürlich konnte ich nicht andauernd vor ihm die Flucht ergreifen.
 

Irgendwie schaffte ich es nicht, erleichtert über den überstandenen Abend zu sein, denn ich hatte nicht vergessen, dass mir die zweite Runde erst noch bevorstand. Diesen Abend galt es noch zu überstehen, bevor ich meinen Plan verfolgen konnte, Tamilo einfach so weit wie möglich von meinem Leben fernzuhalten.

Vielleicht fand ich ja noch eine Möglichkeit, mich zu drücken. Das wäre natürlich um Einiges besser.

Doch mit keiner meiner Ideen wäre ich durchgekommen.

Eine plötzliche, dringende Familienangelegenheit konnte ich mir abschminken. Schließlich war meine Schwester mit von der Partie und auf deren Unterstützung konnte ich nicht hoffen, denn Till hatte sie eingeladen. Das war keine Verabredung, die sie ohne Erklärung sausen gelassen hätte. Und eine Erklärung kam nicht in Frage.

Till hatten wir auch so lange bequatscht und zum Mitkommen gedrängt, dass der ebenfalls eine Erklärung fordern würde, wenn ich plötzlich nicht mehr dorthin wollte. Und auch bei meinem besten Freund war das definitiv keine Option.

Meine momentanen Kopfschmerzen vorzuschieben, hätte vermutlich ebenfalls keinen Erfolg gehabt. Leonie und Till hätten mich sicherlich voller Schadenfreude erst recht mitgeschleppt.

War ja meine eigene Schuld und wir alle kannten bei so etwas kein Erbarmen. Außerdem würden sich die Kopfschmerzen nach einem Frühstück sowieso wieder in Luft auflösen. Vor allem, da ich bereits beschlossen hatte, dass mein heutiges Frühstück in erster Linie aus zwei Aspirin bestehen würde.

Ich hätte natürlich meiner Freundin einfach erklären können, warum ich nicht besonders scharf darauf war, erneut auf Tamilo zu treffen.

Leonie würde bestimmt begeistert sein, wenn ich ihr erklärte, dass ich gemerkt hatte, welche Wirkung Tamilo auf mich hatte.

Meine Freundin war sehr verständnisvoll, doch irgendwo lagen wohl auch bei ihr Grenzen.

Dass ich heute Nacht dennoch mit ihr geschlafen hatte, würde sie in dem Fall wohl auch nicht besänftigen.

Ja, ich hatte mit Leonie geschlafen. Und es hatte alles funktioniert, wie es sollte. War das nicht großartig? Es war auch schön gewesen, wie immer, eigentlich. Es war doch alles in bester Ordnung.

Wieso fühlte ich mich also gerade so mies?

Da war doch gar nichts gewesen… nichts Erwähnenswertes jedenfalls.

Mein Magen zog sich zusammen, wenn ich nur daran dachte, dass ich Tamilo heute Abend schon wieder sehen würde.

‚Nur noch dieses eine Mal!‘, sagte ich mir, ‚dann gehst du dem Kerl einfach aus dem Weg und alles ist wieder okay.‘

So schwer konnte das doch nicht werden, oder?

Vielleicht sollte ich heute Abend einfach besonders ätzend sein, damit Leonie ihre tollen Versöhnungspläne endlich begrub. Mit Till im Schlepptau würde das bestimmt blendend funktionieren.

Die ganzen Gedanken waren wahrscheinlich sowieso völlig überflüssig, schließlich handelte es sich hier um Tamilos Arbeitsplatz und der würde am Abend ohnehin nicht viel Zeit haben, uns mit seiner Anwesenheit zu beehren.
 

Dass ich noch einmal einschlafen würde, erkannte ich langsam als unwahrscheinliches Wunschdenken. Außerdem machten sich so langsam andere Bedürfnisse bemerkbar. Am verlockendsten wirkte momentan das Badezimmer auf mich. Toilette, Zahnbürste, Dusche. Außerdem hatte ich Durst und das würde ich mit dem Bedürfnis nach Aspirin verbinden können. Doch erst mal musste ich Leonies Klammergriff lösen, ehe ich auch nur einem der vielen Bedürfnisse nachgehen konnte.

Als ich ihren Griff um mich löste, murrte sie widerwillig, drehte sich aber noch im Halbschlaf tatsächlich von mir weg und gab mich damit frei. Ein paar Minuten blieb ich noch liegen, obwohl ich wusste, dass Leonie dennoch spätestens 20 Minuten später müde in ihre Kaffeetasse blinzeln würde. Trotzdem stieg ich leise aus dem Bett, zog mir Shorts und das Shirt über, sammelte meine restlichen Klamotten ein und holte mir frische aus Leonies Kleiderschrank, in dem sie ein Fach geopfert hatte, um auch auf spontane Besuche vorbereitet zu sein.
 

Nach dem Duschen fühlte ich mich bereits deutlich besser. Als ich Leonies Zimmer betrat, verriet mir ein Blick auf das verlassene Bett, dass Leonie tatsächlich aufgestanden war. Also hatte ich sie doch aufgeweckt. Ich fand sie im Wohnzimmer, wo sie tatsächlich in eine Kaffeetasse starrte.

„Guten Morgen, Schnarchnase“, rief ich und folgte ihrem Beispiel und holte mir eine Tasse Kaffee. Außerdem löste ich mir tatsächlich eine Aspirin auf und kehrte mit beidem wieder in das Wohnzimmer zurück.

„Es ist neun Uhr. Wieso bist du so früh wach?“, brummte Leonie, „Da hätten wir auch bei dir übernachten können.“

„Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Ich konnte einfach nicht mehr schlafen“, entschuldigte ich mich und ließ mich neben meiner Freundin aufs Sofa sinken.

„Der Abend war irgendwie seltsam“, murmelte Leonie, als sie sich an mich lehnte.

„Wie meinst du das?“

„Die Stimmung war einfach nicht die selbe. Es war alles total verkrampft. Das hast du doch bestimmt selbst gemerkt. Du hast selbst schließlich die ganze Nacht an der Bar geklebt. Es wundert mich, dass wir dich nicht aus dem Club schleppen mussten.“ Ein leiser Vorwurf lag in ihrer Stimme versteckt.

Wieder verspürte ich den Drang, mich bei ihr zu entschuldigen, doch ich wusste nicht, wofür ich mich alles entschuldigte, also ließ ich es sein.

„Ist es so schlimm für dich, wenn wir uns mit Caro treffen?“, seufzte Leonie, „Was ist mit Tamilo? Ich hätte gedacht, dass ihr euch wirklich gut versteht. Hast du nicht selbst gesagt, dass er ein netter Kerl ist?“

Nun war es an mir zu seufzen. „Ach Leonie… Du weißt, dass ich mich mit Caro noch nie sonderlich gut verstanden habe. Das ändert sich doch nicht, nur weil sie nun einen neuen Freund hat. Und Tamilo… ja, sicherlich ist er ein netter Kerl und … wirklich in Ordnung… aber irgendwie stimmt einfach die Chemie nicht wirklich, zwischen uns.“

Gelogen war das nicht. Zumindest meine Chemie stimmte ganz und gar nicht. Doch ich ließ Leonie ihre eigenen Schlüsse ziehen.

Hätte ich ihr gesagt, wo mein eigentliches Problem lag, hätte Leonie mich sicherlich ebenfalls vor weiteren Treffen mit Tamilo bewahrt, aber ich war mir nicht sicher, ob sie dann noch gesteigerten Wert auf Treffen mit mir legen würde.

„Ich kann nicht verstehen, dass du ihn nicht magst.“

Ich hätte so einiges dafür gegeben, wenn dem so wäre.

„Wieso gibst du dir da so viel Mühe? Wir müssen doch nicht alles gemeinsam machen. Es ist okay, wenn du die beiden sehen willst, aber ich muss doch nicht zwingend dabei sein. Du hast dich doch vorher auch alleine mit Freunden getroffen. Warum ist das jetzt anders?“

„Es geht dabei gar nicht so sehr um dich, Schatz“, gab Leonie zögernd zu, „Es ist die Clique, oder besser das, was aus ihr geworden ist. Wir haben früher alles zusammen gemacht. Alle waren dabei. Und jetzt gehe ich entweder mit denen feiern, oder wir hocken bei Till oder sonst irgendwo auf der Couch. Ich will einfach, dass es wieder so wird, wie es einmal war.“

Ich nahm Leonie die Kaffeetasse aus der Hand und stellte sie gemeinsam mit meiner auf dem Wohnzimmertisch ab, um Leonie anschließend auf meinen Schoß zu ziehen. Sie wirkte geknickt und enttäuscht. Und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich wusste, dass ich dafür verantwortlich war.

Leonies selbstauferlegter Job als Friedensbotschafterin wäre völlig erfüllt gewesen, wenn Caros Freund irgendjemand gewesen wäre, der mir einfach nur sympathisch war. Denn Caro war mir, ehrlich gesagt, ziemlich egal. Ich musste sie ja nicht ins Herz schließen, um Zeit mit ihr zu verbringen. Und nur aus Loyalität Till gegenüber, weiter gegen sie zu hetzen, wurde mir langsam zu anstrengend. Hätte sich Caro irgendeinen Christian oder Max oder Moritz ausgesucht, wäre Leonies Plan vermutlich sogar aufgegangen.

Doch Tamilo musste ich aus dem Weg gehen. Nicht zuletzt für Leonie, doch das konnte ich ihr nicht sagen.

„Wie könnte es denn wieder werden, wie früher? Es ist einiges schief gelaufen damals. Würdest du wirklich wollen, dass die Dinge im Verborgenen genauso weitergelaufen wären? Es wurden Gefühle verletzt und manches braucht einfach Zeit. Und so toll deine Absichten auch sind, du wirst dich damit abfinden müssen, dass du nichts daran ändern kannst. Lass den Dingen ihren Lauf und genieße, dass du weiterhin mit allen Kontakt hast. Wer weiß schon, wie sich das alles entwickelt? Menschen verändern sich. Lass einfach allen die Zeit, die sie brauchen und es wird alles gut.“

Noch immer wirkte Leonie niedergeschlagen, doch sie nickte.

„Danke… so eine Alles-wird-gut-wenn-du-dich-endlich-raushältst-Rede habe ich jetzt gebraucht“, sagte sie in schmollendem Tonfall. „Soll ich Caro für heute Abend absagen?“, fragte sie dann aber, „wir könnten ja… irgendwas anderes machen… auf irgendeiner Couch rumhängen, oder so.“

Im Bett hatte ich noch überlegt, wie ich um den heutigen Abend rumkommen konnte, und nun war es Leonie, die vorschlug, ihn sausen zu lassen.

Ich war versucht, ihr zuzustimmen, doch mein Körper war da anderer Meinung, denn ehe ich mich versah, schüttelte ich den Kopf.

„Das ist doch Blödsinn… wir haben Till überredet bekommen, sich Caro zu stellen. Vielleicht ist das ja gar nicht mal so schlecht. Außerdem freut sich Sophia schon auf den Abend. Sollte es richtig schlimm werden, können wir immer noch woanders hingehen. Der Kiez ist groß.“

Wie lahm war das denn? Ich hätte die Gelegenheit beim Schopf packen können und hatte es nicht getan. Wieso sprach ich mich nun auch noch FÜR diesen Abend aus?

Ich erntete dafür ein Schulterzucken. „Okay. Von mir aus müssen wir das auch nicht abblasen.“

„Was hältst du davon, wenn wir mit dem Auto fahren? Heute Abend werde ich garantiert keinen Alkohol anrühren, also können wir uns das Taxi oder die Warterei auf die erste Bahn auch sparen“, schlug ich vor.

„Gute Idee“, erwiderte Leonie grinsend.

Ich fragte nicht nach, ob sie vom Alkohol oder von der vorgeschlagenen Autofahrt sprach.
 

Den restlichen Tag verbrachten wir faul auf dem Sofa. Ich war erleichtert, dass auch Leonie keine großen Unternehmungen geplant hatte. Trotzdem verging die Zeit sehr schnell und viel zu früh stellte ich meinen Wagen in eine der vielen Parkgaragen auf der Reeperbahn ab.

Till, den wir auf dem Weg eingesammelt hatten, unterhielt uns mit neuen Geschichten über seine Horror-Großtante. Als wir schließlich ausstiegen, waren Leonie und ich deutlich besser gelaunt als Till. Der nahm es uns ein wenig übel, dass wir uns über sein schweres Leiden so sehr amüsieren konnten.

Auf dem Weg zum Herzblut verschwand ein Teil dieser ausgelassenen Stimmung jedoch wieder. Gleichzeitig verfluchte ich mein Herz dafür, dass es mit jedem Schritt, der uns dem Club näher brachte, noch einen Zahn zulegte. Völlig grundlos natürlich. Es war ja nicht so, als würde ich dort drinnen aufgefressen werden.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Shuu_san
2011-10-15T19:23:50+00:00 15.10.2011 21:23
hey,warum hat die FF noch keine kommis :O
alsooo erstmal: ich finde die geschichte echt gut ^^ sie hat nicht irgent einen platten handlungs verlauf,sondern ist sehr interessant und irgentwie spannend. das in einer FF mal eine soliede und nachvollziehbare vergangenheit herscht,könnte man teilweise unter artenschutz stellen...auch wenn betrug ect keine neue erfinfung ist,so finde ich dies "faden spinnerei" sehr gut gelungen ^^.das ganze ist vielschichtig und scheint mir auch etwas...komplizerter^^
deine figuren sind realistisch und haben einen vernünftigen character.sie wirken nicht zu platt und scheinen allle "selbst zu handeln"...schwehr zu erklähren,aber sie wirken nicht gestelzt oder unecht.
was sehr gut wirkt,ist wie echt und lebendig du die stadt beschreibst *nach deinem wohnort oder sowas ?*
was mir besonders gut gefällt,ist,dass sich die ganze geschichte wirklich zeit lässt...nicht irgentwelche übereilten aktionen ect,sondern bedächtiger ^^ das ist angenehmer und wirkt überzeugender als so eine "zeitraffer" storry...warum noch kein kommi hiersteht wundert mihc echt O_O
ich habe die storry zufällig entdeckt und sie komplett gelesen....und will unbedingt wissen,wie es weiter geht ^^
lg + keks
shuu


Zurück